Die schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg - Theodor Fontane - E-Book

Die schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Günter de Bruyns hochgelobte Auswahl der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« in einer überarbeiteten Neuauflage: auf der Grundlage der Erstdrucke und ausführlich kommentiert. Wer sich im Kulturraum der Mark Brandenburg bewegt, kommt an Theodor Fontane ebensowenig vorbei wie an Günter de Bruyn. Kein anderer Autor der Gegenwart kennt sich besser aus in Preußens vielgestaltiger Kulturgeschichte, keiner liebt die Landschaft der Mark Brandenburg so wie Günter de Bruyn. Für diese Zusammenstellung hat er die fünf Bände von Fontanes »Wanderungen« nach den schönsten Stellen durchsucht. Die ausgewählten Texte folgen dabei den Erstdrucken, die Fontanes Reiseeindrücke oft farbiger und unmittelbarer festgehalten haben als die überarbeiteten späteren Fassungen. Die Auswahl erschien erstmals im Rahmen der gemeinsam mit Gerhard Wolf herausgegebenen Reihe »Märkischer Dichtergarten«. Für die Neuausgabe hat Günter de Bruyn den Band noch einmal durchgesehen und den umfangreichen Anhang aktualisiert.

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Seitenzahl: 489

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Theodor Fontane

Die schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg

Ausgewählt und mit einem Nachwort von Günter de Bruyn

Herausgegeben von Günter de Bruyn

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortÜber das Reisen in der MarkWanderungen durch die Ruppiner SchweizDie Ruppiner SchweizAm Molchow- und Zermützel-SeeZwischen Zermützel- und Tornow-SeeDie Menzer Forst und der Große Stechlin»Der Blumenthal«Malchow. Eine WeihnachtswanderungIn den SpreewaldI Von Berlin bis Lübben. Lübbenau. Die Wenden. Wendischer Gottesdienst und wendische KostümeII Die Spreewaldsfahrt. Lehde, ein Dorf-Venedig. Der Kanal. Der Ur-Spreewald. Frau Schenker und das Wirtshaus Zur EicheIII Die Irrfahrt. Nixen im Sonnenschein. Kätner Post. Das Terzett. Dorf Leipe. Rückfahrt nach LübbenauIV Der Lynarsche Park. Warwick-Castle und Schloß Lübbenau. Die Prophezeiung. Das Wappen der Lynars und das Märchen vom Schlangenkönig. SchlußSchloß KossenblattKönigswusterhausenDie wendische Spree oder Von Köpenick bis Teupitz an Bord der »Sphinx«Vor Anker in KöpenickVon Köpenick bis DolgenbrodtDer Fischer von KahniswallVon Dolgenbrodt bis TeupitzEine Osterfahrt in das Land Beeskow-StorkowI Rauen und die MarkgrafensteineII Am SchermützelIII Groß RietzDie HavelschwäneUetzKleists GrabDie Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelteIIIIIIIVVVIVIISchlußwortAnhangZum Beispiel KossenblattIIIIIIIVVAnmerkungen (1)VorwortÜber das Reisen in der MarkDie Ruppiner SchweizAm Molchow- und Zermützel-SeeZwischen Zermützel- und Tornow-SeeDie Menzer Forst und der Große Stechlin»Der Blumenthal«Malchow. Eine WeihnachtswanderungIn den SpreewaldSchloss KossenblattAnmerkungen (2)KönigswusterhausenDie Wendische Spree oder: Von Köpenick bis Teupitz an Bord der »Sphinx«Eine Osterfahrt in das Land Beeskow-StorkowDie HavelschwäneUetzKleists GrabDie Märker und die Berliner …SchlußwortGünter de Bruyn: Zum Beispiel KossenblattBibliographieDie wichtigsten Ausgaben der »Wanderungen«Von Fontane benutzte LiteraturBibliographie zum Nachwort und zu den AnmerkungenLebensdatenZum Text und zu den BildernPersonen- und Ortsregister

Vorwort

»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Das hab ich an mir selber erfahren, und die ersten Anregungen zu diesen »Wanderungen durch die Mark« sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluß.

Es war in der schottischen Grafschaft Kinroß, deren schönster Punkt der Leven-See ist. Mitten im See liegt eine Insel, und mitten auf der Insel, hinter Eschen und Schwarztannen halb versteckt, erhebt sich ein altes Douglas-Schloß, das in Lied und Sage vielgenannte Lochleven-Castle. Es sind nur Trümmer noch, die Kapelle liegt als ein Steinhaufen auf dem Schloßhof, und statt der alten Einfassungsmauer zieht sich Weidengestrüpp um die Insel her; aber der Rundturm steht noch, in dem Queen Mary gefangensaß, die Pforte ist noch sichtbar, durch die Willy Douglas die Königin in das rettende Boot führte, und das Fenster wird noch gezeigt, über dessen Brüstung hinweg die alte Lady Douglas sich beugte, um mit weit vorgehaltener Fackel dem nachsetzenden Boote den Weg und womöglich die Spur der Flüchtigen zu zeigen.

