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Eine finstere Verschwörung: Der fesselnde Thriller »Die Schatten von Borgen – Betrügerische Spiele« von Nils Krause-Kjær jetzt als eBook bei dotbooks. Tatort Kopenhagen: Kurz vor den Parlamentswahlen wird ein Mitarbeiter des Innenministeriums kaltblütig ermordet. Der arbeitslose Journalist Ulrik Torp – vom Jobcenter zum Praktikanten bei der Zeitung Dagbladet degradiert – beginnt, den Fall zu recherchieren. Zusammen mit zwei ehrgeizigen, aber unerfahrenen Kollegen folgt er Spuren zu einem engen Kreis ehemaliger Politiker und Topunternehmer – einer Allianz, die bis zu den Anfängen des Kalten Kriegs zurückreicht. Während die Stimmung der Bevölkerung kurz vor der Wahl von Tweets und Facebook-Posts aufgepeitscht wird, agieren sie im Hintergrund, um ihre eigene Agenda durchzusetzen – und scheinen vor nichts zurückzuschrecken … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Die Schatten von Borgen – Betrügerische Spiele« von Nils Krause-Kjær ist der zweite Band seiner skandinavischen Bestsellerreihe – als hätte John Grisham das Drehbuch zu »House of Cards« neu geschrieben. Das Hörbuch ist bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Über dieses Buch:
Tatort Kopenhagen: Kurz vor den Parlamentswahlen wird ein Mitarbeiter des Innenministeriums kaltblütig ermordet. Der arbeitslose Journalist Ulrik Torp – vom Jobcenter zum Praktikanten bei der Zeitung Dagbladet degradiert – beginnt, den Fall zu recherchieren. Zusammen mit zwei ehrgeizigen, aber unerfahrenen Kollegen folgt er Spuren zu einem engen Kreis ehemaliger Politiker und Topunternehmer – einer Allianz, die bis zu den Anfängen des Kalten Kriegs zurückreicht. Während die Stimmung der Bevölkerung kurz vor der Wahl von Tweets und Facebook-Posts aufgepeitscht wird, agieren sie im Hintergrund, um ihre eigene Agenda durchzusetzen – und scheinen vor nichts zurückzuschrecken …
»Die Schatten von Borgen – Betrügerische Spiele« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über den Autor:
Niels Krause-Kjær ist einer der bekanntesten dänischen Journalisten und Leiter des Journalismusprogramms an der Universität Süddänemark. Für den Thriller »Die Schatten von Borgen – Mörderische Intrige« schöpfte er aus seinen Erfahrungen als Pressesprecher im dänischen Parlament. Die Romanverfilmung mit Lars Mikkelsen gewann mehrere Preise.
Die Website des Autors: nielskrause.dk/
Bei dotbooks erscheinen außerdem seine Romane »Die Schatten von Borgen – Mörderische Intrige« und »Die Schatten von Borgen – Teuflischer Frühling« als eBook.
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eBook-Ausgabe Dezember 2023
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Originaltitel »Mørkeland« bei SAGA Egmont, Kopenhagen.
Copyright © der dänischen Originalausgabe 2019 Niels Krause-Kjær und SAGA Egmont
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2023 Niels Krause-Kjær und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-888-1
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Niels Krause-Kjær
Die Schatten von Borgen – Betrügerische Spiele
Roman – Band 2
Aus dem Dänischen von Christine Heinzius
dotbooks.
Daphne Preca betrat unbemerkt das Wirtshaus.
Wie bei jedem Besuch fragte sie sich, wieso es so gemütlich war.
Vielleicht lag es an den beiden Brüdern, denen es gehörte und die seit über fünfundzwanzig Jahren hinter der Theke standen. Vielleicht lag es an den Gästen, dieser Mischung aus älteren lokalen Inselbewohnern und ein paar vereinzelten Touristen. Vielleicht lag es an den kleinen Schildern mit Sprüchen an der hinteren Wand. Men without shirts are not welcome. Women without shirts get free drinks. Vielleicht lag es an der schmalen Terrasse längs des Hauses, auf der man auf unbequemen Bänken sein Bier trinken und das Treiben im Hafen darunter beobachten konnte: die örtlichen Fischer, die Fähren, die zur Hauptinsel pendelten, die Touristen, die sich zwischen den vier, fünf Lokalen im Hafen entscheiden mussten und oft vom Angebot auf der Insel – Kaninchen in Knoblauch – enttäuscht waren. Vielleicht waren es die Überreste von damals, als das Land noch unter britischer Herrschaft stand, die dem Ort etwas Zeitloses und Einladendes verliehen. Egal warum, sie bekam immer gute Laune, wenn sie die Gleneagles Bar im Hafenort Għajnsielem auf Gozo betrat. Wenn Malta der Rand Europas war, dann war die kleine Insel der Rand Maltas.
Hier war sie geboren worden. Hier fühlte sie sich zu Hause.
Es war später Nachmittag, Ende August, Ende der Touristensaison und der örtlichen Ferien und der wärmsten Sommertage. Knapp dreißig Grad und blauer Himmel. Das ließ sich gut aushalten. Trotzdem spürte Daphne Preca, wie die weiße Bluse an ihrem Rücken klebte. Es war ein langer und erfolgreicher Tag gewesen. Jetzt nur noch das letzte – und wichtigste – Treffen, bevor sie die Fähre zurück zur Hauptinsel und der Wohnung in Valletta nahm, wo sie jetzt lebte.
Sie sah sich um. Es war kurz vor fünf, er war noch nicht da. Sie bestellte zwei kleine Bier, setzte sich raus auf die Terrasse, verfolgte das Leben am Hafen und überdachte die Interviews, die sie im Laufe des Tages auf der anderen Inselseite geführt hatte.
Die Leute hatten offensichtlich Angst gehabt, dass man sie zusammen sehen könnte. Einen hatte sie in einer der vielen großen Kirchen der Inseln interviewt. Flüsternd, als würde der frühere Rechnungsprüfer in die Hölle kommen, sollte ER ihn hören. Wer ER war, wurde nie richtig klar. Es könnte jemand von der italienischen Mafia sein oder ein russischer Oligarch oder auch ein maltesischer Richter. Es könnte auch der Premierminister sein oder jemand aus seiner Entourage.
Als freie Journalistin hatte sie fast ein Jahr lang über den Premierminister und seine Beziehungen recherchiert. Der Premierminister war jung, energisch und liberal, obwohl er Chef der wiederbelebten Arbeiterpartei war. Sie hatte ihn beim ersten Mal sogar selbst gewählt. Die Wirtschaft boomte, die Arbeitslosigkeit sank und der Premierminister war in jeder Hinsicht genau so, wie man es sich in den europäischen Hauptstädten wünschte, nicht zuletzt in Brüssel. Nach mehreren Jahren mit problematischen Regierungen auf Malta fand das Festland, dass jetzt wieder Ruhe herrsche im kleinsten Staat der Union. Keine Androhungen von Vetos, keine Sonderwünsche. Im Gegenzug gab es bald kaum noch ein Stück Asphalt im Land, das nicht ganz oder teilweise von Brüssel bezahlt worden war.
