Die schöne Blinde - Leon Specht - E-Book

Die schöne Blinde E-Book

Leon Specht

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Beschreibung

Aufregung im Vordertaunus. In der vielgerühmten Klinik für angewandte Psychosomatik und traumageschädigte Patienten wird eine Patientin mehrfach vergewaltigt! Der neue Fall kommt der jungen Frankfurter Kommissarin LTM gerade recht, langweilt sie sich doch im "kriminellen Sommerloch". Voller Elan stürzt sie sich in die Ermittlungen und muss feststellen, dass der Fall komplizierter ist, als er auf den ersten Blick scheint: Das Opfer ist verschwunden, und es gibt mehrere Verdächtige. Der Leiter der Klinik, Professor Dr. Dr. Werner Bartels, scheint mehr um den Ruf seines Instituts besorgt als um die Aufklärung des Falls - eine Masse an Problemen, die sich LTM im malerischen Vordertaunus in den Weg stellen. Doch LTM wäre nicht LTM, wenn sie sich nicht mit Gewitztheit und vollem Einsatz den Schwierigkeiten des Falls stellen würde!

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LEON SPECHT ist das Pseudonym eines Unternehmensberaters, der im Raum Frankfurt lebt und als Coach für Führungskräfte arbeitet. Er ist Krimi-autor und Verfasser einiger Sachbücher über psychologische Themenstellungen in der Unternehmenswelt.

Zum Buch

»Als er endlich weg war, fing ich an zu weinen. Ich weiß nicht wie lange. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich allmählich. Was sollte ich tun? Um Hilfe rufen? Ich fühlte eine unendliche Scham in mir. Fühlte mich schmutzig. Beschmutzt. Verseucht.«

Es ist Hochsommer, zwischen den Frankfurter Wolkenkratzern flimmert die Luft, und LTM langweilt sich im Kommissariat zu Tode. Ein wahres Sommerloch – kein einziger Fall auf ihrem Schreibtisch! Da kommt ihr ein mysteriöser Anruf gerade recht: Im beschaulichen Kronberg wurde in der bekannten Klinik für angewandte Psychosomatik und traumageschädigte Patienten eine junge Frau mehrfach vergewaltigt, die nun spurlos verschwunden ist! Mit Feuereifer stürzt sich die gewitzte Jungkommissarin auf den neuen Fall und lässt ihren väterlichen Chef, Kommissar Thomas Seibold, außen vor. Auf ihre eigene Art wühlt sich LTM in den Fall hinein: Verdächtige unter ärzten und Patienten, eine Chefpsychologin dem mentalen Abgrund nahe, ein herrischer Klinikleiter und nicht zuletzt eine erotische Beziehung zwischen dem Vergewaltigungsopfer und einem jungen Klinik-Psychologen. Von der schönen Blinden keine Spur. Hat sie Suizid begangen? Schmachtet sie in einem Verlies des Vergewaltigers? Wurde sie ermordet?

Das Leben kann so langweilig sein! Sehnsüchtig erinnert sich LTM – Leonie Theophila Möller – an ihren letzten Fall im malerischen Jossgrund. Da war wenigstens etwas los. Nicht wie hier, im schwitzenden und trägen Frankfurt, das der Sommer fest im Griff hat. Selbst den Kriminellen scheint es zu heiß zu sein. Doch dann tut sich etwas. Ein anonymer Anrufer meldet sich am Telefon: »Meinen Namen darf ich Ihnen nicht sagen. Sonst verliere ich meinen Arbeitsplatz. In der Klinik für angewandte Psychosomatik und traumageschädigte Patienten in Kronberg wird eine Patientin vermisst. Zuvor erklärte sie mehrfach, in unserer Klinik vergewaltigt worden zu sein. Nun ist sie verschwunden. Sie heißt Anna Tatjana Kurnigova. Ich vermute ein Verbrechen. « Doch dort, in der Welt der Reichen und Schönen, ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint: LTM hat eine lange Liste an Verdächtigen vor sich, ärzte, Patienten, und mit jedem Tag werden es mehr. Wenn der Täter überhaupt aus der Klinik stammt. Und vom Opfer keine Spur. Hat der Vergewaltiger die blinde Frau in seiner Gewalt?

Leon Specht

Die schöne Blinde

Leon Specht

Die schöne Blinde

LTMs zweiter Fall

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by Waldemar Kramer Verlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden Covergestaltung: Kerstin Göhlich, Verlagshaus Römerweg GmbH Bildnachweis: © Leon Specht eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0534-6

www.verlagshaus-roemerweg.de

„Sie hörte ihn von hinten kommen und hatte auf einmal ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Instinktiv sprang sie auf, riss den Ellbogen nach hinten und schrie. Aber zu spät.“

Inhalt

Prolog

ERSTER TEIL

Klinik

Bentley

Selbstgespräch

Ärztekonferenz

Hydraulik-Ingenieur

Klinik-Psychologin

Lizenz zum Gelddrucken

Zweite Ärztekonferenz des Tages

Postscriptum

Am nächsten Tag

Investmentbanker

Waldbegegnung

Dämmerzustand

Albtraumpatient

Bulimie-Patientin

Technikfreak

Supervision

Vergewaltiger

Dritte Ärztekonferenz

Der Geist war willig

Mutprobe

Streit

Machtprobe

Der Plan folgt dem Streit

Widerstand

Verschwunden

ZWEITER TEIL

Der erste Tag – Die Farbe Blau

9:02 Uhr

9:17 Uhr

9:52 Uhr

10:33 Uhr

10:57 Uhr

10:59 Uhr

11:12 Uhr

11:31 Uhr

11:53 Uhr

13:15 Uhr

14:05 Uhr

14:37 Uhr

19:07 Uhr

Abendaktivitäten

Seibolds Neugierde

Seibold in Sorge

Dem Täter auf der Spur

Verhör

Die Feier der halben Promotion

Der Strafverteidiger

Hieronymus

Dr. Müller

Lernerfahrungen

Prozess-Vorbereitung

Der Prozess

Old Boys Cognac

Der Tag danach

Großarl

Schwesterlein

Kurnigova

Tatort Kronberg

Aufklärungsfeier

Rückblende

Party, Fortsetzung

Dank

Prolog

Der Champagner sollte alles verändern. Aber diese Eingebung hatte der Regisseur erst nicht. Verzweifelt und mit sich hadernd schaute er auf das Set, zeigte aber nach außen eine stoische Maske. Er hätte sie anbrüllen können. Anna Tatjana Kurnigova. Sie war unzweifelhaft schön, aber als Schauspielerin untalentiert. Hölzern, steif, ein weiblicher Pinocchio. Dabei konnte sie weich und anmutig sein. Als er mit ihr vor wenigen Wochen eines Abends gegessen und sie das zweite Glas Bollinger getrunken hatte, war erkennbar eine Welle durch ihren Körper verlaufen. Auf einmal lösten sich alle Spannungen auf. Sie wurde zur allumfassenden Göttin. Alle weiblichen Schönheitsideale verschmolzen in ihr zu einem Wesen, dessen Faszination sich niemand entziehen konnte.

Auf einmal erkannte er den Zusammenhang. Warum auch immer, aber der Champagner war es, der diese Wirkung herbeiführte. Rainer Werner Lang, Urenkel des genialen Fritz Lang, des ersten bedeutenden Filmschaffenden Deutschlands, überlegte. Kein Alkohol am Dreh! Aber sollte er sein Traumprojekt gefährden, nur weil sein Supermodel völlig verkrampft spielte? Er traf seine Entscheidung und legte eine Drehpause ein.