Wir kamen von der Stadt Kinroß, die am Ufer des Leven-Sees liegt, und ruderten der Insel zu. Unser Boot legte an derselben Stelle an, an der das Boot der Königin in jener Nacht gelegen hatte, wir schritten über den Hof hin, langsam, als suchten wir noch die Fußspuren in dem hochaufgeschossenen Grase, und lehnten uns dann über die Brüstung, an welcher die alte Lady Douglas gestanden und die Jagd der beiden Boote, des flüchtigen und des nachsetzenden, verfolgt hatte. Dann umfuhren wir die Insel und lenkten unser Boot nach Kinroß zurück, aber das Auge mochte sich nicht trennen von der Insel, auf deren Trümmergrau die Nachmittagssonne und eine wehmütig-unnennbare Stille lag. Nun griffen die Ruder rascher ein, die Insel wurd ein Streifen, endlich schwand sie ganz, und nur als Phantasiebild noch stand eine Zeitlang der Rundturm vor uns auf dem Wasser, bis plötzlich die unstete Phantasie weiter in ihre Erinnerungen zurückgriff und ältere Bilder vor das Bild dieses Sees und dieser Stunde schob. Leisen Tones klang es herüber. Es waren Bilder aus der Heimat, ein unvergessener Tag.

Auch eine Wasserfläche war es; aber nicht Weidengestrüpp faßte das Ufer ein, sondern ein Park und ein Laubholzwald nahmen den See in ihren Arm. Im Flachboot stießen wir ab, und sooft wir das Schilf am Ufer streiften, klang es, wie wenn eine Hand über knisternde Seide fährt. Zwei Schwestern saßen mir gegenüber. Die ältere streckte ihre Hand in das kühle, klare Wasser des Sees, und außer dem dumpfen Schlag des Ruders vernahm ich nichts als jenes leise Geräusch, womit die Wellchen zwischen den Fingern der weißen Hand hindurchplätscherten. Nun glitt das Boot durch Teichrosen hin, deren lange Stengel wir (so klar war das Wasser) aus dem Grunde des Sees aufsteigen sahen; dann lenkten wir das Boot bis an den Schilfgürtel und unter die weit überhängenden Zweige des Parkes zurück. Endlich legten wir an, wo die Wassertreppe ans Ufer führt, und ein Schloß stieg auf mit Flügeln und Türmen, mit Hof und Treppe und mit einem Säulengange, der Balustraden und Marmorbilder trug. Dieser Hof und dieser Säulengang, die Zeugen wie vieler Lust, wie vielen Glanzes waren sie gewesen? Hier über diesen Hof hin hatte die Geige Grauns geklungen, wenn sie das Flötenspiel des prinzlichen Freundes begleitete; hier waren Le Gaillard und Le Constant, die ersten Ritter des Bayard-Ordens, auf und ab geschritten; hier waren in buntem Spiel, in heiterer Ironie, fingierte Ambassaden aus aller Herren Länder erschienen, und von hier aus endlich waren die heiter Spielenden hinausgezogen und hatten sich bewährt im Ernst des Kampfs und auf den Höhen des Lebens. Hinter dem Säulengange glitzerten die gelben Schloßwände in aller Helle des Tags, kein romantischer Farbenton mischte sich ein, aber Schloß und Turm, wohin das Auge fiel, alles trug den breiten historischen Stempel – die Fundamente der Romantik lagen da. Von der andern Seite des Sees her grüßte der Obelisk, der die Geschichte des Siebenjährigen Krieges im Lapidarstil trägt.

So war das Bild des Rheinsberger Schlosses, das, wie eine Fata Morgana, über den Leven-See hinzog, und ehe noch unser Boot auf den Sand des Ufers lief, trat die Frage an mich heran: So schön dies Bild war, das der Leven-See mit seiner Insel und seinem Douglas-Schloß vor dir entrollte, war jener Tag minder schön, als du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrst, die Schöpfungen und die Erinnerungen einer großen Zeit um dich her? Und ich antwortete: nein.

Die Jahre, die seit jenem Tag am Leven-See vergangen sind, haben mich in die Heimat zurückgeführt, und die Entschlüsse von damals blieben unvergessen. Ich bin die Heimat durchzogen, und ich habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Jeder Fußbreit Erde belebte sich und gab Gestalten heraus, und wenn meine Schilderungen unbefriedigt lassen, so werd ich der Entschuldigung entbehren müssen, daß es eine Armut war, die ich aufzuputzen oder zu vergolden hatte. Eine Fülle, ein Reichtum sind mir entgegengetreten, denen gegenüber ich die bestimmte Empfindung habe, ihrer niemals auch nur annährend Herr werden zu können; denn das immerhin Umfangreiche, das ich in Nachstehendem biete, ist auf wenig Meilen eingesammelt: am Ruppiner See und vor den Toren Berlins. Und sorglos hab ich es gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Felde zieht.