Dass die Korruption in dem kleinen Inselreich auf allen Ebenen wohlbekannt und umfassend war, war weniger wichtig – die zehn Reichsten im Land waren laut der neuesten Forbes-Liste alle Politiker.
Das Wichtigste war die Einheit innerhalb der EU.
Durch Enthüllungen der Rechtsanwaltsfirma Mossack Fonseca in Panama hatte Daphne Preca herausgefunden, wie Gesellschaften in Übersee maltesische Pässe an den Höchstbietenden verkauften – Malta war zusammen mit Zypern zum Eingangstor für eine EU-Staatsbürgerschaft geworden, besonders für reiche Russen mit zweifelhaftem Hintergrund. Gleichzeitig sammelte sie eindeutige Beweise für massive Geldtransfers von der aserbaidschanischen Regierung über Panama an Malta. Dazu gehörten Millionen Kronen, die zwischen der Tochter des aserbaidschanischen Präsidenten und der hübschen Frau des maltesischen Premierministers geflossen waren.
Darum ging es bei diesem Treffen.
Sie sah sich selbst als eine journalistische Einefrauarmee, doch so war es die meiste Zeit während ihrer zweiundfünfzig Lebensjahre gewesen. Und genau jetzt sollte sie mit dem früheren Bankier sprechen, der behauptete, Unterlagen zu einigen Überweisungen zwischen der früheren Sowjetrepublik und der Frau des Premierministers zu haben.
Sie trank einen Schluck Bier. Wo blieb er denn nur? Daphne Preca sah auf ihr Handy. Sie versuchte es unter der Nummer, die er ihr gegeben hatte und über die sie kommuniziert hatten. Sein Telefon musste ausgeschaltet sein.
So saß sie noch eine Stunde, trank dabei auch das abgestandene und lauwarme Bier, das eigentlich für ihren Gast gedacht war. Sie legte fünf Euro auf den Tisch, das war reichlich Trinkgeld, auch für das nächste Mal, wenn sie vorbeikäme, nickte einem der Brüder hinterm Tresen zu und ging zu ihrem Auto auf dem Parkplatz unter ihr. Sie hatte gesehen, dass die nächste Fähre gerade angekommen war.
Verdammt. Jetzt fehlten ihr die Unterlagen.
Später zeigte sich, dass die Bombe aus circa fünfhundert Gramm Semtex gebaut worden war – dieselbe Größe wie die, die beim Lockerbie-Attentat 1988 verwendet worden war, bei dem zweihundertdreiundvierzig Menschen getötet wurden. Der Lärm der Autobombe war auf der halben Insel zu hören und sehr viel lauter als die prächtigen Feuerwerke, die die Bewohner zu jeder Gelegenheit begeistert zündeten.
Die Bombe tat genau das, was sie tun sollte. Sie brachte Daphne Preca zum Schweigen.
Ulrik Torp hatte heute ganz gegen seinen Willen zwei wichtige Termine. Er überlegte, dass das mehr waren, als er in den letzten fünf Jahren gehabt hatte.
»Es ist lange her, Torp. Man muss seine Zähne pflegen.«
Torp versuchte, zu nicken, traute sich aber mit all dem Metall im Mund nicht. Der Zahnarzt war daran gewöhnt, Monologe zu halten.
»Das ist wie mit Kindern und Autos. Die drei Ps, Torp. Pflege, Pflege, Pflege.« Er redete mit sich selbst, während er weiter in Torps Mund hantierte, der nach acht Jahren keinen schönen Anblick biete.
Zu Anfang hatte er es vergessen und verschoben. Als er vorhin gegangen war, hatte Karen gemeint, dass es richtig spätsommerlich und angenehm für einen Septembertag sei. Er hatte schon länger über Zahnschmerzen geklagt, aber immer gedacht, da sei sicher gar nichts. Karen hatte Druck gemacht und schließlich hatte er nachgegeben. Hinter dem Kopf des Zahnarztes konnte er einen Baumwipfel durchs Fenster sehen. Ein leichter Wind bewegte die Blätter. Unter der Decke, direkt über dem Zahnarztstuhl, hing eine bunte Zeichnung, die einige Kinder um einen See zeigte. Sechs Kinder – zwei Mädchen und vier Jungen. Einer davon mit einer kleinen Angel.
»Jetzt entfernen wir den Zahnstein, dann gibt’s eine Zahnreinigung, und ich kümmere mich um das kleine Loch, das Ihnen Probleme macht, und anschließend machen wir einen Termin für nächste Woche, um die Plombe im Backenzahn auszutauschen. Los geht’s, Torp.«
Er nahm den kleinen Bohrer, setzte ihn an den Zahn und ließ ihn aufheulen. Es dröhnte kurz in Torps Ohren. Der Zahnarzt plapperte unverdrossen weiter. Über die Ferien in Spanien, die Hauspreise in Frederiksberg und die vielen Flüchtlinge.
Redete er zu Hause genauso? Studierten Leute, die sich nicht gern unterbrechen ließen, genau deswegen Zahnmedizin?
Torp nickte zustimmend, wenn es möglich war.
»Beginnende Parodontose, aber darum kümmern wir uns später. Benutzen Sie Zahnseide? Sieht nicht danach aus.«
Torp schüttelte vorsichtig den Kopf.
Der Zahnarzt pikste jetzt noch weiter rechts im Mund, unten beim Kiefer. »Hmm«, hörte man. Er saugte die Region trocken und pikste noch einmal. »Tut es hier weh?«
Torp schüttelte erst leicht den Kopf. Dann nickte er.
»Ein bisschen«, sagte er zwischen Wattetampons, dem Sauger und dem Instrument, das der Zahnarzt gerade in seinen Mund schob.
»Hmmm. Sie haben da einen kleinen Knoten oder was immer das da unten ist.« Er nahm die Watte und das Instrument heraus und ließ den Patienten ausspülen. »Haben Sie den schon lange?«
Torp hatte noch nicht darüber nachgedacht, aber ja, ein halbes Jahr schon, vielleicht ein Jahr.
»Ist er größer geworden?« Die Stimmung hatte sich verändert. Sein jovialer Zahnarzt, der Selbstgespräche führte, sah besorgt den Patienten an, der schon Jahre nicht mehr bei ihm gewesen war.
Torp dachte lange nach und fasste sich unwillkürlich an die linke Wange.
»Ein bisschen schon.«
»Das ist sicher nichts, Torp. Aber zur Sicherheit machen wir lieber eine Biopsie. Ich schreibe eine Überweisung, damit man im Rigshospital eine Probe nehmen kann.«
»Was ist das?« Torp hatte sich im Zahnarztstuhl aufgerichtet, auch wenn die Rückenlehne immer noch flach war.
»Das ist bestimmt gar nichts. Wir wollen bloß ganz sicher sein.«
»Aber was könnte es sein? Was soll denn untersucht werden?«
Der Zahnarzt zögerte.
»Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen, Torp. Aber es kann – und ich betone ›kann‹ – ein Tumor sein. Und ein Tumor kann in seltenen Fällen bösartig sein.«
Ulrik Torp hatte das Gefühl, dass das Zimmer schrumpfte. Die Luft entwich, der Mund wurde trocken. Wieso traute er sich nicht, das Wort Krebs auszusprechen?