„Anna Tatjana, komm!“, winkte er sie zu sich. „Wir besprechen die Szene noch einmal.“ Er nahm sie am Arm und führte sie zum Container-Büro. Der Regie-Assistentin rief er im Vorbeigehen zu: „Besorg ein paar Flaschen eisgekühlten Champagner, am besten Bollinger. Du hast zehn Minuten.“

Erwartungsvoll sah ihn die schöne Russin an. Während er noch zu überlegen schien, was genau er sagen sollte und vor allem wie, ergriff sie schließlich die Initiative. „Es läuft nicht gut.“

Sie beobachtete ihn. Der Regisseur nickte. Also fuhr sie fort: „Ich bin zu…“, sie zögerte und suchte nach dem richtigen Wort, „zu unbeweglich, zu starr?“

Rainer Werner Lang presste die Lippen zusammen und spürte trotz seiner Verzweiflung einen Anflug von Bewunderung. Keine Spur von Hochmut. Im Gegenteil. Selbstkritisch, ehrlich.

„Ja“, holte er tief Luft, „ja, steif, hölzern. Du schaffst es nicht, fließend und anmutig zu wirken.“

„Und was machen wir jetzt? Ich weiß nicht, was ich anders machen könnte.“

„Ich habe eine Idee. Mir ist aufgefallen, dass du zu deiner natürlichen Ausstrahlung findest, wenn du ein Glas Champagner getrunken hast.“

Sie lachte. „Ich soll beschwipst spielen?“

„Nein, natürlich nicht generell. Aber in der Szene, die wir gerade drehen, hast du wenig Text. Wir könnten es versuchen.“

Stunden später. Die Stimmung am Set war ausgelassen. Der Regisseur hatte mit seiner Idee Glück gehabt. Die Perlen des Champagners trugen Anna Tatjana wie kleine Heißluftballons in die Sphären der Leichtigkeit und würden bei den Zuschauern in wundersamer Fernwirkung einen Rauschzustand auslösen. In den gedrehten Szenen zeigte sie sich wieder in ihrer natürlichen Lebendigkeit und Schönheit. Der Kameramann musste einfach nur draufhalten.

Die euphorische Stimmung übertrug sich. Andere Schauspieler und sogar Mitglieder der Filmcrew nahmen sich klammheimlich von dem Getränk. Als Lang dies feststellte, wollte er zunächst einschreiten. Dann aber spürte er, dass er den Flow stören würde. Nur keinen Einfluss mehr nehmen. Alles lief in den richtigen Bahnen, und sie waren auf der Überholspur.

Nach außen mimte er den entspannten, coolen Lenker des Geschehens. Innerlich war er aufgekratzt wie noch nie. Seine Eingebung hatte funktioniert. Die ersten Szenen waren so phantastisch gelungen, wie er es sich nicht besser vorstellen konnte. Bilder tauchten in ihm auf. Er überließ sich ihnen. Das Supermodel: Die Verfilmung ihres Lebens. Es war ein junges Model gecastet worden, das ihr vom Aussehen glich und sogar eine ähnliche Körpersprache hatte. Die sparsam eingesetzte Gestik. Derselbe schwebende Gang. Die Haltung des Kopfes. Mona Lisas Nachfahrin. Mit ihren weichen und langsamen Bewegungen strahlte Anna Tatjana eine Anmut aus, die Erotik in einer so reinen Form auslöste, dass er sie als heilig empfand. Noch nie hatte er eine Frau getroffen, die so seinem Idealbild entsprach: das kokette Wesen einer Marilyn Monroe, die sensible Tiefgründigkeit einer Romy Schneider, das laszive Lächeln einer Brigitte Bardot, all dies vereinte sich in Anna Tatjana zu einem vollkommenen Geschöpf. Sie war ihm als die ideale Besetzung erschienen, wären da nicht Anna Tatjanas dilettantische schauspielerische Fähigkeiten gewesen, die sein Vorhaben fast zum Scheitern gebracht hätten.

Lang, der erstmals zusätzlich zur Regiearbeit als Produzent agierte, konnte sein Glück nicht fassen. Nun war auch er in Champagnerlaune, obwohl er keinen einzigen Schluck getrunken hatte. Der Film würde ein Kassenschlager werden. Das war sein Traum. Endlich wieder Schönheit, Liebe und Lebensglück auf die Leinwand zaubern und einen Film produzieren, der einen deutlichen Gegenpart zu den technisch aufgeblähten und bisweilen brutalen Blockbustern Hollywoods setzen würde. Er wusste: Es brauchte immer einen erfolgreichen Impuls, um große Veränderungen in Gang zu setzen. So war es auch bei Metropolis gewesen, dem genialen Meisterwerk seines Urgroßvaters. Als Urenkel fühlte er sich diesem Anspruch verpflichtet und glaubte fest daran, dass ein solcher Paradigmenwechsel gelingen könnte und andere dem neuen Trend folgen würden.

Die vorletzte Aufnahme des Tages war im Kasten. Schließlich begannen sie mit den Vorbereitungen für eine zentrale Passage des Drehbuchs. Das Wetter war ideal. Die Szene wirkte wie eine Hommage an Marilyns Monroes über einem Lüftungsrost aufwehendes Kleid. Möglicherweise hatte der Drehbuchautor diese Bilder im Kopf gehabt, als er die Fahrt in einem klassischen Cabrio beschrieb. Anna Tatjana sollte in dieser Einstellung das Sommerkleid eines bestimmten Designers tragen, um ein Spiel aus Leichtigkeit und Lichtreflexen zu erzeugen. Fahrtwind und Sonnenschein würden es zum Leben bringen, die Bilder würden den Zuschauern den Atem rauben.

Die Route führte über geschwungene Straßen des Rheintals Richtung Loreley. In einem vorausfahrenden Fahrzeug filmte die erste Kamera, außerdem hatten sie einen Helikopter im Einsatz. Der Kameramann und sein Pilot waren es gewohnt, bei der Tour de France aus großer Höhe Aufnahmen des Fahrerfelds zu machen. Ein eingespieltes Team, mit allen Wassern gewaschen. Als Fahrer hatten sie John Steinberger gewonnen, einen Stuntman, der in James-Bond-Filmen mitgewirkt hatte und in früheren Jahren Autorennen gefahren war. Der Clou der Szene war, dass das Auto in der Kurve einer Serpentine ins Schleudern kommen und den Abhang hinunterrutschen sollte, ohne sich zu überschlagen. Der Hubschrauber würde sehr nahe dranbleiben, und das Entsetzen in Annas Gesicht echt sein. Und das aus einem besonderen Grund.

Der Regisseur hatte sie in diese Szene nicht eingeweiht. Sie war ihm zu ängstlich erschienen und hätte vermutlich ihre Zustimmung verweigert. Dazu ihr fehlendes Talent als Schauspielerin. Lang hatte dennoch entschieden, sie nicht doubeln zu lassen. Er wollte ihr Gesicht und vor allem ihre authentische Angst. Da er John vertraute, er war mit ihm schon selbst mehrfach auf dem Beifahrersitz über diverse Rennstrecken gefahren, hatte er entschieden, dieses kleine Risiko einzugehen. Man musste etwas wagen, so seine Meinung.

Die Proben mit einem Double hatten gezeigt, dass die abschüssige Strecke leicht zu befahren war. Mehrere Windmaschinen waren installiert worden, um gezielt Luft ins Auto zu pumpen. Das Kleid blähte sich auf wie ein Ballon. Die Wirkung des scheinbaren Absturzes wurde auf dramatische Weise verstärkt. Der Effekt war beim Test grandios. Und dann noch das verängstigte Gesicht, das Anna Tatjana machen würde! Keine noch so gute Schauspielerin konnte Furcht so spielen wie echte Todesangst. Die Zuschauer im Kino waren einiges gewohnt. Er würde sie überlisten. Mit der gezielten Falschinformation, die über Facebook und Twitter den Dreh verlassen würde, dass es einen Unfall bei den Dreharbeiten gegeben habe, war die Spannung auf den Kinofilm garantiert. Der Rest war einfache Routinearbeit der PR-Abteilung. Sie würde mitteilen, dass die Originalszene tatsächlich auch in den fertigen Film hineingeschnitten worden wäre. Director’s Cut. Menschen liebten Sensationen. Der Regisseur hatte jeden einzelnen Aspekt seines inszenierten Blockbusters akribisch geplant.

Das einzige Problem bestand darin, dass die Szene nur ein einziges Mal abgedreht werden konnte. Eine Wiederholung war unmöglich. Sie hatten die Szene ohne Annas Mitwirkung aber so oft geprobt, dass sie für die anderen Mitglieder der Filmcrew zur Routine geworden war.

Der Regisseur gab das Zeichen. Es ging los. Der Fahrer gab dem roten Alfa Romeo Spider die Sporen und flitzte über die im gleißenden Sonnenlicht liegende Landstraße in Richtung Loreley. Genau in der richtigen Entfernung und im geplanten Winkel zum Fahrzeug schwebte der Hubschrauber in der Luft. Die Filmaufnahmen landeten per Funk im Aufzeichnungsgerät. Rainer Werner Lang hing gebannt am Monitor und begutachtete das Material. Beide Kameraleute waren in bestechender Form. Die Crew im Helikopter lieferte fantastische Bilder und das Team im vorausfahrenden Fahrzeug ebenfalls. Da kam die Spitzkehre. John hielt darauf zu und dosierte beim Erreichen der Kurve den Druck auf das Gaspedal genau so, dass der Spider über die Begrenzung hinausschoss. Das entspannte Lächeln in Annas Gesicht erstarb und wich grauenvollem Entsetzen. Der Regisseur freute sich schon jetzt auf die Wiederholungen in Ultrazeitlupe. Sein geschultes Auge sagte ihm, dass dies die ultimative Filmszene werden würde. Hitchcock lässt grüßen! Er hatte Altes und Neues so geschickt kombiniert, dass man von einer genialen neuen Handschrift reden würde. Die Grenzen wurden aufgehoben und vermischt, Schauspielkunst und Live-Geschehen miteinander verwoben.

Doch plötzlich stockte dem Regisseur der Atem. Fassungslos starrte er auf den Bildschirm. Was geschah hier? Die geplante Drift des Wagens den steilen Abhang hinunter kam ins Stocken. Auf dem Bildschirm war deutlich zu sehen, dass das Hinterrad einen Schlag bekam. Ein großer Stein? Eine Bodenmulde? Die Geschwindigkeit machte es unmöglich, die genaue Ursache zu erkennen. Als Folge überschlug sich der Wagen. Nach wenigen Sekunden war es vorbei. Das Auto lag auf dem Kopf. Fahrer und Anna offensichtlich eingequetscht.

Die Bilder auf den Monitoren zeigten, wie der Pilot den Hubschrauber wagemutig neben dem gestürzten Fahrzeug landete. Seine früheren Einsätze bei Sportereignissen hatten sich ausgezahlt. Er behielt die Nerven und wechselte blitzschnell vom Film- in den Rettungsmodus. Weil der Hang steil war und nur wenige Bodenwellen dem Helikopter überhaupt eine Möglichkeit für eine Landung boten, riskierte er dabei viel. Verzweifelt schaute der Regisseur mit angehaltenem Atem auf die Bildschirme. Sekundenlang war durch aufgewirbelte Staubwolken nichts zu sehen. Würde der Pilot es schaffen?

Es knackte in der Funkverbindung. Aufgeregte Stimmen waren zu hören. Der Staub legte sich. Rainer Werner Lang konnte das Geschehen wieder live verfolgen. Man holte Fahrer und Anna aus dem Auto. Wie durch ein Wunder war John offensichtlich weitgehend unverletzt geblieben. Er war ansprechbar und konnte sich bewegen. Da er fluchend mithalf, Anna zu bergen, schien es ihm gut zu gehen.

Lang hörte die aufgeregten Stimmen im Funkgerät: „Sie ist bewusstlos. Nicht ansprechbar. Eine große Platzwunde am Hinterkopf. Was sollen wir tun?“

Fieberhaft überlegte der Regisseur. Sie musste schnellstmöglich ärztlich versorgt werden. Bestimmt eine Gehirnerschütterung. Vielleicht noch mehr. Rückenwirbel angebrochen. Drohende Querschnittslähmung. Diese Gedanken ließen ihn erstarren. Doch sein Kopf überlegte weiter. Einen Arzt rufen, dauerte zu lange. Das Unglück beim Dreh war möglicherweise nicht geheim zu halten. Ermittlungen. Staatsanwalt. Anzeige wegen Körperverletzung. Ende der Karriere.

Sein Freund kam ihm in den Sinn. Chefarzt für Neurochirurgie in Königstein. Das wäre für alle Beteiligten die schnellste und beste Lösung. Er gab Anweisung, Anna mit dem Hubschrauber dorthin fliegen zu lassen.

Vorsichtig trugen John und der Pilot die Schwerverletzte in den Hubschrauber. Nachdem sie sicher angeschnallt worden war, hob der Helikopter ab. Lang hatte Glück im Unglück. Er konnte seinen Freund, Professor Dr. Werner Bartels, unmittelbar erreichen, weil er gerade in der Mittagspause war und sein Handy angeschaltet hatte. Werner sagte ihm zu, dass er sie sofort untersuchen und behandeln werde. Außerdem versicherte er ihm, dass er richtig reagiert habe. Falls sie sich Verletzungen am Rückgrat zugezogen habe, sei jede Minute kostbar. Es gebe Methoden, eine Querschnittslähmung zu verhindern. Aber nur, wenn man innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne die notwendigen Maßnahmen ergreife.

Erster Teil

Klinik

Seine Mutter wäre stolz auf ihn gewesen, sein älterer Bruder hingegen weniger. Das lag daran, dass beide unterschiedliche Erwartungen an ihn gerichtet hatten. Sie war zeitlebens mütterlich großzügig gewesen, er brüderlich kämpferisch. Als der Ältere, der zudem über die besseren Gene für Sport verfügte, hatte sein Bruder seine Leistungen immer als unzureichend empfunden.

Jeden Morgen fuhr Alois Aigner mit dem Mountainbike zu seinem Arbeitsplatz. Körperertüchtigung, mein Junge, pflegte seine Mutter immer zu sagen, ist sehr wichtig. Ihr hätte er also voll und ganz entsprochen.

Er genoss es, die leicht abschüssigen Wege nach unten zu brausen. Als positiv denkender Mensch machte er sich dabei keine Gedanken, ob die Schraubverbindungen des Lenkers oder andere Teile seines Rads halten würden. Sein Bruder, ehemaliger Cross-Meister von Kärnten, hatte es ihm zusammengeschraubt. Die Familienbande hielten schließlich zusammen.

Der Weg nach unten war natürlich weniger ertüchtigend. Immerhin musste er seine Augen einsetzen und jeden Stein bzw. jede Unebenheit der Strecke abtasten. Sein Bruder, ein richtiger Draufgänger, hätte nur geringschätzig den Kopf geschüttelt. Ein Spaziergang, hätte er gesagt, wenn er seinen jüngeren Bruder bei dieser aus seiner Sicht lächerlichen Abfahrt zu kommentieren gehabt hätte. Dieses Bild hatte Alois im Kopf, und es zeigte ihm, welch starken Einfluss sein älterer Bruder auf ihn gehabt hatte. Ganz untypisch für seine wilden Sportarten war er im Bett gestorben. Diagnose: übergroßer Herzmuskel, Rhythmusstörung, Herzinfarkt.