Es ist ein Buntes, Mannigfaches, das ich zusammengestellt habe: Landschaftliches und Historisches, Sitten- und Charakterschilderung – und verschieden wie die Dinge, so verschieden ist auch die Behandlung, die sie gefunden. Aber wie abweichend in Form und Inhalt die einzelnen Kapitel voneinander sein mögen, darin sind sie sich gleich, daß sie aus Liebe und Anhänglichkeit an die Heimat geboren wurden. Möchten sie auch in andern jene Empfindungen wecken, von denen ich am eignen Herzen erfahren habe, daß sie ein Glück, ein Trost und die Quelle echtester Freuden sind.

 

Berlin, im November 1861

Th. F.

Über das Reisen in der Mark

Lieber Freund. Ob du reisen sollst, reisen in der Mark? Die Antwort auf diese Frage – eine Frage, die ich noch dazu heraufbeschworen habe – ist nicht eben leicht. Und doch würde es mir nicht anstehn, »nein« zu sagen. So denn also »ja«. Aber »ja« unter Vorbedingungen. Wer es wagt, muß allerlei mitbringen. Laß mich Punkt für Punkt aufzählen, was ich für unerläßlich halte.

Wer in der Mark reisen will, der muß zunächst Liebe zu »Land und Leuten« mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muß den guten Willen haben, das Gute gut zu finden, anstatt es durch krittliche Vergleiche totzumachen.

Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste« – sagt das Sprichwort – »hat immer noch sieben Schönheiten.« Ganz so ist es mit dem »Lande zwischen Oder und Elbe«; wenige Punkte sind so arm, daß sie nicht auch ihre sieben Schönheiten hätten. Man muß sie nur zu finden verstehn. Wer das Auge dafür hat, der wag es und reise.

Drittens. Wenn du reisen willst, mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben. Dies ist ganz unerläßlich. Wer nach Küstrin kommt und einfach das alte graugelbe Schloß sieht, das, hinter Bastion Brandenburg, mehr häßlich als gespensterhaft aufragt, wird es für ein Landarmenhaus halten und gleichgültig oder wohl gar voll ästhetischem Mißbehagen an demselben vorübergehn; wer aber weiß: »hier fiel Kattes Haupt; an diesem Fenster stand der Kronprinz«, der sieht den alten unschönen Bau mit andern Augen an. – So überall. Wer, unvertraut mit den Großtaten unserer Geschichte, zwischen Linum und Hakenberg hinfährt, rechts das Luch, links ein paar Sandhügel, der wird sich die Schirmmütze übers Gesicht ziehn und in der Wagenecke zu nicken suchen; wer aber weiß, hier fiel Froben, hier wurde das Regiment Dalwigk in Stücke gehauen, dies ist das Schlachtfeld von Fehrbellin, der wird sich aufrichten im Wagen und Luch und Heide plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehn.

Viertens. Du mußt nicht allzusehr durch den Komfort der »großen Touren« verwöhnt und verweichlicht sein. Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet, aber es kommt doch vor, und keine Lokalkenntnis, keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im voraus wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht. Zustände von Armut und Verwahrlosung schieben sich in die Zustände modernen Kulturlebens ein, und während du eben noch im Lande Teltow das beste Lager fandest, findest du vielleicht im »Schenkenländchen« eine Lagerstätte, die alle Mängel und Schrecknisse, deren Bett und Linnen überhaupt fähig sind, in sich vereinigt. Regeln sind nicht zu geben, Sicherheitsmaßregeln nicht zu treffen. Wo es gut sein könnte, da triffst du es vielleicht schlecht, und wo du das Kümmerlichste erwartest, überraschen dich Luxus und Behaglichkeit.