»Sollte es so sein, dann ist es wichtig, das frühzeitig zu erkennen.«
»Und haben wir das? Es frühzeitig erkannt?«
Der Blick des Zahnarztes flackerte.
»Unmöglich, das jetzt zu sagen. Ich schreibe Ihnen die Überweisung, Torp. Dann sehen wir weiter.«
Der Zahnarzt sprach es nicht aus, aber Torp erkannte an Tonfall und Blick, dass acht Jahre ohne Arztbesuch kein guter Start waren.
Am Empfang machte er einen Termin für die neue Plombe aus, auch wenn ihm das gerade gleichgültig erschien. Ja, er könne sofort bezahlen. Torp gab den Pin ein und akzeptierte betroffen die Summe von 1.213 Kronen.
Das war der erste Termin des Tages. Hatte er überhaupt schon einen wichtigen Termin gehabt, seit er nicht mehr beim Dagbladet war? Der Tag, an dem Jahre später seine Arbeitslosenunterstützung ausgelaufen war, war auf gewisse Art wichtig gewesen, aber kein Termin.
Ein paar Minuten später stand Ulrik Torp etwas benommen auf dem Bürgersteig. Schon zweimal hatte er früher so dagestanden mit dem merkwürdigen Gefühl, zuzusehen, wie die Welt weitermachte, als wäre nichts geschehen, obwohl sich in Wirklichkeit alles vollkommen verändert hatte. Die Ampel schaltete von Rot auf Grün, Autos fuhren, Menschen liefen. Alles war wie vorher und doch war es das es nicht. Konnte die Welt das denn nicht sehen?
Zum ersten Mal hatte er dieses Gefühl am Morgen nach Sofies Geburt gehabt. Die Geburt war lang und schwer gewesen, aber gegen sieben Uhr war ihre Tochter dann endlich da. Karen hatte den frisch gebackenen Vater ein paar Stunden später gebeten, in die Stadt zu fahren und eine Nagelschere für Babys zu kaufen. Später hatte er überlegt, ob sie nicht bloß ihre Ruhe gewollt hatte. Und so hatte er dagestanden, auf dem Krankenhausparkplatz, auf der Suche nach einer Nagelschere in einer Welt, die von dem gerade geschehenen Wunder merkwürdig unbeeindruckt war.
Zum zweiten Mal hatte er es gehabt, als sein Vater vor einigen Jahren gestorben war. Damals wunderte er sich auf dem Parkplatz vorm Pflegeheim darüber. Wie zur Bestätigung der Unverwüstlichkeit der Welt machten alle weiter, als wäre nichts geschehen. Ein blauer Postbote fuhr auf seinem E-Bike vorbei – trugen sie inzwischen tatsächlich nur noch einmal pro Woche die Post aus? Zwei übergewichtige Teenager schlenderten auf dem Bürgersteig vorbei, den Mund voller Pizza, wahrscheinlich im 7-Eleven an der Ecke gekauft. Das war das Mittagessen der Sozialhilfekinder und zukünftigen Diabetespatienten in der Schulpause. Wussten sie denn nicht, dass hinter der Mauer ein toter Mensch lag?
Und dann jetzt. Auf dem Bürgersteig vor der Praxis seines alten Zahnarztes mit der Aussicht auf eine Biopsie, um nachzusehen, ob ein Knoten – ein Tumor – in der Wange bösartig war. Tumor. Konnte so was überhaupt gutartig sein? Ulrik Torp sah die Menschen vorbeieilen, in Busse steigen und miteinander reden. Die Leute waren verdammt sorglos. Natürlich waren sie das.
Torp stieg aufs Fahrrad.
***
Hallo Ulrik,
wir würden gern mit Ihnen über bestimmte Möglichkeiten reden, die sich auf die Leistungen, die Sie beziehen, auswirken können. Es eilt ziemlich. Können Sie morgen um 13 Uhr ins Jobcenter kommen?
HerzlichAne Gent
Ulrik Torp las die E-Mail von gestern noch mal auf seinem Handy. »Herzlich Ane Gent« – das klang wie Agent. In der automatischen Signatur der E-Mail sah er, dass Ane auch Jobberaterin war. Das waren sie wohl alle. Er war eine Viertelstunde zu früh da. Vor allem, weil er direkt vom Zahnarzt mit dem Fahrrad hergefahren war, anstatt noch schnell nach Hause zu radeln, um ein Brot zu essen. Das musste warten. Er zog die Hose hoch, sie war ihm inzwischen ein paar Nummern zu groß, und setzte sich hin, ohne sich anzumelden. Torp sah sich um und versuchte, die anderen zwölf Wartenden in die drei wohlbekannten Gruppen aufzuteilen. Ein Drittel wollte nicht arbeiten. Ein Drittel konnte nicht. Und das letzte Drittel könnte es sehr wohl, wenn sich alle Beteiligten anstrengten. Er war sich inzwischen nicht mehr sicher, zu welcher Gruppe er selbst gehörte.
Ihm gegenüber saß ein Mädchen von zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahren. Extrem dick. Vielleicht schwanger, schwer zu sagen. Unmöglich zu sagen. Neben ihr ein Typ Anfang dreißig mit Tätowierungen an den Armen und auch am Hals. Er hatte eine Glatze und das rechte Bein wippte nervös auf und ab. Desinteressiert schaute er auf sein Smartphone. Er könnte zwar sicher arbeiten, hätte aber wohl anderes zu tun, riet Torp. Rechts daneben ein älterer Mann. Torp erschrak etwas, als er ihn auf sein eigenes Alter schätzte. Älter? Er war schick gekleidet, vielleicht ein ehemaliger Vertreter für Chips oder so was, der kleinere Einzelhändler beraten hatte – etwas, das heute Algorithmen und Supermärkte selbst erledigen. Er würde gern arbeiten. Doch was konnte er? Links von ihm ein Einwanderer oder Flüchtling. Ulrik Torp wusste sehr wohl, dass das prinzipiell ein Unterschied war, hatte aber keinen Nerv mehr zur Differenzierung. Da er in einem Jobcenter saß, war er wohl ein Einwanderer. Ein junger Mann, noch keine dreißig. Araber, vielleicht aus dem Irak. Der wollte nicht – ganz sicher. Wieso baute der eigentlich nicht sein eigenes Land wieder auf?
Torp betrachtete alle zwölf. Das Ergebnis: Sechs konnten nicht, vier wollten nicht, zwei konnten – vielleicht – sehr gut. Er war hungrig und wütend, dass er nicht doch noch zur Wohnung gefahren war. Er schaute noch einmal aufs Handy und die Nachrichtenapp vom Dagbladet.
Eine politische Krise lief gerade völlig aus dem Ruder.
Die Nationalen, die neue Partei, die bei der nächsten Wahl ins Parlament einziehen wollte, verlangte eine Volksabstimmung zur EU-Mitgliedschaft als einzige Bedingung dafür, den bürgerlichen Ministerpräsidenten, Palle Enevoldsen von den Liberalen, zu unterstützen.
Bisher hatte niemand wirklich Notiz davon genommen. Die große Unterstützerpartei der Regierung, die Volkspartei, war eigentlich gegen die EU und hätte gern eine Volksabstimmung, aber noch lieber wollte sie nach der nächsten Wahl eine Regierungsbeteiligung. Wir können im Parlament ja nicht über etwas abstimmen, das niemand vorgeschlagen hat, wie der Parteivorsitzende jedes Mal mit seinem Wolfslächeln abwehrte.
Doch jetzt brachten die Neuradikalen die Angelegenheit durcheinander, was eine Kettenreaktion auslösen könnte, die sich die wenigsten wünschten. Ein Autounfall in Zeitlupe, wie ein Kommentator bemerkt hatte. Die Neuradikalen waren in der Opposition und für die EU, aber noch mehr für Volksabstimmungen. Ein zufälliges Fernsehinterview des unorthodoxen Parteichefs hatte alles ausgelöst.
»Da Sie ja sehr große Verfechter von Volksabstimmungen sind, wieso können die Dänen dann nicht über die EU-Mitgliedschaft abstimmen?«
»Na, das können sie doch gerne.«
»Wieso schlagen Sie es dann nicht im Parlament vor?«
»Na, dann tun wir das.«
»Das war’s.«
»Mehr nicht.«
Der Ausschnitt wurde immer und immer wieder gezeigt.
Und damit brach in der Schlangengrube Christiansborg – dem Sitz des Parlaments – die Hölle los. Der Vorsitzende der Volkspartei musste erklären, dass seine Partei dafür stimmen würde, sollten die Neuradikalen einen solchen Vorschlag einbringen. Das galt auch für den linken Flügel und eine der kleineren bürgerlichen Parteien. All das wäre – fast – egal gewesen, hätte es sich nicht in einer der alten und an der Regierung beteiligten Parteien zugetragen, doch plötzlich entstand darum ein Aufruhr in der Arbeiterpartei. Eine Minderheit im Parlament – oder war es die Mehrheit? –unterstützte den Wunsch nach einer Volksabstimmung. Wenn auch nur, um die Regierung zu stürzen und Neuwahlen auszulösen.
Torp erinnerte es an die Geschichte, dass es in Europa stürmte, wenn ein Schmetterling in Asien mit den Flügeln schlug. Sogar fast wortwörtlich, denn in mehreren EU-Ländern sprachen sich starke Kräfte dafür aus, »dem dänischen Beispiel« zu folgen.
Doch zuerst mussten die Neuradikalen den Vorschlag überhaupt einmal einbringen.
Bald würde sich der Machtkampf in der Arbeiterpartei entscheiden.
Das alles werde sich in der nächsten Woche regeln, schrieb der politische Analyst des Dagbladet Jørgen Høegh.
Torp scrollte weiter nach unten. Bei solchen Gelegenheiten vermisste er seine Zeit als politischer Journalist am meisten.
In Italien wurde nach einem Attentat auf den beliebten Premierminister vor den Sommerferien eine neue Regierung gebildet. Ein unklarer Cocktail aus Widerstand gegen den Euro, Sympathie zu Russland, einem Totalstopp der Einwanderung und einem Grundeinkommen hatte ihn vor einem halben Jahr an die Macht gebracht. In der relativ neuen Partei gab es niemanden, der ihm nachfolgen könnte – ohne ihren Gründer und charismatischen Führer löste die Partei sich gerade auf, wie vorherzusehen gewesen war. Daher wurde der frühere konservative Premierminister erneut Premierminister – allerdings mit Unterstützung der früheren populistischen Regierungspartei. Tja, dachte Torp. Die Autobombe, die vor Kurzem eine Journalistin auf Malta getötet habe, sei vermutlich von der italienischen Mafia gelegt worden, meinte ein Experte.
»Ulrik Torp?«
Er sah auf. Sie war Ende dreißig, hatte blondes Haar, eine modische Brille und zwinkerte. Er nickte und stand auf.
»Hallo Ulrik. Ane«, sagte sie und reichte ihm die Hand.
Torp war froh, dass das »herzlichst« nur auf dem Papier stand. Er nahm die ausgestreckte Hand, zog seine Hose hoch und folgte ihr an ihren Schreibtisch. Anes Rock war viel, viel zu eng.
Während sie sprach, sah sie abwechselnd zu ihm und auf ihren Computerbildschirm. »Sie hatten ja – wie ich hier sehe – ein paar Probleme als Arbeitssuchender, Ulrik«, begann sie. Und das stimmte. Arbeitssuchender war in diesem Zusammenhang ein starkes Wort. Nach der Personalanpassung beim Dagbladet – einer von recht vielen – hatte er gewissenhaft im Internet nach Jobs gesucht, wie es das System verlangte, damit er weiter Arbeitslosengeld bekam. Kommunikationsmitarbeiter in der Gemeinde Gentofte. Journalist in der Kommunikationsabteilung der Firma ISS. Redakteur in Teilzeit bei einer neuen Zeitschrift des Blauen Kreuzes. Schwangerschaftsvertretung als Redaktionssekretär beim Expressen. Weit über hundert Bewerbungen waren es in den zwei Jahren geworden, in denen er Arbeitslosengeld bekam. Er hatte ein einziges Vorstellungsgespräch bei einem großen Unternehmen, aber er spürte sofort, dass sie über sein Alter überrascht waren. Dabei stand das doch in der Standardbewerbung, verdammt noch mal!
Wie alle arbeitslosen Journalisten hatte er sich zu Anfang freier Journalist genannt, inklusive der für die Branche obligatorischen und billigen Visitenkarten in der Jackentasche. TorpKommunikation – Kompetenz und Erfahrung. Er hatte tausend drucken lassen, weil die zweiten fünfhundert bloß noch die Hälfte kosteten, und hatte vielleicht zwanzig verteilt, bevor er aufgab. Er hatte ein bisschen was geschrieben und zu lächerlich niedrigen Preisen verkauft, was sofort mit dem Arbeitslosengeld verrechnet wurde. Und dann Sozialhilfe. Durch Karens Teilzeitstelle als Lehrerin bekam er gerade noch ein bisschen von der öffentlichen Hand, auch wenn er größtenteils von seiner Frau unterstützt wurde, wie der Mitarbeiter der städtischen Sozialhilfebehörde sachlich feststellte. Weniger als 3.000 Kronen im Monat. Ulrik Torp hatte Karen gegenüber mehrmals vorsichtig angedeutet, sie kämen doch auch ohne das Geld aus, sodass er nicht mehr aufs Sozialamt, ins Jobcenter, zu Berufsberatern und Sozialarbeitern müsste, keine Formulare, Vorladungen und Entmündigung mehr bräuchte. Diese Gespräche mit Karen führten zu nichts. Also hatte er damit aufgehört. Dasselbe galt darüber hinaus auch für das Jobcenter – die störten ihn kaum noch. Er kostete den Wohlfahrtsstaat nicht viel und war schon längst in der Gruppe »will nicht« gelandet. Manche erwogen allenfalls ein »kann nicht«.