Aus den Ratschlägen seiner Mutter und dem Vorbild des Bruders hatte sich Alois sein eigenes Lebenskonzept zusammengebastelt. Morgens bergab die Sinne schärfen und abends bergauf die Muskulatur quälen. Ein schweißtreibender Abschluss seiner Arbeitstage. Danach in die Dusche, bevor er seinen Feierabend genoss und mental Abstand zu seinem Arbeitsplatz suchte, den er jeden Morgen ansteuerte: Klinik für angewandte Psychosomatik und traumageschädigte Patienten. Dort arbeitete er als klinischer Psychologe.

Sein Beruf hatte wie bei vielen Menschen einen gewissen Familienbezug. Von Kindheit an hatte sich Alois seiner jüngeren Schwester am meisten verbunden gefühlt. Sie lebte mit ihrem Mann im österreichischen Großarl und bewirtschaftete dort ein kleines Ferienhotel. Sie war so, wie er gern gewesen wäre. Gelassen, fröhlich, heiter, auch wenn es noch so stressig wurde. Für die Gäste hatte sie immer eine freundliche und passende Bemerkung. Sie war der Sonnenschein des Ortes. Alois versuchte als Therapeut so zu werden, wie seine Schwester schon war. Doch sein Vater behinderte ihn in dieser Entwicklung.

War er zu sehr in Gedanken? Oder warum sah er den querliegenden Baumstamm nicht? In letzter Sekunde griff Alois in die Bremsen. Das Hinterrad rutschte zur Seite weg. Das war sein Glück. Das Rad schlingerte auf den Baumstamm zu und prallte mit geringer Geschwindigkeit dagegen. Gerade noch einmal gut gegangen. Er schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er seine Fahrt deutlich langsamer und aufmerksamer fortsetzte. Sein Vater, die schwarze Seele der Familie. Ein Einzelgänger par excellence. Er hatte nichts außer seinen Bergen geliebt. Als Schreiner hatte er in den Bergdörfern viel zu tun und war immer unterwegs. Beruflich oder zum Wandern. In der Familie hatte er sich nicht gern aufgehalten. Als einzige gute Tat hatte er ihnen immerhin gemeinsam mit anderen Handwerkern einige Häuser gebaut. Als die drei Kinder auf der Welt waren und drei weitere Häuser fertig geworden waren, für jedes Kind eins, wurde er kaum noch gesehen. Er machte tagelange Bergtouren, im Sommer und im Winter. Von einer Schneetour kam er dann nicht mehr zurück und wurde nie gefunden. Vielleicht lag er in einer Gletscherspalte und würde in einigen Jahrzehnten dem Ötzi Konkurrenz machen.

Von seinem Vater hatte Alois wohl die Unruhe geerbt. Nach verschiedenen Stationen in Deutschland hatte er hier in der Klinik schließlich einen angenehmen Arbeitsplatz gefunden. Dennoch war ihm klar, dass er auch weiterhin auf der Flucht war. Er hatte damals rausgemusst aus dem kleinen österreichischen Tal, das ihm zu eng geworden war. Deutschland erschien ihm groß genug, um sich eine Weile zu verstecken. Als die Mutter dann an Kummer und Gram viel zu früh verstarb, war auch der Druck der Familie weg, sich den üblichen Pflichten zu stellen: Bub, heirate und schenke mir ein paar Enkel! Das vom Papa gebaute Haus ist eine Verpflichtung und wartet auf dich!

Diese Last empfand er schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Das Haus war an Sommer- und Wintergäste vermietet und wurde von einem Verwalter betreut und gepflegt. Alois fühlte sich wohl in der Einsamkeit seiner Klinik. Er hatte keine Freundin und auch keine Freunde. Er spürte, wie er sich umso freier fühlte, je weniger Verpflichtungen er hatte.

Fröhlich vor sich hin pfeifend, stellte er das Fahrrad direkt neben dem Personaleingang ab, ohne es abzuschließen. Es war sein exklusiver Parkplatz, und Alois Aigner war, wie bereits angedeutet, ein gutgläubiger Mensch. Zumal diese Klinik ein paradiesisches Refugium darstellte: Die einzigen stillen Beobachter seines Fahrrads waren Bäume, Sträucher und je nach Jahreszeit blühende Pflanzen. Unter diesen Umständen war es schlichtweg unvorstellbar, dass es abhandenkommen könnte. Am ehesten könnte es von einem durchgeknallten Patienten entwendet werden. Nein, auch das war nach aller Wahrscheinlichkeit auszuschließen.

An dieser Tür gab Alois alles Private ab und wurde augenblicklich zum professionellen Menschen: einem klinischen Psychologen. Schon sein Gang änderte sich in den langen Fluren der Klinik, die zu seinem Büro führten. Nicht mehr locker, auf eine geschmeidige österreichische Art, sondern eher deutsch: präzise, diszipliniert, kontrolliert. Man hätte Marschmusik dazu laufen lassen können.

Sorgfältig sichtete er seinen Terminkalender und die Akten der ihm zugeordneten Patienten. Er setzte sich an seinen edlen Schreibtisch aus schwarzem Holz und strich gedankenverloren über die raue Platte. Der Stiftungsvorstand hatte diese rare Antiquität aus seinem Privatvermögen zur Verfügung gestellt. Alois Aigner empfand eine gewisse Ehrfurcht gegenüber diesem Möbelstück, weil es ihn an ein Foto aus einem Buch über Sigmund Freud erinnerte. Hatte der große Meister der Psychoanalyse auch an einem solchen Schreibtisch gesessen?

Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster memorierte Alois Aigner die wesentlichen Fakten der aktuellen Krankengeschichten und rief sich die Eigenschaften seiner Patienten ins Gedächtnis. Er versuchte immer, den Patienten zuzuhören, ohne einen Blick auf die Akten werfen zu müssen. Blickkontakt hielt er für extrem wichtig. Nichts Schlimmeres, als jemandem etwas mitzuteilen, und dieser Mensch schaute auch nur eine Sekunde weg. Das war entwürdigend! Da er dies in der Schule selbst einige Male erlebt und dabei gespürt hatte, wie sich aus Antipathie für einen Lehrer regelrechter Hass entwickelt hatte, war es zu einem Lebensprinzip von ihm geworden: Spricht jemand mit dir, so schaue ihn an.

Vielleicht hatte er auch deshalb Psychologie studiert, um sich selbst und seinen Abgründen auf die Spur zu kommen. Er verspürte eine Abneigung gegenüber älteren Menschen. In seiner Ausbildung hatte er gelernt: Dies resultierte aus seiner Sehnsucht nach seinem Vater, den er nicht lieben durfte, da er sich ihm und der gesamten Familie entzog. Und ihm war klargeworden, dass er dieses Muster auf andere Menschen übertrug. Die Formel war einfach: Aus nicht erfüllbarer Liebe wurde, verstärkt durch Wut und Verzweiflung, schließlich Ablehnung und Hass. Diese Erkenntnis und Lebenserfahrung kam ihm in den Sinn, als er in der Akte eines Patienten ähnliche Bezüge fand. Er holte tief Luft, um die eigene Vergangenheit wegzuatmen, und konzentrierte sich auf die Fälle, um die er sich in der Gegenwart zu kümmern hatte.