Fünftens und letztens. Wenn du das Wagstück wagen willst – »füll deinen Beutel mit Geld«. Reisen in der Mark ist alles andre eher als billig. Glaube nicht, weil du die Preise kennst, die Sprache sprichst und sicher bist vor Kellner und Vetturinen, daß du sparen kannst; glaube vor allem nicht, daß du es deshalb kannst, »weil ja alles so nahe liegt«. Die Nähe tut es nicht. In vielbereisten Ländern kann man billig reisen, wenn man anspruchslos ist; in der Mark kannst du es nicht, wenn du nicht das Glück hast, zu den »Dauerläufern« zu gehören. Ist dies nicht der Fall, ist dir der Wagen ein unabweisliches Wanderungsbedürfnis, so gib es auf, für ein Billiges deine märkische Tour machen zu wollen. Eisenbahnen, wenn du »ins Land« willst, sind in den wenigsten Fällen nutzbar; also – Fuhrwerk. Fuhrwerk aber ist teuer. Man merkt dir bald an, daß du fort willst oder wohl gar fort mußt, und die märkische Art ist nicht so alles Kaufmännischen bar und bloß, daß sie daraus nicht Vorteil ziehen sollte. Wohlan denn, es kann dir passieren, daß du, um von Fürstenwalde nach Buckow oder von Buckow nach Werneuchen zu kommen, mehr zahlen mußt als für eine Fahrt nach Dresden hin und zurück. Nimmst du Anstoß an solchen Preisen und Ärgernissen – so bleibe zu Haus.

Hast du nun alle diese Punkte reiflich erwogen, hast du, wie die Engländer sagen, »deine Seele fertig gemacht« und bist du zu dem Resultate gekommen: »Ich kann es wagen«, nun denn, so wag es getrost. Wag es getrost, und du wirst es nicht bereuen. Eigentümliche Freuden und Genüsse werden dich begleiten. Du wirst Entdeckungen machen, denn überall, wohin du kommst, wirst du, vom Touristenstandpunkt aus, eintreten wie in »jungfräuliches Land«. Du wirst Schloß- und Klosterruinen auffinden, von denen höchstens die nächste Stadt eine Ahnung, eine leise Kenntnis hatte; du wirst inmitten alter Dorfkirchen, deren zerbröckelter Schindelturm nur auf Elend deutete, große Wandbilder oder in den treppenlosen Grüften reiche Kupfersärge mit Kruzifix und vergoldeten Wappenschildern finden; du wirst Schlachtfelder überschreiten, Wendenkirchhöfe, Heidengräber, von denen die Menschen nichts mehr wissen, und nur Sagen und Legenden und hier und da die Bruchstücke verklungener Lieder werden »auf der Heide« und ihren Dörfern zu dir sprechen. Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein, vorausgesetzt, daß du dich darauf verstehst, das rechte Wort für den »gemeinen Mann« zu finden. Verschmähe nicht den Strohsack neben dem Kutscher, laß dir erzählen von ihm, von seinem Haus und Hof, von seiner Stadt oder seinem Dorf, von seiner Soldaten- oder seiner Wanderzeit, und sein Geplauder wird dich mit dem Zauber des Natürlichen und Lebendigen umspinnen. Du wirst, wenn du heimkehrst, nichts Auswendiggelerntes gehört haben wie auf den großen Touren, wo alles seine Taxe hat; der Mensch selber aber wird sich vor dir erschlossen haben. Und das bleibt doch immer das Beste.

 

Berlin, im August 1894

Th. F.

Wanderungen durch die Ruppiner Schweiz

Die Ruppiner Schweiz

Ist’s norderwärts in Rheinbergs Näh’,

Ist’s süderwärts am Molchow-See?

Ist’s Rottstiel tief im Grunde kühl,

Ist’s Kunsterspring, ist’s Boltenmühl?

Die Schweize werden immer kleiner. Der Entdeckung der sächsischen Schweiz ist die der märkischen Schweiz auf dem Fuße gefolgt, und bei dem vorherrschenden Hange, immer mehr zu lokalisieren, sehen wir die Tage herannahen, wo wir in unserer Mark, also in dem vielleicht unschweizerischsten Lande der Welt, wenigstens ebenso viele Schweize besitzen werden, wie das alte, etwas mißbräuchlich behandelte Original Kantone umschließt. Es gibt schon jetzt eine Freienwalder, eine Neustädter, eine Buckower Schweiz (dies sind die drei alten Kantone), zu denen sich neuerdings, der Schweizen in der Uckermark und Neumark zu geschweigen, nunmehr auch die Ruppiner Schweiz gesellt hat. Als einer Art Pitschner dieser Gegenden, der die Sturzbäche derselben passiert und ihre Kulme erklettert hat, geziemt es mir wohl, einen kurzen Bericht über dieselben zu geben.

Die Ruppiner Schweiz, halben Wegs zwischen Ruppin und Rheinsberg gelegen, trägt ihren Ruhm zur Hälfte auf Kosten des nachbarlichen Rheinsbergs, und wir würden uns nicht wundern, diesen landschaftlichen Stolz der Grafschaft eines Tages von Seiten der benachteiligten Nachbarstadt wenigstens teilweise reklamiert zu sehen. Vorläufig ist der Ruppiner Besitztitel – vielleicht weil er mehr Grafschafts- als Stadt-Charakter hat – noch unbestritten.

Wodurch sich die Ruppiner Schweiz von ihren andern märkischen Schwestern unterscheidet, das ist ihr Wasserreichtum, ihr Reichtum an Seen. