Die Schlange - Martin Wehrle - E-Book

Die Schlange E-Book

Martin Wehrle

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  • Herausgeber: Benevento
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Im Visier der Immobilienhaie: Wenn die Gier nach Macht und Geld keine Grenzen kennt In seinem zweiten Krimi lässt der Bestseller-Autor Martin Wehrle seine sympathische Antiheldin Susanne Mikula tief in die Abgründe der Immobilienbranche eintauchen. Die Journalistin, die sich im ersten Band der Krimi-Reihe »Die Ratte« mit dem korrupten Klüngel aus dem Kleinstadt-Polit-Milieu anlegt, erhält in »Die Schlange« einen dubiosen Rechercheauftrag: Sie soll den schmutzigen Machenschaften einer Hamburger Immobilienfirma nachgehen und einen Mietskandal aufdecken. Offenbar werden alte Mieter aus den Wohnungen gemobbt, um durch Luxussanierungen und Neubauten abzukassieren. Susanne Mikula lässt sich bei der Hamburger StaGeBau einschleusen. Doch ihre Ermittlungen stoßen auf eine Wand des Schweigens. Steckt ein viel größeres Komplott dahinter? - Zweiter Band der Krimi-Reihe um die unkonventionelle Ermittlerin Susanne Mikula - Mietmobbing, Luxussanierung, Wohnungsnot: Wie viel Missbrauch wird auf dem Immobilienmarkt betrieben – und vertuscht? - Die Rolle des Journalismus: Wie wichtig ist unabhängige Berichterstattung? - Bissig, ungeschönt und kritisch: Ein mitreißender Politthriller zu einem hochaktuellen Thema Hamburg-Krimi: Was geht hinter den Kulissen des Wohnungsmarkts vor? Auch im zweiten Band seiner Krimi-Reihe nimmt sich Martin Wehrle eines aktuellen Gesellschaftsthemas an: dem völlig entfesselten Wohnungsmarkt. Der Autor war Führungskraft in einem Konzern und veröffentlichte Sachbücher zu Themen wie Arbeitsmarkt, Karriere und Bildung, die heftige Debatten auslösten. Für seine Krimis schöpft er aus diesem reichen Erfahrungsschatz. So sind Martin Wehrles Romane nicht nur packend, unterhaltsam und aufrüttelnd, sondern enthalten immer auch einen gesellschaftskritischen Hintergrund und einen starken Bezug zur Realität!

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Seitenzahl: 449

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MARTIN WEHRLE

DIESCHLANGE

KRIMINALROMAN

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2020Copyright © 2020 by Martin WehrleCopyright Deutsche Erstausgabe © 2020 Benevento Verlag bei Benevento PublishingSalzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei SalzburgDieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:Red Bull Media House GmbHOberst-Lepperdinger-Straße 11–155071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Christine LaudahnSatz: MEDIA DESIGN: RIZNER.ATGesetzt aus der Minion Pro, BalanceUmschlaggestaltung: © BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenUmschlagfoto: © Lisa B on Unsplash

ISBN: 978-3-7109-0069-3eISBN: 978-3-7109-5078-0

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Als ich meine Augen wieder öffnete, lag ich auf dem Boden, beide Hände an ein Metallrohr gefesselt. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte mir jemand einen Korkenzieher mitten durchs Gehirn gedreht. Der Schmerz klackerte wie eine stählerne Billardkugel von Schläfe zu Schläfe, mir wurde schlecht. Bloß nicht wieder ohnmächtig werden, befahl ich mir, doch meine Lider wogen zu schwer; mein Blinzeln zerhackte die Umrisse des Kellers, ich sah gespenstische Schatten, mit silbernen Lichtfäden durchzogen.

Ich wusste, was mir blühte, der große Knall stand unmittelbar bevor. Ich hätte kämpfen müssen, mich befreien. Aber ich war zu schwach. Alles verschwamm vor meinen Augen, und ich dachte noch: Du hast getötet – und jetzt wirst du getötet werden.

1

Der Straßenlotse

Der Auftrag war so läppisch, dass ich mit dem Gedanken spielte, ihn abzulehnen. Stellen Sie sich vor, ich sollte einem Mütterchen von 94 Jahren über die Straße helfen. Dafür winkten mir 8.000 Euro, der ortsübliche Tarif. Das Geld reizte mich kaum, meine Girokonten waren so voll, dass mein Bankberater nervöse Anfälle bekam. Zumindest rief er einmal pro Monat an, um mich davon zu überzeugen, das Geld in den Rachen irgendeines windigen Fonds zu schieben. Aber für solche riskanten Finanzspielchen bin ich zu clever.

Was mich an diesem Auftrag deutlich mehr interessierte, war die Frage: Warum nahm jemand so viel Geld in die Hand, um zu beschleunigen, was ohnehin bevorstand? Manchmal leuchten mir Aufträge ein. Warum ein Zuhälter dem anderen kein langes Leben wünscht – geschenkt. Aber warum ich bei einer 94-Jährigen, die schon fast auf der anderen Straßenseite war, mit einem Schubser nachhelfen sollte – rätselhaft.

Vielleicht sagen Sie: Der Sensenmann wartet auf uns alle. Das ist bei einer 94-Jährigen grob untertrieben. Auf ein solches Mütterchen »wartet« der Tod nicht – er tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere, greift nach ihr, um sie auf seine Straßenseite zu zerren. Er erledigt seinen Job immer, nur muss man ihm ein paar Tage geben. Aber Zeit schien mein Auftraggeber nicht zu haben

Warum mir der Auftrag läppisch erschien? Ich bitte Sie, es war ein groteskes Wettrennen: Wer würde das Mütterchen schneller erreichen, er oder ich? Stellen Sie sich vor, ich schleiche in ihre Altbauwohnung an der Alster, finde sie unter ihrer Bettdecke, taste nach ihrem Mund und bemerke: Sie ist kalt wie eine Tiefkühlpizza, der natürliche Tod war schneller. Sicher, mein Auftraggeber wäre von meiner scheinbaren Diskretion begeistert. Aber welcher Fußballer wird gern als Torschütze gefeiert, obwohl ein anderer den Ball versenkt hat? Solche Almosen gehen gegen meine Berufsehre.

Der zweite Haken lag darin, dass ich kaum gefordert war. Ich hätte mir eine sportliche Herausforderung gewünscht, die mir jenen Kick gab, den ich in meinem bürgerlichen Beruf nicht mehr fand. Dass ich eine 94-Jährige ins Visier nahm, war genauso langweilig wie ein Schuss aufs leere Tor.

Weil Sie es sind, will ich es verraten: Mein Hauptberuf ist es, Menschen auf der hiesigen Straßenseite zu halten. Ich verlängere Leben, statt sie abzukürzen. Meine exotische Freizeitbeschäftigung stellt dazu nur einen gesunden Ausgleich dar. Oder haben Sie noch nie gehört, dass dieser Planet überbevölkert ist? Leute wie ich tragen beruflich dazu bei. Wenn Sie so wollen, bessere ich in meiner Freizeit nur meine Ökobilanz auf. Mal wieder einer weniger, der seine Supermarkttomaten in ein Plastiksäcklein packt, unter Trinkwasser duscht und mit jeder Autofahrt die Luft verpestet.

Je länger ich über den Mütterchen-Auftrag nachdachte, desto mehr ging mir ein reizvoller Aspekt auf. Normalerweise stieß ich die Menschen überraschend auf die andere Straßenseite, aber diesmal würde ich erwartet werden. Glauben Sie nicht auch, dass eine 94-Jährige den Sensenmann längst um ihr Haus schleichen hört? Dass sie schon weiß, dass alle Pillen, die sie schluckt, alle Ärzte, die sie besucht, alle Gebete, die sie ausstößt, nur um ihm zu entgehen – dass diese ganze Überlebensakrobatik den Sensenmann nicht aufhalten kann.

Und nun würde er tatsächlich kommen, aber völlig unerwartet in meiner Gestalt. Das war ein herrlicher Gag. Halten Sie mich jetzt nicht für eitel, aber ich habe mit einem Straftäter so wenig Ähnlichkeit wie eine Friedenstaube mit einer Fledermaus. Vielleicht sind Sie mir gestern noch begegnet, als Sie besorgt um Ihre Gesundheit waren. Vielleicht haben Sie gedacht: was für ein hilfsbereiter, netter, empathischer Mann. Oder, falls Sie eine Frau sind: was für ein smarter Typ!

Dass ich anderen über die Straße helfe, ohne ihre, sagen wir, ausdrückliche Zustimmung – nie wären Sie darauf gekommen. Und lassen Sie bitte Klischees beiseite, sehen Sie mich nicht als »Berufskiller«. Erstens übe ich, wie erwähnt, einen anderen Hauptberuf aus. Und zweitens dürfen Sie jedes Mal, wenn laut Medien ein Berufskiller zugeschlagen hat, ganz sicher sein: Das war ein Stümper.

