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Die Sammlung 'Die schönsten Kinderbücher (Illustriert)' vereint die herausragenden Werke einiger der berühmtesten Autoren der Kinderliteratur in einem Band. Mit einer spannenden Mischung aus Abenteuer, Magie und moralischen Lehren spiegeln die Geschichten von Mark Twain, Jules Verne und ihren Zeitgenossen die Vielfalt literarischer Stile und erzählerischer Tiefe wider. Die Bandbreite der enthaltenen Genres reicht von fantasievollen Erzählungen wie Lewis Carrolls 'Alice im Wunderland' bis hin zu sozialkritischen Werken wie Harriet Beecher Stowes 'Onkel Toms Hütte', jeweils bereichert durch liebevolle Illustrationen, die die Texte lebendig werden lassen. Der kulturelle und historische Kontext, in dem diese Autoren schrieben, war geprägt von gesellschaftlichen Veränderungen und literarischer Innovation. Die Autoren dieser Sammlung, darunter auch Selma Lagerlöf und Carlo Collodi, teilten ein gemeinsames Ziel: die Erziehung und Unterhaltung junger Leser durch literarische Kunst. Ihre Werke, tief verwurzelt in den literarischen Traditionen ihrer Zeit, bieten nicht nur spannende Geschichten, sondern auch tiefe Einblicke in die Kulturen und Epochen, die sie repräsentieren. Diese Anthologie lädt Leser jeden Alters ein, sich in die Welt der klassischen Kinderliteratur zu vertiefen. 'Die schönsten Kinderbücher (Illustriert)' bietet eine einzigartige Gelegenheit, durch eine Vielfalt von Geschichten, Charakteren und moralischen Botschaften zu reisen. Dieser Band dient nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Bildung, indem er die Welt durch die Augen verschiedenster Charaktere betrachtet und den interkulturellen Dialog fördert.
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Books
Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten
In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.
Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungernein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäre er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: "Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben."
Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: "Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!"
Die Wöchnerin streckte die Hand nach ihrem Kinde aus, der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küßte es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück – und starb.
"Sie hat ausgerungen", sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. "Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein." Er zog bedächtig seine Handschuhe an. "Ihr könnt ihm dann ein wenig Haferschleim geben." Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte: "Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?"
"Sie wurde gestern abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert", antwortete die alte Frau. "Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muß weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand."
Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.
"Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte", sagte er kopfschüttelnd, "kein Trauring. Na! Gute Nacht!"
Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden.
In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebensogut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, das durch langjährige Benutzung gelb geworden war, trug er Zeichen und Abzeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttieres, das von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt geknufft und gepufft wird.
Oliver schrie laut und kräftig; hätte er wissen können, daß er eine Waise war und der zärtlichen Fürsorge von Kirchen- und Armenvorstehern ausgeliefert, so hätte er vielleicht noch lauter geschrien.
Handelt davon, wie Oliver Twist heranwuchs, erzogen und ernährt wurde
In den ersten acht oder zehn Monaten war Oliver das Opfer eines systematischen Betrugs und einer unausgesetzten Gaunerei. Er wurde nämlich aufgepäppelt. Die Armenhausbehörde meldete den ausgehungerten und elenden Zustand des Waisenkindes pflichtschuldigst an den Gemeindevorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich "in dem Hause" keine Frauensperson befände, die in der Lage sei, dem kleinen Oliver Twist die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die untertänige Antwort der Armenhausbehörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeindevorstand den hochherzigen und menschenfreundlichen Entschluß faßte, Oliver in einem fünf Kilometer entfernten Filialarmenhaus unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne von Kleidung und Nahrung allzusehr belästigt zu werden. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich sieben und einem halben Pence für den Kopf auf, und damit läßt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar zu, den Magen zu überladen und das Kind krank zu machen. Die alte Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wußte, was für Kinder – und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.
Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Philosophen, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, die ein Pferd befähigte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, daß er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte und auch ohne Zweifel ein sehr mutiges, feuriges und gar nichts fressend des Tier aus ihm gemacht hätte, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tage krepiert wäre, wo es sich zum ersten Male ausschließlich von der Luft ernähren sollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Oliver Twist anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teile der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht-, bis neunmal in zehn Fällen vor, daß es an Hungertyphus erkrankte, oder sich verbrannte oder einen schweren Fall tat, lauter Zufälligkeiten, durch die das bedauernswerte kleine Wesen in eine andere Welt abgerufen und zu den Vätern versammelt wurde, die es in dieser nicht gekannt hatte.
Man kann nicht erwarten, daß diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeitigte. Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch, dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstande zuzuschreiben, daß er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tage wurde Frau Mann, die würdige Vorsteherin der Anstalt durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Bumble, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.
"Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Bumble?" rief Frau Mann, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.
"Susanne, hole rasch den Oliver und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. – Ach, wie mich das freut, Herr Bumble. Freue mich wirklich, Sie mal wiederzusehen"
Herr Bumble war ein dicker und außerdem jähzornige Mann und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.
"Mein Gott", sagte Frau Mann hinauseilend – denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden – "daß ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie näher, Herr Bumble, bitte kommen Sie rein."
Obgleich diese Einladung mit einer Liebenswürdigkeit vorgebracht wurde, die sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht, hätte, besänftigte sie den Gemeindediener durchaus nicht.
"Ist es etwa ein geziemendes und höfliches Benehmen, Frau Mann", fragte Herr Bumble, "die Gemeindebeamten am Gartentor stehen zu lassen, wenn sie in Angelegenheiten, die die Gemeindewaisen betreffen, hierher kommen?'
"Glauben Sie mir, ich war gerade dabei, den lieben Kindern zu erzählen, daß Sie kämen", erwiderte Frau Mann unterwürfig.
Herr Bumble hatte eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und seiner Wichtigkeit. Die eine hatte er entfaltet und die andere geltend gemacht. Er wurde dadurch milde gestimmt.
"Schon gut, Frau Mann", entgegnete er in sanfterem Tone, "ich will es Ihnen glauben. Gehen Sie nur voran, Frau Mann, ich komme dienstlich und habe Ihnen etwas auszurichten."
