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Danielle Tisserand, »capitaine de police« bei der Kriminalpolizei in Nizza, ermittelt im Fall der schönen Toten im Esterel-Gebirge hoch über der Côte d’Azur. Die junge Schauspielerin wurde erschossen und aufgebahrt wie Schneewittchen. Danielles Untersuchungen führen sie in die Filmwelt nach Cannes mit einem Abstecher nach Paris und ins wilde Hinterland der französischen Riviera. Trügt die Idylle zwischen Pinien, Korkeichen, Lavendel und Weinreben? Ihr Bauchgefühl bringt sie wie immer auf die richtige Spur - und dieses Mal auch in tödliche Gefahr …
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Seitenzahl: 403
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Marie Doux
Die schöne Tote von der Côte d’Azur
Kriminalroman
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Arndale / istockphoto.com
ISBN 978-3-8392-7884-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Manon, du weißt, dass du nicht über alle Konventionen hinwegschreiten kannst. Wenn du eine ehrbare Frau bleiben möchtest, sind deine Wünsche schlichtweg Fantastereien. So werden wir nie einen Mann für dich finden!« Manons Vater raufte sich die Haare und nahm einen Schluck von seinem Tee, wenngleich er es kaum erwarten konnte, sich ein Glas Cognac einzuverleiben. Seine Tochter sorgte mit ihren Allüren dafür, dass seine schwarzen Haare, auf die er immer so stolz gewesen war, sich in ein graues Gestrüpp verwandelten. Wäre nur ihre Mutter, seine Frau Claudine noch am Leben, dann würde seine Tochter nicht so aufbegehren und wäre gründlich von Kindheit und Jugend an in die Etikette einer jungen Dame eingeführt worden.
Vater und Tochter saßen im Garten ihrer Villa, dem Anwesen der Familie Proulx, das in einem der imposantesten Dörfer Südfrankreichs lag, in Gordes im Département Vaucluse. Es schmiegte sich Zuflucht suchend an die Südflanke der Monts de Vaucluse.Der Ortskern lag 600 Meter über dem Meeresspiegel, und deshalb konnte der Blick in die Ferne schweifen, aber auch über die hochgewachsenen Zypressen, die den Ort schmückten, über die in Terrassen angelegten Gärten und die mit Terracotta-Ziegeln gedeckten Dächer der Dorfhäuser, die alle aus dem sandfarbenen Kalkgestein dieser Region gebaut waren. Hohe Mauern aus dem gleichen Stein befestigten die Grundstücke, manches Mal waren sie auf den nackten Fels gebaut. Zur linken Seite befand sich das Château de Gordes, ein Schloss aus dem 11. Jahrhundert mit Rundtürmen, und ein Stück weiter die Kirche Saint-Firmin.
Manons Blick sah weder die Weite der sanften Landschaft mit ihren Weingärten noch die Lavendelfelder, die im Tal verschwenderisch blühten und ihren Duft bis in den Garten der Familie trugen. Ihr am Morgen sorgfältig frisiertes Haar, das am Hinterkopf zu einem Knoten geformt war, schien sich ihrer Laune anzupassen. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst und schwebten ungebändigt um ihr Gesicht. Trotz des frühsommerlichen Wetters musste sie ein Korsett unter ihrem langen Kleid tragen, das zwar aus leichtem Seidenstoff war, aber trotzdem lange Ärmel besaß. Sie schwang einen Sonnenschirm aus durchsichtiger Spitze wie eine Waffe in ihren Händen. Das Korsett erschien ihr wie das stellvertretende Symbol für die Unterdrückung der Frau. Sie wollte mehr aus ihrem Leben machen, sie wollte Philosophie oder Kunst an einer Hochschule studieren und nicht nur darauf warten, dass ihr Vater einen geeigneten Ehemann für eine Proulx fand.
*
Die riesige Villa in Gordes war für die Außenaufnahmen angemietet worden. Sie war im vorigen Jahrhundert aus dem hellen Stein der Gegend erbaut worden. Taubenblaue Fensterläden umrahmten die weißen Sprossenfenster. Und der großzügige Garten mit seiner Blütenpracht bot die ideale Kulisse für die Filmaufnahmen im Freien. Oleander, Strauchrosen, Lavendel in amphorenförmigen Terracottagefäßen und ein alter Feigenbaum mit verwachsenem Stamm waren zusammen mit den schmiedeeisernen weißen Vintage-Möbeln, die diese Ära repräsentieren sollten, perfekt von den Setdressern in Szene gesetzt worden.
»Cut! Und danke!«, rief Regisseur Berger laut.
Die letzte Einstellung war eine Halbnahe, sodass Jasmine von der Hüfte aufwärts in ihrer vollen Schönheit zu sehen war. Verwirrt blickte sie sich um und hatte Mühe, sich zurück in die Gegenwart zu bringen. Sie ging so in ihrer Rolle auf, dass sie jedes Gefühl von Zeit verlor. Sie war dann tatsächlich Manon Proulx, eine Frau, die für ihre Rechte kämpfte. Ein Thema, das auch das ihre war und über das sie sich schon viele Gedanken gemacht hatte. Damit verbunden die Verletzungen, die das Leben einem zufügte. Waren sie heilbar oder lauerten sie darauf, dich in scheinbar glücklichen Momenten wie Monster aus dem Hinterhalt anzufallen? Jasmine Blanzacs neuester Film verlor sich in diesen Themen. Und sie selbst verstrickte sich seit zwei Monaten immer leidenschaftlicher darin. Es schien ihr, als ob der Film eine Spiegelung ihres eigenen Lebens wäre. Sie fiel in eigene Abgründe und spielte dadurch so authentisch, dass jeder am Set sie bewunderte.
Ihr Agent Adrian kannte diese Hingabe Jasmines, die oft einer Selbstaufgabe glich. Er wusste, dass sie dabei Überwachung und Unterstützung brauchte, um den Anforderungen gewachsen zu sein.
Der Regisseur Etienne Berger arbeitete zum ersten Mal mit Jasmine und war begeistert, das war für ihn die hohe Schule der Schauspielkunst. Wie fragil Jasmine eigentlich war, hatte er noch nicht realisiert. Sie würde auch 24 Stunden an einem Stück arbeiten, ohne ihre eigenen Grenzen zu achten, bis zur totalen Erschöpfung. Für Berger war das Endergebnis wichtig, er wollte seine Goldene Palme in Cannes gewinnen. Der Film sollte dort im nächsten Jahr auf jeden Fall vorgestellt werden. Dementsprechend ehrgeizig war seine Arbeitsweise.
Als Kind war Jasmine in der Schule aufgefallen, weil sie sich ohne Mühe in jede Rolle des jeweils geplanten Theaterstückes hineinversetzen konnte. Die damaligen Lehrer waren beeindruckt gewesen von ihrem einzigartigen Einfühlungsvermögen. Stand sie auf der Bühne, waren alle im Saal verstummt, hatte sie die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das aber hatte viele Neider hervorgebracht. Die missgünstigen Mitschülerinnen hatten sie gemobbt, sie ausgeschlossen, und sie hatte dann gemeint, es sei ihre Schuld.
Das war auch heute nicht anders. Jeden am Set zog sie in ihren Bann, sobald sie zu spielen begann. Gott hatte ihr ein unermessliches Talent gegeben, das Jasmine jedoch selbstverständlich erschien. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Mitmenschen so ein großes Aufsehen darum machten.
