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Wer ermordet hochrangige Politiker? Der fesselnde Thriller »Die Schatten von Borgen – Teuflischer Frühling« von Nils Krause-Kjær als eBook bei dotbooks. Der Journalist Ulrik Torp recherchiert gerade über eine Affäre um hochpolitische Geheimnisse und die dänischen Nachrichtendienste, als der Justiz- und Außenminister urplötzlich an einem Herzinfarkt stirbt. Einige Tage später segnet der frühere Parlamentarier Erling Jensen unerwartet früh das Zeitliche. Es stellt sich die Frage, ob das Land von außen oder von innen bedroht wird. »Teuflischer Frühling« ist der eigenständige dritte Teil der Politthrillerserie von Niels Krause-Kjær. Wie schon »Mörderische Intrige« und »Betrügerische Spiele« spielt er im Grenzbereich zwischen Medien und Politik und beschreibt das Machtspiel hinter den Kulissen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Die Schatten von Borgen – Teuflischer Frühling« von Nils Krause-Kjær ist der dritte Band seiner skandinavischen Bestsellerreihe – als hätte John Grisham das Drehbuch zu »House of Cards« neu geschrieben. Das Hörbuch ist bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 367
Über dieses Buch:
Der Journalist Ulrik Torp recherchiert gerade über eine Affäre um hochpolitische Geheimnisse und die dänischen Nachrichtendienste, als der Justiz- und Außenminister urplötzlich an einem Herzinfarkt stirbt. Einige Tage später segnet der frühere Parlamentarier Erling Jensen unerwartet früh das Zeitliche. Es stellt sich die Frage, ob das Land von außen oder von innen bedroht wird.
»Teuflischer Frühling« ist der eigenständige dritte Teil der Politthrillerserie von Niels Krause-Kjær. Wie schon »Mörderische Intrige« und »Betrügerische Spiele« spielt er im Grenzbereich zwischen Medien und Politik und beschreibt das Machtspiel hinter den Kulissen.
»Die Schatten von Borgen – Teuflischer Frühling« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über den Autor:
Niels Krause-Kjær ist einer der bekanntesten dänischen Journalisten und Leiter des Journalismusprogramms an der Universität Süddänemark. Für den Thriller »Die Schatten von Borgen – Mörderische Intrige« schöpfte er aus seinen Erfahrungen als Pressesprecher im dänischen Parlament. Die Romanverfilmung mit Lars Mikkelsen gewann mehrere Preise.
Die Website des Autors: nielskrause.dk/
Bei dotbooks erscheinen außerdem seine Romane »Die Schatten von Borgen – Mörderische Intrige«, »Die Schatten von Borgen – Betrügerische Spiele« als eBook.
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eBook-Ausgabe März 2024
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2020 unter dem Originaltitel »Fandens forår« bei SAGA Egmont, Kopenhagen.
Copyright © der dänischen Originalausgabe 2020 Niels Krause-Kjær und SAGA Egmont
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2023 Niels Krause-Kjær und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-059-2
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Niels Krause-Kjær
Die Schatten von Borgen – Teuflischer Frühling
Roman
Aus dem Dänischen von Christine Heinzius
dotbooks.
Niemand, der Otto Brathenberg kannte, würde ihn sentimental nennen.
Er machte sich selbst auch keine Illusionen. Sentimentalität war eine Schwäche, ein Luxus, den man sich nur in den privatesten Momenten erlauben konnte.
Und selbst dann sollte man es nicht übertreiben. Er war sehr traurig, als sein Golden Retriever – Schmidt, benannt nach dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt –eingeschläfert werden musste. Und zu seinem Ärger hatten ihn Pressefotografen mit feuchten Augen erwischt, als er vor vielen Jahren als Justizminister hatte zurücktreten müssen.
Das war’s.
Otto Brathenberg lebte ein binäres Leben in Rationalität. Macht war dazu da, gebraucht zu werden. Und wenn er sie nicht nutzte, dann würden andere es tun.
Trotzdem lag er an diesem Sonntagnachmittag im Bett, schaute auf den Flachbildschirm an der Wand und wusste, dass sein kleiner sentimentaler Makel bald größer werden würde. Nicht sehr, nicht außer Kontrolle, aber doch genug, so dass es im Magen zu spüren war. Das geschah immer bei einem Länderspiel im Stadion. Parken, und wenn 40.000 Seelen aus voller Kehle schief die Nationalhymne sangen.
Lise war mit ihrem Frauennetzwerk zu einem verlängerten Wochenende in Jütland – das Thema des Jahres war Nachhaltigkeit, und das war sicher sehr sinnvoll. Otto Brathenberg hatte ihr versichert, dass er trotz leichtem Fieber und einer Halsentzündung auf jeden Fall bis Montagvormittag allein in der Villa in Hellerup bleiben konnte. Der leichte Schlaganfall im Winter lag schon mehrere Monate zurück und verlangte bloß nach viel Ruhe – und Herr Gott, er war ja nun noch nicht 80. Ein privater Pflegedienst lieferte übers Wochenende Essen, putzte und kümmerte sich um die richtige Medikation.
Also, ab mit dir! Er hatte sich tatsächlich darauf gefreut, eine Weile allein zu sein.
Die Spieler betraten das Spielfeld.
Otto Brathenberg machte den Fernseher, der sowieso schon laut war, noch lauter. Er wollte ganz mit dabei sein. In der Küche am anderen Ende des Hauses werkelte eine Frau des Pflegedienstes. Eigentlich sollte das eine öffentliche Aufgabe sein, hatte er sich selbst gesagt. Doch die Wohlfahrtsgesellschaft, für die und mit der er in seinem langen Leben als Politiker gekämpft hat, ging gerade den Bach runter. Zu viele Alte, zu hohe Erwartungen. Und nicht zuletzt zu viele Wohlhabende, darunter auch er selbst, die mit einem Mittelklasseservice nicht zufrieden waren. Deswegen der private Service – das Essen war vorzüglich, die Reinigung tipptopp und das Lächeln strahlend. Heute war es eine jüngere, dunkelhaarige Frau, die er bisher noch nicht gesehen hatte. Eine undefinierbare Osteuropäerin, wie die meisten anderen und genauso aufrichtig diensteifrig wie die, die sonst kam. Was war mit den Dänen geschehen?
Jetzt begann die Nationalhymne.
Otto Brathenberg drehte den Ton noch lauter.
»Der er et yndigt land.«
»Det stååår med brede bøge.«
Die Kamera zeigte die dänischen Nationalspieler, die mit unterschiedlicher Begeisterung und Talent so taten als sängen sie mit oder als sangen sie tatsächlich. Bei weitem nicht alle waren in Dänemark geboren, das wusste er aus den Diskussionen der letzten Zeit. Das erkannte man auch problemlos, wenn man den Blick über die Gesichter schweifen ließ. Der europäische Fußballverband dachte über neue Regeln nach, wie viele nicht im Inland geborene Spieler in einer Nationalmannschaft erlaubt waren. Otto Brathenberg fand das albern. Entscheidend waren die Staatsangehörigkeit und das Fußballtalent. Alle elf waren rot-weiß, egal wie braun sie sonst noch waren.