Denn wer diesen Job wirklich beherrscht, so wie ich, schlägt zu, ohne eine Visitenkarte am Tatort zu hinterlassen. Hier hat mich meine Expertise zu einem gefragten Mann gemacht. Egal wie jung oder gesund Sie sind, in kürzester Zeit könnte ich Sie unauffällig auf die andere Straßenseite bringen.

Theoretisch könnten Sie bei Ihrer nächsten Autofahrt einschlafen und gegen einen Baum fahren – so was passiert jeden Tag. Theoretisch könnten Sie einen Herzinfarkt erleiden – so was passiert jeden Tag. Oder Sie Ärmster könnten von einer Depression gepackt und zu einem Spaziergang auf den Bahngleisen verleitet werden – so was passiert jeden Tag. Es braucht nur ein wenig Fachwissen, um geschehen zu lassen, was oft von allein geschieht.

Aber Sie können beruhigt sein, ich bin ein zivilisierter Mensch: Ich schiebe kein Schnellfeuergewehr durch das Fenster eines gestohlenen Autos, um Ihren Brustkorb zu durchlöchern. Ich schlitze Ihren Hals nicht mit einem Teppichmesser auf, trete mit meinen Stiefeln Ihr Gehirn nicht zu Brei und sehe auch davon ab, Fleischermesser abseits der Küche zu verwenden. Ich mache Tatortreiniger arbeitslos, denn ich hinterlasse keinen Tatort.

Alle, die durch Blutlachen waten, sind für mich Pöbel. Gescheiterte Bordellbesitzer, abgehalfterte Kampfsportler oder eichengroße Türsteher, deren Fäuste ebenso hart sind, wie ihr Gehirn weich ist – solche Typen tummeln sich in meinem Metier.

Bei mir aber dürfen Sie gehobene Manieren voraussetzen, wenn ich Sie verabschiede. Sei es durch einen Handschlag. Oder sei es für immer.

Also gut, ich werde dem Mütterchen über die Straße helfen – durch sanftes Ersticken. Ich besuche es bei Nacht, lege wie ein zärtlicher Enkel meine Hand auf ihren Mund und ihre Nase. Kein Schrei wird ihrem Hals entweichen, kein Kratzer ihre Haut beschädigen, keine Schürfung, kein Würgemal. Kein Gerichtsmediziner wird die Todesursache nachweisen können – erst recht kein Hausarzt, der den Totenschein einer 94-Jährigen im Halbschlaf der Routine ausfüllt.

Das Ersticken, sollten Sie wissen, läuft in fünf Phasen ab, die erste ist die Atemnot. Für jüngere Opfer kann das anspruchsvoll sein, denn wenn sie sich wehren, steigt im Blut der Kohlendioxidspiegel. Dann landen sie unsanft auf der anderen Seite der Straße: durch asphyktisches Ersticken. Und ihre Haut, ihre Lippen und ihre Fingernägel können sich blau wie ein Winterhimmel färben, wir nennen das Zyanose.

Das Mütterchen jedoch, das verspreche ich Ihnen, wird sanft über die Straße gleiten: schnell geschockt und ohne große Gegenwehr. Wenn nur der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt, es also zu einem primär nicht asphyktischen Ersticken kommt, sind die letzten Sekunden sogar ein Highlight: Sie kann eine Art Höhenrausch erleben, ehe das Bewusstsein aus ihr weicht wie schmutziges Wasser aus einem gewrungenen Schwamm.

In der zweiten Phase, geprägt durch Sauerstoffmangel, gleicht das Gehirn einem stotternden Motor; es kommt zu Erstickungskrämpfen. Noch rast der Puls, noch schießt der Blutdruck nach oben.

Aber dann, in der dritten Phase, setzt die präterminale Atempause ein: Der Motor geht aus, der Blutdruck sackt ab, nur der Puls galoppiert noch. In der vierten Phase – bitte nicht erschrecken, falls Sie mal jemanden ersticken – kann der Motor noch einmal kurz anspringen: Die Atmung setzt wieder ein, laut und schlürfend, wir nennen das terminale Schnappatmung. Und in der fünften Phase schmiert der Motor endgültig ab: Der Atem bleibt stehen, der Kreislauf macht langsam schlapp, und das Gehirn ist hinüber. Gute Nacht!

Ich hoffe, meine Auskünfte beruhigen Sie. Ich werde das Mütterchen fachmännisch über die Straße begleiten. Sie hat wirklich Glück, dass sie an mich gerät. Ein anderer würde sie eine Treppe hinabstoßen. Und Gewalt – da sind wir uns sicher einig – muss nun wirklich nicht sein.

2

Zusammengekauert lag ich da, die Oberschenkel an den Bauch gezogen, während der Mann mich ansprach. Je lauter er wurde, desto mehr erstarrte ich. Mein Körper fühlte sich an wie ein viel zu enges Kleidungsstück, in das jemand meine inneren Organe gepresst hatte. Der Brustkorb quetschte mein Herz zusammen und ließ es hektisch zittern. Mein Mund war trocken wie Schmirgelpapier. Und die Luft, die ich atmete, schmeckte nach verbranntem Gummi und erreichte meine Lunge nicht. Als hätte mir jemand einen Korken in den Hals gehämmert.

Der Mann packte mich am Arm und begann zu rütteln. »Nein!«, rief ich, »loslassen, ich will da nicht runterfallen!« Meine Arme ruderten, ich schlug um mich. Die Augen hielt ich dabei geschlossen, das Licht sollte nicht wie ein blitzendes Messer in sie fahren.

Es war immer dasselbe Duell: er oder ich? Und jedes Mal hatte ich die schlechteren Karten, denn er war ein Mann von über hundert Kilo, mit harten Muskeln und ohne Hemmungen. Und unten, auf der Fahrbahn, kam der Tod angebraust und lauerte darauf, dass ich ihm vor die Räder stürzte. Ich wollte mich nicht ergeben, ich musste kämpfen. Aber der Schrei, der mir auf den Lippen lag, geriet nur zu einem Krächzen, ich spürte Speichelfäden über mein Kinn rinnen.

Endlich vernahm ich die Männerstimme deutlicher: »Hören Sie auf mit diesem Theater! Mich können Sie nicht täuschen. Ich weiß genau, worum es Ihnen geht.«

Ich blinzelte einen schnauzbärtigen Mann in Uniform an, dessen fülliges Gesicht wie ein Vollmond über mir aufging. Ich sah alles nur verschwommen, wie durch dichten Nebel, und hatte keine Ahnung, wer der Typ war und was er hier wollte. Ich richtete mich auf.

»Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie überhaupt?« Ich strengte mich an, meine Schnappatmung zu unterdrücken.

»Sie wissen genau, was ich will. Machen Sie sich nicht lächerlich! Und dass Sie sich jetzt blöd stellen, bestätigt mich in meinem Verdacht.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, wirklich nicht.«

»O doch, das wissen Sie! Sich schlafend stellen, wenn ich komme, ist der älteste Trick der Welt. Das erlebe ich jeden Tag. Und Sie haben noch die Mitleidsnummer obendrauf gepackt – husten, keuchen, zappeln. Aber nicht mit mir!«

Mein Herz sprang wie ein Knallfrosch in meiner Brust herum, und meine Gedanken fuhren Karussell. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert, immer noch sah ich alles verschleiert. Ruhig atmen, Susanne, ruhig atmen.

»Sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen.«

»Ihre Fahrkarte will ich sehen«, antwortete er gereizt. »Aber nach diesem Schauspiel bin ich sicher: Sie haben keine!«

Erst jetzt verstand ich, wo ich war. Mein Blick wurde klarer und suchte das Fenster. Draußen rauschte gerade ein herbstlich gesprenkelter Laubwald vorbei, wie von einem riesigen Fließband fortgerissen. Darüber spannte sich ein blauer Himmel mit weißen Schlieren. Und ich nahm das rhythmische Stampfen wahr, das gedämpfte Rauschen der Luft vorm Fenster, das Fahrtgeräusch.

Ich kramte ein frisches Papiertaschentuch aus der Verpackung und fuhr mir über den Mund, um den Speichel wegzuwischen.