Hinzu kam ihr atemberaubendes Aussehen. Bei einer Größe von 1,75 Metern hatten sich 56 Kilogramm genau an die wesentlichen Stellen ihres Körpers verteilt, nämlich auf Brüste und Hüften. Zu ihrem göttinnengleichen Körper trug sie die Haare fast bis zum Po. Sie umschmeichelten ihren Oberkörper in dicken blonden und bernsteinfarbenen Strähnen und in großzügigen Wellen. Ihr Blick aus blaugrauen Augen war so intensiv, dass er das Gegenüber unmittelbar fesselte. Die Männer verfielen diesem Zauber sofort. Kein Wunder, dass sie mit ihrer Schönheit und ihrem unvergleichlichen Talent der neue Liebling des französischen Films war.
*
Die Szene, an der sie heute arbeiteten, wurde in den Tremblay-Studios in Cannes gedreht. Jasmine führte als Manon Proulx mit ihrem Vater, dargestellt von Maxime Leandres, ein heftiges Streitgespräch über die von ihm arrangierte Heirat. Der Filmabschnitt wurde nun zum zwölften Mal wiederholt.
»Klappe, die zwölfte«, sagte der zweite Kamera-Assistent, bevor er die Regieklappe schlug.
Ihr Filmpartner Maxime verlor kurz den Faden, als sie ihn bei der Streitszene mit einer Intensität angriff, als ob er, Maxime, verantwortlich für sie als Tochter wäre.
»Nie, aber auch nie wirst du verstehen, wie ich mich fühle. Denn du bist als Mann zur Welt gekommen, ich als Frau«, schleuderte sie ihm mit einer tiefen Verzweiflung entgegen. Jasmine schlug die Hände vors Gesicht und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. »Wäre ich doch nie geboren worden! Der Fluch des Frau-Seins liegt auf mir!« Sie raufte sich die Haare, sodass sich die Locken aus ihrem Nackenknoten lösten. »Warum verstehst du nicht, dass ich noch nicht heiraten möchte? Ich will etwas Sinnvolles tun! Nicht die stumme, willfährige Hälfte an der Seite eines Mannes sein! Ich möchte selbst über mein Leben bestimmen!« Die letzten Worte hingen in der Luft, und Jasmine atmete mit einer Heftigkeit, dass sich ihre Brust hob und senkte.
Die Crew am Set war vollkommen gebannt. Jasmine war nicht anzumerken, dass der Spieltag schon 15 Stunden verschlungen hatte. Maxime jedoch war definitiv am Ende.
Etienne Berger, der Regisseur, rief ungeduldig: »Maxime, ich brauche mehr Drama von dir! Jasmine, sehr gut!« Mit einer schnellen Handbewegung schob er sich die Haare aus der Stirn. »Wir machen 15 Minuten Pause, dann drehen wir die Szene noch einmal, bis sie im Kasten ist. Vorher geht keiner nach Hause.«
Jasmine schlüpfte in ihre Garderobe, ihren Zufluchtsort. Ihre Maskenbildnerin wollte sie wieder zurechtmachen. »Jetzt nicht, Sara.« Sie winkte sie genervt hinaus.
Der Spiegel warf ihr ein müdes, eingefallenes Gesicht entgegen. Entsetzt hielt sie mit beiden Händen ihre Wangen fest, als ob ihr das neue Energie geben könnte. Lange würde sie diese endlosen Drehtage nicht mehr aushalten, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. Wo war Adrian, ihr Agent? Er wüsste, wie sie sich jetzt fühlte. Unruhe machte sich in ihr breit. Berger saugte alle Substanz aus ihr heraus, so fühlte es sich gerade an. Sie brauchte Stoff, auch wenn sie sich vorgenommen und Adrian versprochen hatte, zu widerstehen. Das Kokain würde sie wieder auf die Beine bringen. Wo hatte sie die kleine Flasche nur versteckt?
Draußen klingelte es, die Pause war gleich zu Ende.
Sara klopfte an die Tür. »Kann ich reinkommen?«
»Nein, verdammt noch mal, nein! Lass mir noch vier Minuten meine Ruhe!«, schrie die Schauspielerin zornig. Die Unruhe in ihr wuchs, sie fühlte sich wie ein Tiger im Käfig, der seine 800. Umdrehung in der immer gleichen Richtung hinter sich gebracht hatte. Dementsprechend tigerte sie auf der Suche nach dem erlösenden Stoff durch das kleine Zimmer.
Ganz hinten im Garderobenschrank, hinter den Handtüchern, Bademänteln und anderen Kleidungsstücken, leuchtete ihr ein kleines Glasfläschchen mit silbernem Verschluss entgegen. Hastig schraubte sie es auf, darin glitzerte eine kleine Menge strahlend weißes Pulver. Schnell nahm sie einen Handspiegel vom Schminktisch, klopfte eine Spur des staubigen Puders darauf und zog ein Schnupfröhrchen aus reinem Silber aus ihrer Handtasche, das sie immer bei sich trug. Geschickt zog sie damit die vorbereitete Line in ihre Nase.
Ein Zittern durchlief ihren Körper, der Energieschub kam wie immer unerwartet intensiv. Die Müdigkeit war wie weggeblasen, und ein grandioser euphorischer Zustand nahm von ihr Besitz. Sie ging zum Waschbecken und wusch sich die Nase aus.
Jasmine übertrieb es nicht mit dem Koks. Nur wenn sie total ausgepowert war, so wie heute, nahm sie eine Line. Sie würde Etienne Berger beweisen, wer Frankreichs beste Schauspielerin war. Als sie zum Set zurückging, schien das pure Leben kraftvoll durch ihre Adern zu pulsieren.
Sara hatte gerade Maximes wirre Haare wieder in Form gebracht und rannte nun auf sie zu. Jetzt ließ Jasmine sie gewähren, die Unruhe war verflogen, sie fühlte sich unsterblich.
Obwohl es mittlerweile nach 24 Uhr war, befand sich die komplette Crew noch am Set in einem der Filmkulissenräume der Tremblay-Studios in Cannes. Die Studios gehörten dem Duc Boniface de Tremblay. Seinen Titel, dem deutschen »Herzog« entsprechend, verwendete er selten, wohl aber das Geld seiner adligen Familie, das sich über die Jahrhunderte vermehrt hatte. Mit diesem Geld finanzierte er Bergers Film. Die Studios lagen an der Avenue Francis Tonner in einem Industriegebiet. Sie waren nicht riesig, hatten aber alles, was für diesen Film gebraucht wurde. Fast alles – für ein paar Szenen hatten sie Außenaufnahmen machen müssen. Gestern in Gordes, davor in Saint Maxime an der südfranzösischen Riviera und in Paris.
Alle waren hundemüde, es wurde oft gegähnt. Doch der Regisseur und seine Hauptakteurin schienen noch immer energievoll.
Als die letzte Szene endlich im Kasten war, rief Etienne Berger seiner 14-köpfigen Mannschaft zu: »Ça suffit maintenant! Feierabend, für heute ist Schluss«, und klatschte enthusiastisch in die Hände.
Alle atmeten erleichtert auf, obwohl es morgen früh gleich weitergehen würde.
Jasmine tanzte in ihrem viktorianischen Kostüm durch das Filmset und machte sich auf den Weg zu ihrer Garderobe, um sich abzuschminken und umzukleiden. Am Rand des Sets fing eine Frau sie ab, die anscheinend auf sie gewartet hatte. Jasmine wollte an ihr vorbeigehen, denn nach dem Drehen war sie nicht zum Plaudern aufgelegt, sondern brauchte ihre Ruhe.
Doch die überschlanke Frau mit den langen dunklen Locken hielt sie auf, indem sie ihre Hand auf Jasmines rechten Arm legte. »Jasmine, erkennst du mich nicht?«
Jasmine schaute erstaunt zuerst auf die Hand, dann auf die aufdringliche Person. Noch dämmerte es ihr nicht.