Frau Mann führte den Gemeindediener in ein kleines Zimmer, holte einen Stuhl herbei und nahm ihm dienstbeflissen den dreieckigen Hut und seinen Stock ab. Sie legte beides auf den Tisch vor ihm. Herr Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte wohlgefällig auf den dreieckigen Hut. Dann lächelte er. Tatsächlich, er lächelte. Gemeindediener sind auch nur Menschen, und Herr Bumble lächelte.
"Nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen jetzt sage", bemerkte Frau Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit, "aber Sie haben einen weiten Spaziergang gemacht, darf ich Ihnen mit einem Gläschen aufwerten, Herr Bumble?"
"Nicht einen Tropfen, nicht einen!" erwiderte Herr Bumble und wehrte mit seiner rechten Hand würdevoll, aber nicht unfreundlich ab.
"Sie dürfen's mir nicht abschlagen", sagte Frau Mann, der der Ton seiner Weigerung und die ihn begleitende Gebärde nicht entgangen war. "Nur ein kleines Gläschen mit ein wenig kaltem Wasser und 'nem Stückchen Zucker." Herr Bumble hustete.
"Nur einen Tropfen!" fuhr Frau Mann im überredenden Tone fort.
"Was ist es denn?" fragte der Gemeindediener.
"Nun, es ist etwas, von dem ich immer einen kleinen Vorrat haben muß, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind", versetzte Frau Mann, indem sie einen Eckschrank öffnete und eine Flasche nebst Glas zum Vorschein brachte. "Es ist Wachholder."
"Den geben Sie den Kindern mit dem Kaffee, Frau Mann?" fragte er, dabei mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgend.
"Ja, der liebe Gott weiß es, ich tu's, so teuer er auch ist. Sie wissen ja, mein Herr, daß ich sie nicht vor meinen Augen leiden sehen könnte!'
"Nein", sagte Herr Bumble, "nein, das könnten Sie nicht. Ich weiß, daß Sie eine menschlich denkende Frau sind, Frau Mann" (hier setzte sie ihm das Glas hin), "ich werde bei passender Gelegenheit den Gemeindevorstand besonders darauf aufmerksam machen." (Er zog das Glas näher an sich.) "Sie fühlen wie eine Mutter" (er hob das Glas), "ich – mit Vergnügen trinke ich auf Ihre Gesundheit, Frau Mann", damit trank er das Glas zur Hälfte leer.
"Doch nun zu unserm Geschäft!" rief der Gemeindediener, indem er eine lederne Brieftasche herauszog. "Das mit der Nottaufe versehene Kind Oliver Twist ist heute neun Jahre alt geworden."
"Gott segne ihn!" fiel Frau Mann ein und rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihr linkes Auge rot.
"Und trotz der angebotenen Belohnung von zehn Pfund, die nachher auf zwanzig erhöht wurde, trotz der äußersten – ich möchte fast sagen übernatürlichen – Anstrengungen seitens der Gemeinde sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater oder die Heimat, noch den Namen und den Stand seiner Mutter ausfindig zu machen."
"Wie kommt es aber, daß er überhaupt einen Namen hat?" fragte Frau Mann.
Der Gemeindediener warf sich in die Brust und entgegnete: "Den habe ich erfunden!"
"Sie, Herr Bumble?"
"Jawohl. Wir geben unsern Findlingen Namen nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – ich taufte ihn Swubble. Dieser war ein T – ich benannte ihn Twist."
"Sie sind ja ein wahrer Gelehrter, Herr Bumble."
"Vielleicht", sagte der Gemeindediener geschmeichelt, "kann sein, Frau Mann. – Oliver ist nun zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurückzunehmen,.und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her."
"Ich werde ihn sofort holen", sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, so weit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.
"Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver", sagte Frau Mann.
Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tische.
"Willst du mit mir gehen, Oliver?" fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.
Oliver wollte gerade sagen, daß er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, daß ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.
"Wird sie auch mitgehen?" fragte der arme Junge.
"Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen", sagte Herr Bumble.
Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlich überstandene Mißhandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhuse ankäme. Unnötig zu sagen, daß ihm das Butterbrot leber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf vereließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.
Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Jnge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald "da" seien.
Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, daß heute abend eine Vorstandssitzung sei, und daß er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.
Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wußte deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.
"Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!" sagte Bumble, und Oliver tat es.
"Wie heißt du, Junge?" fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.
Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, daß er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.
"Junge!" sagte der Vorsitzende, "du weißt doch, daß du eine Waise bist?"
"Was ist das?" fragte der arme Kerl.
"Du weißt doch, daß du keinen Vater und keine Mutter hast und daß du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?"
"Jawohl, Herr", erwiderte Oliver, bitterlich weinend.
"Warum heulst du?" fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.
"Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt", fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.
"Ja, Herr", stotterte der Junge.
"Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst", sagte der Vorsitzende.
"Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen", fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.
Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.
Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, daß jene Männer am selben Tage einen Entschluß gefaßt hatten, der den größten Einfluß auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.
Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, daß es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten –, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.
"Oho", sagten die Gemeinderäte, "das muß anders werden, und zwar sofort." Sie setzten daher als Richtlinie fest, daß die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterhen. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.
Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.
Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.
Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:
"Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr."
Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blaß und mußte sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: "Was?"
"Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!"
Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Oliver bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener.
Der Verwaltungsausschuß hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Bumble aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:
"Verzeihung, Herr Limbkins! Oliver Twist hat mehr haben wollen!"
Alle waren starr.
"Mehr?" fragte Herr Limbkins. "Nehmen Sie sich zusammen, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, daß er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil erhalten hatte?"
"Jawohl, Herr!"
"Der Junge wird am Galgen enden", sagte der Herr mit der weißen Weste. "Ich bin ganz sicher, daß der Bursche dereinst gehängt wird!"
Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Nach kurzer Beratung wurde Oliver eingesperrt. Am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an das Tor geklebt, der jedem, der Oliver der Gemeinde abnähme, eine Summe von fünf Pfund verhieß. Mit anderen Worten, Oliver Twist wurde nebst fünf Pfund jedem Mann oder jeder Frau – wer eben einen Lehrling oder einen Laufburschen brauchte – angeboten.
Berichtet, wie Oliver Twist dicht daran war, eine Stellung zu bekommen, die keine Sinekure gewesen wäre
Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, eisamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Alle Augenblicke aber fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche.
