Die Schöne von nebenan - Nina Kayser-Darius - E-Book

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Nina Kayser-Darius

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Beschreibung

Notarzt Dr. Winter ist eine großartige neue Arztserie, in der ganz nebenbei auch das kleinste medizinische Detail seriös recherchiert wurde. In der Klinik wird der Chefarzt der Unfallchirurgie mit den schwierigsten, aufregendsten Fällen konfrontiert, die einem Notarzt begegnen können. Im Leben des attraktiven jungen Arztes gibt es eigentlich nur ein Problem: Seine große Liebe bleibt ganz lange unerfüllt. Die Liebesgeschichte mit der charmanten, liebreizenden Hotelmanagerin Stefanie Wagner sorgt für manch urkomisches, erheiterndes Missverständnis zwischen diesem verhinderten Traumpaar. »Schön langsam, Cora!« rief Karl Zapfmann seiner munteren Dackeldame zu. »Du weißt, daß ich nicht mehr der Schnellste bin. Du bist bedeutend jünger als ich, vergiß das bitte nicht!« Aber Cora war an diesem Morgen nicht zu bremsen. Es war schönes Wetter, die Welt war voller interessanter Hunde, die alle beschnüffelt werden wollten, und auch die anderen Gerüche, die ihr in die feine Nase stiegen, waren so verlockend, daß sie kaum auf ihr Herrchen hörte. Sie war sonst eigentlich sehr gehorsam, aber manchmal ging ihre Lebenslust mit ihr durch. So war es heute, und sie zog den fünfundsiebzigjährigen Karl Zapfmann unerbittlich mal hierhin, mal dorthin. Er kam bereits ins Schwitzen. Wirklich, was dachte sich dieser Hund, ihn in den frühen Morgenstunden bereits so durch die Gegend zu hetzen? Er hatte noch nicht einmal gefrühstückt, weil Cora es nach einer langen Nacht immer besonders eilig hatte, nach draußen zu kommen. Sie verbanden deshalb ihren ersten Spaziergang des Tages mit einem Besuch beim Bäcker. Dort waren sie zum Glück schon gewesen, jetzt näherten sie sich langsam wieder dem kleinen Haus, in dem er wohnte. Der neue weiße Anstrich war weithin sichtbar, und er war froh, daß er sich zu der Verschönerungskur entschlossen hatte. Es sah gut aus, und die leuchtendblauen Fensterläden kamen jetzt viel besser zur Geltung. Ja, er liebte sein kleines Haus sehr – sein Haus und seinen Garten, den Cora natürlich als ihr Revier betrachtete. Wehe, ein Unbekannter betrat ihn, dann wurde sie ganz wild und war überhaupt nicht wiederzuerkennen. Karl Zapfmann sah zum Himmel und fragte sich, ob er wohl auf seiner Terrasse würde frühstücken können. Für diesen Morgen war Regen angekündigt worden – aber vielleicht klappte es ja noch. Cora lief jetzt immer schneller – allerdings in eine Seitenstraße und keineswegs nach Hause – und er beschloß, nun doch durchzugreifen.

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Notarzt Dr. Winter – 11 –

Die Schöne von nebenan

Ihr Glück schien vollkommen

Nina Kayser-Darius

»Schön langsam, Cora!« rief Karl Zapfmann seiner munteren Dackeldame zu. »Du weißt, daß ich nicht mehr der Schnellste bin. Du bist bedeutend jünger als ich, vergiß das bitte nicht!«

Aber Cora war an diesem Morgen nicht zu bremsen. Es war schönes Wetter, die Welt war voller interessanter Hunde, die alle beschnüffelt werden wollten, und auch die anderen Gerüche, die ihr in die feine Nase stiegen, waren so verlockend, daß sie kaum auf ihr Herrchen hörte. Sie war sonst eigentlich sehr gehorsam, aber manchmal ging ihre Lebenslust mit ihr durch. So war es heute, und sie zog den fünfundsiebzigjährigen Karl Zapfmann unerbittlich mal hierhin, mal dorthin.