Die wesentlichen Informationen waren von den Akten in seinen Kopf gewandert. Ein Blick auf die Uhr: Noch 15 Minuten Zeit. Da er auf seiner Fahrradtour durch den Wald keinen Stau einkalkulieren musste, konnte er die benötigte Zeit sehr genau planen. Auch heute war er wieder frühzeitig mit der Vorbereitung des Tages fertig geworden und fragte sich, wie er die verbleibenden zehn Minuten nutzen sollte. Er ließ die präzise Planung hinter sich und schaute aus dem Fenster. Riesengroße Kiefern säumten seinen Blick und überragten die im Dunst der Ferne erkennbaren Hochhäuser der Frankfurter Skyline. Ein beeindruckendes Panorama bot sich ihm, seinen Kollegen und den Patienten der Klinik. Kronberg und Königstein waren die ultimativen Städte des Vordertaunus. Er genoss die besondere Form der Stille mit hoher Achtsamkeit, die früher nur Fürsten und Schlossherren auf ihren Burgen erleben durften. Vermochte ein solcher Blickwinkel zu einer besonderen Fähigkeit des Überblicks über Geschehnisse des Alltags führen und daraus einen Abstand zu den üblichen kleinbürgerlichen Sorgen bewirken? Oder entwickelte sich daraus der Hochmut von Fürstengeschlechtern in grauer Vorzeit und Bankvorständen in der Gegenwart, der letztlich zur Ausbeutung von Untergebenen führte? Alois sah einen Mäusebussard am Himmel kreisen, der mit scharfem Blick nach Beute Ausschau hielt. War es wieder dasselbe Prinzip? Oben schweben und unten leiden und gefressen werden?

Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass er sich von diesem Blick und seinen Gedanken lösen musste. Er machte sich auf den Weg zu seiner ersten Patientin. Sie wartete auf dem Besucherstuhl vor der Tür. Artig. Fast demütig. Oder eher depressiv. Hängende Schultern. Den Kopf nach vorne geneigt, als ob die Nackenmuskulatur den ständigen Kampf gegen die Schwerkraft aufgegeben hätte.

Alois Aigner begrüßte sie freundlich. „Guten Morgen, Anna.“

Langsam richtete sie ihren Kopf auf und orientierte sich an seiner Stimme. „Guten Morgen, Herr Aigner.“

Er schloss die Tür zu seinem Besprechungszimmer auf und reichte ihr die Hand. „Kommen Sie.“

Sie stand auf und ließ sich von ihm führen. Im Raum nahm sie in ihrem Lieblingssessel Platz.

„Einen Kaffee? Ein Glas Saft?“

„Nein, danke.“

Alois Aigner nickte mehrfach mit dem Kopf. Schon ihrer Körpersprache war zu entnehmen, dass es ihr immer noch nicht gut ging. Sie war seit sieben Wochen in Behandlung, und große Fortschritte waren nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Die Depression schien sich eher zu verstärken als aufzulösen. Ungewöhnlich. Nach seinen Erfahrungen in ähnlich gelagerten Fällen erzielten die Patienten raschere und größere Fortschritte. Aber was war schon vergleichbar! Ihr Trauma war beträchtlich. Der Absturz war so unverhofft und plötzlich gekommen, als sie gerade dabei gewesen war, im wahrsten Sinne des Wortes richtig abzuheben.

„Worüber wollen wir heute sprechen, Anna?“

Er betrachtete sie in Ruhe und ließ ihr Zeit, weil sie zunächst nicht antwortete. Ihr Gesicht war wieder makellos schön. Bei dem Autounfall hatte sie nicht nur eine schwere Gehirnerschütterung mit Schädelverletzungen erlitten, die tödlich hätten verlaufen können. Auch ihre Nase war multipel gebrochen gewesen. Aber Professor Bartels hatte ein Wunder vollbracht. Er hätte auch Schönheitschirurg werden können. Ihre Nase sah genauso perfekt aus wie vorher. Fotos von ihr gab es ja genug, die als Vergleich dienten. Schließlich war sie ein Topmodel gewesen, bevor ein dramatischer Unfall während eines Filmdrehs ihr Leben brutal verändert hatte. Es wäre ihr Debut als Schauspielerin gewesen.

Nun hob sie leicht den Kopf und begann zu sprechen. „Herr Aigner, wir haben heute die siebte Sitzung, richtig?“

„Ja, Anna.“

Sie fuhr fort. „Wenn ich Sie bitte, meinen Zustand zu beschreiben, was würden Sie sagen?“

Alois Aigner spürte, wie sich sein Körper ein wenig verspannte. Eine ungewöhnliche Frage für die meisten Patienten, auch für Anna. Sie entsprach überhaupt nicht ihrem bisherigen Muster. Bislang hatte sie sich gut von ihm führen lassen und offen seine therapeutischen Methoden zur Bewältigung ihres Traumas angenommen. Auch war eine gewisse Dankbarkeit und Hoffnung zu spüren gewesen. Eine kleine Aufbruchsstimmung. Nicht sehr stark, aber doch bemerkbar. War die heutige Frage ein Rückschritt oder ein kurzes Innehalten vor dem Durchbruch?

„Dann antworte ich Ihnen: Sie haben in den letzten sieben Wochen kleine Fortschritte gemacht. Heute beschäftigt sie etwas ganz Besonderes. Vielleicht auch etwas anderes.“

Keinesfalls wollte er eine negative Suggestion setzen, indem er von einer Pause oder gar von einem Rückschritt oder Rückfall sprach.

Sie nickte. „Ja, Sie verstehen mich gut.“

Dann schwieg sie wieder. Er betrachtete sie weiter. Es war besser, dass auch er schwieg. Sein Blick berührte sie leicht und sehr behutsam, weil er das Gefühl hatte, sie nicht noch mehr verletzen zu dürfen.

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Hatte sie seine Gedanken erspürt? Grün leuchtende Augen, eine Farbmischung, wie sie in der Natur nur in besonders seltenen Vulkansteinen zu finden war. Gelbe Sprenkel glitzerten aus dem feuchten Moos der Iris hervor. Ein ausgeprägtes Jochbein wies auf ihre slawische Herkunft hin, gab ihr aber genau die Note, die eine eher gewöhnliche Schönheit von der außergewöhnlichen, ja außerirdischen Fremdheit und Faszination unterschied.

„Sie hatten mir gesagt“, fuhr sie fort, „dass unsere Gespräche mit eingeschränkter Vertraulichkeit ablaufen würden.“

„Ja?“ Worauf wollte sie hinaus? Er hatte ihr zu Beginn der Therapie erklärt, es sei für ihre Entwicklung wichtig, dass sich die verschiedenen Fachdisziplinen untereinander über sie verständigten und austauschten, um optimal zusammenzuwirken. Aber es gäbe auch Informationen, die vertraulich gehandhabt würden, wenn sie es wünschte.

„Kann ich Ihnen absolut vertrauen, wenn ich Ihnen etwas erzähle, dass Sie nicht weitersagen dürfen?“

Ein solches Ansinnen kam überaus selten vor. Er stutzte, sagte aber ohne zu zögern: „Ja, Anna, Sie dürfen mir vertrauen.“

Sie nickte wieder mit dem Kopf. „Ja, ich glaube auch. Ich habe viel über Sie nachgedacht. Sie sind ein besonderer Mensch.“

Dann schwieg sie erneut. Sie brauchte wohl noch etwas Anlauf, um ihr Anliegen vorzutragen. Alois Aigner wartete geduldig.

„Ich werde vergewaltigt.“

Alois Aigner erstarrte. Das Grauen presste ihm die Zähne zusammen und legte sich wie ein Eisblock auf sein Gehirn. Seine Professionalität war kurzfristig dahin. Langsam löste sich die Erstarrung zwischen seinen Synapsen. Sein Denken kam wieder in Gang. Sprach sie die Wahrheit? Das konnte einfach nicht sein. Sie hatte das Präsens gebraucht. Also meinte sie das Hier und Jetzt. Die Klinik. Unmöglich! Auch eine Folge ihres Traumas? Eine Schädigung des Gehirns? Das war bei Unfallopfern oft der Fall, zumal sie auch unter einer retrograden Amnesie litt. Einige Teile ihres Gedächtnisses waren gelöscht, und man hatte sie noch nicht wiederherstellen können. Allmählich bekam er sich wieder in den Griff und holte den Therapeuten in ihm zurück.