Nun begab es sich, daß eines Morgens der Schornsteinfegermeister Gamfield die Landstraße entlangzog. Er dachte darüber nach, wie er gewisse Mietsrückstände, um die ihn sein Hauswirt ziemlich energisch gemahnt hatte, bezahlen solle. Er wußte nicht, wie er die ihm fehlenden fünf Pfund herbeischaffen könnte, und marterte damit bald sein Gehirn, bald den Kopf seines Esels. Da fiel ihm plötzlich der Anschlag ins Auge, als er beim Armenhause vorbeikam.
"Halt!" sagte der Meister zu dem Esel, doch dieser, ebenfalls in tiefes Sinnen versunken, trabte, ohne auf den Befehl seines Herrn zu achten, ruhig weiter. Gamfield fluchte wie ein Heide und versetzte dem Esel einen Schlag auf den Kopf, daß dieser halb betäubt war und stillstand. Dann begann der Meister aufmerksam den Anschlag zu lesen.
Der Herr mit der weißen Weste stand, die Hände auf dem Rücken, am Tore. Er hatte dem kleinen Streit zwischen Gamfield und seinem Esel gespannt zugeschaut und lächelte gutgelaunt. Gamfield lächelte gleichfalls, als er das Schriftstück durchgelesen hatte, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was die Beigabe des Jungen anbelangt, so wußte der Meister, der die Armenhauskost kannte, daß es sich nur um ein ziemlich schmächtiges Menschenexemplar handeln könnte. Er buchstabierte also den Anschlag nochmals von Anfang bis zu Ende durch und redete dann den Herrn mit der weißen Weste an, indem er gleichzeitig grüßend die Hand an seine Pelzmütze legte:
"Diesen Jungen hier will also die Gemeinde als Lehrling vergeben?"
"Ja, lieber Freund", erwiderte der Herr mit der weißen Weste leutselig, "warum?"
"Wenn die Gemeinde ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk lernen lassen will, so möchte ich mein Schornsteinfegergeschäft empfehlen", entgegnete der Meister. "Ich brauche einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen!"
"Kommen Sie rein", sagte der Herr mit der weißen Weste.
Gamfield folgte diesem in das Sitzungszimmer und trug Herrn Limbkins seinen Wunsch vor.
"Es ist ein schmutziges Handwerk, man hat auch erlebt, daß Jungens in den Schornsteinen erstickt sind", meinte Limbkins.
"Dies kommt daher", versetzte Gamfield, "daß man das Stroh anfeuchtete, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen. Es gab nur Rauch aber kein Feuer. Rauch hat aber keinen Zweck, denn er veranlaßt einen Jungen nicht runterzukommen, er macht ihn nur schläfrig, und das ist es ja gerade, was solch ein Bursche will. Jungen sind faul und widerspenstig, meine Herren, und ein schönes, heißes Feuer das beste, um sie im Galopp herunterzubringen. Es ist auch ein humanes Mittel, meine Herren, denn wenn einer im Schornstein steckenbleibt und sich die Füße verbrennt, dann tut er schon selbst alles mögliche, um sich aus dieser Lage zu befreien.`
Die Vorstandsmitglieder berieten sich einige Minuten, dann verkündete Herr Limbkins:
"Wir haben Ihren Vorschlag überlegt, können aber nicht drauf eingehen."
"Ganz und gar nicht", sagte der Herr mit der weißen Weste.
"Entschieden nicht", fügten die andern Vorstandsmitglieder hinzu.
"So soll ich ihn also nicht haben, meine Herren?" fragte Gamfield.
"Nein", antwortete Herr Limbkins, "oder Sie müßten mit einer kleineren Summe zufrieden sein, da es doch ein zu schmutziges Handwerk ist."
"Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie nicht zu hart gegen einen armen Mann!"
"Nun, ich meine, drei Pfund und zehn Schillinge wären genug", sagte Herr Limbkins.
"Schon zehn Schilling zuviel", bemerkte der Herr mit der weißen Weste.
"Also, sagen wir vier Pfund, meine Herren", versetzte Gamfield, "und Sie sind den Jungen für immer los. Vier Pfund, das ist anständig."
"Drei Pfund und zehn Schillinge", wiederholte Herr Limbkins unbeugsam.
"Wir wollen die Differenz teilen, meine Herren, drei Pfund und fünfzehn Schillinge also!"
"Nicht einen Penny mehr", lautete die feste Antwort Herrn Limbkins.
"Sie sind mächtig hart zu mir", sagte Gamfield kleinlaut.
"Unsinn", sagte der Herr mit der weißen Weste. "Es wäre ein feines Geschäft auch ohne jeden Zuschuß. Greifen Sie zu, Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Ab und zu hat er den Rohrstock nötig, und sein Essen braucht auch nicht üppig zu sein, denn er ist von seiner Geburt an nie überfüttert worden. Ha! Ha! Ha!"
Der Handel wurde also geschlossen, und Bumble bekam den Auftrag, Oliver Twist noch am selben Nachmittag vor den Friedensrichter zu führen, um seinen Lehrbrief genehmigen und unterzeichnen zu lassen.
Der kleine Oliver wurde daher zu seinem großen Erstaunen aus der Haft entlassen und erhielt den Befehl, ein reines Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als ihm Herr Bumble eigenhändig einen Napf voll Haferschleim und das sonntägliche Stück Brot brachte. Bei diesem Anblick fing Oliver kläglich an zu weinen, denn er dachte nichts anderes, als daß die Behörde ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wollte, da sie ihn wohl sonst kaum in dieser Weise mästen würde.
"Weine dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar", sagte Herr Bumble würdevoll. "Du sollst Lehrling werden, Oliver!"
"Lehrling, Herr?!" rief der Junge zitternd.
"Jawohl, Oliver, die guten Herren, die an dir Elternstelle vertreten haben, wollen dich in die Lehre geben, damit du später im Leben vorwärts kommst und ein tüchtiger Kerl wirst. Das kostet der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge, denke mal, Oliver, drei Pfund zehn Schillinge – siebzig Schillinge! – hundertvierzig Sixpences – und all das für einen ungezogenen Waisenjungen, den keiner leiden kann."'
Als Herr Bumble innehielt, um Atem zu schöpfen, rannen dem armen Oliver nur so die Tränen über die Backen, und er schluchzte bitterlich.