»Dagegen müssen wir doch etwas tun«, fuhr Ane fort. »Vielleicht ist es bald an der Zeit, die Jobsuche auch auf andere Berufe auszuweiten. Im Moment ist die Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften ja sehr hoch. Aber erst das ganz Aktuelle, Ulrik.« Sie widmete ihre professionelle Aufmerksamkeit ganz ihrem Klienten. »Wir haben ein Praktikumsangebot bekommen, das wie für Sie gemacht ist. Es gibt dafür natürlich nicht mehr als die 2.814 Kronen, die Sie bereits monatlich erhalten, aber es sind vier Wochen und eine tolle Chance, in Ihrem Fach und auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen.«
Ulrik Torp sah sie an, ohne etwas zu sagen. Er bemerkte die wohl gepflegten Fingernägel und spürte die Energie in ihr. Diese Energie, die daher rührte, dass sie immer noch an ihre Arbeit glaubte. Sie musste ganz neu sein. Wieso zum Teufel war seine Akte ausgerechnet auf ihrem Schreibtisch gelandet?
»Das Dagbladet sucht einen Praktikanten. Die Zeitung kennen Sie ja, wie ich Ihren Unterlagen entnehme.«
Torp spürte eine Leere im Magen, legte eine Hand an die rechte Wange und dachte kurz an die bevorstehende Biopsie – würde das Krankenhaus oder der Zahnarzt ihm Bescheid geben? Sicher das Krankenhaus selbst. Er spürte den Knoten – den Tumor – schon seit einem Jahr, überlegte er. Seit dem Sommer, in dem sie das Wohnzimmer gestrichen hatten, da war er ihm das erste Mal aufgefallen. Torp drückte mit der Zunge gegen den Knoten unten am Kiefer. Er war auf jeden Fall größer geworden. Tat er auch weh? Das hatte der Zahnarzt mehrmals gefragt. Natürlich tat er weh, wenn man darauf drückte.
»Das stimmt doch, Torp? Sie waren viele Jahre beim Dagbladet politischer Journalist, wie ich hier sehe.«
Er erschrak. Jetzt mussten sie verdammt noch mal aufhören. Gab es denn keine Untergrenze für die Erbärmlichkeit und Tiefe der Zeitungskrise? Jetzt engagierten sie schon gefeuerte Mitarbeiter als Praktikanten. Ane machte mit ihrem Verkaufsgespräch weiter.
»Das Dagbladet schreibt, dass sie in Bezug auf die für nächste Woche erwartete Ankündigung von Neuwahlen nicht genug schreibende Journalisten haben. Das ist doch wie für Sie gemacht, Ulrik.«
Ulrik Torp sah seinen alten Arbeitsplatz vor sich. Alles war sicher noch genauso wie vor fünf Jahren, abgesehen von hundert Mitarbeitern weniger, einem Teil der Redaktion, der in ein Büro mit schlechteren Konditionen outgesourct worden war, das gesamte Layout, abgesehen vom Titelblatt, outgesourct nach Indien, und einem fast halbierten Anzeigenverkauf. Abgesehen davon war es dasselbe. Die ewigen Redaktionskonferenzen. Die Kritik am nächsten Tag, die erschreckend vorhersehbar war. Besonders bei den Ideen, die von den Chefs kamen, was auf die meisten Ideen zutraf, da die Mitarbeiter bloß noch wie Geisteskranke von morgens bis abends Wörter im Netz anhäuften.
»Und wenn ich nicht kann?«
Ane missverstand seinen Einwand.
»Natürlich können Sie das, Ulrik. Auch wenn es schon fünf Jahre her ist, dass Sie als Journalist gearbeitet haben, so haben Sie das doch Ihr gesamtes Berufsleben lang getan.« Sie legte den Kopf professionell schief: »Ulrik. Jetzt sag ich Ihnen mal was. Man verliert leicht sein Selbstvertrauen, wenn man entlassen und arbeitslos wird. Das kann passieren. Und wir glauben, dass es Ihnen so geht. Aber so was redet man sich ein. Jetzt gilt es, wieder einzusteigen. Ich sehe so viele Ressourcen in Ihnen. Das tue ich wirklich.«
Ulrik Torp erinnerte sich, wieso er Karen gegenüber mehrmals vorsichtig angedeutet hatte, ob sie nicht auch mit 2.814 Kronen weniger im Monat über die Runden kämen.
Ane spielte ihren Trumpf aus: »Sie sind stark, Ulrik. Das spüre ich. Das hier wird Ihnen guttun.«
»Und wenn ich nicht kann?«
»Sie können es. Das weiß ich. Ansonsten muss ich das mit dem Sozialamt der Gemeinde besprechen«, sagte sie lächelnd.
So eine war sie also. Agentin-Ane mit dem energischen Blick, allen Klischees und dem viel zu engen Rock. Eine Paragrafenreiterin, die ihnen mit einem Klick seine – oder besser gesagt Karens – 2.814 Kronen wegnehmen würde, wenn er nicht spurte. Er dachte an die Zahnarztrechnung, die er gerade bezahlt hatte.
»Heute ist Dienstag. Das Dagbladet möchte, dass Sie am Montag beginnen. Die erinnern sich ja an Sie, Ulrik. Ich kümmere mich um den Papierkram, dann ist das erledigt. Viel Glück, Ulrik. Engagieren Sie sich. Zeigen Sie denen Ihr bestes Selbst!«
Ulrik Torp schluckte die Frage hinunter, in welchem Deppenkurs sie diesen Mist gelernt hatte. Er stand auf. Gab ihr die Hand und überlegte, wie oft sie ihn Ulrik genannt hatte, obwohl sie einander vorher noch nie begegnet waren. Zehn Mal? Er hatte kein einziges Mal Ane gesagt. Das wusste er.
***
Jedes Mal, wenn Ulrik Torp den Schlüssel in die Tür zu ihrer Zweizimmerwohnung in Frederiksberg steckte, durchdrang Bitterkeit seinen ganzen Körper. Sie schien ihn völlig zu lähmen. Sogar nach zwei Jahren noch. Karen war inzwischen etwas traurig, aber nicht mehr.
»Jetzt hör schon auf, Ulrik«, sagte sie bloß, wenn es zu offensichtlich war. Sie konnte es besser akzeptieren, nahm es selten persönlich. Er schon. Selbst wenn es nicht unbedingt persönlich gemeint war. Wieso war es so gekommen? Was hatte er falsch gemacht? Hatte er überhaupt etwas falsch gemacht? Waren andere schuld? Nicht nach der neuen politischen Logik – jetzt war alles persönlich. In den 1970ern war es einfacher, damals war die Gesellschaft an allem schuld. Ulrik Torp dachte an die vielen Artikel, die er als Journalist beim Dagbladet geschrieben hatte, über Berichte von Weisen, Empfehlungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Anreizstrukturen, Arbeitsmarktreformen, zu politischen Anforderungen, zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit, EU und Globalisierung. So sei es eben, wie ein Minister festgestellt hatte. Aber musste es so sein? Er hatte das alles mit der Gewissheit geschrieben, dass es nie etwas mit ihm selbst zu tun haben würde. Denn Anpassungen, Einschränkungen und Übertritte hatten nicht zu seiner Welt oder der seiner Bekannten gehört.
Und dann die Wohnung. Die Verkörperung der Demütigung. Er betrat den kleinen Eingang. Karen war zu Hause. Sie saß im Wohnzimmer in ihrem Wegner-Wingchair aus Leder – einem der letzten Zeugen einer vergangenen Zeit. Er wirkte in dem kleinen Wohnzimmer, in das viel zu viele Möbel gequetscht waren, fehl am Platz. Sie begrüßten sich kurz, dann ging er in die schmale, lange Küche, um sich ein Brot zu schmieren. Wohnküchen waren auch etwas für andere.