»Vort gamle Danmark skal bestå
Så længe bøgen spejler
Sin top i bølgen blååå
Sin top i bøøølgen blå.«
Endlich.
Wieder verwechselte er die zwei Knöpfe des Bettes.
Rot war runter. Grün hoch. Hoch. Jetzt saß er richtig.
Die Dame vom Pflegedienst kam mit dem abendlichen Tablett – hübsch angerichtetes Smörrebröd, eine Kanne kaltes Wasser, eine Thermoskanne mit Kaffee und die Tablettenschachtel.
»Ohh, soccer!«, rief sie aus und stellte das Tablett auf den Rolltisch neben seinem Rollbett.
»Very important game.« Otto Brathenberg dosierte die Ironie ganz genau, so dass er zwar zustimmte, dass es ein wichtiges Spiel war, aber eben auch nur Fußball. Sie lächelten sich verständig an.
»Have a nice day, Mr. Brathenberg. Don’t forget your pills.«
»You too.« Er nickte ihr zu, während sie das Zimmer verließ.
Endlich allein. Er steckte zwei rote Tabletten in den Mund, griff nach dem Glas Wasser und schluckte alles, dabei warf er den Kopf in den Nacken. Zurück zum Spiel. Brathenberg merkte einen kleinen Stich in der Brust, es drückte etwas.
Jetzt musste Dänemark den Ball abgeben.
Hinter ihnen hupte ein Volvo ununterbrochen. Glaubte er, sie würden aus Spaß stehen bleiben? Ulrik Torp wedelte resigniert mit dem linken Arm nach hinten, während er noch einmal den Zündschlüssel drehte. Es passierte absolut nichts. Karen sah ihn von der Seite an. Es war ihre Idee gewesen, dass sie den Frühling, seine bessere Laune und den kaum erwarteten Aufschwung nutzen sollten, um ein altes Auto zu kaufen. Auch das verlängerte Wochenende in Berlin, in einer Wohnung, die der Schwiegersohn als Kapitalanlage gekauft hatte, war ihre Idee, bevor Torp ernsthaft sein neues Leben als freier Journalist mit Büro und einigermaßen geregelten Arbeitszeiten beginnen würde. Wir waren schon so lange nirgendwo mehr, hatte sie gemeint. Er drehte den Zündschlüssel erneut, mit demselben Ergebnis.
Jetzt fuhr der Volvo an ihnen vorbei. Der Idiot drückte noch mal lang auf die Hupe und sah sie wütend an, dabei gab er demonstrativ Gas. Die anderen Autos in der Schlange folgten langsam, so dass sie plötzlich der letzte Wagen an Bord waren. Zwei Angestellte der Reederei kamen angelaufen. In ein paar Minuten sollte die Fähre mit Autos gefüllt werden, die mit zurück nach Rostock fuhren – hierfür hatten sie absolut keine Zeit. Ulrik Torp öffnete das Fenster.
»Das ist ein altes Auto. Wenn Sie es anschubsen, dann springt es an.«
»Weg. Sie müssen wegfahren, schnell«, kommandierte der Eine. Wie zum Teufel sagt man »anschieben« auf Deutsch?
»Künnen du nur ein bisschen … pushen? Push, push«, versuchte er es und verdeutlichte seine deutsche Bitte mit wilden Armgesten.
Karen reckte ihren Kopf vom Beifahrersitz vor:
»Können Sie dem Auto einen kleinen Schubs geben, bitte?«, fragte sie in höflichem Schuldeutsch.
Sie nickten, Torp löste die Handbremse, legte den 2. Gang ein, trat auf die Kupplung des 17 Jahre alten Polo und die Männer schoben ihn keine zehn Meter, dann ließ er die Kupplung kommen, ein kleiner Schlag und der Motor sprang an. Er trat die Kupplung, legte den 1. Gang ein und holperte von der Fähre. Karen wollte den Männern dankbar zuwinken, doch die waren schon weg. Die Autos nach Rostock fuhren bereits von der anderen Seite auf die Fähre.
Es waren tatsächlich schöne Tage in Berlin gewesen. Der Frühling kam etwas früher in die deutsche Hauptstadt, die Bäume hatten schon ausgeschlagen, und sie hatten mehrmals in Straßencafés gesessen und unter den Wärmepilzen nur wenig bei ihrem Weißbier gefröstelt. In Dänemark war es regnerisch und windig wie immer.
Die Wohnung war neu gebaut, funktionell und genauso nichtssagend wie ihr Eigentümer, fand Torp. Sie würde bald mit der Aussicht auf einen schnellen Gewinn verkauft, hatte der Schwiegersohn gemeint. Ulrik Torp wollte lieber selbst eine günstige Unterkunft suchen, aber Karen bestand darauf, um des Familienfriedens willen. Es war ohnehin schon ein teures, verlängertes Wochenende, daher gab Torp schnell nach. Manchen Widerspruch sollte man ernst, aber nicht wortwörtlich nehmen.
Es war ein rundum beschissener Winter gewesen, dessen waren sie sich bei einem Flammkuchen mit Speck und Käse an der Spree einig. Die Androhung von Verleumdung, Vergeltung und Demütigung, all das lag nun hinter ihnen, warf Karen ein. Sie arbeitete jetzt Vollzeit, und er hatte mit seinen Nachrufen eine Basis und ein Büro, das er sich als Freiberufler mit Kollegen teilte. Ulrik Torp meinte, dass er keine depressiven Tendenzen mehr hatte, auch wenn es für Außenstehende so aussehen könnte. Die Glückspillen des Arztes und die 14 Tage im Winter an der Westküste hatten etwas ausgelöst.
Nur durch Karens beharrliche Bemühungen war er überhaupt da hinausgekommen.
»Er ist jetzt seit über 30 Jahren Mitglied und hat nie mehr als Ihre blöde Zeitschrift bekommen«, hatte er sie am Telefon argumentieren gehört. Zu ihrer beider Überraschung meldete sich der Journalistenverband schon am nächsten Tag. Das Dagbladet verfügte über eine private Krankenversicherung und wolle gern helfen. Torp könne schon am Montag eine vierzehntägige Therapie in Westjütland beginnen. Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR, mit dem Diplom-Coach Dion Hansen, erklärte der Verbandsmitarbeiter stolz. Das war teuer, aber darüber solle er sich keine Gedanken machen.