»Ich will kein Taschentuch sehen, sondern Ihre Fahrkarte!«, fuhr mich der Schaffner an. »Oder Sie geben mir gleich Ihre Personalien.«

»Ich muss mich von Ihnen nicht so behandeln lassen. Ich bin Fahrgast in diesem Zug.«

»Bis jetzt sind Sie Schwarzfahrerin. Ich habe immer noch kein Ticket gesehen.«

Hektisch durchsuchte ich meine Tasche. Wo hatte ich bloß die Fahrkarte verstaut? Mein Gedächtnis glich in letzter Zeit einem Buch, aus dem dauernd jemand die wichtigsten Seiten herausriss.

Das Mondgesicht des Schaffners verzerrte sich zu einem hämischen Grinsen. »Hab ich’s doch gewusst! Dann brauche ich Ihren Personalausweis. Und kommen Sie mir nicht mit weiteren Ausreden!«

In diesem Moment ertastete ich mein Handy, und es fiel mir wieder ein. Ich rief die digitale Fahrkarte auf und hielt ihm das Display mit zitternder Hand unter die Nase.

»Glück gehabt«, murmelte er, zog einen Scanner über den Code und sagte: »Hamburg Hauptbahnhof dann bitte aussteigen, der Zug fährt bis Altona durch.« Er klang kalt. »Noch eine gute Reise.« Ohne Entschuldigung verließ er das Abteil, in dem ich allein saß. Auf ein gebrochenes Bein hätte er vermutlich Rücksicht genommen, den Gips gesehen, dachte ich. Aber eine gebrochene Seele sieht man eben nicht. Pech gehabt, Susanne!

Ich setzte mich aufrecht hin, atmete tief aus, wie es mir mein Therapeut empfohlen hatte, und zählte bis drei, ehe ich wieder einatmete. »Durch diese Pause atmen Sie tiefer ein, das beruhigt Ihren Organismus«, hatte er gesagt. Diesen Vorgang wiederholte ich 25 Mal, bis sich mein Brustkorb geweitet hatte und das Taubheitsgefühl aus meinen eiskalten Fingern wich. Langsam schaltete mein Herz vom Vibrieren wieder auf regelmäßiges Schlagen um.

Ich rief Iris an, sie meldete sich überschwänglich: »Hey, Prinzessin, die haben dich mit Handkuss genommen, stimmt’s?«

»Iris, ich sitze noch im Zug.«

»Dann werden Sie dich noch mit Handkuss nehmen, ist doch klar wie Kloßbrühe. Du bist die Idealbesetzung für diesen Posten, du kannst Boulevard.«

Sie schwieg einen Moment, als ich nichts sagte, dann fragte sie etwas leiser: »Geht’s dir gut?«

»Abgesehen davon, dass ich schon wieder eine Attacke hatte und dabei fast einen Schaffner erschlagen hätte, ist alles in bester Ordnung. Um diesen Schaffner wäre es allerdings nicht schade gewesen. Der einzige Ort, wo man mich noch mit Handkuss nimmt, ist eine Irrenanstalt.«

»Prinzessin, jetzt mach mal halblang! Du bist durch die Hölle gegangen, da ist es doch klar, dass hier oder dort mal was anbrennt. Das ist deine Post-Last, da klebt ein hohes Porto drauf.«

Iris konnte es nicht lassen, alles Schwere im Leben mit dem Lachgas ihres sonnigen Gemüts zu besprühen. Eine posttraumatische Belastungsstörung zur frankierten »Post-Last« schönzureden brachte auch nur sie fertig.

»Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin. Ich habe immer noch diese Aussetzer – als würde ein Wolf mir Fetzen aus meinem Gedächtnis reißen. Stell dir vor, gerade wusste ich nicht mehr, dass ich in einem Zug bin. Der Schaffner hat mich so was von runtergeputzt. Ich werde das Gespräch abblasen.«

»Hey, Prinzessin, jetzt mach keinen Mist! Du gehst da hübsch hin, und zwar ohne Asche aufm Haupt! Du hast Reinstadt von einem Scheißkerl befreit. Sebastian ist so was von stolz auf dich.«

»Sebastian muss mich jeden Monat anbetteln, damit ich ihm meinen Anteil des Unterhalts nach London überweise. Und das klappt nur, weil ich es von den Raten fürs Haus abzwacke. Ich mache die Umschläge mit den Mahnungen schon nicht mehr auf.«

»Das ändert sich, wenn du den Job hast. Dann fließt die Kohle wieder in Strömen. Wahrscheinlich streichst du da ein Traumgehalt ein.«

»Vergiss nicht, ich müsste in Hamburg leben. Der Markt für Wohnungen ist leer gefegt, jeder Quadratmeter wird mit Gold aufgewogen. Da würde ich am Ende noch Geld drauflegen. Aber ich fühle mich einfach noch nicht fit genug.«

Sie ignorierte meinen zweiten Einwand, aber knöpfte sich den ersten vor: »Hast du nicht erzählt, dass du bei Martha einziehen kannst? Ich fresse einen Besen, wenn die einen Cent Miete von dir verlangt.«

Martha, die ältere Schwester meines Vaters, war meine Lieblingstante und wohnte allein in einer herrschaftlichen Altbauwohnung an der Alster. Durch meine Krankheit hatte ich sie im letzten Jahr viel zu selten gesehen. Nach dem Tod meines Vaters waren wir eng zusammengerückt. Noch auf dem Totenbett hatte ihr mein Vater sein größtes und gruseligstes Geheimnis anvertraut.

Ich schüttelte meinen Kopf. »Martha wäre nur eine Übergangslösung, Iris – außerdem hab ich doch eh keine Chance auf den Job. Warum sollten die ein Wrack wie mich nehmen? Die haben doch Dutzende von jungen, fitten Bewerbern.«

»Du bist kein Wrack, hey, sondern ein prächtiges Segelschiff, Prinzessin. Klar, der Sturm hat dir in letzter Zeit ein paar Fetzen aus dem Segel gerissen, die Sache mit Markus war ja auch richtig heftig. Aber ich bin sicher: Du wirst den Laden rocken!«

Der Name »Markus« bohrte sich wie eine heiße, spitze Nadel in meinen Körper. Ich spürte, wie mein Herz beschleunigte und mein Brustkorb wieder enger wurde. Tief atmen, Susanne, tief atmen.

Iris deutete mein Schweigen falsch: »Genieß das Bild: Du segelst auf einen neuen Hafen zu.«

»Auf den falschen Hafen, und das weißt du! Oder warum wollte ich den Journalismus aufgeben und Medizin studieren – weil ich so hochmotiviert bin, neue Schlagzeilen zu fabrizieren?«

»Ruhig Blut, Prinzessin. Es dauert halt noch ein paar Wartesemester, bis du den Doktorkittel überstreifst, na und? Bis dahin bringst du deine PS als Journalistin wieder auf die Straße – heimlich freust du dich doch darauf!«

»Ich freue mich darauf, meine Rechnungen wieder bezahlen zu können.«

»Sag ich doch: Du freust dich. Die Details spielen keine Rolle.«

»Details? Ich meine ein finanzielles Desaster. Und das geht ganz allein auf meine Kappe.«

Ich hörte sie unwirsch schnaufen. »So ein Quatsch! Dass Sebastian als Austauschschüler ein Vermögen kostet, darauf wäre nicht mal ich gekommen.« Sie lachte, weil sie wusste, dass sie mit Geld nicht umgehen konnte.

»Habe ich gewusst, dass ich die Raten für unser Haus bezahlen muss? Ja! War mir klar, dass sich am Ausgang jedes Supermarktes eine Kasse befindet? Ja. Es war total naiv von mir, mit über vierzig noch studieren zu wollen. Jetzt zahle ich den Preis dafür.«

»Welchen Preis? Du kommst zurück nach Hamburg, Prinzessin: Alster, Elbe, Jungfernstieg. Wie damals, als wir an der Journalistenschule waren. Du wirst dich wieder sauwohl fühlen.«

»Du weißt, wie sie mich das letzte Mal aus Hamburg verabschiedet haben?«

»Du hast Charakter gezeigt. Das wirst du jetzt wieder tun.«

»Ich werde anrufen und sagen, dass ich nicht komme. Ich hatte schließlich gerade eine neue Attacke.«

»Und ich bekomm eine Attacke, wenn du nicht hingehst! Du rechnest doch ohnehin mit einem Arschtritt. Also hol ihn dir gefälligst persönlich ab. Oder bist du feige geworden?«

Damit hatte sie mich am Haken, ich musste an einen Satz meines Psychologen denken: »Angst wächst, wenn Sie meiden, was Sie fürchten. Aber Angst schrumpft, wenn Sie nach vorne gehen und sich ihr stellen.«

Vor einem knappen Jahr auf der Autobahnbrücke, als es um Leben und Tod gegangen war, hatte ich Mut bewiesen. Und noch dazu meine größte Phobie überwunden. Im Vergleich dazu fühlte sich ein Vorstellungsgespräch in der Tat nicht mehr ganz so schlimm an.