»Ich bin’s, Aimé!« Die Stimme der Frau klang verärgert, als sie realisierte, dass Jasmine sie nicht sofort erkannte. Das zuvor liebenswürdige Lächeln wich einer arroganten Maske. »Sag bloß, du weißt nicht mehr, wer ich bin? Aimé Raisuni, deine alte Studienkollegin!«
Jetzt erst identifizierte Jasmine ihr Gegenüber. Aimé hatte in Paris mit ihr auf der »Conservatoire national supérieur d’art dramatique«, Frankreichs ältester und bedeutendster Schauspielschule, studiert und mit ihr und weiteren Mitstudierenden in einer Wohngemeinschaft gelebt. »Ah, Aimé, entschuldige«, stotterte Jasmine peinlich berührt. »Du hast dich ziemlich verändert.«
»Ja, ich hab das reichliche marokkanische Essen meiner Mutter abgesetzt. Hab 19 Kilo abgenommen.« Stolz präsentierte Aimé ihre Figur und drehte sich um sich selbst.
Inzwischen waren alle anderen vom Filmset verschwunden, sie hatten alles stehen und liegen gelassen, um schnell nach Hause zu kommen. Nur Sara und der Regisseur waren noch da. Und der Nachtportier, denn nachts war das Filmstudio bewacht.
»Komm doch mit in meine Garderobe. Während Sara mir hilft, mich auszukleiden, können wir uns unterhalten.«
Aimé wirkte erfreut und stolzierte hinter Jasmine her. Als sie an Regisseur Berger, der noch in seinem Skript blätterte, vorbeikamen, inszenierte Aimé sich und drehte sich einmal um sich selbst, um auf sich aufmerksam zu machen. »Bon nuit, Monsieur«, rief sie laut.
Berger sah nur kurz von seinen Papieren hoch und nickte mäßig begeistert.
Sara zog Jasmine in der Garderobe das dunkelgraue Seidenkostüm aus und hängte es an den fahrbaren Garderobenständer. »Soll ich dir noch die Haare bürsten?«, fragte sie freundlich.
»Nein, danke, du kannst gehen. Du bist bestimmt auch müde.«
Sara bejahte mit einem Nicken und verabschiedete sich.
Aimé setzte sich auf das Sofa, während die junge Schauspielerin sich abschminkte.
»Warum hast du dich nicht angemeldet? Ich habe heute den ganzen Tag gedreht, und morgen früh geht es gleich weiter.«
»Ach, Jassi, in Paris haben wir während des Studiums oft die Nächte durchgemacht.« Aimé wirkte beleidigt. »Ich bin den weiten Weg gefahren, um dich zu sehen, und du freust dich gar nicht.«
Im Manipulieren war Aimé schon immer gut gewesen, sofort keimte ein schlechtes Gewissen in Jasmine auf. »Doch, ich freue mich. Aber warum hast du nicht Bescheid gegeben? Du weißt doch, was hier los ist.«
»Jaja, der neue Star am französischen Filmhimmel. Da kann man seine guten alten Freunde schon mal vergessen.«
Jasmine stutzte. Richtig gute Freundinnen waren sie nie gewesen. Aimé war seit jeher eifersüchtig auf sie und hatte es ihr nie verziehen, dass sie talentierter und deswegen oft bevorzugt worden war. Sie will bestimmt etwas von mir, dachte sie, während sie sich mit einer dicken Schicht Reinigungsmilch die Schminke aus dem Gesicht wischte. Das ist kein Freundschaftsbesuch.
Aimé setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen nicht erreichte. »Ich mach hier ein paar Tage Urlaub, da hab ich gedacht, ich könnte dich besuchen. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.«
Jasmine überfiel eine große Müdigkeit. Die Wirkung des Kokains ließ nach, und ihre Hände, der Kopf, der Körper wurden plötzlich tonnenschwer. Sie antwortete nicht, ihre Gedanken hatten sich verlangsamt.
»Sag mal, Jassi, kannst du mir nicht helfen und bei Berger ein gutes Wort für mich einlegen? Dreht ihr nicht sogar einige Szenen in Casablanca?«
Jetzt wurde Jasmine klar, warum ihre »gute alte Freundin« ihr diesen unerwarteten Besuch abstattete. Wahrscheinlich fehlten ihr die Angebote. Sie hatte unbedingt Schauspielerin werden wollen, trotz ihres mangelnden Talents. Ihre reichen Eltern hatten ihr dies ermöglicht und ihr sowieso jeden Wunsch erfüllt. »Aimé, ich kann ihn morgen fragen, ja? Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen, denn eigentlich sind alle Rollen besetzt, und außerdem haben wir schon über die Hälfte des Filmes gedreht. Du hättest zum Casting kommen sollen«, entgegnete sie und nahm die Nadeln aus den hochgesteckten Haaren. Während sich Jasmine mit ihrer schimmernden Haarpracht beschäftigte, die in sanften Wellen über ihren Rücken wallte, konnte sie Aimés Neid förmlich spüren. »Bitte, sei nicht beleidigt, wenn ich heute keine Zeit mehr für dich habe. Ich bin total erschöpft. Berger saugt mir das Innerste aus dem Leib, ich kann heute einfach nicht mehr.«
»Das hätte ich mir ja denken können. Ich war immer für dich da, und du lässt mich jetzt sitzen?« Aimé funkelte sie wütend an und stand unvermittelt auf. Die »marokkanische Prinzessin« bekam ihren Wunsch nicht erfüllt.
»Sei nicht böse. Komm doch morgen wieder vorbei«, meinte Jasmine entschuldigend, »dann kann ich dich Etienne Berger vorstellen. Ich kündige dich auch an, sodass du ohne Schwierigkeiten ans Set darfst.«
Aimé schüttelte theatralisch ihre dunklen Locken. Mit einem »Wir werden sehen!« rauschte sie eingeschnappt davon.
Danielle Tisserand saß in ihrem Büro der Kriminalpolizei von Nizza, als ihr Handy läutete. Der Klingelton spielte die Anfangsmelodie von »Mon manège a moi«, interpretiert von Édith Piaf, ihrer Lieblingssängerin. Danielle kannte alle Lieder der berühmten französischen Chanteuse. Das Xylofon und der Bass schlugen die ersten Takte an, die die Hauptkommissarin immer in gute Laune versetzten und sie an Raymond denken ließen. »Tu me fais tourner la tête«, sang der »Spatz von Paris«. »Du verdrehst mir den Kopf.«
Raymond verdrehte ihr auch den Kopf. Er war ihr Traummann, der sie mit all der Kraft seines Seins liebte. Er verwöhnte sie, bekochte sie, kaufte ihr teure Geschenke, lud sie auf seine Jacht ein, das Geld dazu hatte er. Allerdings hatte sie ihm noch nicht alle Türen ihres Herzens geöffnet. Altlasten aus der vorhergehenden Beziehung verunsicherten sie immer noch, obwohl sie nicht über mangelndes Selbstbewusstsein klagen konnte. Damals hatte sie einen widersinnigen Kampf mit der Mutter um deren Sohn ausgefochten. Niemals war sie dieser Frau gut genug gewesen, was schließlich zum Scheitern der Liaison mit Alain geführt hatte. Die ganze Situation hatte ihn immer weiter von ihr entfernt. Oder war es umgekehrt gewesen und sie hatte sich in eine sichere Distanz begeben? Auch wenn Danielle nach außen hin selbstbewusst wirkte, war sie doch eine Frau mit divergenten Gefühlswelten. Gab es überhaupt eine Frau, die vollkommen mit sich im Reinen war?