Die Therapien in Westjütland hatten – trotz Torps Skepsis – durchaus Wirkung gezeigt. Besonders die morgendlichen Wanderungen am Strand mochte er, bei denen sie zu zweit eine Stunde lang spazieren gehen sollten, während es langsam hell wird, wie im Programm stand, obwohl es Anfang Dezember war und morgens nie richtig hell wurde. Torp versuchte, wenn möglich, mit Vivi zu gehen, was meist machbar war. Man konnte gut mit ihr reden und sie versuchte und schaffte es teilweise, ihm zu erklären, wie man als Erzieherin in einem Kindergarten zu viel Stress haben konnte. Man wurde nie fertig und hatte ständig ein schlechtes Gewissen. Er hatte hinterher auch das Gefühl, ihren
Ex-Mann richtig gut zu kennen. Meistens redete sie, was Torp nur recht war.
Er brachte es einfach nicht fertig, über die erniedrigenden Anfragen bei mehreren Abgeordneten wegen Betruges bei der gerade abgehaltenen Wahl zu sprechen. Über nutzlose Anrufe im Büro des Ministerpräsidenten. Über seine »diffamierenden" Meinungsartikel über eine europäische Loge ehemaliger Spitzenpolitiker und Beamter, die mit illegalen Mitteln eine liberale Weltordnung aufrechterhalten wollten. Ganz verrückt wurde es, als er versuchte, den Vorstandsvorsitzenden des Dagbladet, den früheren Minister Otto Brathenberg, miteinzubeziehen. Nein, er könne nichts nachweisen. Der Chefredakteur des Dagbladet bestätigte, dass Ulrik Torp nach mehreren Jahren der Arbeitslosigkeit im Rahmen einer Arbeitsmaßnahme des Jobcenters im Herbst eine kurze Zeit bei der Zeitung gearbeitet hatte und dass es ehrlich gesagt eine etwas traurige Geschichte war, die man nicht weiter ausbreiten sollte, nicht zuletzt mit Rücksicht auf Torp selbst. Schließlich musste der Anwalt des Dagbladet Torp und seiner Umgebung mitteilen, dass es Grenzen gab, was die Zeitung und deren Vorstand an Lügen und Verleumdungen hinnehmen würde, auch wenn man aus menschlichen Gründen bereit war, sie weiter zu stecken, als man wirklich musste.
Die paar Mal, als Vivi Torp aus Höflichkeit fragte, erklärte er bloß, dass etwas passiert war, auf das er jetzt nicht eingehen konnte.
Das akzeptierte sie ohne jegliche Kritik.
»Und was machst du, wenn das hier vorbei ist?«, wollte er wissen.
Vivi schwieg. Sie mussten sehr laut reden, um die Wellen zu übertönen. »Ich bin auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Wenn ich Dion Hansen heiraten würde, ginge ich wohl nie wieder zurück.«
Sie spazierten weiter den Strand entlang.
»Und du?«
»Mein Neujahrsvorsatz ist es, ein Büro für Freiberufler in der Stadt zu finden, zur Arbeit zu gehen, egal, ob es etwas zu erledigen gibt oder nicht, und keine PR mehr, nur noch Journalismus.« Torp hatte den Satz gar nicht zu Ende gedacht, als er ihn begann. Aber schließlich klang er doch richtig. So sollte es sein.
»Du gehörst gar nicht hierher, Ulrik.« Vivi musste das fast schreien.
»Vorher schon.«
Das Letzte konnte sie nicht hören, sie lächelte nur, schüttelte den Kopf, nahm seinen Arm und drückte ihn freundschaftlich. Vielleicht wäre es auch ohne die Nordsee, Dion und Vivi geschehen. Aber nachdem er wieder nach Hause gekommen war, hatte er sich langsam aufgerichtet, sich gezwungen, aus der Wohnung zu gehen, wenn Karen in der Schule war. Er war spazieren gegangen, hatte den Leuten wieder in die Augen geschaut, im Internet Nachrichten gelesen, sich eine Meinung über Ministerpräsident Palle Enevoldsen gebildet, war zu einem Debattenabend des Journalistenverbands gegangen, hatte alte Kollegen gegrüßt und das Kneipengerede ignoriert. Langsam war er aus seinem Kokon herausgekrochen und hatte nicht mehr das Gefühl, eine Erklärung schuldig zu sein. Die konnten ihn alle mal. Den Neujahrsvorsatz, ein Büro für Freiberufler zu finden, hatte er auch umgesetzt. Und dann gab er in einem Anfall von Optimismus Karens Hoffnung auf den Frühling nach und fand den Polo im Internet. Das Argument, jederzeit 3.000 Kronen als Schrottprämie dafür einlösen zu können, machte die Investition und damit das Risiko überschaubar. Jetzt waren sie unterwegs.
Ein großartiges Spiel der dänischen Nationalmannschaft. Wir haben gerade einen großen Schritt in Richtung Endrunde gemacht. Ulrik Torp schaltete das Autoradio aus. Endlich gelangten sie als Allerletzte zur Passkontrolle, vor der Sofie sie gewarnt hatte, als sie nach Klampenborg gefahren waren, um die Wohnungsschlüssel abzuholen. Es war schon einige Jahre her, dass er
und Karen das letzte Mal im Ausland waren, und es fiel ihnen schwer zu glauben, dass diese als sehr heftig beschriebene Passkontrolle im früher ganz grenzenlosen Europa tatsächlich so krass war. Aber das war sie. Jedenfalls in Dänemark. Ulrik Torp ließ den Blick nach rechts schweifen, über das alte Eisenbahnterrain und den ikonischen DSB-Turm aus den Filmen der Olsen Bande, der vor der Gefahr der Zerstörung von Kopenhagen nach Gedser gebracht worden war, wo er erhalten werden sollte. Hier war die Umsetzung der neuen und – wie man später einsehen musste – endgültigen Grenzkontrollen in vollem Gang. Der Bau für den Zoll, die Grenzbeamten und -angestellten schritt planmäßig voran. Obwohl es Sonntag war, wurde gearbeitet. Die breite Einigung über das »Sicherheitspaket und die Ausweitung der befristeten Grenzkontrollen" hatte als unausgesprochene Prämisse, dass alles bis zur Amtseinführung am Verfassungstag fertig sein sollte.
Der Ministerpräsident, der früher einer der eifrigsten Befürworter der Schengen-Zusammenarbeit und des grenzenlosen Europas gewesen war, versicherte nun, dass er sich eigentlich schon immer eine Grenze gewünscht hatte.
Ulrik Torp streckte ihre Pässe aus dem Autofenster, der Beamte blätterte darin und schaute dann sie beide an, um nachzusehen, ob die Fotos passten. Abgesehen von einem polnischen Kastenwagen, der auf der benachbarten Spur von ein paar Beamten durchsucht wurde, waren alle von der Fähre durchgekommen, ohne dass Menschenschleuser, Schmuggler, Muslime oder Terroristen entdeckt worden waren, falls nach denen gesucht wurde. Der Pole und Torp waren somit die Letzten unter dem behelfsmäßigen Zelt, das sie alle vor dem strömenden Regen schützte, der gegen die Plane über ihnen schlug, als genau in dem Moment der uniformierte Grenzer aufsah.