"Weine nicht!" sagte Herr Bumble, der von der Wirkung seiner Beredsamkeit sehr befriedigt war. "Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab und laß sie nicht -in die Suppe fallen. Das ist töricht." Das stimmte, denn in der Suppe war ohnehin schon Wasser genug.
Auf dem Wege zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, daß er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, so müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehorchen, um so mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.
Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:
"Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn." Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: "Denke dran, was ich dir sagte, Bengel."
Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.
Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.
"Das ist der Junge, Euer Gnaden", sagte Herr Bumble.
Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den andern alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.
"Ach, das ist also der Junge?" fragte er.
"Ja, Euer Gnaden", versetzte Herr Bumble. "Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver."
Oliver machte seinen schönsten Diener.
"Der Junge will also gern Kaminfeger werden?" sagte der Friedensrichter.
"Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden", sagte Bumble, "er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!"
"Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not leiden lassen, versprechen Sie das?"
"Wenn ich einmal gesagt habe, ich will, so werde ich esauch tun", entgegnete Gamfield mürrisch.
"Ihre Ausdrucksweise ist nicht gerade fein, mein Freund, aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein", sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, so hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.
"Ich denke das zu sein", entgegnete der Meister mit einem häßlichen Blick.
"Daran zweifle ich nicht, mein Freund", fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfaß.
Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfaß da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, so suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pulte herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blicke Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.
"Mein Junge", sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Tone zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. "Mein Kind, du siehst blaß und verstört aus. Was ist dir?"
"Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble", sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: "Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!"
Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Manne fortschicken.
"Nun", sagte Herr Bumble, indem er feierlich Augen und Hände gen Himmel hob, "von allen lügnerischen, hinterlistigen Waisenkindern, die mir je vorgekommen sind, bist du der frechste."
"Haltet den Mund, Gemeindediener!" sagte der zweite alte Herr, als sich Herr Bumble in dieser Weise Luft gemacht hatte.
"Verzeihung, Euer Gnaden!" entgegnete Bumble, der seinen Ohren nicht traute, "haben Euer Gnaden mich gemeint?"
"Jawohl. Sie sollen den Mund halten!"
Herr Bumble war starr. Einem Gemeindediener den Mund zu verbieten Das war ja Revolution.
Der Friedensrichter guckte seinen Kollegen bedeutungsvoll an und sagte dann:
"Wir versagen dem Lehrbriefe unsere Genehmigung"; damit schob er das Pergament beiseite.
"Ich hoffe", stotterte Herr Limbkins, "Sie werden nicht glauben, daß die Behörde fahrlässig gehandelt hat, noch dazu auf das unhaltbare Zeugnis eines Kindes hin."
"Wir sind nicht berufen, darüber eine Meinung auszusprechen", versetzte der alte Herr ziemlich scharf. "Nehmen Sie den Jungen wieder mit und behandeln Sie ihn anständig. Er scheint's nötig zu haben."
Am nächsten Morgen wurde Oliver wieder für fünf Pfund ausgeboten.
Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben
Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloß dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonstwie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:
"Ich habe den beiden Weibern, die gestern abend starben, eben Maß genommen."
"Sie werden noch reich werden, Herr Sowerberry."
"Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble."
"Die Särge sind auch dementsprechend klein", erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.
Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte anhaltend. Endlich sagte er:
"Größere sind bei dem neuen Verpflegungssystem auch nicht nötig."
"Übrigens, Herr Sowerberry, wissen Sie keinen, der einen Lehrjungen gebrauchen kann?" fragte Herr Bumble, der das Gespräch ablenken wollte. "Sehr günstige Bedingungen, sehr günstig."
Währenddessen zeigte er mit seinem Stock nach dem Anschlag an der Tür und schlug dreimal bedeutungsvoll auf die großgedruckten Worte "fünf Pfund".
"Nun, wie wär's?"
"Ach, Sie wissen, Herr Bumble, daß ich viel Armensteuer bezahle."
"Nun?"
"Da dachte ich, wenn ich soviel bezahle, hätte ich auch ein Recht, wieder etwas davon rauszukriegen. Ich möchte deshalb schon den Jungen nehmen."
Herr Bumble faßte den Leichenbestatter am Arme und führte ihn ins Haus. Dort hatte Herr Sowerberry eine Unterredung von fünf Minuten mit dem Vorstand, und man kam überein, daß Oliver ihm noch am selben Abend auf Probe übergeben werden solle. Dies wurde Oliver von den Herren mitgeteilt und ihm gleichzeitig angedroht, daß man ihn auf die See schicken würde, wenn er es in der Lehre nicht aushielte und der Gemeinde nochmal lästig fiele. Oliver hörte das schweigend an, dann führte ihn der würdige Herr Bumble an den neuen Schauplatz von Leiden. Als sie dem Orte ihrer Bestimmung näher kamen, sagte Herr Bumble:
"Schiebe dir die Mütze aus dem Gesicht, und halte den Kopf hoch."
Der Leichenbesorger hatte eben die Fensterladen seiner Werkstätte geschlossen und trug beim Schein einer Kerze einige Posten in sein Buch ein, als Herr Bumble eintrat.
"Sind Sie es, Bumble?" sagte Sowerberry und blickte von seinem Buche auf.
"Niemand anders" versetzte der Gemeindediener, "und da ist der Junge."
Oliver machte einen Diener.
"Also das ist der Junge", sagte der Leichenbesorger und hob die Kerze hoch, um ihn besser betrachten zu können. "Liebe Frau, komm doch mal herein."
Frau Sowerberry kam aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstätte, sie war eine kleine, magere Person mit einem Gesicht wie eine Xanthippe.
"Das ist der Junge aus dem Armenhause, von dem ich dir gesprochen habe."
",Mein Gott", sagte sie, der ist aber doch zu klein."
"Klein ist er freilich", bemerkte Herr Bumble, "aber er wird wachsen, sicher, er wird wachsen."
"Das glaub' ich wohl", sagte Frau Sowerberry, "aber von unserer Kost. – Da, geh die Treppe herunter, kleines Gerippe! Charlotte, gib dem Jungen etwas von dem, was für den Hund zurückgestellt war, der kriegt nichts mehr, da er heute morgen nicht nach Hause gekommen ist", rief sie dem Dienstmädchen zu.
Oliver verschlang mit Gier den Hundefraß.
"Nun" sagte Frau Sowerberry, "bist du fertig?" Sie hatte mit Entsetzen und düsterer Ahnungen voll zugesehen, wie ein solcher Appetit in Zukunft zu befriedigen sei. Oliver bejahte.
"So komm mit. Dein Bett ist unter dem Ladentisch. Ich denke, es macht dir nichts aus, unter den Särgen zu schlafen. Doch gleichviel, eine andere Schlafstelle können wir dir nicht geben."
Oliver lernt seine neue Umgebung kennen und nimmt zum erstenmal an einem Leichenbegängnis teil. Er faßt eine ungünstige Meinung vom Geschäfte seines Meisters
Am Morgen wurde Oliver durch lautes Pochen an der Ladentür geweckt. Während er in seine Kleider fuhr und die Sperrkette zu lösen begann, ließ sich eine Stimme vernehmen:
"Öffne die Tür, ein bißchen schnell!"
"Sofort, Herr", antwortete Oliver und schloß an der Tür.
"Ich vermute, du bist der neue Lehrling, nicht wahr?" sagte die Stimme durchs Schlüsselloch.
"Jawohl"
"Wie alt?"
"Zehn Jahre."
"Dann setzt es Keile, wenn ich erst drin bin. Paß bloß auf, du Armenhäusler!" Dann hörte man pfeifen.
Oliver schob zitternd die Riegel zurück und machte die Tür auf. Ein paar Augenblicke sah Oliver die Straße rauf und runter, im Glauben, der Unbekannte sei einige Schritte weitergegangen. Er sah aber niemand als einen dicken Bengel, der auf einem Stein vor dem Hause saß und ein Butterbrot verschlang.
Da Oliver sonst niemand in der Nähe sah, sagte er zu ihm:
"Verzeihung, haben Sie geklopft?"
"Jawohl", antwortete der Bengel.
"Wünschen Sie einen Sarg?" fragte Oliver harmlos.
Der Bengel schnitt ein grimmiges Gesicht und schrie ihn an, es werde nicht lange dauern, bis er selbst einen brauchte, wenn er sich derartige Witze mit seinem Vorgesetzten erlaube.
"Du weißt wohl nicht, wer ich bin, Armenhäusler?" fuhr der Bengel fort und kam näher.
"Allerdings nicht!".
"Ich bin Herr Noah Claypole, und du bist mein Untergebener", sagte der Bengel. "Mach die Fensterladen auf, Faultier!" Mit diesen Worten versetzte Herr Claypole unserm Oliver einen Tritt und ging mit gewichtiger Miene in den Laden.
Bald nachdem Oliver die Fensterladen aufgemacht hatte, kamen Herr und Frau Sowerberry herunter. Claypole und Oliver gingen nun die steile Treppe zur Küche hinab, um zu frühstücken. Charlotte, die Köchin, legte Noah die besten Bissen vor, während Oliver mit dem Abfall vorliebnehmen mußte.
Noah war zwar der Zögling einer Armenschule, aber keine Waise. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein abgedankter, immer betrunkener Soldat. Sie wohnten in der Nachbarschaft. Die Ladenschwengel schimpften Noah "Lederhose" , "Barmherzigkeitsschüler" und dergleichen, und er steckte es schweigend ein. Nun warf ihm der Zufall eine namenlose Waise in den Weg, und an dieser nahm er nun mit Wucherzinsen Rache.
Oliver war schon drei Wochen im Hause des Leichenbesorgers, als eines Morgens Herr Bumble in die Werkstätte trat und aus seiner großen ledernen Brieftasche ein Blatt Papier herausnahm, das er Herrn Sowerberry einhändigte.
"Aha", sagte letzterer, "wohl eine Bestellung auf einen Sarg, nicht wahr?"
"Zuerst auf einen Sarg und dann auf ein Begräbnis", erwiderte Herr Bumble, sich verabschiedend.
"Nun", meinte Herr Sowerberry und nahm den Hut, "je eher dieses Geschäft erledigt wird, desto besser ist es. Noah, du bleibst in der Werkstatt, und du, Oliver, setzt die Mütze auf und kommst mit mir." Sie zogen los und waren bald vor dem Haus, wo man ihrer Dienste bedurfte. Es stand in einer schmutzigen, armseligen Gasse. Sie stiegen die Treppe hinauf und machten an einer offenenen Tür halt, die weder Klingel noch Klopfer hatte. Herr Sowerberry pochte mit dem Finger an. Ein junges Mädchen von vierzehn Jahren öffnete. Sie waren am richtigen Orte. In einem kleinen, der Tür gegenüberliegenden Alkoven lag unter einer Decke die Leiche.
Der Leichenbesorger zog ein Band aus der Tasche, kniete an der Seite der Toten, eines jungen Mädchens, nieder und nahm Maß. Dann eilte er, Oliver hinter sich herziehend, rasch hinaus.
Am nächsten Tage kehrten Oliver und sein Meister wieder nach diesem Ort des Jammers zurück, wo sie bereits Herrn Bumble mit vier Männern aus dem Armenhause trafen, die Trägerdienste leisten sollten. Der rohe Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße gebracht. "Ihr müßt rasch machen", flüsterte Sowerberry der Mutter der Toten zu. "Wir haben uns etwas verspätet, und es wäre unschicklich, den Geistlichen warten zu lassen. Los, Leute, – und so schnell wie ihr könnt."
Man hätte übrigens nicht nötig gehabt, sich so zu beeilen, denn als sie den Kirchhof erreichten, war noch kein Geistlicher zu sehen. Der Küster, der in der Sakristei saß, meinte, es könne wohl noch eine Stunde dauern, bis der Prediger käme. Man setzte den Sarg am Rande des Grabes nieder. Zerlumpte Jungen, die dieses Schauspiel nach dem Friedhof gelockt hatte, spielten herum und machten sich das Vergnügen, über den Sarg hin und her zu springen. Sowerberry und Bumble saßen in der Sakristei beim Küster und lasen die Zeitung. Endlich, nach einer guten Stunde, sah man Herrn Bumble, Sowerberry und den Küster nach dem Grabe eilen, und gleich darauf erschien der Geistliche. Herr Bumble prügelte, um den Anstand zu wahren, ein paar Jungen durch. Der Prediger las aus dem Gebetbuch so viel als sich in fünf Minuten zusammenfassen ließ. Drauf gab er dem Küster seinen Talar und eilte fort.
"Nun, Bill", sagte der Leichenbesorger zum Totengräber, "wirf das Grab zu."
Nachher wurde der Kirchhof geschlossen, und Sowerberry fragte auf dem Heimweg Oliver, wie es ihm gefallen hätte. Mit einigem Zögern sagte dieser, nicht sehr gut.
"Ach, mit der Zeit wirst du dich schon dran gewöhnen", meinte der Meister. "Wenn man es gewöhnt ist, ist's einem gar nichts, Junge."
Oliver machte sich so seine Gedanken, ob Herr Sowerberry lange gebraucht habe, sich an etwas der Art zu gewöhnen. Er hielt es aber für besser, seine Frage für sich zu behalten.
Oliver erlaubt sich kräftiger aufzutreten
Der Probemonat war vorüber und Oliver wurde endgültig als Lehrling eingestellt. Die Jahreszeit war damals gerade ungesund und Särge fanden guten Absatz. Im Laufe einiger Wochen hatte Oliver ziemlich Erfahrung gesammelt. Da er seinen Meister in den meisten Geschäften begleitete, um sich die Ruhe des Gemütes und jene Herrschaft über seine Nerven anzueignen, die ein so notwendiges Erfordernis für einen Leichenbesorger sind, so hatte er oft Gelegenheit, Zeuge der Ergebung und Seelenstärke zu sein, mit der soviele Menschen ihre Heimsuchungen und Verluste trugen.
Wurde ein reicher alter Herr oder eine reiche alte Dame beraben, die von einer ganzen Anzahl Neffen und Nichten zur letzten Ruhe begleitet wurden, so konnte Oliver in den meisten Fällen beobachten, daß dieselben Verwandten, die während der Krankheit der Verblichenen sich ganz trostlos gebärdet hatten, recht fröhlich miteinander plauderten, als ob nichts in der Welt imstande wäre, ihre gute Laune zu trüben. Männer ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe. Frauen, die um den dahingeschiedenen Gatten Trauerkleider anlegten, schienen nur darauf bedacht zu sein, recht anziehend auszusehen.
Daß Oliver sich durch das Beispiel dieser guten Leute in eine gleiche Gemütsruhe hineingearbeitet hätte, wage ich als sein Lebensbeschreiber nicht zu behaupten. Ich kann nur sagen, daß er monatelang die schlechte Behandlung Noahs mit Geduld über sich ergehen ließ. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Frau Sowerberry war seine erklärte Feindin, da Herr Sowerberry ihn gern zu haben schien.
Oliver fühlte sich daher zwischen diesen drei Gegnern und den vielen Leichenbegängnissen nicht ganz so behaglich als das hungrige Ferkel, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen wurde.
Oliver und Noah befanden sich eines Tages zur Essenszeit allein in der Küche. Charlotte war gerade abgerufen worden, und so mußte man aufs Essen warten. Die Wartezeit glaubte Noah nicht würdiger ausfüllen zu können, als daß er Oliver höhnte und neckte. Noah legte also seine Beine auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, kniff ihn in die Ohren, nannte ihn einen Kriecher und versprach ihm, dabei zu sein, wann und wo immer man ihn hängen würde. Da diese Neckereien ihren Zweck verfehlten, Oliver zum Weinen zu bringen, wurde Noah noch ausfallender. Er fragte:
"Armenhäusler!Wie geht's deiner Mutter?"
"Sie ist tot", versetzte Oliver, "unterstehdich aber nicht, über sie zu reden." Dabei wurde er feuerrot im Gesicht und um seinen Mund zuckte es verräterisch, als ob er im nächsten Augenblick losweinen müßte. Noah sah dies mit Befriedigung und fuhr fort:
"Woran starb sie denn?"
"An gebrochenem Herzen, wie mir eine alte Wärterin gesagt hat",murmelte Oliver vor sich hin. "Ich kann mir denken, was das heißt."
Als Noah eine Träne über Ollvers Backen rinnen sah, pfiff er ein lustiges Lied und sagte dann:
"Was bringt dich denn so zum Heulen?"
"Du nicht" versetzte Oliver, indem er rasch die Träne wegwischte. "Glaub das nur nicht."
"Was, ich nicht?" höhnte Noah.
"Nein, du nicht", entgegnete Oliver scharf. "Nun ist's aber genug. Wenn du noch ein Wort über sie sagst, dann sollst du mal sehen."
"Na, was denn? Was soll ich sehen. Armenhäusler, du wirst frech! Und deine Mutter! Wird auch 'ne feine Nummer gewesen sein. Du lieber Himmel!" Noah rümpfte die Nase.
Oliver fraß seinen Ärger in sich und schwieg. Dadurch ermuntert, fuhr Noah im Ton spöttischen Mitleides fort:
"Du weißt, da ist nichts mehr zu ändern, auch tust du uns allen leid, aber du mußt doch wissen, daß deine Mutter eine ganz schlimme Person war, vollkommen herunter gekommen."
"Was sagst du da", fragte Oliver schnell aufblickend.
"Ein ganz heruntergekommenes Frauenzimmer, Armenhäusler", versetzte Noah kühl, "und es ist nur gut, daß sie auf diese Weise starb, sonst hätte sie sicher im Gefängnis oder am Galgen geendet."
Glutrot im Gesicht, sprang Oliver auf und Noah an die.Kehle, nahm dann seine ganze Kraft zusammen und schmetterte ihn mit einem Schlag zu Boden.
"Er bringt mich um!" schrie Noah. "Charlotte! Frau Sowerberry! Hilfe, Hilfe! Oliver mordet mich! Er ist verrückt geworden! Char – lotte!"
Noahs Hilfegeschrei wurde durch ein lautes Kreischen Charlottens,und ein noch lauteres der Meisterin erwidert. Erstere eilte durch eine Seitentür in die Küche, während Frau Sowerberry so lange auf der Treppe stehen blieb, bis sie sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr für ihr Leben zu fürchten sei.