Jedenfalls hatte sie das starke Gefühl, dass Raymonds Mutter ebenfalls nicht einverstanden war mit der Wahl ihres Sohnes. Oder bildete sie sich das nach Alain nur ein? Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Wie schön es gewesen war, als Ray, so nannte sie ihn gern, ihr über den Weg gelaufen war. Sie war an einem Montagabend auf dem großen Flohmarkt in der Altstadt von Nizza auf dem Cours Saleya unterwegs gewesen, wo dienstags bis samstags der berühmte Blumen- und Wochenmarkt stattfand. Sie liebte es, durch den montäglichen kunterbunten Trödelmarkt zu streifen. Sie hatte gerade eine Art-déco-Vase erstanden und betrachtete sie voller Begeisterung, als sie beim Weitergehen mit einem Herrn zusammenstieß. Dabei fiel die Vase zu Boden und zerbrach. Raymond war das damals so peinlich gewesen, dass er darauf bestanden hatte, gemeinsam mit ihr nach einem neuen Keramikgefäß zu suchen und den Schaden wiedergutzumachen. Anschließend hatte er sie auf einen café eingeladen. Diese schicksalhafte Karambolage hatte ihr beider Leben verändert.
Ihr Mobiltelefon gab die letzten Takte des Chansons wieder. Du meine Güte, dachte Danielle erschrocken, während sie das Gespräch annahm, vielleicht sollte ich den Klingelton doch ändern, sonst verpasse ich glatt jeden Anruf vor lauter Träumerei. »Allô?«
Ein verzweifeltes Schluchzen klang durch den Hörer, das sie nicht gleich einer Person zuordnen konnte. Erst nach ein paar deutlicher gesprochenen Worten wusste sie, wer dran war: ihre Schwester Josette.
»Dani, mein Leben ist dahin! Alles, wofür ich tagtäglich arbeite, mich abmühe, lebe, scheint so sinnlos!« Sie weinte.
Danielle war bestürzt. Die beiden Schwestern waren nach dem Tod ihrer Mutter Céleste noch näher zusammengewachsen und waren zugleich beste Freundinnen. »Mein geliebtes Schwesterherz, was ist denn los? So hab ich dich ja noch nie erlebt!«
Dass Josette so viele Tränen vergoss, geschah sehr selten. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen mit ihrem Mann Henri, einem Finanzbeamten, ihren fast erwachsenen Söhnen Damien und Gérard und dem 14-jährigen Nesthäkchen Marciella. Die Familie ihrer Schwester lag Danielle sehr am Herzen.
»Dani, Henri hat eine andere.« Das Weinen ging in ein Wimmern über.
»Das kann ich mir nicht vorstellen, er liebt euch doch über alles!«
»Ja, seine Kinder. Aber was ist mit mir?«, brach es wütend aus Josette heraus. »Was ist mit seiner doofen Frau, die ihm jeden Tag ein komplettes Menü kocht? Die hinter ihm herräumt und seine Wäsche macht? Weil er, der große Chef, ja so viel arbeiten muss. Da ist es unglaublich angenehm für ihn, dass seine dumme Ehefrau nur in Teilzeit tätig ist und zu Hause den ganzen Rest erledigt!«
»Josie, wo bist du? Bei der Arbeit in der Bibliothek? Ich komme jetzt zu dir und wir reden in Ruhe über alles, okay?«
»Ich hab mir heute freigenommen und bin daheim«, antwortete Josette resigniert. »Ja, komm vorbei, wenn du möchtest.«
Danielle wollte noch etwas sagen, aber ihre Schwester hatte ohne ein weiteres Wort aufgelegt. Das war auch noch nie geschehen. Sonst war Josette immer diejenige, die für jeden ein tröstendes Wort hatte, die jeden umsorgte.
Danielle Tisserand rief ihre Kollegin, die Chefin der Spurensicherung, an.
»Allô?« Claire Dupuis klang stets etwas heiser, wahrscheinlich vom vielen Rauchen. Sie war die Einzige bei der Police judiciaire, der Kriminalpolizei, kurz La Crim, die in ihren Arbeitsräumen rauchen durfte. Mit ihrer Schlagfertigkeit und Respektlosigkeit hatte sie sich gegen Abteilungsleiter Firmin Vitoux ohne Mühe durchgesetzt. Außerdem war sie die Dienstälteste und seit 20 Jahren dabei.
Danielle hörte, wie sich ihre Kollegin eine Zigarette anzündete, dann ein kurzes Husten. »Claire, du solltest weniger rauchen, deine Lunge würde sich freuen.«
»Wenn du deswegen anrufst, kannst du gleich wieder auflegen. Du bist doch auch immer im Hof dabei. Der Platanenbaum kann davon ein Lied singen.«
»Ich mach mir bloß Gedanken um dich. Außerdem habe ich fast mit dem Rauchen aufgehört.« Das stimmte. Nur zu den kommunikativen Gelegenheiten mit ihren Kollegen erlag sie hin und wieder der Versuchung, vor allem in dem von ihnen im letzten September verschönerten Innenhof mit seinen Sitzgelegenheiten und dem Schattendach des Baumes. »Ich wollte dir mitteilen, dass ich für den Rest des Tages weg bin. Ein familiärer Notfall, Beziehungsprobleme. Aber mach dir keine Sorgen. Falls der Chef nach mir fragt, wird dir schon was einfallen. Außerdem kann ich den Papierkram auch zu Hause erledigen.«
Für Claire, die keinerlei Ehrfurcht vor Autoritätspersonen besaß, war es eine leichte Übung, ihrem Chef eine fantasievolle Geschichte aufzutischen.
»Aber bitte übertreibe es nicht mit deinen Ideen«, fügte Danielle deshalb an.
Die Leiterin der Spurensicherung lachte laut auf. »Du denkst dabei wohl an meine Fake-Meldung? Als ich Vitoux weismachte, versäumt zu haben, ein wichtiges Untersuchungsergebnis an unseren Oberboss Victorien Lévy weiterzuleiten? Vitoux hat schier einen Herzinfarkt bekommen und konnte sich nur mit seiner Marotte beruhigen. In einer bühnenreifen Zeremonie hat er seine Krawatte abgenommen, um sie dann in äußerst penibelster Weise wieder anzuziehen. Das war ein Schauspiel!«
Die dezente Zwangsstörung von Danielles Chef war der ganzen Abteilung bekannt, obwohl er sie zu verbergen versuchte.
»Ma chérie, meine Süße, ist was mit Raymond? Verwöhnt er dich etwa nicht mehr nach Strich und Faden? Dann schick ihn zu mir. Für mich könnte auch mal jemand die Sterne vom Himmel holen …? Hein?« Claire war eine eingefleischte Junggesellin mit ebenso respektablen Macken, wie Abteilungsleiter Vitoux sie hatte.
»Vergiss es! Mit Ray ist alles bestens, es geht um meine Schwester. Für dich werde ich demnächst eine Kontaktanzeige im ›Nice-Matin‹ aufgeben. Da steht dann: Durchsetzungsfähige Mitfünfzigerin in den besten Jahren sucht passionierten Raucher für gelegentliche dîners.«
Claire lachte schallend, sodass Danielle den Hörer vom Ohr entfernen musste. »Das wär mal einen Versuch wert.«
»Au revoir,ma chère. Tschüs, meine Liebe, ich muss los.«
*
Nach längerem Suchen hatte Danielle einen Parkplatz in der Rue Georges Ville gefunden.Das war eine der eleganten Straßen in Nizza, in denen viele eindrucksvolle Bauten aus der Belle Époque standen. Die Wohnungen befanden sich ab dem ersten Stock aufwärts. In den Erdgeschossen waren Geschäfte untergebracht, darunter ein Schönheitsinstitut, Gemüseläden, Immobilienmakler und eine Boulangerie-Pâtisserie.