»Schalten Sie den Motor aus.« Der Beamte war etwas jünger und legte eine angenommene Autorität in seine Stimme. Wieso konnte der nicht im Nordwesten auf Patrouille sein?
»Wenn ich ihn ausmache, springt der Wagen nicht mehr an.«
»Machen Sie den Motor aus.« Der Beamte sah Torp fest an.
»Die Batterie ist leer. Ich kann dann nicht starten«, wiederholte Torp.
»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Motor aus!«, befahl der Beamte.
Torp schluckte. Vielleicht würde der Wagen doch noch mal anspringen.
»Ihr Pass ist vor einem halben Jahr abgelaufen«, sagte der Zollbeamte und bemühte sich, den Triumph in seiner Stimme zu verbergen. Er zeigte Torp die entsprechende Seite im Pass. Es stimmte. Der Pass war im Oktober abgelaufen. Ulrik Torp konnte es nicht richtig ernst nehmen. Es machte ihm mehr Sorgen, ob das Auto wieder anspringen würde, wenn man sie gehen ließ.
»Und was machen wir jetzt?«
»Ihr Pass ist abgelaufen«, wiederholte der Beamte. Er erwartete offensichtlich eine Art Reue oder Unterwürfigkeit.
»Und was wollen Sie deswegen tun?«, fragte Torp, inzwischen fest entschlossen, sich nicht unterzuordnen. Karen rettete die Situation für beide.
»Wir bitten vielmals um Entschuldigung. Das ist ganz allein mein Fehler, es ist so lange her, dass wir das letzte Mal im Ausland waren. Wir beantragen sofort, wenn wir nach Hause kommen, einen neuen Pass«, erklärte sie und reckte den Kopf über den Fahrersitz und den Schuldigen. Der Beamte zögerte zwischen der reuigen Ehefrau und dem Depp.
»Okay, dann lasse ich es mal durchgehen. Aber denken Sie daran, sofort einen neuen zu beantragen. Ein zweites Mal geht das nicht.«
»Vielen Dank«, sagte Karen, während ihr Mann sich fast über den schulmeisterlichen Tonfall beschwert hätte.
Ulrik Torp schloss die Augen, sowohl wegen dieser Szene als auch, damit der Wagen ansprang. Er drehte den Schlüssel und natürlich passierte nichts – doch im Grunde verspürte er nun ein kleines Gefühl des Triumphs, denn den Polo anschieben mussten jetzt der Beamte und seine Kollegen – und schon war er auf dem Weg zurück nach Kopenhagen.Damit waren die Zöllner an der Grenze also doch noch nützlich.
»Da kommt ja der Tod aus Lübeck. Guten Morgen, Torp.«
»Es war Berlin.« Ulrik Torp zwang sich, Bertels Montagsbegrüßung grinsend entgegenzunehmen. Er war froh über die Bürogemeinschaft – in einer früheren Herrschaftswohnung mit schiefem Boden in einer Seitenstraße der Strøget – und hatte beschlossen, die nett gemeinten, aber übertrieben häufigen Neckereien über seine journalistische Hauptbeschäftigung zu akzeptieren. Irgendwann müssten sie ja aufhören, aber offensichtlich gingen sie auch in der vierten Woche noch weiter.
Torp setzte sich an seinen Schreibtisch im Durchgang, der die frühere gute Stube mit einem kleineren Erkerzimmer verband. Dies war das Büro für den Neuesten der fünf in der Bürogemeinschaft. Der Korridor war schmal und nicht bloß der Durchgang für den Inhaber des Erkerbüros, sondern auch zur Toilette und zur Küche.
»Ist am Wochenende jemand gestorben?« Axel stand mit der Kaffeekanne in der Hand da und fragte freundlich, ohne jeden Anflug von Sarkasmus. Er war der Einzige, der nicht stichelte. Selbst nach dem Krach, als Torp im Herbst des Dagbladet verwiesen worden war, hatte er nicht nachgebohrt. Davon sollte Torp halt selbst erzählen, wenn er das wollte.
»Drei«, sagte Torp, der gerade eine E-Mail zu den Todesfällen des Wochenendes gelesen hatte. Er nahm den angebotenen Kaffee gern an und holte seine Kaffeetasse, die noch von letzter Woche dreckig war. Nein, er hatte das Fußballspiel nicht gesehen. Ja, es war toll, dass Dänemark 3:1 gewonnen hatte. War das ein wichtiges Spiel? Er mochte Axel Boas, der eigentlich als Journalist schon im Ruhestand war, aber das Büro nutzte, um von zu Hause wegzukommen und sich einzubilden, noch immer an einem Buchprojekt zu arbeiten. Die 2.500 Kronen monatlich, die ein Schreibtisch samt Internet, Heizung und Strom, Kaffeeregeln, Treppen- und Büroputzen einmal pro Woche kostete, war sein Luxus als Rentner. Andere fuhren eben in den Süden oder verwöhnten die Enkel.
Bertel stellte ein PostNord-Paket auf Torps Schreibtisch. Wie ein Kind an Heiligabend, das gar nicht schnell genug an die Geschenke kommen konnte, riss Ulrik Torp das Papier ab und öffnete einen der beiden Kartons, obwohl er schon vorher wusste, was es war:
Ulrik Torp – Alles im Journalismus
Die Schrift war extrafett und kursiv. Darunter standen die Büroadresse, seine Handynummer und E-Mail-Adresse in normaler Schrift. Kein Logo, kein Schnickschnack. Nur Name, Adresse und Telefonnummer. Keine englische Version auf der Rückseite – die wäre ja sowieso dasselbe gewesen, abgesehen von einer arroganten 0045 vor der Telefonnummer. Wer um Himmels Willen brauchte sowas? Er hatte zwischen einem weißen und einem grauen Hintergrund wählen können und hatte sich für Grau entschieden. Das musste reichen. Er öffnete den anderen, etwas größeren Karton. 200 grauweiße Kugelschreiber mit der Aufschrift Ulrik Torp – Alles im Journalismus auf der Seite, in derselben Schrift wie auf der Visitenkarte. Er wusste nicht genau, wozu die Kugelschreiber gut waren, aber er war überrascht gewesen, wie billig sie waren, wenn man zusätzliche Visitenkarten bestellte.
Ulrik Torp, Journalist, sagte er sich. Das klang richtig. Nachrufe gehörten auch zum Journalismus. Er warf das zerrissene Papier in den Papierkorb, stellte die Kartons mit jetzt 199 Kugelschreibern und 1000 Visitenkarten ins Regal gegenüber, und beim Gedanken an Nachrufe wandte er sich seinem Computer zu:
Thorvald Vesterman, 82 Jahre, Kerteminde. Zu kontaktierende Angehörige: Hans Vesterman, Sohn. Kurzer Nachruf für die Wochenzeitung.
Bente Knudsen, 69 Jahre, Svendborg. Zu kontaktierende Angehörige: Michael Knudsen, Ehemann. Mittelgroßer Nachruf, Fyns Amts Avis.