"Du verfluchter Lump", schrie Charlotte, indem sie Oliver mit kräftiger Faust packte, "du undankbarer, meuchelmörderischer, nichtswürdiger Schurke", dabei schlug sie unbarmherzig auf ihn ein. Nun stürzte auch noch Frau Sowerberry in die. Küche und zerkratzte Oliver das Gesicht. Diesen günstigen Stand der Angelegenheit machte sich Noah zunutze, er sprang auf und knuffte Oliver von hinten.
Als alle drei müde waren und nicht mehr weiter prügeln konnten, schleppten sie den sich wehrenden, aber keineswegs entmutigten Oliver in den Keller und schlossen ihn da ein. Frau Sowerberry sank in einen Stuhl und brach in Tränen aus.
"Himmel, sie stirbt", rief Charlotte. "Schnell, liebster Noah, ein Glas Wasser."
"Ach, Charlotte", stöhnte die Meisterin, "wir müssen Gott danken, daß wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden."
"Ja, der arme Noah war schon halbtot, als ich hinzukam."
"Armer Junge!" sagte Frau Sowerberry mitleidig. "Doch was machen wir nun? Der Meister ist nicht zu Hause, und in zehn Minuten wird Oliver die Tür eingestoßen haben!"
Seine Fußtritte hörte man auch schon gegen diese donnern.
"Ich glaube, das beste wäre, man holte die Polizei" , meinte Charlotte.
"Oder das Militär", fügte Herr Noah Claypole hinzu.
"Nein", rief Frau Sowerberry, die sich plötzlich an Olivers alten Freund erinnerte, lauf zu Herrn Bumble, Noah, und bitte ihn, er möge unverzüglich hierherkommen. Renne, eine Mütze brauchst du nicht."
Ohne Zeit zu verlieren, stürzte Noah fort.
Oliver bleibt widerspenstig
Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt nach dem Armenhause, wo er atermlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nächdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Tone:
"Herr Bumble, Herr Bumble!" Dieser eilte herbei.
"Ach, Herr Bumble!" rief Noah, "Oliver hat – –"
"Was, – doch nicht etwa weggelaufen?"
"Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich." Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.
"Es ist ein Junge aus der Armenschule", versetzte Herr Bumble, "der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr."
"Donnerwetter", rief der Herr, "habe ich's nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, daß Oliver Twist mal gehängt werden würde."
"Er wollte auch die Köchin umbringen", fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.
"Und die Meisiterin auch", fügte Noah hinzu.
"Und den Meister ebenfalls –, so, sagtest du doch, Noah?" ergänzte Herr Bumble.
"Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle –"
"So, sagte er das wirklich, er wolle", fragte der Hery mit der weißen Weste.
"Ja, Herr!" erwiderte Noah, "und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause."
"Gewiß, mein Junge, gewiß!" sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. "Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht."
"Gewiß nicht,. Herr", sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, nach der Werkstatt des Leichenbesorgers.
Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertüre zu stoßen, so hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch:
"Oliver!"
"Lassen Sie mich raus", erwiderte dieser von innen.
"Kennst du meine Stimme?" fragte Herr Bumble.
"Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?"
"Nein!"
Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war baff.
"Wissen Sie, Herr Bumble sagte Frau Sowerberry, der Junge muß verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen."
"Das ist nicht Verrücktheit", versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, "das ist das Fleisch."
"Was für Fleisch?" fragte die Meisterin.
"Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, daß wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, so wäre so etwas nie vorgefallen."
In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so viel Übertreibungen, daß er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloß die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.
"Du bist mir ja ein nettes Früchtchen", brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.
"Noah schmähte meine Mutter", erwiderte Oliver trotzig.
"Wenn schon, du Strolch", schrie die Meisterin. "Sie. hat's verdient und noch viel mehr."
"Sie hat's nicht verdient", entgegnete Oliver.
"Doch", geiferte Frau Sowerberry.
"Das ist 'ne Lüge", schrie der Junge.
Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er mußte seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.
Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Mißhandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloß leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloß. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, daß er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.
Er langte bei dem Hause an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.
"Pst, Dick!" rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Armchen zum Gruße durch das Gitter. "Ist niemand auf, Dick?"
"Außer mir, keiner", entgegnete der Junge.
"Hör mal, du darfst nicht sagen, daß du mich gesehen hast, Dick", sprach Oliver. "Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich mißhandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blaß aus, Dick."
"Ich hörte, wie der Doktor sagte, ich müßte sterben", sagte Dick mit einem schwachen Lächeln. "Ach, wie ich mich freue, dich wiedergesehen zu haben, Oliver, aber halt dich nicht auf. Eile."
"Erst sage ich dir jedoch Lebewohl", entgegnete Oliver. Ich werde dich wiedersehen, Dick; ganz gewiß. Du wirst noch gesund und glücklich werden."
"Das hoffe ich auch, wenn ich einmal tot bin, früher nicht. Ich fühle, daß der Doktor recht hat, denn ich träume soviel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Küsse mich", sagte. der Kleine, indem er an dem niedrigen Tore emporkletterte und seine Ärmchen um Olivers Nacken schlang. "Lebwohl, lieber Oliver! Gott segne dich!"
Es war der Segenswunsch eines kleinen Kindes, aber es war der erste, den Oliver je über sein Haupt herabrufen hörte. Er vergaß ihn nie in allen Kämpfen, Mühen und Leiden seines späteren Lebens.
Oliver geht nach London, unterwegs begegnet er einem schnurrigen jungen Herrn
Bis Mittag wanderte Oliver, ohne zu rasten, die Landstraße entlang. Der Meilenstein, an dem er jetzt wagte auszuruhen, sagte ihm, – daß er noch hundert Kilometer von London entfernt sei. Dieser Name erweckte in der Seele des Knaben eine Flut von Gedanken. – London! – Diese große Stadt! – Niemand – nicht einmal Herr Bumble – konnte ihn dort auffinden. Er hatte im Armenhause oft alte Leute sagen hören, daß ein pfiffiger Junge in London nicht Hungers sterben würde. Nachdem er weiter sechs Kilometer zurückgelegt hatte, überlegte er, wie er wohl am besten hinkommen könne. Er hatte eine Brotrinde, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel und einen Penny – ein Geschenk Sowerberrys – in der Tasche.