»Also gut, ich geh hin – aber nur unter einer Bedingung: Die Absage geht dann auf deine Kappe.«

»Abgemacht«, rief sie so fröhlich, als hielte sie schon ein Sektglas zum Anstoßen auf den neuen Job in der Hand.

»Iris, der Job ist meilenweit entfernt. Und außerdem geht das Gespräch erst in zwei Stunden los.«

»Dann ist der Job eben noch etwas mehr als zwei Stunden entfernt. Ruf mich wieder an, Prinzessin, hörst du?!«

Sie gab mir einen dicken Schmatzer und legte auf. Die naheliegende Idee, ich könnte beim Vorstellungsgespräch eine Panikattacke bekommen, lag für sie so fern wie ein unentdeckter Planet.

3

Das Verlagsgebäude der Hamburger Allgemeinen schraubte sich vor mir in den Himmel, als wollte es den Wolken die Bäuche kitzeln. Ein Architekt hatte viel Glas verbaut, und der Schriftzug des Blattes lief in großen Leuchtbuchstaben über die Fassade. Entweder war die Krise der Printmedien hier noch nicht angekommen. Oder das Polster der guten Jahre war so fett, dass man es sich leisten konnte, den Einbruch des Anzeigengeschäftes lächelnd zu ignorieren.

Ich betrat das Gebäude, stellte mich am Empfang vor und wurde in einer Sofaecke geparkt. Die Titelblätter der letzten fünf Ausgaben der Hamburger Allgemeinen, alle mit fetten Schlagzeilen, waren neben mir in einer Vitrine drapiert, wie Kunstwerke.

Mein Herz hüpfte in meiner Brust wie ein Knallfrosch herum, und ein leichtes Schwindelgefühl umhüllte mich. Ich fühlte mich so fit wie ein 100-Meter-Läufer mit Gipsbein, und der Startschuss stand unmittelbar bevor.

Nichts lieben Firmen mehr, als Bewerber warten zu lassen. Um 15 Uhr hätte es losgehen sollen, aber es wurde 15.05, 15.10 und 15.15 Uhr, ohne dass mich jemand abholte. Sicher kein Zufall, denn wer froh ist, überhaupt noch empfangen zu werden, kommt nicht auf dumme Ideen. Etwa übermütige Gehaltsforderungen zu stellen.

Als leitende Redakteurin des Tagesboten hatte ich es immer gehasst, Vorstellungsgespräche zu führen, denn in Wirklichkeit waren es Verstellungsgespräche – als träfen sich Pinocchio und Münchhausen.

Ich hatte mich damals entscheiden müssen, wem ich dienen wollte: der Wahrheit oder meinem Arbeitgeber? Und mir war klar, wer von den beiden meine Brötchen bezahlte. Deshalb stellte ich ein »Medienhaus mit großer Tradition« vor, ohne zu erwähnen, dass diese Tradition im Grab des Altverlegers auf dem Stadtfriedhof vor sich hin rottete.

Und was taten die Bewerber? Sie logen genauso schamlos, gaben kinoreife Beispiele für ihre Erfolge, immer passend zur Ausschreibung. Und jede Lücke im Lebenslauf, die nach Weltreise roch, redeten sie zu einer »Sprachreise mit Studium der lokalen Medien«. Ein lächerliches Theater.

»Gleich kommt jemand«, rief die Dame vom Empfang zu mir rüber. Wurde auch Zeit, es war jetzt 15.22 Uhr. Ich stand auf, atmete tief durch und stöckelte an der Vitrine mit den reißerischen Schlagzeilen entlang. Mein Blick blieb kleben am Aufmacher der fünf Tage alten Ausgabe: »Oma-Mörder schlägt zu: 94-Jährige erstickt.«

Ich dachte sofort an Tante Martha.

Der Moment, in dem ich die Kontrolle über mich verlor, kam überraschend. Denn das Gespräch hatte erfreulich begonnen, zwei Vertreter des Verlages saßen mir gegenüber: Frank von Leibringen, der Chefredakteur, ein Zwei-Meter-Hüne mit tiefblauen, leicht vereisten Augen, der sich etwas zu eckig bewegte; und Jane Sternberg, die Leiterin des Lokalressorts, eine mädchenhafte Mittvierzigerin, etwas älter als ich, deren spitzes Kinn vor lauter Tatkraft aus dem sommersprossigen Gesicht zu springen schien, obwohl sie bei der Begrüßung etwas schüchtern gewirkt hatte.

»Erzählen Sie etwas über sich«, hatte von Leibringen das Gespräch eröffnet. Der Knallfrosch in meiner Brust machte Eskapaden, und für einen Moment malte ich mir aus, die Wahrheit zu sagen: »Ich habe meinem letzten Verlag einen bundesweiten Skandal bereitet. Meine große Liebe hat mich aus ihrem Leben gekegelt. Und mein bester Kumpel ist ein Obdachloser, der auf den schönen Namen Ratte hört – noch weitere Fragen?«

Doch ich beherrschte mich und sagte: »Mein Name ist Susanne Mikula, und ich möchte Ihnen drei Gründe nennen, warum wir gut zusammenpassen würden: Erstens suchen Sie jemanden, der Lokaljournalismus lebt – darauf können Sie sich bei mir verlassen, ich habe jahrelang das Lokalressort des Tagesboten in Reinstadt geleitet. Ich habe ein feines Näschen für Storys aus dem Rathaus. Ich weiß, wie man Quellen auf dem Polizeirevier abschöpft. Und ich bin geübt darin, die Themen der großen Politik durch lokale Gesichter sexy zu machen.« Die blauen Augen des Chefredakteurs tauten unter meinen Worten auf. Er nickte mir aufmunternd zu.

»Zweitens ist es Ihnen wichtig, dass Ihre neue Redakteurin einen Bezug zu Hamburg hat – ich habe hier die Journalistenschule besucht und eine Entwicklungsredaktion geleitet. Ich weiß also, wie diese Stadt tickt und wo man den Teppich lupfen muss, um auf spannende Storys zu stoßen.«

Nun wandte ich meinen Blick Jane Sternberg zu, der Leiterin des Lokalteils: »Und drittens legen Sie Wert darauf, dass Ihre neue Stellvertreterin Erfahrung in Menschenführung mitbringt – ich habe eine Lokalredaktion geleitet: Volontäre ausgebildet, Redakteure eingestellt und Mitarbeitergespräche geführt. In diesen Punkten könnte ich Sie, Frau Sternberg, bei Bedarf entlasten.«

Von all den Redakteuren, die ich eiskalt entlassen hatte, erwähnte ich kein Wort. Es reicht ja, dass sie nachts durch meine Albträume spukten. Jane Sternberg nickte mir freundlich zu.

Von Leibringen heftete seinen Blick an meinen Lebenslauf, der vor ihm auf dem Tisch lag: »Und was haben Sie im letzten Jahr gemacht?«

Autsch, mein wunder Punkt! Der Knallfrosch in meiner Brust hüpfte schneller, und das innere Teufelchen soufflierte mir: »Ich habe mir von einem Psychiater erklären lassen, warum ich nicht mehr richtig ticke: warum die Bilder von damals immer wieder über meine Netzhaut stürmen, warum ein Wolf mir Fetzen aus meinem Gedächtnis reißt und warum ich ein einziges Nervenbündel geworden bin.«

Doch ich beherrschte mich und sagte: »Ich bilde mich autodidaktisch fort. Gerade analysiere ich die große Studie der Bertelsmann-Stiftung über Lokalmedien unter dem Aspekt: Wie sieht die Lokalzeitung der Zukunft aus, welche Themen packen die Leser?«

Anders gesagt: Ich hatte einen flüchtigen Blick auf die Studie geworfen, ehe ich mich wieder meinen offenen Rechnungen und dem Trash-TV zuwandte. Aber ein Bewerbungsgespräch hieß so, weil man Werbung für sich machen sollte, und das tat ich. Ich schlug mich tapfer. Und doch kamen mir meine Antworten viel zu glatt vor. Wo blieben meine Ecken und Kanten?

In der zweiten Phase des Gespräches musste ich erzählen, wo ich mich in fünf Jahren sah (nicht auf dem Stuhl meiner Chefin!), welches meine größten Schwächen waren (nur solche, die mit dem Job nichts zu tun haben!) und was ich in meinem Leben am meisten bereute (ein verjährter Fehler aus Schulzeiten!).

Dann, als wäre es die normalste Frage der Welt, wollte von Leibringen wissen: »Und was würde mir Ihr letzter Chef über Sie so erzählen?«

Der Knallfrosch in meiner Brust explodierte. Die Bilder von der Autobahnbrücke rasten durch mein Gehirn wie ein schnell gespulter Film, vorwärts, rückwärts, durcheinander. Meine Hände klammerten sich an der Stuhllehne fest, als wäre sie das Brückengeländer von damals. Ruhig atmen, Susanne, ruhig atmen.