Karl Johan Kastrup-Davidsen, 9 Jahre, Dronninglund. Zu kontaktierende Angehörige: Peter Kastrup-Davidsen, Onkel. Mittelgroßer Nachruf, Nordjyske.
Der letzte war etwas heikel. Torp war dankbar, dass der Onkel des Jungen diese Aufgabe übernahm. Das machte es etwas einfacher. Die Idee – sie stammte von Erik, einem alten Kommilitonen von der Journalistenschule und heute unfreiwillig pensioniertem Redakteur der Fyens Stiftstidende – war eigentlich gar nicht dumm. Wenn nach einem Todesfall der Bestatter mit seinem Katalog voller Dienstleistungen kommt, feilscht man selten um den Preis. Das schickte sich nicht. Soll ein Rosengesteck auf den Sarg? Abgehakt. Soll es die ganz kleine Todesanzeige sein oder die mit Platz für eine zusätzliche Zeile? Das sieht so hübsch aus … die mittlere Größe, ja. Abgehakt. Es war wie beim Kauf eines Ferienhauses oder dem Popcorn und der Cola im Kino – niemand nimmt die kleinste Größe, kaum jemand die größte – die mittlere Größe passt zur dänischen Mentalität. Jetzt hieß es nur noch, eine kleine Leistung darunter und eine große darüber zu erfinden, um das zu verkaufen, was man gern verkaufen möchte, erklärte Erik, als er Torp in seine kleine Truppe von Nachrufschreibern aufnahm.
Nachrufe waren eine vornehme britische Tradition, lockte ihn der alte Redakteur. »Die haben die besten Autoren dafür, Torp, und wenn es um ganz normale Menschen geht, kann man die ja nicht googeln.«
Zuerst lehnte er ab, aber nicht zuletzt Karen forderte ihn auf, zurückzurufen. Das war ein Anfang, immerhin eine Basis. Das war der Grund sowohl für das Büro, die Visitenkarten, das Wochenende in Berlin als auch ein bisschen Optimismus. Das Honorar für einen kurzen Nachruf betrug 300 Kronen und 1000 Kronen für einen mittelgroßen, das war okay, ohne umwerfend zu sein. Ein großer Nachruf, so einen hatte Torp aber noch nicht gehabt, würde von Fall zu Fall ausgehandelt. Erik versprach, ihm fünf bis sechs mittelgroße Nachrufe pro Woche zu vermitteln, und das hatte er bisher auch getan.
Torp riss sich zusammen und wollte gerade Hans Vesterman anrufen, um ihm sein Beileid für den Verlust seines Vaters auszusprechen, – ein Verlust, der angesichts der Länge des Nachrufs nicht ganz so groß zu sein schien – als es in der Bürogemeinschaft hieß: »Hier gibt’s Brötchen und Zimtschnecken.«
Ghita Fussing kam mit voll beladenen Armen herein. »Ich habe sie!« »Sie« war eine bescheidene Stelle bei einer Lehrergewerkschaft, wo sie nur ab und zu etwas schreiben würde.
»Ihr werdet mir fehlen«, sagte sie, den Mund voller Zimtschnecke und ohne große Überzeugung, als sie später um ihren Schreibtisch versammelt waren.
»Anstelle deiner feinen, französischen Art könntest du ja einfach mal Pressemitteilungen schreiben. Dafür gibt’s immer Geld«, meinte Bertel, und es klang kritischer, als er es meinte. Ghita Fussing fühlte sich selten beleidigt und schon gar nicht von Bertel, zu dem sie ein nachsichtiges, mütterliches Verhältnis hatte, obwohl er sich gern reden hörte und zwar vor allem über sich selbst.
»Ist es nur wegen des Geldes?« Herman Krabbe, den alle Krabben nannten, sah die neue Mitarbeiterin der Lehrergewerkschaft an. Sie würde schon nächste Woche dort anfangen. Ghita Fussing verschlang die letzte Zimtschnecke und räusperte sich.
»Ich bin mir sicher, dass es für dich leichter ist, ein gutes Einkommen zu erzielen. Du bist jung und hast Kontakte«, versicherte sie ihm. Wäre Ghita ehrlich gewesen und hätte
sie Krabben besser gekannt, hätte sie weitergesprochen und hinzugefügt: und das musst du auch, nachdem du vor einem halben Jahr entlassen wurdest und Hauptverdiener bist für ein Haus in Vanløse und drei Kinder. Sie mochte Krabben, aber teilte auch die Sorge, ob es immer noch möglich war, mit echtem Journalismus als Freiberufler einen auskömmlichen Verdienst zu erzielen.
»Und auch wegen meines Alters«, fuhr sie fort, um ihn zu trösten. »Wenn man 57 Jahre alt ist, sollte man nehmen, was man bekommen kann.« Sie lächelte Torp entschuldigend an, denn sie waren gleichaltrig. Er lächelte verlegen zurück.
Zufrieden wie selten nahm Ulrik Torp die letzten Treppenstufen zu ihrer Zweizimmerwohnung. Die zu mieten war zunächst eine Notlösung gewesen, sie hatten die Wohnung ursprünglich für ihre Tochter Sofie gekauft, jetzt gehörte sie dem Schwiegersohn. Inzwischen fand Torp, dass sie für ein Leben mit kleinem Budget stand, das Sinn stiftete und Halt gab. Er fühlte mit seiner Zunge rechts unten im Mund, nahe dem Kiefer nach einer Stelle, die sich noch wie ein Loch anfühlte, nachdem man ihm im Winter dort einen gutartigen Knoten entfernt hatte. Torp summte leise. Es ging voran. Nicht rasch, nicht in großen Schritten, aber doch in die richtige Richtung. Zwei mittlere und einen kleinen Nachruf. Alle hatte er sofort am Telefon erwischt. Vielleicht fände er im Internet sogar eine gebrauchte Batterie fürs Auto. Es war rundum ein guter Tag gewesen.
Er hatte einen Tageslohn verdient. Er hatte Kollegen. Der Frühling kam, der April war wirklich ein unterschätzter Monat. Alles wurde heller.
Auch deswegen war er angenehm überrascht, dass Sofie und Jonathan im Wohnzimmer saßen, als er die Wohnung betrat. Er hatte sie schon lang nicht mehr gesehen, sie kamen nur selten aus Klampenborg her, und luden auch nicht sehr oft dorthin ein, was Torp und seinem Schwiegersohn nur allzu gut
passte. Karen hatte Möglichkeiten gefunden, Mutter-Tochter-Treffen zu arrangieren. Vater-Tochter-Treffen waren etwas schwieriger, fand Torp, ohne dass er erklären könnte wieso, weder Karen noch sich selbst.