Die Beauchants hatten vor vielen Jahren eine 160 Quadratmeter große und schon damals sündhaft teure Wohnung in der bel étage gekauft, dem »schönen Geschoss« im ersten Stock eines geschmackvoll restaurierten großbürgerlichen Hauses. Früher musste es das Stadtpalais einer reichen Familie gewesen sein. Ein Medaillon aus Stein mit den ineinander verschlungenen goldenen Buchstaben V und J krönte die bogenförmige schmiedeeiserne und reich verzierte Eingangstür. Über dem Medaillon war ein Löwenkopf zu sehen, der eine Ranke im Maul hielt. Das Blattwerk umrahmte das Medaillon.
Danielle drückte energisch auf den Klingelknopf, der mit einigen anderen neben der imposanten Eingangstür angebracht war. Erst nach einer Weile wurde die Gegensprechanlage aktiviert.
»Ja, bitte?«, erklang die müde Stimme ihrer Schwester.
»Josie, ich bin’s, Dani.«
Die Tür wurde mit einem Summen geöffnet. Danielle trat in den elegant gestalteten Hauseingang mit Bodenfliesen aus schwarzem und weißem Marmor. Sie stieg die breite steinerne Treppe mit einem Messinggeländer und einem Handlauf aus glänzendem Holz hinauf bis in die bel étage. Es roch leicht nach orientalischen Gewürzen aus dem libanesischen Spezialitätengeschäft im Erdgeschoss. Die Wohnungstür war angelehnt.
Danielle trat in den breiten Flur und rief nach ihrer Schwester. Erst nach einer Weile hörte sie die leise Stimme Josettes aus dem Badezimmer. Als Danielle die Tür zum Bad aufschob, saß Josette auf einem Hocker aus Rattan und rauchte eine Zigarette. Sie sah nicht auf.
»Schwesterchen, du wirst doch jetzt nicht mit dem Rauchen anfangen! Schließlich bist du es, die deiner Familie als militante Nichtraucherin ständig in den Ohren liegt«, sagte sie ruhig, nahm Josette die Zigarette aus der Hand, drückte sie im Waschbecken aus und warf sie in den Abfall.
Josette wehrte sich nicht, blickte sie nun aber mit rot verweinten Augen an. Die hellbraunen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht.
»Lass uns in die Küche gehen und ein Glas Rosé trinken.«
Ohne Widerspruch stand Josette auf und trottete mit hängenden Schultern vor Danielle in die Küche. Sie nahm wie ferngesteuert eine angebrochene Flasche aus dem Kühlschrank und schenkte ihnen beiden ein. Aus einem der Tiefkühlfächer holte sie Eiswürfel und ließ diese in die Gläser gleiten. Danach stellte sie sich an die Kochinsel, die sie sich beim Einzug in diese Wohnung gewünscht hatte. An ihr konnte nicht nur gekocht, sondern auch gespült und gegessen werden, hohe Barhocker standen extra dafür bereit.
Danielle setzte sich auf einen der Hocker und griff nach ihrem Weinglas. Sie nippte daran, atmete dann tief durch und sagte: »Du musst mir jetzt alles der Reihe nach erzählen. Ich kann es nicht glauben, dass Henri fremdgehen soll. Er ist doch die Zuverlässigkeit in Person! Dasselbe erwartet er auch immer von euch.« Diese Spitze konnte sich Danielle nicht verkneifen.
»Eine Kollegin von mir hat ihn gestern Nachmittag mit einer Blondine gesehen. Sie kamen aus einer Bar und lachten. Und er hatte seine Arme um sie gelegt. Sie müssen sich anscheinend sehr gut verstehen.« Josette schluchzte laut auf, biss danach kurz die Zähne zusammen und nahm anschließend einen großen Schluck von ihrem Rosé.
Danielle wusste nicht, was sie sagen sollte. Das klang nicht nach Henri. Er liebte seine Familie über alles. Sein Zuhause, seine Kinder, seine Frau waren sein kleines Imperium. Auch bei seiner Arbeit als leitender Beamter beim Finanzamt in Nizza war er es gewohnt, den Ton anzugeben. »Meinst du nicht, es könnte sich um ein riesiges Missverständnis handeln? Lass uns überlegen, wie wir das am besten herausbekommen könnten. Wie mein netter italienischer Kollege Carlo Albertini einmal sagte: ›Wir machen jetzt einen Schlachterplan‹.«
Josette musste schmunzeln, aber ihre Mundwinkel schafften nur kurz einen Aufwärtsbogen.
»Ich bin nicht umsonst bei der Kripo. Meine treuen Assistenten Hibou und Ribotti werden mir sicherlich bei einer Observation von Henri helfen, wenn du einverstanden bist. Bevor du irgendetwas unternimmst, sollten wir der Sache erst auf den Grund gehen. Wenn wir dann mehr wissen, kannst du ihm immer noch eine Pfanne an den Kopf schlagen.«
Josette hatte ihr Glas bereits geleert, und ihre Laune besserte sich. »Ja, Dani, tu, was du kannst. Wenn sich bewahrheiten sollte, dass er eine Affäre hat, ist eine Observation das Mildeste, was er über sich ergehen lassen muss!« Sie stand auf und umarmte Danielle.
Dieser flatterte das Herz bei der Vorstellung, die Familie ihrer Schwester könnte auseinanderbrechen. Nach mamans Tod waren Josette und Henri neben ihrem Vater Éric die wichtigsten Bezugspersonen in Danielles Leben. Bei den Beauchants fühlte sie sich zu Hause. Hier war ihr Ankerplatz, an dem sie immer anlegen konnte. Sie liebte ihre zwei Neffen Gérard und Damien und ihre Nichte Marciella über alles. Es käme ihr wie ein Weltuntergang vor, wenn dieser standhafte Familienkern auseinanderfiele.
*
Danielles kleinem Team gehörten zwei Kollegen an. Michel Hibou, auch genannt »die Eule«, war seit ungefähr fünf Jahren ihr Assistent. Er hatte einen scharfen und viele Fakten behaltenden Verstand, war jedoch in seiner Vergangenheit gemobbt worden wegen seiner Angewohnheit, Bewegungen seines Kopfes und seiner Augenlider in Hibou’schem Zeitlupentempo auszuführen. Die langsamen Bewegungen standen in krassem Gegensatz zu seiner Scharfsinnigkeit und schnellen Auffassungsgabe. Wie der bekannte Fernsehinspektor Colombo trug er meistens einen alten, verknitterten Trenchcoat, in dem er einiges mit sich herumschleppte, was sich für seinen Beruf als nützlich erwies. Gerne kleidete er sich mit einer ausgeleierten beigen Stoffhose, von der er anscheinend mehrere Exemplare besaß, dazu eines seiner zahlreichen karierten Hemden. Seine dünnen aschblonden Haare hätten einen guten Haarschnitt gebraucht – ständig hingen ihm die Schnittlauchlocken in die hohe Stirn. Mit seinen 36 Jahren lebte er immer noch bei den Eltern, weil er die Mutter nicht allein bei ihrem alkoholkranken Mann, seinem Vater, lassen wollte. Dieser Umstand und seine Schüchternheit dem weiblichen Geschlecht gegenüber waren schuld daran, dass er noch keine Freundin gefunden hatte.
Jean Ribotti war einige Jahre jünger als Hibou und erst seit acht Monaten Danielles Assistent. Im letzten Jahr hatte er sie zwei Wochen bewacht, nachdem sie brutal überfallen worden war. Dabei hatte sie erkannt, dass er sich mit seiner Kombinationsgabe gut für die Kriminalpolizei eignen würde. Auf Danielles Anraten hatte er in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or bei Lyon an der »École nationale supérieure de la police« die Ausbildung zum Polizeikommissar begonnen und war nun die meiste Zeit nicht vor Ort in Nizza.