Und wie von fern soufflierte das Teufelchen mir: »Mein letzter Chef kann Ihnen nichts mehr erzählen, weil er tot ist – ich habe eigenhändig dafür gesorgt, es war eine gute Tat! Und alles, was er Ihnen vorher erzählt hätte, wäre faustdick gelogen gewesen. Er war ein Schwein, und er hat mich selbst zum Schwein gemacht. Wenn ich jetzt meinen Verstand verliere – und ich glaube manchmal, das tue ich –, dann nur wegen ihm.«

Ich wollte mich beherrschen, etwas anderes sagen. Aber an der Art, wie Frank von Leibringen seine rechte Augenbraue nach oben zog, als müsse er sich verhört haben; an der Geste, mit der sich Jane Sternberg an ihr fliehendes Kinn fasste, als wollte sie es vor lauter Schrecken festhalten; an dem Schweigen, das sich wie Packeis in den Raum schob – daran merkte ich, dass etwas Unwiderrufliches geschehen war. Die Bilder von damals hatten mir die Kontrolle über mich geraubt, wieder einmal.

Frank von Leibringen kniff die Augen zusammen und visierte mich wie ein Scharfschütze: »Was haben Sie da gerade gesagt, Frau Mikula?«

»Die Wahrheit«, antwortete ich.

Damit war das Gespräch gelaufen.

Kurz vor dem Fahrstuhl holte mich Jane Sternberg ein: »Ich bewundere Sie für Ihren Mut zur Wahrheit, Frau Mikula. Hut ab!«

»Es war nur der Mut zur Dummheit«, sagte ich.

»Ich kenne Ihre Geschichte aus Reinstadt, ich habe das damals in den Medien verfolgt. Das war …« Sie führte den Satz nicht zu Ende. Mir fiel auf, dass ihr Oberkörper von einer Seite zur anderen pendelte, wie bei einer Boxerin.

»Haben Sie mich deshalb eingeladen?«

»Ich schätze investigativen Journalismus.«

Jane Sternberg lächelte und hielt mir ihre Visitenkarte hin. »Vielleicht können wir uns privat mal treffen? Melden Sie sich, wenn Sie wieder in Hamburg sind.«

Ihre Herzlichkeit sprang aus jeder Sommersprosse und tat mir gut. Ich mochte sie, ihre natürliche Art, und nahm die Visitenkarte an.

»Tut mir leid, dass ich Sie vor Ihrem Chef so blamiert habe«, sagte ich.

Sie fasste mich am Arm und sagte ernst: »Sie haben mich nicht blamiert: Er war richtig scharf darauf, eine so bekannte Journalistin kennenzulernen.«

4

Als ich das Verlagsgebäude verlassen hatte, fühlten sich meine Beine so schwer an, als hätte sie jemand mit Blei übergossen. Vor lauter Müdigkeit hätte ich im Stehen einschlafen können. Ich war beschämt über meinen Auftritt und wütend auf mich selbst: Warum hatte ich mir dieses Gespräch von Iris aufschwatzen lassen? Wenn Sebastian wüsste, was ich hier abgeliefert hatte, würde er sich wieder für seine Mutter schämen – wie damals, als ich noch die eiskalte Redaktionsmanagerin war. Nur dass ich jetzt keine anderen Existenzen mehr zerstörte, sondern unsere eigene.

Gedankenverloren ließ ich meinen Blick die Straße hinaufschweifen. Sie schmiegte sich wie mit dem Lineal gezogen an hanseatische Firmengebäude, die nicht mit Reichtum protzen wollten, es aber gerade deshalb taten. Eine schwarze Limousine, übertrieben lang, die Scheiben getönt, rollte die Straße hinab und hielt vor dem Verlagsgebäude, nur ein Stück von mir entfernt. Ich war gespannt, welcher Superstar zum Interview vorgefahren wurde. Ich tippte aufs Showbusiness, vielleicht gab es in Hamburg eine Filmpremiere. Oder war es der Verleger persönlich, der es für nötig hielt, in einem solchen Schlitten durch die Stadt zu gleiten?

Ein livrierter Chauffeur, höchstens 1,65 Meter groß, braunes Haar mit elegantem Seitenscheitel, erhob sich aus dem Wagen, wechselte in erhabenem Gang die Seite. Aber statt die Beifahrertür zu öffnen, stolzierte er auf den Eingang des Verlages zu. Aha, er brachte keinen Promi, er holte einen ab.

Auf meiner Höhe blieb er stehen: »Susanne Mikula?« Seine Stimme klang wie flüssiger Honig, beruhigend.

Ich starrte ihn an. »Woher kennen Sie mich?«

»Ich habe die Ehre, Sie abzuholen.«

»Mich abholen?« Bestimmt machte ich ein Gesicht, das mich für die Geisterbahn qualifiziert hätte. »Das muss ein Missverständnis sein.«

»Voilà, bitte steigen Sie ein.« Er verbeugte sich, öffnete die hintere Tür und wies mir mit einladender Hand den Weg. »Darf ich bitten!«

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hamburger Allgemeine mich mit einer Limousine zurück zum Bahnhof fahren ließ, lag weit unter null. Aber hatte der Chauffeur nicht meinen Namen genannt? Es konnte keine Verwechslung sein.

»Jetzt mal ganz langsam. Wer schickt Sie?«

»Dazu darf ich mich nicht äußern, aber selbstverständlich werden Sie alle nötigen Informationen noch erhalten.« Er nickte in den Fond des Wagens hinein.

Ich stand wie angenagelt auf dem Asphalt. »Dann werden Sie wohl ohne mich fahren müssen.«

»Das würde ich zutiefst bedauern. Und ich fürchte, Madame: Sie würden es noch viel mehr bedauern.«

Allmählich spürte ich, dass mein Kampfgeist erwachte. »Wollen Sie mir etwa drohen?«

Er lächelte gegen meinen Zorn an. »Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, dass Ihnen eine exquisite Chance entgehen könnte.«

»Die Chance, mich von Ihnen entführen zu lassen! Darauf kann ich verzichten.«

Er beugte sich etwas in meine Richtung, und seine Honigstimme sagte: »Mit Verlaub, Madame: Für Entführungen gäbe es unauffälligere Kraftfahrzeuge als dieses.«

Wo er recht hatte, hatte er recht. Und meine Beine wogen so schwer, dass ich mich allzu gern in die weichen Polster hätte fallen lassen. Zumal sich die Müdigkeit immer mehr in meinem ganzen Körper ausbreitete. Allmählich wurde ich neugierig: Wer wollte mich so dringend sprechen? Wer wusste überhaupt, dass ich heute in Hamburg war, zu dieser Minute an diesem Ort? Das war unheimlich. Und welches Thema war wichtig genug, mir eine Limousine vorbeizuschicken, groß wie ein Ein-Zimmer-Appartement und wohl so teuer, dass ich von der Tagesmiete meine Jahresstromrechnung endlich hätte bezahlen können?

Mein inneres Teufelchen wisperte: Bloß jetzt keine Fahrt ins Blaue, nachdem du heute schon zwei Attacken hattest. Wer garantiert dir, dass du beim nächsten Anfall an deiner Angst nicht erstickst? Die Brust kann dir auch in der größten Limousine verdammt eng werden.

Der Chauffeur sah mich aufmunternd an: »Madame, bitte lassen Sie mich wissen, wie ich Sie überzeugen kann.«

»Sagen Sie mir, worum es bei unserem Ausflug geht.«

»Das darf ich nicht, bedauere. Mein Auftraggeber legt allergrößten Wert auf Diskretion.«

»Dann werde ich Ihren Auftraggeber nie kennenlernen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Fahrt.« Ich drehte mich um und lief so schnell, wie es meine müden Beine zuließen, in Richtung Rathausmarkt.

»Madame«, rief er mir hinterher, »ich darf Ihnen aber sagen, wohin es geht.«

Ich blieb stehen und drehte mich um.

»Zum Hotel Atlantic.«

Eine halbe Minute später sanken meine müden Knochen in die weichen Polster der Limousine. Sofort wollte ich Iris anrufen, damit jemand wusste, wo ich war. Ich kramte mein Handy aus der Handtasche und legte es auf meinen Schoß. Die Polster fühlten sich wie Wolken an, ich versank immer tiefer, meine Müdigkeit riss mich mit sich. Ich tauchte in einen Traum mit unscharfen Konturen ein.

Als ich wieder aufwachte, befand ich mich in einer Tiefgarage – und mein Handy war verschwunden.

5

Der Mann mit dem schattigen Gesicht thronte hinter einem riesigen Eichenschreibtisch, die muskulösen Arme hinterm Kopf zu einer Kobrageste gespreizt. Ich blinzelte gegen die tief stehende Sonne, die ihr Zitronenlicht durch die breite Fensterfront der Hotelsuite in meine Augen träufelte. Die Gemälde an den Wänden schienen zu leuchten, feine Staubkörner tanzten durch den herrschaftlichen Raum.

»Nun beruhigen Sie sich doch bitte wieder, liebe Frau Mikula. Niemand will Ihnen ein Haar krümmen, okay?«

»Das ist bereits passiert: Sie haben mich entführt und zu sich schleppen lassen!«

»Ich entschuldige mich in aller Form dafür, falls Ihre Anreise mit Beschwerlichkeiten verbunden war. Aber jetzt habe ich Ihnen doch gesagt, mit wem Sie es zu tun haben und worum es geht. Ich bin kein Krimineller, ganz im Gegenteil.«

»Und warum verhalten Sie sich dann wie einer? Warum lassen Sie mir mein Handy wegnehmen und kappen mich von der Außenwelt ab?«

»Niemand darf von unserem Treffen erfahren. Sonst ist der ganze Plan zum Scheitern verurteilt.« Er ließ seine Hände auf den Schreibtisch sinken.

»Und damit alles unauffällig abläuft, schicken Sie mir eine Stretchlimousine vor das Gebäude der größten Boulevardzeitung dieser Stadt? Toller Plan zur Geheimhaltung, gratuliere!«

»Niemand weiß, dass ich die Limousine geschickt habe. Und wir treffen uns hier im Atlantic, weil es sein kann, dass mein Haus in Blankenese beobachtet wird. Verstehen Sie jetzt?«

»Das rechtfertigt die Sache mit meinem Handy aber noch lange nicht!«

»Niemand, liebe Frau Mikula, darf ein Handy benutzen, wenn er mit mir in einem Raum ist. Wegen der Fotos. Das ist eine Eigenart von mir, vielleicht haben Sie davon schon gelesen.«

Natürlich hatte ich das! Heiner Stagemann – so hatte er sich vorgestellt – grüßte regelmäßig von einem Spitzenrang aus der Liste der reichsten Deutschen. Er musste Ende fünfzig sein, und seine Immobilienfirma StageBau, die er mit seiner Schwester Patricia leitete, hatte ihn steinreich gemacht. Mehrfach hatten die Wirtschaftsteile der überregionalen Zeitungen die Aktien seiner Firma als Investment mit Zukunft empfohlen, da der Wohnraum, gerade in den Städten, immer knapper wurde.

Und schon während meiner Hamburg-Jahre war mir aufgefallen, dass Berichte über ihn stets ohne Foto erschienen – offenbar fürchtete er sich vor einer Entführung. Einmal hatte ein großes Boulevardblatt einen Mann von hinten fotografiert, auch noch unscharf, und die Leser gefragt: »Ist ER das? Sieht so der Hinterkopf eines Immobilien-Milliardärs aus?« Lächerlich – als sähen die Hinterköpfe von Stinkreichen anders als die von Stinknormalen aus.

Ich rutschte auf meinem Stuhl ein Stück nach vorne: »Meinen Sie denn, ich hätte nichts Besseres zu tun, als Sie heimlich mit meinem Handy zu fotografieren?«

»Ein exklusives Foto von mir – das könnte ich Ihnen als Journalistin ja kaum verübeln. Sofern Sie eine gute Journalistin sind. Und davon gehe ich aus, denn darum sitzen Sie ja schließlich hier.«

»Und was wäre auf dem Foto zu sehen? Kein Gesicht, nur ein bisschen Haut hinter einer verspiegelten blauen Sonnenbrille, deren Gläser groß wie Spiegeleier sind. Dass Sie sich einen teuren Zweireiher leisten können, womöglich mit roter Fliege, darauf würden die Leute auch ohne Foto kommen.«

Es ärgerte mich, dass er seine Brille nicht abnahm. Auch wenn sein Gesicht doch durch die Ohren einen gewissen Wiedererkennungswert hatte: Sie standen von seinem länglichen Kopf mit dem grau melierten Haar ab wie die roten Henkel eines Topfes.

»Liebe Frau Mikula, ich brauche Ihre Hilfe! Ich habe eine Journalistin gesucht, die den Riecher und den Mut hat, krumme Dinger aufzudecken. Beides haben Sie in Reinstadt bewiesen, ich habe die Berichte über den Skandal intensiv verfolgt. Wenn jemand Vetternwirtschaft aufdecken kann, dann Sie.«

»Richtig, ich bin Journalistin. Aber was Sie mir vorgeschlagen haben, wäre eine verdeckte Ermittlung. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ich offiziell als Mieterkontaktfrau in Ihrer Firma anfange, heimlich aber hinter Ihrer Schwester herschnüffele?«

»Soweit ich weiß, nennt man das eine investigative Recherche. Und Sie würden sich für eine gute Sache einsetzen. Ich habe Hinweise darauf, dass Mieter mit übelsten Methoden aus unseren Wohnungen vertrieben werden, nur damit die Immobilien zu höheren Preisen veräußert oder vermietet werden können. Zu meiner Zeit waren die Mieter noch Könige. Aber in den letzten Jahren habe ich mich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen. Und alles, was ich seither höre, beunruhigt mich zutiefst.«

»Sie klingen, als hätten Sie es mit Mietpreissenkungen zu einem Milliardenvermögen gebracht.«

Mir war, als zuckte er leicht zusammen. »Das habe ich nie behauptet. Aber soll ich wegschauen, wenn Psychoterror gegen Mieter ausgeübt wird? Wegschauen, wenn man ihre Wohnungen überschwemmt oder ganze Häuser zu lärmenden Großbaustellen macht, nur um sie zum Kündigen ihrer regulären Verträge zu treiben? Dann wird aufwendig saniert und mit hoher Marge verkauft. Da werden Menschen durch Psychoterror auf die Straße getrieben. Ich bin ein hanseatischer Kaufmann der alten Schule, es beschämt mich, wenn solche schmutzigen Geschäfte unter meinem Namen laufen. Nur fehlen mir die Beweise, wer die treibende Kraft dahinter ist. Ich möchte dieser Sache ein Ende setzen, okay?«

Er klang verzweifelt. Oder spielte er nur Theater? Wer garantierte mir, dass er nicht ganz andere Pläne verfolgte, etwa seiner Schwester Patricia eins auszuwischen und wieder aktiv ins Tagesgeschäft einzusteigen? Ich hätte mich zu seinem Werkzeug gemacht – so wie ich schon einmal das Werkzeug eines Chefs war, mit fatalen Folgen für mich und andere.

Dabei hätte ich das Geld dringend brauchen können. Ich dachte an Sebastian, wie schön es wäre, ihn in London zu besuchen. Oder ihm mal ein paar Euro mehr zu überweisen. Aber wie war die Stelle überhaupt dotiert?

»Vielleicht kenne ich jemanden, der für den Job geeignet ist. Welche Konditionen stellen Sie sich denn vor?«

»Ich könnte Ihnen 7.500 Euro pro Monat anbieten, liebe Frau Mikula – und zusätzlich eine Erfolgsprämie.« Er schien zu durchschauen, dass sich die Frage auf mich bezog. Mit diesem Geld hätte ich in wenigen Monaten meine Gläubiger befriedigen und meine Post wieder öffnen können. Außerdem wollte ich mir schon lange ein Ruderboot an meinen Lieblingssee legen, um dort endlich in den abgelegenen Buchten zu angeln. Überhaupt war ich im letzten Jahr seltener am Wasser gewesen, als es das Andenken an meinen Vater verdiente. Ich vernachlässigte mein Hobby, und ich vernachlässigte mich.

Aber wie wollte ich einen Undercover-Job antreten, wenn ich nicht mal eine Zugfahrt oder ein Vorstellungsgespräch ohne Panikattacke über die Bühne brachte? Ganz von dem Wolf zu schweigen, der mir Fetzen aus meinem Gedächtnis riss. Ich war eben doch ein Wrack. Ein solcher Job hätte mich gnadenlos überfordert.

»Ich glaube, ich bin die Falsche für Sie.«

Er ließ sein Kinn in den Handteller sinken. »Und wenn ich Ihnen jetzt sage, liebe Frau Mikula, dass es um viel mehr als nur Mietermobbing geht?«

Er stockte, und sein Gesicht schien noch schattiger als zuvor. Ich spürte, dass ihm die Worte kaum über die Lippen wollten. Gebannt starrte ich ihn an. »Nämlich?«

»Ich kann nicht ausschließen, dass eine unserer Mieterinnen …« Er legte seinen Kopf in den Nacken und holte tief Luft: »… dass eine unserer Mieterinnen ermordet wurde. Nur weil sie dem Verkauf eines Hauses im Weg stand. Ich habe keine Beweise, aber einen starken Verdacht.«

»Aber so ein Mord bleibt doch nicht unbemerkt«, wandte ich ein.

»Wohl wahr«, sagte er. »Aber die Ermittlungen gehen in eine andere Richtung. Niemand kommt auf die Idee, dass sie von ihrem Vermieter, einer renommierten Immobilienfirma, aus dem Weg geräumt wird. Die Polizei sucht jetzt einen ›Oma-Mörder‹.«

6

Der Himmel trank Rotwein, und spiegelglatt lag die Binnenalster da, nur von ein paar hektischen Enten durchpflügt. Irgendwo hupten Autos, ein Motor heulte auf, die Stadt machte Feierabend.

Ich saß auf einer Bank und schaute aufs Wasser hinaus. War meine Entscheidung richtig gewesen? Ich hatte ein Monatsgehalt von 7.500 Euro abgelehnt, als würde ich in Geld schwimmen, dabei ging mein Hintern auf Grundeis. Ich hatte einem womöglich aufrichtigen Geschäftsmann zu verstehen gegeben, er solle sich selbst um die Schweinereien in seiner Firma kümmern. Nicht mal ein Mordverdacht brachte mich auf Trab. Wollte ich wirklich nicht? Oder hatte ich meine wacklige Gesundheit mal wieder als Alibi genommen?

Die ersten Wochen nach dem Drama auf der Autobahnbrücke waren ein einziger Rausch gewesen, Reinstadt feierte mich, und ich strotzte vor Tatkraft. Ich kaufte mir medizinische Fachbücher und büffelte los, als hätte ich meinen Studienplatz schon ergattert. Ich wirbelte durch unser Haus als gute Kochfee, las Sebastian jeden Wunsch von den Augen ab. Er war stolz auf mich, führte mich sogar mitsamt Lena ins Kino aus; wenn die Mama in Gegenwart der Freundin nicht peinlich ist, will das bei einem 15-Jährigen schon was heißen.

Dann, ausgerechnet wieder beim Joggen, brach mein Leben zusammen: Die Bilder des Todeskampfes fielen über meine Netzhaut her, rissen mich aus der Gegenwart und schubsten mich zurück auf die Brücke. Ich spürte wieder das Geländer in meinem Rücken, spürte, wie ich das Gleichgewicht zu verlieren drohte, fürchtete mich vor dem Sturz in die Tiefe. Und dann stürzte er statt meiner in den Tod, Hans-Otto Gleim.

Dieses Szenario überrollte mich so wuchtig, dass es die Gegenwart ausradierte, meine Brust zuschnürte und mich auf den Boden des Waldweges drückte, wo ich zuckend liegen blieb und Schaum spuckte. Bis mich zwei Wanderer fanden und den Notarzt riefen. Der sprach von einer Panikattacke, das könne immer mal passieren. Aufstehen und weitermachen.

Doch die Anfälle häuften sich, ich bekam nichts mehr auf die Reihe, nicht mal den Haushalt. Sebastian kümmerte sich mehr um mich als ich um ihn. Iris redete mich mit Engelszungen in eine Fachklinik für psychische Erkrankungen. Dort überraschte mich Dr. Menders, der erfahrene Chefarzt, mit seiner Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung.

»Vielleicht haben Sie bislang gedacht, das kriegen nur Soldaten«, sagte er. »Aber das ist nicht wahr. Jeder, der eine lebensbedrohliche Situation erlebt hat, kann diese Krankheit bekommen. Flashbacks, verbunden mit Panikattacken, sind dabei ganz normal.« Eine Therapie, Medikamente und sehr viel Zeit – damit, meinte er, ließe sich die Krankheit überwinden.

Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich über diese Diagnose war. Ich kam mir vor wie eine Schülerin, beschenkt mit einem Attest, das sie vom Unterricht befreite. Nur dass der »Unterricht« meine berufliche Zukunft war. Ich warf meine medizinischen Handbücher in die Ecke, betrachtete die Wartesemester fürs Medizinstudium als endgültige Absage und gab mich dem Nachmittags-TV hin. Nur in den Keif-Talkshows fand ich noch Menschen, die mir durchgeknallter als ich selbst vorkamen. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob dieser Eindruck stimmte.

Die Panikattacken überfielen mich aus dem Nichts und schnürten mich ein. Aber zugleich zog meine Krankheit einen Schutzwall zwischen mich und die Welt. Alles, was schiefging, lag jetzt an meiner gesundheitlichen Krise, nicht an mir. Ich traf keine Freunde, ich war ja krank. Ich machte keinen Haushalt, ich war ja krank. Ich bezahlte keine Rechnungen, ich war ja krank. Ich plante keine Zukunft, ich war ja krank.

Und was mich zurück in ein geregeltes Leben hätte führen können, wehrte ich energisch ab. Wann immer sich beruflich eine Tür öffnete, trat ich sie wieder zu. Etliche Vorstellungsgespräche hatte ich abgesagt, Aufträge als freie Journalistin abgelehnt. Ich war eine Soldatin, die den Kampf nur knapp überlebt hatte, Kranksein wurde mein Hauptberuf.

Nur Iris trat mir immer wieder in den Hintern. Sie diktierte mir Bewerbungen in den Block und verschickte mich zu Vorstellungsgesprächen wie ein Kind ins Ferienlager. Sie war die Einzige, die über meine Krankheit Scherze riss, sonst gab es wenig zu lachen.

Als Sebastian die Chance bekam, als Austauschschüler nach London zu gehen, nahm ich meine letzten Ersparnisse in die Hand – um ihm die Auslandserfahrung zu ermöglichen. Und um ihm die Erfahrung dieser Mutter zu ersparen.

Wo war die Susanne von früher geblieben? Die Susanne, die ihren Hut in den Ring warf, auch wenn sie verlieren konnte? Die Susanne, die Ehrgeiz für zwei hatte? Die Susanne, die zwar oft auf die Schnauze gefallen, aber immer wieder aufgestanden war?

Ich dachte an den Hund im Tenger Forst, der mein junges Leben fast in Stücke gerissen hätte, die Hundeattacke beim Joggen. Aber ich hatte mich nicht unterkriegen lassen und meine große Hundephobie am Ende sogar abgeschüttelt. Ich dachte an meine beruflichen Niederlagen, an den Tiefschlag in Hamburg, wo ich entlassen worden war, an das Desaster in Reinstadt. Aber nie war ich am Boden liegen geblieben, immer war ich wieder auf die Beine gekommen. Ich dachte an meine gescheiterte Ehe mit Heiko, die mich stärker gemacht hatte – zu stark und zu hart, das gebe ich zu, aber nie hatte ich mich hängen lassen. Und sogar eine neue Liebe hatte ich gewagt, Markus, wenn auch mit verheerenden Folgen.

Der Knallfrosch in meiner Brust hüpfte wieder los. Ich spürte, wie sich meine Finger um etwas krampften, und blickte nach unten: ein Zettel, jetzt zerknüllt. Dort wellte sich in blauer Tinte die geheime Handynummer von Heiner Stagemann, die er mir »für alle Fälle« zugesteckt hatte. Als er hörte, dass ich bei meiner Tante übernachten würde, hatte er mir angeboten, mich mit der Limousine fahren zu lassen. Ich hatte abgelehnt, mein Bedarf an solchen Fahrten war fürs Erste gedeckt.

Aber je länger ich über Stagemann nachdachte, desto sicherer war ich, dass ich diese Nummer niemals wählen würde. Ein obskurer Typ mit gespiegelter Sonnenbrille, der genau weiß, zu welcher Zeit ich an welchem Ort der Stadt bin, der mich einfangen lässt wie einen streunenden Hund, mir mal eben das Handy entwendet, bei der Audienz rührselige Geschichten erzählt und dann mit einem großen Geldbündel winkt – das war völlig indiskutabel. Sogar ohne meine Krankheit.

Auch wenn ich schon ahnte, dass Iris die Sache komplett anders sehen würde.

7

»Kind, lass dich drücken!« Tante Martha umarmte mich, wie sie es immer tat, erstaunlich lang und sanft, ihre warmen Hände malten zärtliche Kreise auf meinen Rücken. In tiefen Zügen atmete ich ihr Chanel N° 5, ein Geruch aus meiner Kindheit, nach Zitrone, Jasmin, Vanille, ihr Geruch. Wenn ich es an einer anderen Frau roch, zum Beispiel im Bus, war ich für einen Moment so irritiert, als spräche eine Fremde mit Marthas Stimme.

Die Tante hatte sich schick gemacht, sie trug ihre Kette mit den großen Perlen, wie früher bei den Familienfeiern. Ihr weißes, immer noch wallendes Haar war hochgesteckt, ihre blitzenden braunen Augen lachten kess, und die paar Fältchen in ihrem Gesicht hinderten mich nicht, die bildschöne junge Frau von einst zu sehen, die bewunderte ältere Schwester meines Vaters.

Ich wusste, was jetzt käme: Sie würde einen Schritt zurückgehen, ihren Blick an mir hinabwandern lassen, mich fragen, ob ich vielleicht doch noch ein Stück gewachsen sei – und mich dann, nachdem ich lachend verneint hatte, in ihre Wohnung bitten, nicht ohne zu betonen, diese sei ja schon immer »viel, viel zu groß« gewesen, aber erst recht, seit Baldur, ihr Mann, nicht mehr lebe.

Genau so kam es.

Die edlen Dielenbretter knarrten, als wir ins Wohnzimmer trotteten, begleitet vom beruhigenden Ticken der großen Standuhr aus Mahagoni. Ich liebte diese 120-Quadratmeter-Wohnung, ein herrlicher Altbau, hoch wie ein Museum, wozu die Gemälde an den Wänden passten. Martha zog naturalistische Bilder vor: ein mächtiger Wasserfall, von dem ich als Kind sicher war, ihn tosen zu hören; eine Waldlichtung mit Reh, der ich mich immer nur schleichend genähert hatte, um das Tier nicht zu verscheuchen; und eine Bucht im schwedischen Schärengarten mit rotem Häuschen im Hintergrund, in das ich mit meinen Eltern hatte einziehen wollen.

Das Wohnzimmer, hell und geräumig, erstreckte sich als herrschaftlicher Raum mit einer breiten Fensterfront, einem riesigen Balkon und einem spektakulären Blick auf die Alster. Als junges Mädchen war ich sicher gewesen, mit meinen Signalen von hier oben den Schiffsverkehr auf dem Fluss regeln zu können, weshalb ich dort bei Tageslicht herumhampelte und nachts mit der Taschenlampe blinkte.

Tante Martha servierte grünen Lung-Ching-Tee mit Nussgeschmack in ihrem handbemalten Teeservice aus China, das Baldur ihr bei einer Reise geschenkt hatte. Ich liebte es seit meiner Kindheit. Die Henkel der Tassen bestanden aus dem gebogenen, rot-weiß gepunkteten Schwanz eines Drachen, dessen Körper in die Außenseite der Tasse überging. Beim Kännchen bildete ein langer Drachenhals mit offenem Maul die Tülle. Und der goldene Deckel war ein gezackter Drachenkamm.

Tante Martha streichelte den Tassendrachen, während sie sich nach meinem Vorstellungsgespräch erkundigte. Als ich mich zurückhaltend äußerte, legte sich ein Schatten der Enttäuschung auf ihr Gesicht.

»Aber wir hatten doch eine Vereinbarung, Kind, dass du bei mir Quartier beziehst. Wir beiden Frauenzimmer bilden eine Wohnkommune.«

»Mit mir als Mitbewohnerin würdest du keinen guten Fang machen. Ich würde mich den ganzen Tag von dir bekochen lassen und auf dem Sofa gammeln.«

Besorgt sah sie mich an und zog ihre struppigen Augenbrauen nach oben, es sah aus, als würde sich eine Jalousie über ihren Augen heben. Ich kannte diesen Mechanismus, er setzte immer ein, wenn sie tief in mich hineinblicken wollte. »Geht es dir noch so schlecht wie jüngsthin?«

Immer wieder schmuggelten sich Begriffe in Marthas Sprache, die ich nur aus alten Büchern kannte. Oft sagte sie »jüngsthin« statt »kürzlich«, »gewisslich« statt »gewiss«, »allenthalben« statt »überall«. Ich sah sie an und spürte, dass es zwecklos war, sie anzulügen, sie kannte mich zu gut. »Die Attacken sind seltener geworden, aber nicht weg. Und mein Gedächtnis hinkt etwas.«

»Du hast ein hinkendes Gedächtnis, und mein vermaledeiter alter Kopf lahmt noch viel mehr. Wenn wir beides zusammenlegen, entsteht vielleicht ein Supergehirn.«

Ich lachte und sagte: »Nur weil einem mal die Badewanne überläuft, hat man noch lang keinen lahmenden Kopf.«

»Das ist freundlich, dass du mich in Schutz nimmst. Aber du weißt, dass sie mir zweimal übergelaufen ist, Susanne.« Immer, wenn sie mich »Susanne« statt »Kind« nannte, war es ihr besonders ernst. »Und nie konnte ich mich an mein Missgeschick erinnern. Vielleicht muss ich langsam in eine Seniorenanstalt abwandern.«

Ich hatte von den Wasserschäden gehört, der Hausmeister hatte mich angerufen und gefragt, ob meine Tante wirklich noch allein leben könne – was ich sofort bejaht hatte, denn bei unseren Telefonaten wirkte sie immer hellwach.

»Wenn du ins Seniorenheim musst – es heißt ›Heim‹ und nicht ›Anstalt‹, Martha –, dann muss ich erst recht dorthin. Ich habe es heute im Zug fertiggebracht, den Schaffner nicht zu erkennen.«

»Dann musst du nicht in ein Heim, sondern zu einem Optiker.« Tante Martha deutete mit einem schelmischen Lächeln auf ihre Brille.

Sie war immer noch redegewandt und schlagfertig. Jahrelang hatte sie ehrenamtlich für die Telefonseelsorge gearbeitet. Und Baldur, ihr Mann, hatte als Strafverteidiger schwierige Fälle beim Abendessen diskutiert und Plädoyers geübt. Ich wusste noch, dass Martha ihn oft mit besseren Argumenten versorgte. Bis heute nahm sie in unseren Gesprächen gern die Gegenposition ein, um mich zu fordern.

Sie war gut in logischem Denken, fast wäre sie Physikerin geworden, eine Seltenheit für eine Frau ihrer Generation. Aber die Schwangerschaft mit Nathan, ihrem einzigen Kind – heute arbeitete er als Agrarwissenschaftler in Südafrika – hatte sie aus den Laboren der Universität in die heimische Küche versetzt. Für sie kein Problem: Dann experimentierte sie halt mit Kuchenrezepten und testete die Schwerkraft von Pfannkuchen, die sie zum Wenden schwungvoll mit der Pfanne in die Luft schleuderte. Als Kind hatten mich diese kühnen, hohen Würfe, die meine Mutter nie wagte, bei ihr immer sehr beeindruckt. Manchmal bat ich sie, Pfannkuchen zu backen, nur um diese spektakulären Saltos zu sehen.

Sie war eine Kämpferin, die immer wieder aufstand. Als Baldur gestorben war, vor sieben Jahren, trug sie sechs Monate lang Schwarz, ehe sie von einem Tag auf den anderen wieder in helle Kleidung schlüpfte und sagte: »Er hätte sich gewünscht, dass ich noch was aus meinem Leben mache.«

Also hängte sie seine besten Anzüge, mit passenden Hemden und Krawatten kombiniert, liebevoll auf einzelne Bügel und brachte sie Schwung für Schwung beim Roten Kreuz vorbei. Sie trat in einen Chor ein, las Kindern im Krankenhaus Geschichten vor und entdeckte eine neue Liebe: Kreuzworträtsel. Noch heute lagen auf ihrem Nachttisch immer drei bis vier Zeitschriften, das Rätsel aufgeblättert – und jedes einzelne Quadrat mit einem Großbuchstaben ihrer altmodisch-verschnörkelten Handschrift ausgefüllt.

»Susanne, dein Vater war ein honorabler Mann«, sagte sie ins Schweigen – sie wusste, wie oft ich an ihn dachte.

»Und ich habe nicht mal einen Job. Ich werde ihm als Tochter nicht gerecht.«

»O doch, du wirst Medizin studieren und in seine Fußstapfen treten – wie hätte ihn das gefreut.«

»Gefreut? Er selbst ist doch an der Medizin zerbrochen!«

»Kind, wer wachsen will, muss bergauf gehen. Das strengt an, aber die Kräfte wachsen dabei.«

»Vater war weich, zu weich.«

Sie fixierte die Tasse, ihr Finger kreiste durch den Drachenschwanzhenkel wie durch einen Looping, dann sah sie mich fest an. »Die Sonne ist hell, weil sie hell sein muss. Er war nicht zu weich, er war er selbst.«

»Vielleicht bin ich anders.«