»Bleibt ihr noch zum Essen?«, fragte Torp erwartungsvoll. Karen schüttelte den Kopf. »Ich habe sie eingeladen, aber sie müssen noch weiter.« Erst jetzt fiel ihm auf, dass keiner von ihnen fröhlich aussah, wie sie da mit ihren Kaffeebechern und Himbeerschnitten vom Bäcker im Wohnzimmer saßen. Er sah, dass es auch eine für ihn gab.
»Ist was passiert?« Ulrik Torp wurde es plötzlich eiskalt. »Ist was mit Jesper?« Ihr Sohn arbeitete in Brüssel und sie hörten nur selten von ihm. So war er eben.
»Nein, nein«, rief Karen aus. »Jesper geht’s gut. Jedenfalls denken wir das. Nein, es geht nicht um Jesper.«
Torp sah alle drei an. Jonathan räusperte sich.
»Also, weißt du, Ulrik.« Jonathan wand sich auf dem Stuhl. »In der Firma läuft es nicht so gut.«
»Ach ja? Oder … oh, nein, meine ich.« Jonathan blickte zu seiner Frau.
»Jonathan wurde entlassen. Schon vor mehreren Monaten. Er musste eure Wohnung verkaufen«, unterbrach Sofie ihn.
»Vielleicht verlieren wir auch das Haus in Klampenborg.«
»Vor mehreren Monaten?«
»Er wollte es uns erst jetzt erzählen«, zischte Sofie und funkelte den früheren IT-Chef an, mit dem sie verheiratet war und dem sie vertraut hatte. »Jonathan ist zwei Monate lang jeden Morgen zu der Arbeit gefahren, die er gar nicht mehr hatte, und kam abends nach Hause, ohne irgendwas getan zu haben.«
»Was hast du denn gemacht?« Ulrik Torp sah zuerst zu seiner Tochter, dann zu seinem Schwiegersohn.
»Netzwerken, weißt du«, murmelte er. »Hab‘ versucht, die Situation zu retten.«
»Du hast doch eine Abfindung bekommen?«
»Nein, bekommt er nicht«, warf Sofie spitz ein. »Du kannst ruhig erfahren, dass das keine ganz normale Kündigung war.«
Das konnte er sich gut vorstellen. Er schaute zu Karen, die zusammengesunken neben Sofie auf dem Sofa saß.
»Diese Wohnung wird von irgendeiner Gesellschaft übernommen. Ihr müsst in drei Wochen ausziehen«, sagte Sofie kleinlaut. »Es tut mir so leid, Papa.« Sie fing ganz leise an zu weinen. Ulrik Torp konnte nichts anderes denken, als dass es gut war, dass sie nicht schwanger war und dass das hier vielleicht bedeutete, dass sie sich scheiden ließen. Das mussten die Glückspillen sein. Man ist zwar nie ganz froh, aber auch nie ganz unten.
Erst am frühen Montagabend wurde Otto Brathenbergs Tod bekannt gegeben.
Seine Frau Lise war zur Mittagszeit von ihrem Netzwerkwochenende rund um Nachhaltigkeit in Jütland zurückgekommen. Als sie die Tür aufschloss, bemerkte sie als Erstes den Fernseher, der im Schlafzimmer mit voller Lautstärke lief, es war eine amerikanische Sitcom, billiges Alltagsfüllmaterial. Ihr Mann lag zugedeckt im Bett, das verstellbare Bett war hochgefahren, der Nacken nach hinten überstreckt. Mund und Augen waren übertrieben aufgerissen – der alte Politiker sah aus wie eine Kopie von Munchs Schrei.
Polizei und Krankenwagen kamen ungewöhnlich schnell, aber ohne Blaulicht und Sirene. Das war unnötig, wie Lise bei ihrem Anruf versicherte. Ihr Mann war eiskalt, die Leichenstarre hatte schon längst eingesetzt und da sie ein halbes Jahrhundert Politikerehefrau war, wusste sie instinktiv, dass es wichtig war, die Geschichte zu kontrollieren. Denn natürlich war es eine Geschichte, dass der frühere Justiz- und Außenminister des Landes nach einem langen Leben im Dienst der Nation verstorben war.
Nein, sie war das ganze Wochenende fort gewesen und hatte keinen Kontakt mehr mit ihrem Mann gehabt, nachdem sie sich am Freitag verabschiedet hatten. Nein, das war nicht ungewöhnlich. Sie waren seit fast 60 Jahren verheiratet, und jeder verreiste oft allein, sie waren daran gewöhnt, keinerlei Verantwortung füreinander zu übernehmen, wenn sie sich gerade nicht an derselben Adresse befanden. Ja, seit seinem Schlaganfall war er schwächlich gewesen – und zwar mehr, als er selbst zugeben wollte. Ja, sie hatte sich Sorgen gemacht, aber nicht genug. Ja, sie hatten einen privaten Pflegedienst, der laut Plan am Samstag und Sonntag im Haus gewesen sein musste, sie würde die Nummer heraussuchen. Nein, es musste niemand bei ihr bleiben. Sie würde gern in Ruhe ihre Kinder anrufen. Der Krankenwagen fuhr mit ihrem Mann fort. Die Polizei folgte – sie hatten alles bekommen, was sie brauchten, es schien ja reine Routine. Und plötzlich stand Lise Brathenberg allein in ihrem Wohnzimmer und sah sich um. Dort hinten in der Ecke lag der blaue Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte – über eine Armlehne geworfen, er wusste, dass sie das ärgerte. Sie nahm ihr Handy heraus. Zuerst rief sie die Kinder an. Danach müsste sie die Vorsitzende der Arbeiterpartei und Oppositionsführerin, Pernille Hjort, kontaktieren. Die Partei sollte sich darum kümmern, es öffentlich zu machen.
Die Pressestelle der Arbeiterpartei erstellte kurz nach 19 Uhr im Namen der Parteivorsitzenden eine Mitteilung auf der Homepage und verlinkte von Twitter und Facebook dorthin. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Gerüchte in Christiansborg bereits zu einer Tatsache verdichtet, aber durch die fehlende Bestätigung noch nicht auf den sozialen Medien.
Otto Brathenberg ist tot. Heute Nachmittag habe ich die traurige Nachricht erhalten, dass der frühere Abgeordnete, Justiz- und Außenminister Otto Brathenberg im Alter von 79 Jahren zu Hause
verstorben ist. Otto Brathenberg diente in einem langen und aktiven Leben in der Politik der Arbeiterpartei und Dänemark, und er wird uns fehlen. Mein Beileid seiner Ehefrau, der emeritierten Professorin Lise Brathenberg, ihren beiden Kindern und der restlichen Familie. Nähere Informationen zur Beerdigung folgen später.
Pernille Hjort
Ulrik Torp wurde eine Stunde später angerufen.