„Das ist schlimm! Bitte erzählen Sie. Wer vergewaltigt Sie?“

Sie schwieg wieder einen Moment. Sammelte sie ihre Gedanken? Musste sie ihre Schamschwelle überwinden?

„Es geschieht ein- oder zweimal die Woche. In meinem Zimmer. Zu unterschiedlichen Zeiten. Ich kriege es nicht so richtig mit, um ehrlich zu sein. Mein Kopf ist so“, sie stockte ein wenig, „so benebelt.“

Also doch eine Fehlschaltung ihres Gehirns? Eine Wahnvorstellung, die sie mit der Wirklichkeit verwechselte? Wenn man daran dachte, wie real den Menschen ihre Träume vorkommen, dann wird klar, dass bei manchen auch im Wachzustand ähnliche Phänomene auftreten und genauso real empfunden werden können. Voraussetzung dafür ist, dass das Gehirn nicht normal funktioniert. Grundlagen können Verletzungen aufgrund äußerer Gewalteinwirkung oder eben Folgen eines Unfalls sein. Aber es gab auch die rein psychisch zu erklärenden Muster. Welche der beiden Alternativen lag bei ihr vor? Aufgrund des Unfalls, der schweren Gehirnerschütterung, der Gehirnoperation und aller weiteren Symptome, die sie zeigte, könnte auch eine Mischung aus den bekannten Faktoren die Ursache sein. Wie sollte er dies klarer diagnostizieren?

„Anna, können Sie noch weitere Details schildern?“

Sie nickte. „Es begann in der vierten Woche. Ich fühlte mich körperlich wieder fast wie früher. Nichts tat mehr weh. Die Wunden waren gut verheilt. Das erste Mal geschah es sehr früh am Morgen. Ich wachte auf, als er ins Zimmer kam. Er kam zu mir ans Bett und berührte mich leicht. Dann legte er ein feuchtes Tuch auf meinen Mund. Ich dachte, er wollte mich säubern oder mir etwas Creme ins Gesicht schmieren. Von Anfang an wunderte ich mich, weil er kein Wort sprach. Das war ungewöhnlich! Jeder, der sonst mein Zimmer betrat, begrüßte mich. Aber ich war noch so schlaftrunken, dass ich gar nicht richtig wach war, bis sich das Tuch kurz vor meinen Lippen befand. Daraufhin roch ich einen süßlichen Duft, und ich wurde noch schläfriger. Meine Muskeln erschlafften, mein Geist war, wie gesagt, komisch benebelt, aber ich blieb doch wach. Dann band er das Tuch um meinen Mund und knotete es im Nacken fest. Ich konnte mich nicht wehren. Er drückte mich wieder aufs Bett zurück, zog mein Nachthemd hoch und fing an, mich mit seiner Hand zwischen den Beinen zu streicheln. Ich war entsetzt und starr vor Angst. Aber mein Körper konnte sich nicht zur Wehr setzen. Ich versuchte zu schreien, aber es kam nur ein leises Röcheln zustande. Der Knebel dämpfte das Geräusch komplett. Der Mann machte weiter und weiter. Ich fühlte mich so verlassen und wäre am liebsten gestorben. Was kann man als Frau in einer solchen Situation machen? Ich wusste es nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen.“

Alois Aigner hatte während des Berichts innerlich gestutzt. Die sehr präzise Beschreibung deutete nicht darauf hin, dass sie an einer Wahnvorstellung litt. Alles klang bedenklich real. Die Mischung aus Fakten, Selbstwahrnehmung und Ungereimtheiten hätte auch von einem neutralen Beobachter stammen können. Mein Gott! Wenn sie doch die Wahrheit erzählte?

„Als er endlich weg war, fing ich an zu weinen. Ich weiß nicht wie lange. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich allmählich. Niemand kam. Es war ja noch immer sehr früh. Dann habe ich versucht, darüber nachzudenken. Was sollte ich tun? Um Hilfe rufen? Ich fühlte eine unendliche Scham in mir. Fühlte mich schmutzig. Beschmutzt. Verseucht. Sein Sperma in meiner Scheide. Zwar hatte er mich mit einem feuchten Tuch gesäubert, aber in mir war immer noch ein Teil von ihm. Mir kam in den Sinn, dass er offensichtlich mit besonderer Vorsicht vorgegangen war. Die Betäubung. Der Knebel. Die anschließende Säuberung.“

Nun wechselte Alois Aigner die Seite. Nein, das hielt er für keine Fantasie, zumal Anna recht sachlich Fakten berichtete, die für das Vorgehen eines Vergewaltigers und das Leid eines Opfers völlig untypisch waren. Er nahm sich vor, direkt nach dem Gespräch in der einschlägigen Literatur über Vergewaltigungsopfer und Menschen mit Wahnvorstellungen nachzulesen, ob es vergleichbare Fälle gab. Er hielt das eher für unwahrscheinlich. Also doch ein Vergewaltiger in der Klinik?

„Das Muster“, setzte sie ihren Bericht fort, „blieb in den folgenden Wochen gleich. Bemerkenswert ist, dass er nicht brutal vorgeht, sondern eher zärtlich. Es fällt mir schwer, das so zu beschreiben. Eine zärtliche Vergewaltigung? Wie paradox! Aber doch ist es so. Er streichelt mich. Meine Brüste. Meine Schamlippen. Meine Klitoris. Alles sehr behutsam. Auch wenn er in mich eindringt, geht er langsam und vorsichtig vor. Trotzdem empfinde ich es als widerlich, eklig, schweinisch. Es kostet mich Überwindung, das so scheinbar nüchtern und sachlich zu berichten. Aber ich muss es tun, damit Sie den Vorgang beurteilen können.“

„Und bis heute ist es so geblieben?“

„Ja, keine Änderung. Er kommt ein- oder zweimal in der Woche. Entweder sehr früh am Morgen, zwischen 6 und 7 Uhr, oder sehr spät am Abend, gegen 22 Uhr. Und immer fühle ich mich betäubt und gelähmt.“

Nach einer kleinen Pause ergänzte sie: „Die einzige Änderung besteht darin, dass er mir die Betäubung manchmal direkt verabreicht und manchmal nicht. Dennoch fühle ich mich immer benebelt.“

Alois Aigner überlegte. Man könnte eine Patientin natürlich auch mit besonderen Medikamenten ruhig stellen, die man ihr zuvor durch ein Getränk verabreicht hatte. Eine kleine Dosis K.O.-Tropfen, gerade so dosiert, dass sie noch wach genug blieb, aber wehrlos war und nicht sprechen konnte. Ein Mitarbeiter einer solchen Klinik, der sich an einer Patientin vergehen wollte, hatte natürlich ein anderes Fachwissen als andere Vergewaltiger, die solche Mittel auch einzusetzen pflegten.

Dass sie drei Wochen lang geschwiegen hatte und erst heute mit ihm darüber redete, leuchtete ihm ein. Viele Vergewaltigungsopfer unterlassen aus tiefer Scham, ein solches Vergehen anzuzeigen. Auch gibt es weitere Motive für dieses Verhalten, gerade dann, wenn die Vergewaltigung keinen Einzelfall darstellt, sondern regelmäßig stattfindet. Häufig handelt es sich bei dem Opfer dann um abhängige Personen. Familie, Verwandtschaft. Das Opfer fürchtet weitere Repressalien.

„Und Sie wissen nicht, wer er ist?“, fragte Alois Aigner in der stillen Hoffnung, sie hätte doch eine Vermutung. Wenn es so gewesen wäre, hätte sie auf seine Frage bestimmt schon geantwortet.

„Nein, ich weiß es nicht“, gab sie zur Antwort.

Kein Wunder. Durch den Unfall war sie erblindet.

Bentley

Gemütlich fuhr Professor Dr. Dr. Werner Bartels zur Klinik. Tief sog er die Luft ein. Noch immer gefiel ihm sein Auto so gut wie nichts anderes auf dieser Welt. Dieser einzigartige Geruch. Diese totale Ruhe. Dieses Dahingleiten und Schweben. Am liebsten hätte er einen kurzen Moment die Augen geschlossen, was aber zu gefährlich gewesen wäre. Sein Bentley war ihm wichtiger als seine prunkvolle Villa in Kronberg, seine Mitgliedschaft im dortigen Golfclub oder sein prall gefülltes Bankkonto. Was war der Grund? Das Gefühl der Schwerelosigkeit? Ein fahrender Thron?

Heute hatte er noch einen anderen Duft in der Nase. Wie wundervoll das Leben doch sein konnte! Ein Blick auf die Borduhr zeigte ihm, dass es kurz nach 10 war. Niemandem war er Rechenschaft schuldig. Sein Terminkalender richtete sich nach ihm und nicht umgekehrt, wie es bei den meisten Menschen der Fall war. Er hatte die Woche entsprechend geplant und seiner Assistentin mitgeteilt, dass er heute wieder später kommen würde. Einen Grund gab er nie an.

Dieses Konzept hatte er vor zwölf Jahren eingeführt. Während er früher schon selbstbewusst durchs Leben gegangen war, hatte er beschlossen, noch eine Schippe draufzulegen und einem Spruch aus Studentenzeiten zu folgen: „Until yesterday I was only selfconfident. But now I’m just perfect!“ Das wurde zu seinem Leitmotiv.

Eine kleine Begebenheit hatte ihm damals diesen zusätzlichen Schwung verliehen. Er war bei seiner Geliebten gewesen, und sie hatten reichlich Alkohol getrunken. Zu später Stunde wollte er aber noch in die Klinik fahren, um für den nächsten Tag etwas vorzubereiten, was ihm während des Beischlafs in den Sinn gekommen war. Auf der Fahrt hatte er bewusst einen Feldweg genommen, der für PKW gesperrt war. Damit wollte er einer möglichen Alkoholkontrolle entgehen, die ab und zu an neuralgischen Punkten durchgeführt wurde. Er bog um eine Ecke und bremste hart. Vor ihm stand ein Polizeifahrzeug. Ein Beamter kam auf ihn zu und leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Der Professor hatte eine Eingebung. Er ließ das Fenster herunter und rief: „Helfen Sie mir. Eine Patientin aus meiner Klinik ist entlaufen. Sie muss diesen Weg genommen haben. Sie ist suizidgefährdet.“ Dabei deutete er auf eine Gabelung. „Nehmen Sie die linke Strecke? Ich fahre dann nach rechts. Sie ist leicht zu erkennen. Etwa 1,75 m groß, blonde Haare, schlank, 40 Jahre alt. Professor Bartels von der Klinik. Sie rufen dort an, wenn Sie die Frau gefunden haben?“

Der Polizeibeamte hatte sich darauf eingelassen. Am nächsten Tag hatte sich der Professor telefonisch bei der Polizeibehörde gemeldet und seinen Dank entrichtet. Er hatte mitgeteilt, dass die Patientin wieder aufgetaucht und alles in bester Ordnung war. Für sich selbst hatte er den Schluss gezogen, dass Menschen klare Anweisungen brauchten und einer natürlichen Autorität Folge leisteten. Der Bentley. Der Professor. Der weiße Kittel. Die kraftvolle Stimme. Der feste Blick. Die klaren Worte.

Diese Erkenntnis hatte ihm auch geholfen, seine Klinik zu erwerben. Die Investitionskosten zur Erhaltung dieses Kulturdenkmals waren astronomisch hoch. Aber er musste es besitzen! Die Banken waren zunächst sehr skeptisch, als er mit ihnen über eine Finanzierung verhandelte. Nach dieser nächtlichen Begebenheit trat der Professor in den Verhandlungen ganz anders auf, weil er das Wesensprinzip der Menschen glaubte verstanden zu haben. Er verlangte einen Vorstand zu sprechen und bekam wenige Tage später grünes Licht für sein Darlehen.

In seiner Klinik führte er seine Mitarbeiter mit genau dieser Autorität und stellte sicher, dass es niemand wagte, in den von ihm geschaffenen Machtbereich auch nur millimeterweise einzudringen. Er traf Aussagen, die er nicht begründete. Weder bei ärztlichen Diagnosen noch zu seinem Verhalten. Die Personen, die ein solches Verhalten nicht akzeptierten, wurden in den Anfangsjahren strikt aussortiert. Die Quote war allerdings niedrig, denn er hatte eine sehr gute Menschenkenntnis und war sehr sorgfältig in der Auswahl seines Personals. Er legte Wert auf äußerst kompetente Personen, die gleichzeitig etwas unterwürfig oder sogar devot waren. Das war spielend leicht bei Bewerbungsgesprächen herauszufinden.

In den Jahren war der „Prof“, so sein wenig erfindungsreicher Spitzname, für seine Untertanen zu einem Gott aufgestiegen. Sie akzeptierten ihn, weil die Klinik von ihm wie eine Kaserne mit Zucht und Ordnung geführt wurde und mit diesem Konzept außerordentlich erfolgreich war. Erfolg macht süchtig. Alle! Er konnte Spitzengehälter bieten und spannende Aufgaben: Sehr reiche Klienten mit typischen Zivilisationskrankheiten und therapeutische Methoden, die im Zusammenspiel seiner verschiedenen Spezialisten mit der von ihm erfundenen Behandlungsmethode wahre Wunder vollbrachten. Sein Personal lebte im Paradies und verehrte oder fürchtete oder tolerierte ihn, je nach Persönlichkeitsstruktur. Die Wesensgründe des Einzelnen waren ihm schlicht egal und erschlossen sich ihm auch nicht im Detail. Ihm kam es auf das Ergebnis an. Wenn er zu 100 Prozent in seiner Meinung akzeptiert wurde und auch nicht den Hauch eines Widerspruchs, nicht einmal ein Stirnrunzeln oder verräterisches Zucken in den Mundwinkeln, feststellen konnte, war er zufrieden.

Genauso hatte er sich sein Leben vorgestellt. Für sich selbst hatte er in der Klinik einen modernen OP-Saal einrichten lassen, führte aber nur selten Operationen durch. Spezialgebiet: Kopf, Nase, Ohren. Trotzdem nahm er solche Patienten nur in besonderen Fällen an. Keinesfalls wollte er zum Fließbandarbeiter oder Knecht seines Terminkalenders werden. Seine Klinik war so organisiert, dass sie ein Geschäftsbetrieb war, der Millionengewinne abwarf. Er wollte sein Leben selbstgesteuert genießen und Operationen nur dann durchführen, wenn sie sein medizinisches Interesse fanden. Es ging ihm um das tiefere neurobiologische Verständnis von Sinneswahrnehmungen.

Auch in seinem Privatleben war er der Perfektionist, der alles bis ins kleinste Detail plante und nach einem festgelegten Schema organisierte. Ein ansehnliches Weib der Öffentlichkeit zeigen, bei seiner Geliebten seine Sexualität ausleben, mit wenigen und sehr ausgesuchten Freunden aus anderen Wirtschaftsbereichen intensive Verbindungen pflegen, dann noch hier und da einen ansehnlichen Betrag stiften, zum Ehrenbürger von Kronberg ausgerufen werden: So sollte sein Leben inszeniert werden. Von dieser Liste fehlte nur die Ehrenbürgerschaft. Aber er arbeitete daran.

Noch einmal holte er tief Luft und genoss die Mischung aus wohlriechendem Bentley – war da nicht ein Hauch von Zigarre? – und dem Duft der süßen zwei Stunden, die gerade vergangen waren. Die Endorphine strömten wie glühende Lava durch seinen Körper. Er schmunzelte. Schon interessant, wie lange sich solche Hormone hielten. Der menschliche Körper war ein phänomenales Instrument: Man musste nur richtig auf ihm zu spielen wissen. Oder eben Frau. Und das musste er ihr lassen: Carla war richtig gut im Bett.

Gut gelaunt parkte er den Wagen und schritt mit Elan in sein Büro. Marlene, seine Assistentin, begrüßte ihn mit dem richtigen Blick: voller Erwartung, mit gespannter Aufmerksamkeit, still und einen respektvollen „Guten Morgen, Herr Professor“ wünschend.

„Was liegt an, Marlene?“

„Keine Besonderheiten, Herr Professor. Es läuft alles auf hohem Niveau. Keine Beanstandungen.“

„So soll es sein“, gab er einen seiner Lieblingssätze zum Besten. „Dann werde ich jetzt mein Käffchen trinken.“

„Sehr wohl, Herr Professor, ich eile.“

Er fand ihre gestelzte Art überhaupt nicht unangenehm. Natürlich passte sie nicht zu ihrem Alter von gerade mal 32 Jahren. Und auch nicht zu ihrem vornehmen Aussehen. Sein Prinzip war: Nur das Beste. Keinesfalls auch nur einen Hauch von Hässlichkeit. Er wusste, dass ihn das wütend werden ließ. Ob es Intelligenz oder Aussehen oder Essen oder Wein war: Es musste immer vom Besten sein.

Marlene Obermann war nun im siebten Jahr bei ihm und bislang eindeutig die beste Assistentin. Gerade weil sie eine spröde Mischung in sich vereinte. Äußerlich sehr adrett, aber wie eine ältliche Gouvernante zurechtgemacht, was seiner Frau besonders gefiel. Eine etwas unmodische Frisur, eine etwas unpassende Brille, die Kleidung eher überkorrekt, aber seinem Vorzimmer mit Eleganz angepasst. Und dabei ein herzensguter Mensch. Hilfsbereit. Ein klein wenig devot, genau die richtige Dosierung. Nach außen allerdings ein Drachen. Sie kaufte sogar seinem Oberarzt den Schneid ab, vom Verwaltungsleiter ganz zu schweigen, der sich in ihrer Gegenwart sehr unwohl zu fühlen schien. Jeden Morgen beglückwünschte er sich zu der Entscheidung, sie damals eingestellt zu haben, und erfreute sich an ihr als Vorzimmerdame.

Kaum hatte er Platz genommen und die dicke Ledermappe geöffnet, in der die Morgenpost fein säuberlich sortiert war, kam sie schon mit dem Käffchen: ein sehr heißer doppelter Espresso mit einem kleinen Milchschaumhäubchen, einem winzigen Schuss Milch und ein wenig Kakaopulver. Perfekt.

Zügig ging er durch die Post, freute sich über einige Dankesschreiben zufriedener Patienten, überflog schnell die Rechnungen und öffnete zum Schluss, das übliche Ritual, den Kontoauszug der Bank. Frau Obermann hatte sich perfekt auf ihn eingestellt. Diesen Umschlag öffnete sie bewusst nicht, obwohl sie die Vollmacht gehabt hätte. Sie wusste genau, wie selig ihn dieses kleine Stückchen Papier machte, das ein zum Bersten gefülltes, ständig wachsendes Konto zeigte. Natürlich hätten sie alle elektronischen Möglichkeiten gehabt, ihr Bankgeschäft zu steuern. Aber es gehörte zu seinem Lebensstil, einen täglichen Kontoauszug über die Vermögenswerte der Klinik zu erhalten. Schließlich putzte er sich auch täglich die Zähne, fuhr Bentley und ging zur üblichen Zeit zu Bett. Der Finanzstatus seines kleinen Imperiums war ein Teil seines Selbst geworden, der ebenfalls eine tägliche Pflege erforderte.

„Gut, Marlene“, klappte er die dicke Mappe zu. „Dann gehe ich jetzt in die Wochenkonferenz.“

Selbstgespräch

Alois Aigner saß in seinem Sprechzimmer und war dankbar, dass der zweite Termin des heutigen Tages ausgefallen war. So konnte er in Ruhe über das Gespräch mit Anna Tatjana nachdenken.

Er war vollkommen verwirrt und desorientiert. Ihr Bericht setzte ihm sehr zu. Er hatte ihr noch viele Fragen gestellt, die sie alle plausibel beantwortet hatte. Da Blinde ihr fehlendes Augenlicht durch eine schärfere Wahrnehmung anderer Sinne kompensieren konnten, hätte sie den Mann erkennen müssen. Das war die These. Die Antithese lautete: Sie war erst seit wenigen Wochen blind. Ihr Gehirn konnte sich in dieser kurzen Zeit noch nicht neu organisiert haben.

Auf dieses Ergebnis hatten sie sich dann einigen können. Ja, sie würde ihn erkennen, wenn sie eine geeignete Methode der Gegenüberstellung fänden. Am Geruch. An den Bewegungen. An kleinen Geräuschen, die einen Unterschied ausmachten. Vor allem aber an seinen Berührungen. Am Geschmack eher nicht. Er küsste sie nie auf den Mund.

Aigner fiel aber keine Möglichkeit ein, eine solche Überprüfung einzurichten. Inoffiziell und unbemerkt schon gar nicht. Also hatten sie diesen Weg der Aufklärung fürs Erste verworfen.

Viel wichtiger war ihm aber, dass sie nicht wieder vergewaltigt werden durfte. Vehement hatte er ihr zugesetzt, dass sie ihm diese Information nicht vertraulich gegeben hätte. Dann hätte er alles Mögliche veranlassen können. Seine Chefin informieren. Den Chefarzt der Klinik. Die Kriminalpolizei.

Aber sie hatte sich diesem Vorschlag mit einer Kraft widersetzt, gegen die er nicht angekommen war. Die Diskussion hatte hin und her gewogt. Anna hatte keinen Millimeter nachgegeben. Entweder war sie in Schweigen und Verzweiflung versunken. Oder sie hatte so sehr geweint, dass die Tränen sintflutartig über ihre Wangen strömten. Schließlich hatte sie ihn sogar in ihrer Muttersprache angeschrien.

In seiner Ausbildung als Psychotherapeut hatte er gelernt, dass man den Widerstand von Menschen beachten musste. Zudem standen ihm vielfältige Techniken zur Verfügung, wie man ihn aufnehmen und in eine für den Klienten sinnvolle Veränderung umgestalten konnte. Reframing und Dekonstruktion waren die Fachbegriffe hierfür. In den Kampfsportarten entsprach die Technik des Judo diesem Prinzip am ehesten. Den Schwung des Gegners aufnehmen und ihn dadurch mit minimaler Kraft in eine andere Richtung lenken. Der Therapeut war der Begleiter dieser Entwicklung, der Diener, der Pfleger, so die Übersetzung aus dem Griechischen.

Ein solches Vorgehen ermöglichte zweierlei. Als Therapeut konnte und musste man selbst außen vor bleiben. Keinesfalls durfte man eigene Anteile in die Behandlung einbringen. Das war durch diese Methode gewährleistet. Für den Klienten sollte und musste die neue Richtung weg vom Problem führen in Richtung eines erträglicheren Lebens.

Theorie und Praxis. Keine der ihm vertrauten Techniken hatte funktioniert. Anna Tatjanas Widerstand war härter als ein Diamant gewesen. Seine Werkzeuge waren schneller stumpf geworden, als Alois Aigner verstehen konnte. Das hatte ihn zusätzlich verwirrt.