Er kam bereits ins Schwitzen. Wirklich, was dachte sich dieser Hund, ihn in den frühen Morgenstunden bereits so durch die Gegend zu hetzen? Er hatte noch nicht einmal gefrühstückt, weil Cora es nach einer langen Nacht immer besonders eilig hatte, nach draußen zu kommen. Sie verbanden deshalb ihren ersten Spaziergang des Tages mit einem Besuch beim Bäcker.

Dort waren sie zum Glück schon gewesen, jetzt näherten sie sich langsam wieder dem kleinen Haus, in dem er wohnte. Der neue weiße Anstrich war weithin sichtbar, und er war froh, daß er sich zu der Verschönerungskur entschlossen hatte. Es sah gut aus, und die leuchtendblauen Fensterläden kamen jetzt viel besser zur Geltung. Ja, er liebte sein kleines Haus sehr – sein Haus und seinen Garten, den Cora natürlich als ihr Revier betrachtete. Wehe, ein Unbekannter betrat ihn, dann wurde sie ganz wild und war überhaupt nicht wiederzuerkennen.

Karl Zapfmann sah zum Himmel und fragte sich, ob er wohl auf seiner Terrasse würde frühstücken können. Für diesen Morgen war Regen angekündigt worden – aber vielleicht klappte es ja noch.

Cora lief jetzt immer schneller – allerdings in eine Seitenstraße und keineswegs nach Hause – und er beschloß, nun doch durchzugreifen. Er durfte sie nicht allzu sehr verwöhnen und ihr alles durchgehen lassen. »Cora!« rief er energisch und zog die Leine kürzer. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich nicht so schnell kann! Hast du das nicht gehört?« Er blieb stehen, und notgedrungen tat Cora es ihm gleich.

In diesem Augenblick kam ein Radfahrer um die Ecke geschossen, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, zu dieser frühen Stunde in einer ruhigen Wohnstraße von Berlin-Pankow schon jemandem zu begegnen. Er sah Herrchen und Hund erst in letzter Sekunde und versuchte noch auszuweichen, jedoch vergebens, denn er hatte die Leine zwischen beiden übersehen. Er verlor die Kontrolle über sein Rad und stellte sich zu allem Unglück auch noch äußerst ungeschickt an. Er riß also nicht nur Karl Zapfmann von den Beinen, sondern flog auch selbst in hohem Bogen vom Rad.

Laut aufjaulend rannte Cora auf ihr Herrchen zu und leckte ihm das Gesicht. Doch er sagte nichts, sondern stöhnte nur, so benommen war er. Und so lief sie zu dem anderen Mann, der ebenfalls stöhnend auf dem Asphalt lag. Aber auch dieser reagierte nicht auf ihre laut gebellte Aufforderung, schnellstens aufzustehen und sich um ihr Herrchen zu kümmern. Noch ein paarmal lief Cora jaulend und winselnd zwischen den beiden Männern hin und her, dann beschloß sie, Hilfe herbeizubellen.

Und so kam es, daß es in dieser sonst so ruhigen Wohnstraße Berlins an diesem Morgen ausgesprochen unruhig zuging.

*

»Könnte es sein, Adrian, daß du noch nicht ganz ausgeschlafen bist?« erkundigte sich die Internistin Dr. Julia Martensen bei ihrem herzhaft gähnenden Kollegen, dem Unfallchirurgen Dr. Adrian Winter.

Dr. Winter leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin, und Julia Martensen hatte nach längerer Zeit wieder einmal Dienst dort. Meistens arbeitete sie auf der Inneren Station. Sie freute sich auf die Zeit in der Notaufnahme, denn sie arbeitete gern mit Adrian zusammen. Er war viel jünger als sie, und um so mehr bewunderte sie seine Ruhe und Gelassenheit, die er vor allem im Umgang mit Patienten nie verlor. Sie selbst war sehr offen und sagte ihre Meinung immer ziemlich deutlich, was nicht jeder gut vertragen konnte, doch mit Adrian hatte sie deshalb noch nie Probleme gehabt. Er konnte auch mit Kritik gut umgehen, wenn sie ihm einleuchtend erschien.

Er war ein gutaussehender Mann von Mitte Dreißig, während sie selbst sich den Fünfzig näherte. Der Altersunterschied zwischen ihnen hatte ein gutes kollegiales, sogar freundschaftliches Verhältnis nicht verhindern können. Sie wußte das sehr zu schätzen, denn in anderen Abteilungen gab es durchaus Streit und Unstimmigkeiten, die sich negativ auf die Arbeit auswirkten.

»Esther war noch da gestern abend«, antwortete Adrian auf ihre Frage. »Frau Senftleben hatte uns beide zum Essen eingeladen, und du weißt ja, daß die Frau am liebsten die Nacht zum Tage machen würde. Je später es wird, desto munterer wird sie. Und ich habe völlig vergessen, auf die Uhr zu sehen, weil wir uns ausgesprochen gut unterhalten haben. Außerdem hatte sie wieder einmal einen hervorragenden Rotwein.« Er lächelte vielsagend.

Julia erwiderte sein Lächeln. Sie konnte sich den Verlauf des Abends lebhaft vorstellen. Esther war Adrians Zwillingsschwester, die ebenfalls Medizin studiert hatte – sie arbeitete als Kinderärztin an der Charité. Sie war viel quirliger und temperamentvoller als ihr ruhiger Bruder, und sie hatte sicherlich eine Menge zu erzählen gehabt, denn die beiden sahen sich nicht allzu oft. Ihr anstrengendes Berufsleben ließ das einfach nicht zu.

Frau Senftleben war Adrians Nachbarin, eine sehr interessante und liebenswürdige ältere Dame, die für ihr Leben gern kochte.

Adrian aß öfter bei ihr als bei sich zu Hause – und diese Regelung war ihnen beiden nur allzu recht. Carola Senftleben aß lieber in Gesellschaft, und das galt auch für Adrian. Außerdem kochte er nicht besonders gern, aber er liebte die Küche seiner Nachbarin…

»Ich habe also einfach zu wenig geschlafen, mehr gegessen als nötig und wahrscheinlich zwei Gläser Rotwein zuviel getrunken«, stellte Adrian fest. »Aber da ich außerordentlich gut gelaunt ins Bett gegangen bin, geht es mir heute morgen nicht besonders schlecht. Die Müdigkeit verfliegt sicher, sobald hier die übliche Hektik ausgebrochen ist.«

Wie aufs Stichwort erschien Schwester Monika und rief: »Wir bekommen Arbeit! Ein alter Mann ist von einem Radfahrer angefahren worden, beide sind verletzt. Sie werden jeden Augenblick hier sein.«

»Der Radfahrer ist auch verletzt?« vergewisserte sich Adrian, während er bereits mit Julia zu einer der Notfallkabinen lief, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

»Ja, er hat den alten Mann zuerst umgefahren und ist dann auch selbst noch in hohem Bogen auf die Straße geflogen. Er muß ziemlich schnell gefahren sein. Außerdem hatte der alte Mann einen Hund bei sich, und der Radfahrer hat die Leine nicht gesehen…«

»Als gäbe es nicht ohnehin schon genug Unfälle«, seufzte

Adrian. »Da müssen die Leute auch noch unvernünftig und unachtsam sein. Hoffentlich sind die Verletzungen nicht so schlimm.«

Die Türen der Notaufnahme wurden aufgestoßen, und zwei Sanitäter brachten im Laufschritt einen älteren Mann herein, der sehr blaß war, aber die Augen geöffnet hielt. »Das ist Karl Zapfmann, der von dem Radfahrer umgefahren worden ist«, berichtete einer der Männer. »Er ist fünfundsiebzig Jahre alt, hat eine Kopfverletzung, Prellungen und Schürfwunden – und eine Hand ist verstaucht, vielleicht auch gebrochen. Wir bringen jetzt noch den Radfahrer, der hat eine leichte Gehirnerschütterung.«

»Wo ist Cora?« fragte der Patient leise. »Bitte, ich muß wissen, wo sie ist!«

Fragend sah Adrian auf die beiden Sanitäter, die sich bereits wieder zum Gehen gewandt hatten. »Cora ist sein Dackel, der so lange gebellt hat, bis jemand Hilfe geholt hat. Er kann von Glück sagen, daß das Tier keine Ruhe gegeben hat. Um die Zeit schlafen viele Leute noch. Das hätte ganz schön lange dauern können, bis ihn jemand gefunden hätte.«

»Und wo ist der Hund jetzt?« fragte Adrian.

»Bei einem von den Nachbarn. Die haben sofort gesagt, sie kümmern sich um ihn, bis Herr Zapfmann wieder nach Hause kommt.«

»Haben Sie das gehört, Herr Zapfmann?« fragte Adrian. »Sie müssen sich um Ihren Dackel keine Sorgen machen. Er ist bei Ihren Nachbarn gut untergebracht.«

Der alte Mann sagte nichts mehr, aber Adrian hatte nicht den Eindruck, daß er wirklich beruhigt war.

Julia Martensen hatte bereits angefangen, den Patienten zu untersuchen. Vorsichtig hatte sie seinen Bauch abgetastet, und jetzt untersuchte sie die Prellungen und Schürfwunden an seinen Armen, während Adrian die Kopfwunde näher betrachtete.

»Die muß genäht werden«, stellte er fest. »Und zur Vorsicht möchte ich, daß wir Ihren Kopf röntgen lassen, Herr Zapfmann. Es kann sein, daß Sie eine leichte Gehirnerschütterung haben, dann müssen Sie ein paar Tage das Bett hüten.«

»Aber…«, begann der Patient, doch Adrian unterbrach ihn mit seinem freundlichsten Lächeln.

»Kein ›aber‹, Herr Zapfmann. Wir sind für Ihre Gesundheit verantwortlich. Wenn wir nicht alles tun, um Ihnen zu helfen, machen wir uns strafbar. Zunächst einmal untersuchen und behandeln wir Sie – und danach denken wir über Cora nach und darüber, ob sie es ohne Sie aushalten kann. In Ordnung?«

Das Lächeln auf Karl Zapfmanns Gesicht war breit und so hell wie die aufgehende Sonne. Dieser junge Arzt war genau richtig, er hatte sofort verstanden, worum er sich Sorgen machte. »In Ordnung, Chef!« sagte er.

Adrian und Julia wechselten einen amüsierten Blick und setzten ihre Arbeit fort, bis der junge Mann hereingebracht wurde, der für den Unfall verantwortlich war.

»Till Kröger, neunzehn Jahre«, sagte einer der Sanitäter. »Kaum sichtbare Verletzungen, aber vermutlich Gehirnerschütterung.«

Sie dankten den Männern, die die Notaufnahme sofort wieder verließen, um zu ihrem nächsten Einsatz zu fahren. Julia ließ Adrian mit Karl Zapfmann allein und kümmerte sich um den neuen Patienten. Er war sehr blaß, sehr still und klagte über heftige Kopfschmerzen.

»Ich fahre mit ihm zum Röntgen, Adrian«, erklärte sie. »Oder brauchst du mich im Augenblick?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich komme gut klar.«

Sie schob die Liege mit dem jungen Mann zum Aufzug und verschwand, während Adrian vorsichtig die Wunde an Karl Zapfmanns Kopf behandelte. Seine Müdigkeit war verflogen, genau wie er es vorhergesehen hatte. Jetzt dachte er an nichts anderes mehr als an seine Arbeit in der Notaufnahme.

*

Jessica Stolberg fühlte sich überfordert damit, gleichzeitig die Männer der Umzugsfirma mit den Möbeln in die richtigen Zimmer zu dirigieren und auf ihre kleine Tochter Nicole aufzupassen, die erst drei Monate alt war, aber sie tat ihr Bestes. Wenn Alexander nach seinem allerersten Arbeitstag in Berlin abends nach Hause kam, dann wollte er natürlich nicht, daß überall noch großes Chaos herrschte, aber sie wußte beim besten Willen nicht, wie sie bis dahin auch nur einigermaßen Ordnung schaffen sollte.

Sie hatten nicht früher umziehen können, obwohl es besser gewesen wäre, weil Alex seine Stelle antreten mußte. Doch die Vormieter waren zu spät ausgezogen, und dann hatten die Renovierungsarbeiten länger gedauert als geplant, so daß sich zum Schluß die Termine wirklich gedrängt hatten. Zu guter Letzt war nun also Alex’ erster Arbeitstag zugleich auch ihr Umzugstag – das nannte man schlechte Planung, aber es war einfach nicht zu ändern gewesen.

Jessica kannte niemanden in Berlin, und deshalb mußte sie den Umzug auch allein bewältigen – natürlich nicht ganz allein, denn sie hatten ja eine Firma beauftragt, also mußte sie nichts selbst schleppen. Aber sie allein war dafür verantwortlich, daß später alles an der richtigen Stelle stand. Außer den Männern von der Speditionsfirma war niemand da, der ihr geholfen hätte.

Ja, wenn sie noch in Freiburg gewesen wäre, wo alle ihre Freundinnen und Freunde lebten – da wäre der Umzug zu einem richtigen Fest umgestaltet worden. Aber Freiburg war weit weg, und ihr früheres Leben war es auch. Jetzt war sie eine verheiratete Frau von vierundzwanzig Jahren mit einer kleinen Tochter, und ihre Zukunft lag nicht länger verheißungsvoll vor ihr, sondern eher wie eine dumpfe Bedrohung. Unwillig über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich düsteren Gedanken hinzugeben.

»Halt!« rief sie. »Das Bett bitte in dieses Zimmer!«

»Aber ich dachte, das Schlafzimmer ist dort!« sagte einer der kräftigen Männer, die gerade die Treppe heraufgekeucht waren, verwundert.

»Eines der Schlafzimmer«, erwiderte Jessica kurz angebunden. »Hierher bitte. Ja, ganz da an die Wand. Genauso.«

Von unten drang leises Gegreine nach oben, und sie rannte die Treppe hinunter. »Nicky, was ist denn los?« flüsterte sie. »Nun wein doch nicht schon wieder. Ich weiß ja, daß es heute ein bißchen ungemütlich ist, aber du wirst sehen, wie schön wir es bald haben werden.«

Das Kind beruhigte sich sofort, und sie nahm es auf den Arm. Sacht schaukelte sie es hin und her und ging mit ihm zu einem der Fenster. »Guck doch mal, wie schön es hier ist«, sagte sie. »Eine ganz ruhige Straße mit lauter kleinen Häusern – man glaubt gar nicht, daß wir hier in einer riesengroßen Stadt sind. Und hier ist

alles grün, siehst du das? Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir!«

Die kleine Nicole hörte ihr aufmerksam zu und gab leise Schmatzgeräusche von sich. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.

»Wohin kommt der Tisch, junge Frau?« erkundigte sich einer der Möbelpacker.

Schweigend wies sie auf das große Wohnzimmer, vor dem sie standen, und er grinste erleichtert, daß sein Kollege und er nicht schon wieder die enge Treppe hochsteigen mußten. »Eine Stunde noch, dann sind wir fertig, schätze ich«, sagte er.

Sie nickte erfreut. Sie sehnte sich danach, allein zu sein mit ihrer kleinen Tochter und ganz in Ruhe durch dieses Haus zu laufen, in dem sie die nächsten zwei Jahre wohnen würde. Zwei Jahre Schonfrist, dachte sie. Und was mache ich dann?

Sie entdeckte einige ältere Leute auf der Straße, die zusammenstanden und über etwas diskutierten, das sie offenbar sehr aufregte. Einer der Männer wies zu einer Ecke und beschrieb mit den Armen eine Kurve bis zu der Stelle, an der er jetzt stand.

Sie fragte sich, was die Leute wohl so erregte, aber zugleich beruhigte es sie, ihnen zuzusehen. Hier ist es auch nicht anders als in Freiburg, dachte sie. Vielleicht habe ich Glück, und die Nachbarn sind nett. Vielleicht wohnt sogar irgendwo eine junge Frau, mit der ich mich anfreunden kann. Das wäre schön.

Jessica sah fast aus wie ein

Teenager, wie sie da am Fenster stand. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, wodurch ihre niedliche Stupsnase noch betont wurde, aber es waren die dunkelblauen Augen, die das feine Gesicht beherrschten. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, was ihr bei ihrer schmalen Figur gut stand und viel dazu beitrug, daß sie ganz besonders jung wirkte.