Nachdem Danielle den beiden am Telefon von zu Hause aus von der misslichen Lage ihrer Schwester erzählt und sie um ihre Hilfe gebeten hatte, erklärten sie sich umgehend bereit, Danielles Schwager zu observieren. Hibou würde die nächsten Tage übernehmen und sich an Henris Fersen heften, sobald dieser nach Feierabend das Finanzamt verließ. Ribotti wollte das Wochenende über an ihm dranbleiben, sollte er aus dem Haus gehen.
Die capitaine de police, die Hauptkommissarin, setzte großes Vertrauen in ihre beiden jungen Mitarbeiter. Die kurzzeitige Überwachung ihres Schwagers würden sie dem Leiter ihrer Abteilung, Firmin Vitoux, nicht auf die Nase binden, auch wenn Hibou und Ribotti sie nicht im Dienst, sondern in ihrer Freizeit machten.
*
Nach dem Besuch bei Josette war Danielle nach Hause gegangen, hatte von dort aus per Telefon die Observation mit Hibou und Ribotti abgesprochen und sich danach an die Berichte gesetzt.
Jetzt machte sie sich frisch geduscht auf den Weg zu Ray. Ihr Lebensgefährte Doktor Raymond Labrousse war Mitleitender des Archäologischen Museums in Nizza. Eigentlich müsste er nicht arbeiten, denn er war der einzige Sohn seiner Eltern, die dem reichen südfranzösischen Geldadel angehörten. Er wohnte wie Danielle im vornehmen Stadtteil Cimiez, nur ein paar Straßen von ihr entfernt in der Avenue d’Alsace. Das Haus, besser gesagt die Villa, gehörte seinen Eltern. Die großzügige Wohnung, die er darin bewohnte, konnte er sein Eigen nennen.
Es war Ende März und die Sonne zeigte sich fast wieder den ganzen Tag. Der starke Wind, den die Einheimischen Mistral, Herrscher, Meister,nennen, hatte sich gelegt, und nun kam der Frühling. Die Luft roch frisch nach Meer und Blumen. Die großartige Mimosenblüte war fast vorüber, aber ein paar wenige blühten noch in strahlendem Gelb. Der Duft von Jasmin und blühenden Orangen- und Zitronenbäumen erfüllte die Luft und machte gute Laune.
Trotz der geringen Entfernung nahm Danielle das Auto. Sie wagte es, ihr Cabrio-Verdeck zu öffnen. Vorsichtshalber zog sie sich ein Kopftuch an und saß nun wie Grace Kelly in ihrem Peugeot RCZ mit 270 Pferdestärken, einer Sonderanfertigung als Cabrio mit Klimaanlage und Dolby-Surround-Stereoanlage. Wie immer, wenn sie eine Fahrt mit ihrem Auto genießen wollte, schaltete sie ihre Musikanlage ein. Ein Akkordeon erklang, und die Töne sanken tragisch und zugleich temperamentvoll in die Tiefen ihrer Seele. Kein anderes Instrument berührte sie so tief, und keine andere Musik brachte ihr Herz so zum Klingen wie die Stimme von Édith Piaf.
In der Avenue d’Alsace suchte sie nach einem Parkplatz, was in Nizza selten einfach war. Aber sie hatte Glück, weil gerade ein Auto aus einer Parklücke herausfuhr. Sie stieg aus und ging zu Fuß bis zu der beeindruckenden Villa im Stil des Neoklassizismus. Hellgrüne Fensterläden und Balkontüren und zinnfarbene, verspielte Blumenkästen gaben dem cremefarbenen Haus den typisch südfranzösischen Charme. Den ersten Stock zierte ein umlaufender Balkon mit verschnörkelter Steinbalustrade. Massive Stützpfeiler aus hellem Sandstein trugen diesen Balkon. Rechterhand war ein runder Turm angebaut, der die Villa überragte. Das Anwesen lag etwas erhöht, und eine Mauer aus Kalkstein schirmte es von der Straße ab. Wilder Wein rankte sich an der Mauer entlang. Eine vergitterte Tür, über der der Name »Villa Inés« stand, führte zu einem Treppenaufgang. War man oben angelangt, fiel der Blick auf einen wunderschönen Garten. Palmen, Olivenbäume, riesige alte Oleanderbüsche und ein Aprikosenbaum wuchsen dort. Neben der Eingangstür verbreitete ein großer Rosmarinbusch sein unvergleichliches Aroma.
Raymond hatte sie zum dîner eingeladen, was er gerne tat, denn er kochte mit Vergnügen und dazu noch ausgezeichnet. Sie selbst machte für sich allein nie ein aufwendiges Essen. Entweder aß sie mit Kollegen in einem Bistro oder ernährte sich von Kaffee, Croissants und Müsliriegeln.
Danielle stand noch unten an der Gittertür und klingelte. Kurz darauf ertönte ein Summen, und mit Vorfreude im Bauch stieg sie die Stufen zum Haus hinauf.
Ray öffnete mit Schwung die Eingangstür zur Villa, sein Gesicht leuchtete vor Glück. Er strahlte sie mit einer Liebe an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Er nahm sie in die Arme und küsste sie lange und zärtlich.
»Ma beauté, meine Schöne, wir haben uns viel zu lange nicht gesehen.« Er strich ihr durch die kupferblonden gewellten Haare. »Du siehst großartig aus!« Dann bat er sie mit einer eleganten Handbewegung ins Haus.
An Raymond war alles elegant, seine Bewegungen, seine sehr dunklen lockigen, exakt geschnittenen Haare, seine ausdrucksvollen Lippen, seine Kleidung. Heute trug er auf seine lässige Art weiße Designerjeans, dazu ein graues Leinenhemd und seine obligatorischen Seglerschuhe aus Leder. Sie wusste, dass alles, was er kaufte, teuer war, aber er kaufte mit Bedacht und schmiss das Geld nicht zum Fenster hinaus. Noch ein Wesenszug, den sie sehr schätzte.
Das Essen roch so appetitlich, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Als Dank für seine vielen Einladungen hatte sie ihm ein Kumquatbäumchen für seine Terrasse mitgebracht. »Schau mal, ein paar Früchte sind schon dran. Sobald die Zwergorangen dunkelorange leuchten, kannst du sie im Ganzen essen, sie schmecken leicht bitter.«
Erfreut nahm er ihr das Bäumchen im Terracottatopf ab, und gemeinsam fanden sie einen Platz neben den großen Tontöpfen mit Lavendel, die mit weiteren Pflanzkübeln die großzügige Terrasse schmückten.
Anschließend gingen sie ins Esszimmer, wo er bereits den ovalen Tisch aus Walnussholz gedeckt hatte. Sandfarbene Leinenvorhänge bauschten sich leicht im sanften Wind, der sich durch die geöffnete Terrassentür hereinstahl. Raymond zündete die grauen Kerzen in den gläsernen Leuchtern auf dem Tisch an und bat Danielle, sich zu setzen. Auf ihrem Teller aus wertvollem cremefarbenen Bone-China-Porzellan lag eine dunkelrote Rose. Anschließend verschwand er kurz und kam gleich darauf mit zwei Salattellern zurück.
Danielle erkannte Feigenscheiben, geröstete Pinienkerne, frischen grünen Spargel und Avocadostückchen. Violettblaue Stiefmütterchen-Blüten dekorierten das Ganze. Ihr knurrte der Magen und sie griff als Erstes nach den gerösteten Baguettescheiben, die in einem Körbchen bereitstanden. Sie wusste, dass Ray das Baguette ganz frisch von seinem Lieblingsbäcker auf dem Markt in der Altstadt holte.