»Wie war’s beim Zahnarzt?«
Karen schaute aus ihrem Designerstuhl auf, offensichtlich etwas überrascht, dass er nicht zu Hause gewesen war, als sie von der Arbeit in der Privatschule gekommen war.
Er zögerte.
»Die Zahnschmerzen sind weg, ein bisschen Parodontose, die noch behandelt wird. Nächste Woche wird eine Plombe erneuert.«
»Nach so vielen Jahren kommst du damit aber gut weg.« Ihr Tonfall war etwas vorwurfsvoll. Nur ein wenig. Sie hatten viel Geld gespart, weil er nicht zum Zahnarzt gegangen war.
»Das Jobcenter will mich ab Montag zum Praktikum beim Dagbladet schicken. Für vier Wochen.«
»Ist das gut?« Sie sah ihn besorgt an.
»Na ja. Vielleicht«, log er und nahm einen großen Bissen vom Brot mit Leberpastete, vor allem, um nichts mehr sagen zu müssen.
Sie schwieg lange. Er ließ sie.
»Ist sonst noch etwas passiert?«
Redeten sie nicht mehr übers Dagbladet? Was er dort tun solle? Ob er sich freue, seine alten Kollegen wiederzusehen? Ob es eine Chance sei, wieder einzusteigen? Torp wusste, dass sie ihn schonen wollte. Er wusste allerdings nicht, ob ihn ihre Fürsorge freute oder nervte.
»Was soll schon passiert sein?« Er strich über seine rechte Wange.
Würde er morgen einen Termin für die Biopsie bekommen?
»Soso«, sagte Karen und las weiter in dem Buch, das sie diesen Monat mit ihren Freundinnen im Buchclub besprechen würde. Albert Camus’ »Der Fremde«. Es war eine Klassikerrunde. Er selbst hatte es vor vielen Jahren mal gelesen, ohne es wirklich zu verstehen. Ihr »Soso« ärgerte Torp. Sie benutzte es sehr oft im Laufe eines Tages. Es klang sowohl altmodisch als auch arrogant. Als hätte sie Wichtigeres zu tun, was sie wohl auch hatte.
»Ich gehe mal Milch kaufen«, sagte er und ging.
Die Fassade des Dagbladet war genau das. Eine Fassade. Der neue Chefredakteur hatte der Zeitung mit neuen, angeblich modernen Schrifttypen ein neues Design verpasst, das natürlich auch außen am Gebäude zu sehen sein sollte. Streng und einfach. Die Schwingtür war durch eine Schleuse ersetzt worden, bei der sich die innere Tür aus schusssicherem Glas erst öffnete, wenn die Glastür zur Straße zugeglitten war. Der umgebaute Empfang bestand jetzt aus Stahl und Glas.
Das Einzige, was Ulrik Torp sofort wiedererkannte, war die ältere Dame am Empfang.
»Torp!« Charlotte lächelte, als sie ihn sah. »Was zum Teufel machst du denn hier?«
Ulrik Torp warf rasch einen Blick in die Unterlagen, die er von Agentin-Ane im Jobcenter bekommen hatte.
»Charlotte! Ich habe einen Termin bei eurer Personalchefin. Yvonne.«
Sie ignorierte seinen Termin zunächst.
»Torp. Es ist ganz schön lange her. Welche Entlassungsrunde war es? Die dritte, bei der das gesamte Sekretariat in Flammen aufging?« Torp schüttelte den Kopf. Dann musste es die Runde kurz davor gewesen sein, da waren sie sich einig. »Wie geht’s dir? Kommst du wieder zurück?«
»Im nächsten Monat gibt’s wohl etwas mehr zu tun, wenn es zu Neuwahlen kommt. Ich soll aushelfen. Mein Termin ist bei Yvonne – der Personalchefin.«
Torp wollte weiter, auch wenn er sich zu seiner eigenen Überraschung ehrlich freute, die Rezeptionistin wiederzusehen, die sich seit über fünfundzwanzig Jahren um die Telefone kümmerte. Jetzt kümmerte sie sich wohl mehr um die terrorsichere Schleuse. Das Festnetztelefon der Zeitung klingelte nur noch selten.
Ulrik Torp wollte vor allem die Redaktion in der ersten und zweiten Etage vermeiden, daher nahm er, jetzt mit einem Gastaufkleber an der Brust, den Aufzug direkt hoch in die dritte Etage zur Personalchefin. Er erinnerte sich von damals noch vage an sie. Dasselbe Büro, jetzt aber als Chefin.
»Torp. Was für ein Knüller, dass du zurückkommst. Ich war mir gar nicht sicher, ob du … also«, sie zögerte, »also … Kapazitäten frei hast, meine ich.«
Ulrik Torp ignorierte sowohl die Einleitung als auch ihre Schönfärberei. »Freie Kapazitäten« war ein hübscher Kompromiss im Newspeakgrenzgebiet zwischen TorpKommunikation – Kompetenz und Erfahrung und Sozialhilfe. Wenn sie sich einig waren, keine weiteren verzweifelten Sätze mehr darüber zu verlieren, könnten sie beide die Fassade aufrechterhalten.
Ulrik Torp und Yvonne tauschten die formellen Informationen für die Bürokratie des Jobcenters und des Dagbladet aus, er bekam einen Ausweis »mit vier Wochen Laufzeit«, einen Laptop und ein billiges chinesisches Handy – und damit war er plötzlich wieder ein Mitarbeiter des Dagbladet.
»Du kannst selbst runter in die Redaktion gehen und Hallo sagen«, meinte Yvonne. »Wende dich an den Redaktionschef Arne Lund. Ihn kennst du ja. Er weiß, dass du kommst.«
Ulrik Torp zog den Aufkleber von der Brust und ersetzte ihn mit dem Dagbladet-Ausweis mit einem alten Foto von ihm aus dem Zeitungsarchiv. Er erinnerte sich sofort daran, wie es gewesen war, immer mit dieser an der Jacke oder am Gürtel baumelnden Ausweiskarte im Haus herumzulaufen. Wie eine Klubmitgliedskarte, die, wie er erst hinterher begriff, keinen automatischen Zugang gewährte.
Ulrik Torp ging die Treppe hinunter und verfluchte die nächsten Stunden. Grüß dich, Hallo, Guten Tag, Servus und Fantastisch, dass du hier bist und Wie unfair, dass du geflogen bist, dazu siebzehn Variationen von Wie geht’s, obwohl die meisten seiner alten Kollegen sehr gut wussten, wie es ihm ging. Kopenhagen und die Journalismusbranche waren viel zu klein, um eine so gute und tröstliche Geschichte zu verbergen, denn es beruhigt ja immer, wenn es anderen schlechter geht als einem selbst.