»Torp! Hier ist Lindskov. Kannst du einem alten Freund helfen?«
Torp erkannte die Stimme sofort. Der alte Redakteur beim Dagbladet hatte wie durch ein Wunder sämtliche Sparrunden, Kündigungen und Strukturanpassungen bei der Zeitung überlebt. Seine Methode war einfach – immer 100 Prozent loyal zu demjenigen, der gerade sein Vorgesetzter war, nicht in der Kneipe lästern, keine Lohnerhöhung verlangen, immer pünktlich abgeben und schließlich eine Arbeitswoche weit über das zumutbare Maß hinaus. Dazu gehörte auch ein Montagabend nach 20 Uhr. Außerdem schrieb er die meisten Leitartikel. Der Chefredakteur war weder ein großer Autor noch hatte er besondere Meinungen.
»Hast du gesehen, dass Brathenberg tot ist?« Das hatte Torp. Es stand auf allen Nachrichtenseiten im Netz.
»Was kann ich für dich tun?« Torp unterdrückte seine Verwunderung über den Anruf. Lindskov wand sich offensichtlich.
»Du weißt doch, durch all die Einsparungen habe ich schon seit Jahren keine festen Mitarbeiter für meine Redaktion mehr.« Das wusste Torp.
»Ich muss innerhalb einer Stunde einen Leitartikel schreiben und drei Seiten redigieren und habe bloß einen Praktikanten zur Hilfe.« Torp hatte keine Ahnung, worauf Lindskov hinauswollte.
»Ich dachte…« Der Redakteur hielt kurz inne. »Ich dachte, vielleicht kannst du mir schnell einen Nachruf auf Brathenberg schreiben?« Lindskov hatte offensichtlich das Gefühl, die Pause, die auf seine Frage hin entstand, ausfüllen zu müssen. »Du kannst den doch in einer halben Stunde mit
verbundenen Augen schreiben. Besser als jeder andere. 200 Zeilen – ich habe eine ganze Seite. Er saß ja auch im Vorstand der Zeitung.« Die Argumente des Redakteurs purzelten durcheinander, so dass es wie eine Entschuldigung klang.
»Hast du denn vergessen, dass ich vor einem halben Jahr der Zeitung verwiesen wurde?«
»Natürlich ohne Verfasserzeile. Nur als Hilfe für einen alten Freund. Ich kann dich nicht bezahlen – das würde auffallen. Aber ich kann zwölf Flaschen ausgezeichneten Rotwein besorgen. Torp, please. Ich muss ihn in weniger als einer Stunde haben. Das ist doch perfekt für dich.«
Damit hatte Lindskov recht, dachte Torp. Er hätte ein Porträt von Brathenberg schreiben können, ohne irgendwas nachschlagen zu müssen. Sollte er denn auch den privaten Nachrichtendienst erwähnen, zu dem der Mann seit seiner Jugend gehörte? Sollte er den Pakt erwähnen, den er mit früheren Spitzenpolitikern und Topunternehmern in mehreren europäischen Ländern eingegangen ist, bei dem sie Freiheits- und Widerstandskämpfer spielten und sich zu Herren über Leben und Tod aufschwangen? Eine Geschichte, die nie veröffentlicht worden war, weil es sich niemand traute, daher konnte Torp sie nicht bestätigen. Sollte er die ganze Wahrheit über einen mächtigen Alpha-Mann schreiben und nicht bloß die frisierte Version über einen fleißigen und gewissenhaften Politiker – eine Version, die nicht falsch war, aber auch nicht ganz richtig? Sollte er persönlich werden und die Warnungen von Seiten des Anwalts des Mannes erwähnen? Warnungen, die man nur als Drohung verstehen konnte, gerichtet gegen Torp selbst und seine Familie – Drohungen, durch die er, auf Karens dringende Aufforderung hin, sich zurückzog, entschuldigte und mit Glückspillen in Winterruhe ging? Sollte er die ganze Geschichte schreiben oder nur die halbe?
»Torp. Please. Diesen Nachruf muss ich morgen bei der Redaktionskonferenz verantworten. Schreib ihn einfach so runter, ich korrigiere ihn. In einer Stunde. Zwölf Flaschen.«
»Ich mach’s für dich, Lindskov. Nicht für die zwölf Flaschen«, hörte Torp sich sagen, während er den Computer anschaltete. Karen war nicht zu Hause, er könnte die Zeit also genauso gut sinnvoll nutzen. Mit Otto Brathenberg verlässt uns einer der ganz großen Politiker nicht bloß der Arbeiterpartei, sondern ganz Dänemarks. Der langjährige Justiz- und Außenminister beteiligte sich bis zuletzt engagiert an Gesellschaftsdebatten und war ein geschätztes Mitglied des Vorstandes des Dagbladet. Kaum jemand hätte das wohl vorhersehen können, als er vor 79 Jahren in einer Dreizimmerwohnung auf Vesterbro als viertes Kind des Brauereiarbeiters Jens Peter Brathenberg und seiner Frau … Torp schrieb leicht, schnell und flüssig. Es war nicht schwierig, ein Heuchler zu sein. Fünfundzwanzig Minuten später schickte er Lindskov 200 Zeilen – es musste kein Komma verbessert werden.
Es geschah immer seltener, aber am Dienstagmorgen kaufte Ulrik Torp eine Zeitung in Papierform. Das Dagbladet kostete 39 Kronen, die Zimtschnecke 22. Torp war sich nicht sicher, was verrückter war, als er die 61 Kronen bezahlte und das mürrische Mädchen hinter der Theke der Bäckerei sie in die Hand gleiten ließ, wahrscheinlich genervt, weil er nicht mit Karte oder MobilePay gezahlt hatte wie alle anderen. Er suchte in der U-Bahn vergeblich nach einem Sitzplatz, aber durch den Regen war das morgendliche Gedrängel noch chaotischer als sonst. Zeitung und Schnecke waren auf dem Weg von der Bäckerei zur U-Bahn-Station leicht feucht geworden. In Nørreport drückte er beides in die Innentasche seiner zu dünnen Jacke und lief die 400 Meter zum Büro. Als er eintrat, war er klatschnass, grüßte Bertel, nickte Ghita, Axel und Krabben zu und setzte sich an seinen Schreibtisch im Durchgang.
Er gähnte und spürte die Müdigkeit im Körper. Nachdem er am Vorabend den Nachruf auf Brathenberg beendet hatte, war Karen von irgendeinem Treffen in der Schule nach Hause gekommen. Sie hatten lange zusammengesessen und darüber gesprochen, wo
sie in drei Wochen wohnen sollten. Auf eine gewisse Weise war es schön, dass sie Jonathans Klauen entkamen. Es war unerträglich den Schwiegersohn, den keiner von ihnen – und ganz besonders Torp – leiden konnte, als Vermieter zu haben. Aber in drei Wochen eine neue Wohnung in Kopenhagen zu finden, noch dazu, wenn man kein Geld hat, war, um moderne Managementsprache zu nutzen, eine Herausforderung. In normaler Sprache war es ein Riesenproblem. Sie hatten weder eine Lösung noch einen Plan.