Er führte sie zum Stuhl und schob ihn ihr galant hin, sodass sie sich nur sanft niederzulassen brauchte. Damit sie es noch bequemer hatte, streifte sie ihre obligatorischen Sabots von den Füßen, heute hatte sie khakigrüne Wildleder-Sabots mit einem Absatz von acht Zentimetern an. In den von ihr besonders geliebten Holzclogs ging sie vorzugsweise barfuß. So berührte sie jetzt mit den nackten Fußsohlen das im Fischgrät-Muster verlegte, angenehm glatte Eichenholzparkett.
Sie nahm eine Portion von dem appetitanregend aussehenden Salat und genoss dabei jeden Bissen. »Ray, deine Salatsoße ist wie immer genial. Die frische Kresse und der Feldsalat schmecken so viel besser als im Supermarkt. Hast du die auch auf dem Markt gekauft?«
Er nickte erfreut.
»Mein Feinschmecker, ich werde so verwöhnt von dir!«
»Weil ich dich liebe!« Dabei hob er sein Glas Weißwein, um das Gesagte zu unterstreichen.
Danielle wurde selten rot, aber Raymond schaffte es immer wieder. »Womit, mon cher, hab ich dich bloß verdient? Bitte stell mich nicht auf einen Sockel, von dem ich leicht abstürzen könnte. Ich bin Danielle Tisserand, eine Frau aus Fleisch und Blut, mit Fehlern und Macken.« Sie blickte verlegen in ihr Glas.
IhrPapa hatte ihre Mutter Céleste sehr geliebt, ihr das jedoch nicht oft genug kommuniziert. Vor Kurzem hatte er seinen Töchtern gesagt, dass er das viel öfter hätte tun sollen. Dabei hatte er traurig in die Weite gesehen.
»Dani, bitte lass mir doch meine Liebesbezeugungen. Wenn ich meine Traumfrau an meinem Tisch sitzen habe, dann möchte ich das auch zelebrieren!«
Sie nickte nur, Worte fand sie in diesem Moment keine.
Raymond nahm die Salatteller vom Tisch und trug sie in die angrenzende Küche, die er mit sicherem Geschmack in High-End-Quality hatte einrichten lassen. Fünf Minuten später kam er mit einem chromglänzenden Servierwagen zurück, auf dem Pfannen und Töpfe standen. Geschickt richtete er den Hauptgang auf den großen Tellern an. »Thymian-Hähnchen mit Honig und etwas Knoblauch, dazu Fächerkartoffeln und Frühlingsgemüse. Magst du das, mon ange, mein Engel?«
Danielle machte sich über die Leckereien her und Raymond freute sich an ihrer Lust am Essen.
Zum Dessert hatte er sich etwas Besonderes einfallen lassen: Caramels au beurre salé, Salzbutter-Karamellen. Die Bonbons in Herzform schmeckten süß und salzig zugleich und waren genau nach Danielles Geschmack.
»Waouh, das habe ich noch nie gegessen! Und das will was heißen bei mir, die ich nach Desserts verrückt bin.« Sie sah ihn verzückt an.
Das Essen war ein Vorgeschmack auf das Liebesfest, das er ihr am späteren Abend noch bereitete. Raymond war ein gefühlvoller und versierter Liebhaber, der zuallererst ihren Genuss im Sinn hatte.
Nun lag sie glücklich auf seiner verschwitzten Brust, die dunklen Haare kräuselten sich leicht, und sie atmete seinen Duft ein. Das war der Duft der Männlichkeit für sie, sein Odeur konnte sie richtiggehend betäuben, wenn er ihr zu nahe kam. Sie fragte sich bisweilen, ob diese magische Anziehungskraft wirklich Liebe war. Und ob sie diesen guten Mann überhaupt verdient hatte, sie, die zwar erfolgreiche, aber bescheidene Hauptkommissarin mit all ihren Eigenheiten.
Raymond hatte sich vor Kurzem ein breites Boxspringbett gekauft, sodass sie beide ausreichend Platz zum Schlafen hatten. Danielle war das gemeinsame Schlafen in einem Bett nicht gewohnt. Zum Einschlafen konnte sie nicht eng an ihn gekuschelt liegen. Deshalb gab sie ihm nun einen Gutenachtkuss und drehte sich auf die Seite. Zu ihrem Schrecken dachte sie an seine Mutter.
Der Start zwischen Mutter und Freundin des Sohnes war schwierig gewesen. Inés Labrousse hätte gerne eine Fabrikantentochter als Frau ihres einzigen Sohnes. Dass sie seiner maman nicht genügte, war der Grund dafür, dass sie ihm ihr Herz noch nicht ganz geöffnet hatte. Aber Raymond war es wert, dass sie mit sich ins Reine kam, denn sie hatte niemals gedacht, dass sie mit ihren 45 Jahren wieder eine große Liebe finden würde.
Irgendwann schreckte sie aus dem Schlaf. Träumte sie nun schon von Édith Piaf? Erklang da nicht das Lied »Mon manège a moi«? Nein, da war nichts.
Gerade als sie wieder in den Schlaf zurückglitt, hörte sie es erneut, diesmal penetranter. Ihr Handy klingelte, dämmerte es ihr. Sie nahm es in die Hand. Merde! Mist, es war erst 5.15 Uhr. Sie hätte gerne noch zwei weitere Stunden neben ihrem Liebsten genossen. Das Läuten hörte nicht auf, sie schlüpfte aus dem Bett und schlich ins Wohnzimmer.
Dienststellenleiter Vitoux war am Apparat. »Madame Tisserand, Sie müssen sofort kommen! Claire Dupuis und Hibou habe ich schon verständigt. Man hat im Estérel-Gebirge eine Leiche bei denverlassenen Glashütten von Maure Vieil gefunden.«
Die Nachtruhe war dahin, die Pflicht rief. Im Badezimmer lagen ihre Klamotten von gestern Abend, die sie sich rasch anzog. In diesem Moment kam Raymond ins Bad. Er sah verschlafen und dabei verdammt gut aus.
»Du wärst doch nicht einfach gegangen, ohne mir einen Kuss zu geben? War das der Ruf der Autorität? La Crim?«, fragte er und nahm sie in die Arme.
Sie verschmolz einen kurzen Moment mit ihm, genoss seinen Geruch und küsste ihn zärtlich. »Mon ami, ich wollte dich nicht aufwecken. Es ist noch so früh am Morgen.«
»Du darfst und sollst mich immer aufwecken, wenn es notwendig ist. Komm, lass mich dir schnell einen café au lait machen.«
Sie hatte sich auf den weiten Weg von Paris nach Cannes gemacht. Allah sei Dank war sie mit dem Flugzeug geflogen und hatte nicht die Neun-Stunden-Fahrt über 900 Kilometer auf sich nehmen müssen. Das wäre sie nie und nimmer alleine mit dem Auto gefahren. Sie hätte zwar Driss fragen können, der alles für sie tun würde. Aber er war lästig, immerzu wollte er sie anstarren und sowieso das tun, was Männer und Frauen taten. Aber mit ihm? Nein, in keinem Fall!
Sie war nicht prüde, und wenn ihre Mutter wüsste, mit wie vielen Männern sie schon geschlafen hatte, würde sie sofort auf den Gebetsteppich sinken. In Marokko sollte ein Mädchen als Jungfrau in die Ehe gehen, ihre Jungfräulichkeit für den Ehemann aufheben. Zum Glück lebte sie nicht in Marokko und auch nicht bei ihren Eltern. Ihren Vater konnte sie dennoch gut um den Finger wickeln, von Kindheit an. Er arbeitete viel und verdiente gut und bezahlte seiner einzigen Tochter alles, was sie sich wünschte. Leider war der Vater in den letzten Jahren immer weniger stolz auf seine schöne Tochter, sie sah es an seinem Blick. Sie war doch sein Ein und Alles gewesen, seine Prinzessin, die er auf Händen trug.