Arne Lunds Büro war bisher das, was sich am wenigsten verändert hatte. Es hatte sich tatsächlich überhaupt nicht verändert, bemerkte Torp. Der Schreibtisch lag voller Ordner und Zeitungen. Das Regal hinter ihm war vollgestopft mit Büchern und Krimskrams nach einem System, das auch Arne Lund selbst kaum mehr durchschaute. Der Cavlingpreis – Dänemarks höchste Auszeichnung für Journalisten – stand oben auf dem Regal, einsam und majestätisch zeugte er von Arne Lunds Glanzzeit, bevor er vor vielen Jahren Redaktionschef geworden war. Ulrik Torp wusste, dass er ohne Arnes Zustimmung vor fünf Jahren nicht hätte rausgeworfen werden können. Viele waren gefeuert worden. Karen und viele seiner Kollegen versuchten ihm damals einzureden, dass er es nicht persönlich nehmen solle. Dass es einen Unterschied zwischen einer Kündigung und einer Entlassung gebe. Fuck them. Verdammt, natürlich war so was persönlich. Dreiundzwanzig mussten gehen. Fast zweihundert blieben. Wie sollte es da nicht persönlich sein? Trotzdem empfand er weder Wut noch Bitterkeit gegenüber dem Redaktionschef. Fast hundert weitere waren seitdem in mehreren Runden gekündigt oder entlassen worden, ihm war egal, welches Wort man benutzte, und zwar aufgrund von Umständen, die niemand beeinflussen konnte. Man konnte die Schuld dafür nur sehr begrenzt dem alten oder neuen Chefredakteur, dem Geschäftsführer oder dem Vorsitzenden zuschieben.
Google, Facebook, der Rückgang der Anzeigen, das Internet, andere Lesegewohnheiten, die Globalisierung, die Zeit. Viele teilten sich die Verantwortung dafür, dass die Zeitungen – die sich früher beinahe selbst finanziert hatten – sich jetzt in einer Existenzkrise befanden, egal, ob sie auf Papier oder im Netz erschienen.
»Torp! Schön, dich zu sehen.« Arne Lund schaute auf und direkt in einen Gesichtsausdruck, den man alten Klassenkameraden gegenüber hat, die man zufällig auf der Straße trifft: viel Vergangenheit.
»Geht mir genauso.«
»Du musst wissen, dass das hier nicht meine Idee war. Das hat sich die Personalabteilung zusammen mit der Sozialabteilung ausgedacht.« Ihm fielen die Fragezeichen in Ulrik Torps Gesicht auf. »Ja, wir haben jetzt eine Sozialabteilung. Die soll öffentliche Gelder auftun, damit wir selbst nichts bezahlen müssen.«
Torp sagte immer noch nichts.
»Ich habe den Eindruck, dass es sogar Gewinn bringt«, ergänzte Arne Lund und deutete mit einem Lächeln an, dass das ein Witz war.
»Ich nehme das als Anzeichen dafür, dass TorpKommunikation nie richtig durchgestartet ist.« Arne war so, wie Torp ihn in Erinnerung hatte: befreiend direkt. »Das läuft doch immer so«, fuhr er fort. »Die meisten freien Journalisten ergänzen ihren Namen mit Kommunikation und halten es fast für eine Marke.« Das Letzte sagte Arne Lund mehr zu sich selbst, während er leicht den Kopf schüttelte. Wenn es noch einen Vorruhestand geben würde, hätte er zwar das passende Alter, aber nicht die passende Einstellung dafür gehabt. Mit Glatze und leicht unrasiert, genau wie vor fünf Jahren, in einer abgetragenen grauen Strickjacke - derselben? - über einem zerknitterten hellblauen Hemd. Auf dem Schreibtisch standen eine Thermoskanne und zwei Tassen. Yvonne hatte recht gehabt. Er war wirklich erwartet worden.
»Nein. Es hat nie so richtig funktioniert«, sagte Torp. Das war vermutlich das Ehrlichste, was er seit der Kündigung über seine eigene Situation gesagt hatte.
Arne Lund schenkte Kaffee ein.
»Ich bin gut in dem, was ich tue, aber das Dagbladet ist wie eine schützende Blase. Ich könnte da draußen in der Prärie auch nicht überleben. Ehrlich«, sagte Arne Lund und schob Torp die Kaffeetasse zu. »Genug davon. Du wirst die nächsten vier Wochen hier sein. Morgen werden garantiert Neuwahlen verkündet. Die Neuradikalen haben keine überzeugende Unterstützung für ihre Forderung nach einer Volksabstimmung zur EU-Mitgliedschaft. Ihre Fraktion trifft sich morgen Nachmittag, um formell zu beschließen, den Vorschlag einzubringen. Die Volkspartei macht mit und die Arbeiterpartei vermutlich ebenfalls. Wenn das geschieht, muss der Ministerpräsident reagieren. Ich frage mich bloß, ob sie es wirklich wollen. Aber weder die Liberalen noch die Arbeiterpartei können sich da rauswinden. Gott schütze mich vor Clowns.« Arne Lund schüttelte den Kopf.
Torp stimmte zu: »Ein Klassiker. Das Schlimmste, was einer Partei passieren kann, ist, dass plötzlich eine Mehrheit fürs Parteiprogramm ist. So war das dann doch nicht gemeint.«
Sie grinsten beide wissend.
Die Volkspartei war jetzt in ihrer eigenen Rhetorik gefangen und fürchtete, Stimmen an die neue Partei, die Nationalen, zu verlieren. Die Arbeiterpartei würde gern die Regierung stürzen und die Neuradikalen waren … nun ja, Neuradikale. Sie lebten in einer Fantasiewelt. Lund und Torp hatten die dänische Politik fast immer durch dieselbe Brille gesehen.
»Es soll also ab jetzt und bis zur Wahl viel über Politik geschrieben werden, sehe ich das richtig?«
Torp stand auf.
Arne Lund nickte.
»Darauf kannst du Gift nehmen. Das wird eine entscheidende Wahl. Können die Alten sie noch mal verteidigen oder heißt es Hallo Gaga-Land?«
Ulrik Torp grinste wieder. »Gaga-Land.« Den Ausdruck hatten sie oft benutzt, wenn sie über Politik geredet hatten. Er hatte ihn ganz vergessen, genau wie die schönen Momente beim Dagbladet. Redaktionstreffen, die Abende vor Redaktionsschluss und Druckbeginn. Die einvernehmlichen Gespräche, der fachliche Stolz, wenn eine Story sinnvoll war und Wellen schlug. Er begann, sich zu engagieren.
»Wird es eine tägliche Wahlbeilage geben wie früher?«
»Das ist noch nicht raus. Papier ist teuer, aber wir machen als Minimum täglich ein paar Seiten – auch, damit wir den Rest der Welt nicht komplett vergessen.«
Ulrik Torp lächelte wieder. Der Rest der Welt wurde leicht verdrängt, wenn der Wahlkampf losging.
Arne Lund fuhr fort: »Und hier kommst du ins Spiel, Torp. Einige Journalisten aus der Reportagegruppe werden dem Politikressort angegliedert. Das geht schon heute los. Daher sollst du in die Reportagegruppe und die dort entstehenden Lücken abdecken.«
Ulrik Torp wollte gerade einen Schluck Kaffee trinken, als Arne Lund das sagte. Er hielt in der Bewegung inne und verschüttete ein paar Tropfen, ohne dass der Schreibtischbesitzer es bemerkte.