Torp fiel sein morgendlicher Einkauf wieder ein. Die feuchte Zimtschnecke war in der viel zu kleinen Innentasche seiner Jacke zusammengedrückt worden, so dass sie nur noch ein Klumpen war, den er in den Mund steckte und mit Axels Kaffee hinunterspülte. Das Dagbladet war auch nicht mehr ganz frisch, aber er konnte bis zur Seite mit Brathenbergs Nachruf blättern, ohne die Zeitung zu zerreißen.
Enevoldsen: Er war einer der ganz Großen, lautete die Überschrift. Der Nachruf füllte die gesamte Seite, abgesehen von der Spalte ganz rechts, die war Kommentaren von mehreren früheren und aktuellen politischen Führungskräften gewidmet, der liberale Ministerpräsident Palle Enevoldsen war wohl der prominenteste. Lindskov hatte ordentlich gearbeitet. Ulrik Torp verweilte etwas bei den Sätzen, die er am vorigen Abend verfasst hatte. Natürlich stand kein Name unter dem Nachruf. Ein kleines db unter dem Artikel zeigte an, dass einer der anonymen Helden des Dagbladet ihn in die Tasten gehauen hatte. Torp dachte, dass Lindskov wahrscheinlich dafür kritisiert würde, dass er als verantwortlicher Redakteur seinen Namen nicht unter den Nachruf gesetzt hatte oder ihn im Vorfeld von einem der wichtigen Autoren des Blatts hatte schreiben lassen. Ulrik Torp verlor schnell das Interesse an seinem eigenen Artikel und blätterte die feuchten Seiten mit ein bisschen Mühe um, bis zu einem Interview mit Kirsten Rolighed, der politischen Sprecherin der Liberalen, die mit geschliffenen Formulierungen den Tonfall verschärfte und zwar nicht nur gegenüber der Opposition, sondern auch gegenüber ihrem Parteivorsitzenden, dem
Ministerpräsidenten und der Regierungspolitik. Ulrik Torp fiel auf, dass der Artikel von Simon geschrieben war, dem talentierten Praktikanten, mit dem er im Herbst eine kurze Zeit zusammengearbeitet hatte. Dann hatte er seine Haut beim Dagbladet also doch noch gerettet.
»Die hat keine Angst.« Axel schenkte Torp noch mehr Kaffee ein und deutete mit dem Kopf auf den Artikel und das große Bild von Rolighed, einem Archivbild von letztem Sommer, auf dem sie im Garten ihres Sommerhauses in Hornbæk die dänische Flagge hisste.
Rolighed: Ich kämpfe für Dänemark, garantierte die Überschrift. Das erklärte das Flaggenbild aus dem Archiv. Es war in diesen Breitengraden nur an wenigen Tagen möglich, ein solch idyllisches Sommerfoto zu schießen.
»Wenn sie für Dänemark kämpft, scheint sie ja zu glauben, dass andere das nicht tun. Sonst ergibt das keinen Sinn«, bemerkte Axel und ging mit der leeren Kaffeekanne in die Küche, um noch eine zu kochen. Das war unausgesprochen zu seiner Aufgabe geworden, wenn er im Büro war.
Ulrik Torp überflog den Artikel. Als Politiker hat man eine und nur eine Aufgabe – für sein Vaterland zu kämpfen, besonders, wenn es unter Druck steht, wie wir es in diesen Jahren erleben. Ich helfe gern im Ausland, aber erst, wenn wir unser eigenes Haus in Ordnung gebracht haben. Das haben wir im Moment noch nicht, verkündete Kirsten Rolighed. In der Spalte ganz rechts stand eine Analyse von Malene Astrup, einer politischen Redakteurin des Dagbladet. Hier stand also, was die politische Sprecherin »eigentlich« im Interview gesagt hatte. Dass es – noch – eine Warnung an den Parteivorsitzenden Palle Enevoldsen war, sich als Ministerpräsident zusammenzureißen oder den Staffelstab weiterzugeben. Es glaubte ja sowieso niemand daran, dass er es bis zum Ende seines Mandats aushalten würde.
»Wer kämpft ihrer Meinung nach denn nicht für Dänemark?« Krabben las über Torps Schulter mit. Es gab nicht jeden Tag
eine Zeitung aus Papier im Büro. Ulrik Torp schaute auf, in Krabbens rote Augen. Der gekündigte Familienvater aus Vanløse konnte nachts nicht schlafen. Das lag wohl an der Kombination von kleinen Kindern und großen, finanziellen Problemen. Auch heute Morgen haben seine Bürokollegen ihn am Telefon fast betteln hören. Krabben fand selbst, dass er eine gute Story hatte, aber das früher so üppige Budget für freie Mitarbeiter der Zeitungen war fast auf null geschmolzen.
»Das geht gegen Palle Enevoldsen. Er ist in seiner Fraktion immer isolierter – seine Autorität verschwindet ganz langsam«, erklärte Ulrik Torp.
»Wieso eigentlich?«
»Er war mal ein moderner Politiker.«
»Was ist passiert?«
»Er konnte es wohl nicht. Das passiert den meisten Spitzenpolitikern, weißt du. Sie sterben unschön.«
»Fast wie Brathenberg.« Axel gesellte sich zu ihnen im Durchgang und brachte neuen Kaffee.
»Ja«, sagte Torp, »fast wie Brathenberg.« Sie sahen einander zustimmend an.
»Und was passiert mit ihr?« Axel Boas zeigte auf das Flaggenbild von Kirsten Rolighed und sah zu Torp hinunter.
»Sie ist sympathisch. Findest du nicht?«
Axel und Krabben nickten beide.
»Sie ist noch nicht so lang im Parlament«, fuhr Torp fort, »Sie hatte eine Karriere in der Wirtschaft, ist schlagfertig. Jedenfalls klingt sie nicht wie eine Politikerin.«
»Und das ist ein Vorteil?«
»Das weißt du doch genauso gut wie ich, Axel. Das ist es inzwischen.«
Sie kannten beide das Gerücht, dass Kirsten Rolighed ein kleineres Ministerium abgelehnt hatte, als Enevoldsen im Herbst eine neue Regierung zusammengestellt hatte. Stattdessen war sie zur politischen Sprecherin der Partei geworden und hatte
das letzte halbe Jahr den Posten dazu benutzt, ihren Senf in vielen Bereichen dazuzugeben, die eigentlich dem Parteivorsitzenden und dem Ministerpräsidenten vorbehalten waren, wie das Recht, souverän die Strategie und parlamentarischen Wünsche der Partei festzulegen. Sie hatte es immer so formuliert, dass es schwierig war, sie dafür zu kritisieren, dass sie diese Linie überschritt, die sie jedoch ganz offensichtlich überschritt. Sie konnte das tun, weil sie gut darin war und weil eine Mehrheit in der liberalen Fraktion abwechselnd enttäuscht und besorgt waren über die mangelnden politischen Erfolge von Palle Enevoldsen.
Ein kleines Bing