Immer öfter sprach er jetzt von Geschäftskollegen, von Söhnen anderer bekannter marokkanischer Familien, die passende Ehemänner für sie abgeben würden. Er wollte sie zu einer Heirat drängen. Ihre Mutter stieß in das gleiche Horn, sie tat sowieso immer, was ihr Ehemann sagte. Aimé schien es, als sei ihr die eigene Meinung abhandengekommen.
Das Studium an der »Conservatoire national supérieur d’art dramatique« in Paris hatte sie unbedingt machen wollen. Sie wusste bis heute nicht, wie sie die Aufnahmeprüfung geschafft hatte. Bestimmt waren Papas Finger auch da im Spiel gewesen. Ihre Schauspielkarriere war jedoch bis heute nicht zustande gekommen. Hin und wieder ergatterte sie sich eine kleine Rolle, doch berühmt und begehrt wurde man davon nicht – und leben konnte sie davon auch kaum. Weil ihre Eltern nicht mehr an sie als erfolgreiche Schauspielerin glaubten, versuchten sie nun, ihre Tochter durch einen Ehemann abzusichern.
In seltenen, wirklich verzweifelten Momenten fragte sich Aimé sogar selbst, ob ihr Leben in den richtigen Bahnen verlief. Diese Gedanken belasteten sie jedoch nicht allzu lange. Negatives schüttelte sie stets ab wie ein nasser Hund das Wasser. Die meiste Zeit war sie von sich selbst sehr angetan. Menschen, die nicht taten, was sie wollte, strafte sie mit Nichtbeachtung oder Wut, die in Schimpftiraden ausartete. Sie konnte sich nicht beherrschen, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Viele Frauen fanden sie arrogant, deswegen gab es fast keine Freundinnen an ihrer Seite. Wohingegen die Männer, vor allem, seit sie etliche Kilos abgenommen hatte, ihr folgten wie die Motten dem Licht. Und Aimé verstand es, Vorteile daraus zu ziehen.
Während des Studiums waren einige der Lehrer sehr angetan gewesen von ihr. Nicht wegen ihrer schauspielerischen Leistungen, sondern wegen ihrer Bereitschaft, mit ihnen ins Bett zu gehen. Das hatte die fabelhafte Jasmine natürlich nicht getan, in Jasmine Blanzacs Welt gab es nichts außer der Kunst des Schauspielens. Aimé hatte während der Ausbildung in ihrem Schatten gelebt. Auch in der Wohngemeinschaft waren alle von der langen Bohnenstange fasziniert gewesen. Sie selbst hatte Jasmine ja auch bewundert, das Phänomen, das alle Lehrer begeisterte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, auch so gelobt zu werden.
Und nun hatte Aimé sich erniedrigt, hatte Jasmine in Cannes aufgesucht, um sie um eine Rolle in ihrem neuen Film anzubetteln. Denn unter keinen Umständen wollte sie verheiratet werden. Aber Jasmine hatte gar nicht richtig zugehört. Okay, Aimé war unangemeldet erschienen und hatte Jasmine nach einem langen Drehtag überfordert. Aber war das ein Grund, Aimé zurückzuweisen? Und das, wo Jasmine doch wusste, wie empfindlich Aimé da reagierte.
Aimé war so wütend gewesen, dass sie am nächsten Tag aus Rache die Presse angerufen und ihr mitgeteilt hatte, sie könne heikle Informationen zum Filmstar Jasmine Blanzac geben. Der Reporter war prompt am Abend in ihr Hotel gekommen, und sie hatten sich an der Bar getroffen. Bevor sie ihre Infos preisgab, hatte sie die Gegenleistung verkündet, die sie von ihm erwartete: einen wohlwollenden Artikel über sie, die Schauspielerin Aimé Raisuni, und eine Einladung zu mehreren Drinks an der Bar. Aimé hatte die Info sehr lange für sich behalten, denn der Reporter hatte ihr gefallen und sie hatte nicht nur den Abend, sondern auch die Nacht mit ihm verbringen wollen. Nachdem sie bekommen hatte, was sie wollte, erzählte sie ihm von Jasmines behindertem Bruder, den die Familie aus dem öffentlichen Rummel um Jasmine heraushalten wollte. Jasmine liebte ihren Zwillingsbruder über alles, sie würde alles für ihn tun. Und Aimé wusste, dass sie Jasmine damit am meisten verletzen konnte.
Aimé hatte Rémy kennengelernt, als er Jasmine mit seiner bäuerlichen Mutter in Paris besuchen kam. Das war nur ein einziges Mal geschehen. Rémy war ein anmutiger, attraktiver Mann mit dem Verstand eines Kindes. Die Mutter hatte bereitwillig erzählt, was ihm zugestoßen war.
Das Schicksal hielt doch immer wieder Karma bereit, auch für die, denen Erfolg, Bewunderung und Beliebtheit in den Schoß fielen. Das war ausgleichende Gerechtigkeit. Wie sehr sehnte sich Aimé nach dem Durchbruch, nach einem Triumph, damit ihr Vater wieder stolz auf sie sein konnte.
Der Bericht über Jasmines Zwillingsbruder war inzwischen in der Zeitung »Cannes Le Signal« erschienen, aber ganz anders, als Aimé es sich vorgestellt hatte. Jasmine wurde als liebende Schwester, der nichts über den Schutz ihres Bruders ging, noch weiter in den Himmel gehoben.
Der versprochene Beitrag über sie, Aimé, ließ auf sich warten. Aimé war nicht nur enttäuscht, sie war stocksauer. Sie würde zurück nach Paris fahren, Cannes schien nicht die Stadt zu sein, die sie mit offenen Armen empfing. Sie hatte alles versucht …
Kaum ein Auto war unterwegs, als Danielle sich an diesem 26. März auf den Weg zu ihrer Leiche machte. Die Sonne war gerade hinter ihr als aprikosenfarbene Scheibe über dem Horizont aufgestiegen und verwandelte das Meer in flüssiges Silber. Die Kommissarin fuhr zunächst an der Küste entlang, dann auf die A8, die Antibes und Cannes umging. Nach ungefähr 40 Minuten bog sie Richtung Mandelieu ab und folgte nach einer Weile dem Chemin de Maure Vieil.
Zum Glück hatte sie ein Navi, das sie sicher lenkte und ihr beim Start mitgeteilt hatte, dass sie etwa eine Stunde bis zum Ankunftsort brauchen würde. Also müsste sie bald da sein. Doch der unbefestigte Weg ins Estérel-Massiv durch das Vallon du Maupaswand sich durch die hoch aufragenden weißen, grauen und rötlichen Felsen und bremste ihre Geschwindigkeit.
Es war ein abgeschiedener Landstrich. Kein weiteres Auto war unterwegs, und Danielle kam sich vor wie der letzte Mensch auf diesem Planeten. Nach einer Weile wurde der Belag der Straße zum Glück besser, ramponierter Teer, aber immerhin.
Das Küstengebirge Massif de l’Estérelerstreckte sich zwischen Cannes und Saint-Raphaël. Raymond hatte Danielle einmal bei einem Segeltörn, der an dieser Küste vorbeiging, erzählt, dass hier Vulkane vor rund 66 Millionen Jahren aus dem Erdinneren Magma an die Oberfläche entlassen und so diese atemberaubende Landschaft gestaltet hatten. Auf den Bergrücken wuchsen beeindruckende Schirmpinien und Korkeichen und die Macchie blühte, das typisch mediterrane immergrüne Gebüsch wie Ginster und Zistrosen. An heißen Tagen verbreiteten wilder Knoblauch, wilder Thymian, Wacholder und Rosmarin den unverwechselbaren Duft, den es nur hier gab.