»Mit deiner Erfahrung kannst du direkt loslegen. Für dich ist das mit links zu schaffen, Torp. Locker mit links.«
»Natürlich … das ist okay. Mit links. Das kann ich locker.«
Ulrik Torp war von seinen eigenen Worten überrascht. Wie war es möglich, so viel Mist zu erzählen? Hatte man ihn gerufen, um Ritzau-Meldungen zu Verkehrsunfällen umzuschreiben und Pressemitteilungen durchzublättern?
Doch was sollte er sagen? Dass er nach fünf Jahren draußen jetzt als Praktikant, was sich die Sozialabteilung mit Hilfe von Agentin-Ane im Jobcenter ausgedacht hatte, für 2.814 Kronen für vier Wochen Arbeit nur über dänische Politik schreiben wollte? Dass es sogar für einen fünfundfünfzigjährigen Sozialhilfeempfänger und Krebspatienten Grenzen gab? Genau genommen war er noch kein Krebspatient. Er hatte noch nicht einmal die Biopsie vom Knoten in der Wange machen lassen. Dem Tumor.
Das Rigshospital hatte mitgeteilt, dass er wegen eines technischen Fehlers noch nicht zur Ultraschalluntersuchung und zur Biopsie eingeteilt worden sei. Er werde in den nächsten Tagen eine SMS mit einem Termin bekommen. Die Dame bat um Entschuldigung.
»Wo soll ich eigentlich sitzen?«, fragte er bloß.
»Nur ich und noch wenige andere haben ein eigenes Büro mit Schreibtisch. Fast alle haben heute einen kleinen Spind für ihren Laptop und ihre Unterlagen, setz dich einfach an einen freien Schreibtisch. Viele meckern darüber, aber es funktioniert eigentlich super«, stellte Lund fest und stand auf.
»Es ist fast 11 Uhr. Jetzt ist Redaktionskonferenz. Lass uns zusammen hingehen, dann kannst du die anderen begrüßen.«
***
Ulrik Torp erkannte mehrere Kollegen am Tisch wieder. Die Redaktionskonferenz fand im selben Raum wie früher statt, nach vielen Rationalisierungen war der jetzt fast groß genug.
Noch zwei Sparrunden – ein oder zwei Jahre –, dann ist er es, dachte er.
Zehn Leute saßen um den Tisch, genauso viele standen an den Wänden. Offensichtlich war die Beteiligung wegen der erwarteten Neuwahlen besonders hoch. Arne Lund saß nicht am Tischende, aber er war da, der junge Chefredakteur, der direkt nach Ulrik Torps Abschied angefangen hatte, stand nah bei der Tür – wohl, um irgendwann unbemerkt hinausgehen zu können. Asbjørn Henriksen hieß er. Zweiundvierzig Jahre, sonnengebräunt, enger hellblauer Anzug und ein weißes Hemd mit einem Hauch Rosa. Er war kurzzeitig Fernsehmoderator gewesen und stand im Ruf, etwas systemtreuer zu sein, als es für einen verantwortlichen Chefredakteur gut war. Ulrik Torp wusste nur wenig über ihn, außer, dass er der Sohn des ehemaligen und hoch angesehenen Spitzenbeamten Niels Henriksen war, der seit Menschengedenken zunächst das Justiz- und dann das Außenministerium führte. Lebte er noch? Sicherlich.
»Hallöchen«, sagte Asbjørn Henriksen mit etwas Abstand, lächelnd und mit freundlichem Blick, als Arne Lund die Konferenz damit begann, einen alten Bekannten vorzustellen, Ulrik Torp, der in den nächsten vier Wochen das Niveau der Reportagen während des Wahlkampfs halten solle.
Hallöchen?
Ulrik Torp begnügte sich mit einem Kopfnicken. Er hatte sich absichtlich nicht hingesetzt, obwohl noch ein paar einzelne Stühle frei waren, als er eingetreten war.
Mehrere seiner alten Kollegen am Tisch erkannte er wieder. Jørgen Høegh, der politische Analyst der Zeitung, auch »Falke« genannt. Den Spitznamen hatte er vor vielen Jahren bekommen, weil er das absolute Gegenteil war. Er fing selten etwas, war nicht sehr kontaktfreudig, flog tief – sehr tief – und niemand, weder bei der Zeitung noch darüber hinaus verstand, wieso er Jahr um Jahr Spalten mit Allgemeinplätzen, Klischees und Wiedergekäutem von Spitzenpolitikern – meist aus der linken Mitte, wie die Leser, mit denen er zuletzt zu Mittag gegessen hatte – füllen durfte.
Ulrik Torp nickte Beste-Bente zu, Bente Clausen, die schon immer, also wirklich immer beim Dagbladet war. Sie war gar nicht mehr angestellt, das wusste er, sie hatte einfach nur die Erlaubnis, herzukommen und zu einem bescheidenen freien Honorar zu schreiben. Das kam manchmal bei einzelnen Mitarbeitern vor. Die Zeitungsbranche hatte in ihren guten Zeiten eine eigene Vorruhestandsregelung eingeführt, und ein bisschen davon war wohl noch übrig. Arne Lund hatte das sicher geregelt. Um Beste-Bentes Hals hing Schmuck wie schon seit 1968. Sie wurde liebevoll Bernstein-Mafia genannt. Ein Magnet hatte dieselbe Wirkung auf einen Kompass, wie sie auf eine politische Analyse – alle Himmelsrichtungen verschwanden, aber sie meinte es gut.
»Ich verstehe nicht, wieso die Neuradikalen dasselbe denken wie die Nationalen. Ich kenne viele bei den Neuradikalen«, rief sie aus, während die Leiterin der politischen Redaktion in Christiansborg, Malene Astrup, versuchte, die hochexplosive politische Situation und das mühsame und vorübergehende Zusammenspiel der beiden Parteien zu erklären.
Malene Astrup war Praktikantin in der Christiansborgredaktion gewesen, als Ulrik Torp vor fünf Jahren gefeuert worden war. Jetzt waren noch drei Leute und ein Praktikant im Politikressort – die Hälfte. Malene Astrup ging oft zu Analysen ins Fernsehen, und das machte sie gut. Niemand fragte Høegh an.
Neben Asbjørn Henriksen stand eine junge Frau, die Torp noch nie gesehen hatte und von der man nur schwer den Blick wenden konnte. Sie war nicht besonders hübsch, aber sie hatte etwas Süßes und Direktes an sich, das ganz automatisch die Aufmerksamkeit anzog. Um die dreißig, schätzte er. Oben an ihrer linken Schulter war eine kleine Tätowierung zu erahnen. Katrine Taber-Nielsen stand auf ihrem Ausweis.
***
Ulrik Torp war angenehm überrascht, wie wenige er nach der Konferenz grüßen musste. Ein paar kamen vor, klopften ihm auf die Schulter und sagten Guten Tag, aber gingen dann schnell weiter. Ein Phänomen, das von Katastrophen, Unglücken und Gewalttaten bekannt ist, dachte Torp – die Überlebenden hatten oft, egal, ob berechtigt oder nicht, ein schlechtes Gewissen, weil sie es geschafft hatten. Na ja, vielleicht hatten sie auch einfach keine Zeit. Wahrscheinlich war es das, sah er ein.
Katrine Taber-Nielsen kam zu ihm.
»Hallo.«
»Hallo.«