Ein reines Hemd, dachte Oliver, ist etwas sehr Angenehmes – wie auch das Paar gestopfter Strümpfe und der Penny aber für einen Marsch von vierundneunzig Kilometern nur geringe Hilfe. Oliver legte an diesem Tage dreißig Kilometer zurück und genoß die ganze Zeit über nichts als seine trockene Brotrinde und einige Glas Wasser. Mit Einbruch der Nacht kroch er in einen Heuhaufen und schlief bald fest ein. Er erwachte am nächsten Morgen durchgefroren und hungrig. Sein Penny ging für ein kleines Laib Brot drauf. An diesem Tage konnte er nicht mehr als achtzehn Kilometer schaffen. Nach einer weiteren im Freien zugebrachten Nacht fühlte er sich noch elender und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Er wartete am Fuße eines steilen Berges, bis eine Postkutsche kam, deren außensitzende Passagiere er anbettelte. Diese wollten sehen, wie weit er für einen halben Penny laufen könnte. Eine Weile versuchte Oliver mit der Kutsche Schritt zu hälten, aber die wunden Füße und seine Müdigkeit ließen es nicht lange zu. Als die Reisenden dies sahen, steckten sie ihren halben Penny wieder in die Tasche und nannten ihn einen faulen Hund.
In einigen Ortschaften waren große Warnungstafeln aufgestellt, die jeden Bettler mit Gefängnis bedrohten. Wenn sich nicht ein gutherziger Schrankenwärter und eine gutmütige alte Frau seiner erbarmt und ihm zu essen gegeben hätten, so.wäre es Oliver wahrscheinlich wie seiner Mutter ergangen; er wäre vor Hunger auf der Landstraße umgefallen.
Am siebenten Tage nach seiner Flucht hinkte Oliver morgens früh langsam in die kleine Stadt Barnet hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Die Sonne erhob sich soeben in all ihrer Herrlichkeit, aber, ihre Strahlen dienten nur dazu, dem Jungen, der mit blutenden Füßen auf einer Türschwelle saß, seine ganze trostlose Lage und Verlassenheit zu zeigen.
Allmählich öffneten sich die Fensterläden, und auf den Straßen zeigten sich Menschen. Einige blieben stehen, um Oliver anzustarren, aber niemand half ihm, ja, man nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu fragen, woher er käme.
Da trat plötzlich ein Junge auf ihn zu, der ihn schon lange heimlich beobachtet hatte. Er sagte:
"Hallo, Dicker, was ist los mit dir?"
Der Junge mochte ungefähr von Olivers Alter sein und hatte ein ziemlich gemeines Gesicht, Stumpfnase, niedrige Stirn, kleine, stechende Augen, krumme Beine und war für sein Alter klein, dabei furchtbar schmutzig. Er benahm sich jedoch ganz wie ein Erwachsener. Sein Rock war zu weit und reichte ihm bis zu den Hacken. Der Hut saß so leicht auf seinem Kopfe, daß er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, doch gab ihm der Junge dann mit einem Ruck einen Schwung, wodurch er wieder in die richtige Lage kam.
"Ich bin hungrig und müde", antwortete Oliver mit Tränen in den Augen, "sieben Tage bin ich in einem fort gewandert."
"In einem fort? Sieben Tage? Ich verstehe, wohl auf Schenkels Befehl? – Ich glaube, du weißt nicht mal, was ein Schenkel ist?"
"Doch", erwiderte Oliver sanft, "das ist der obere Teil des Beins."
"Mensch, du bist naiv!" rief der junge Herr aus. "Ein Schenkel ist ein Friedensrichter, und wer auf Schenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts. Er muß immer aufwärts, ohne daß es je bergab ginge. Noch nie in der Mühle gewesen?"
"In was für einer Mühle?" fragte Oliver.
"Na in der Tretmühle. – Doch du schiebst Kohldampf und mußt was zwischen die Zähne kriegen. Viel Moos habe ich ja auch nicht, aber es wird für dich schon reichen. Stell dich auf deine Hammelbeine und komm."
Der junge Herr half Oliver aufstehen und nahm ihn mit in eine Schenke. Dort ließ er Bier, Brot und Schinken bringen. Oliver machte sich tüchtig über die Mahlzeit her, wobei ihn sein neuer Freund aufmerksam beobachtete. Als er mit dem Essen fertig war, fragte ihn der fremde Junge:
"Du willst nach London?"
"Ja."
"Hast du schon 'ne Wohnung?"
"Nein."
"Geld?"
"Nein."
Der junge Herr pfiff durch die Zähne.
"Wohnst du in London?" fragte jetzt Oliver.
"Ja, wenn ich zu Hause bin. – Aber du brauchst 'ne Schlafstelle, nicht wahr?"
"Freilich, ich habe seit einer Woche unter keinem Dach mehr geschlafen."
"Laß dir darum keine grauen Haare wachsen, ich muß heute abend wieder nach London und kenne dort einen ganz respektablen alten Herrn, bei dem du umsonst wohnen kannst. Es muß dich allerdings ein Bekannter bei ihm einführen. Mich kennt er aber zur Genüge", fügte der fremde Junge verschmitzt lächelnd hinzu.
Dieses unerwartete Anerbieten war zu verführerisch, um ausgeschlagen zu werden. Es entspann sich nun zwischen den beiden Jungen eine vertrauliche Unterhaltung, in deren Verlauf Oliver erfuhr, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling jenes alten Herrn sei. Dawkins Äußeres sprach allerdings nicht zugunsten einer solchen Protektion, da er aber ziemlich lockere Redensarten führte und auch gestand, daß seine Freunde ihn den pfiffigen Gannef(*Spitzbuben*) nannten, so folgerte Oliver, er möge wohl ein leichtsinniger Mensch sein, an dem die guten Lehren seines Wohltäters verlorengingen. Er beschloß daher bei sich, sich die gute Meinung des alten Herrn zu verschaffen und den weiteren Verkehr mit dem Gannef abzubrechen, wenn er ihn, wie er bereits jetzt schon vermutete, unverbesserlich finden sollte.
Da Dawkins nicht vor Einbruch der Nacht in London eintreffen wollte, so wurde es fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Gannef riet Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten, und eilte durch ein Gewirr kleiner Straßen und Gäßchen mit einer Geschwindigkeit, daß unser Held mächtig aufpassen mußte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.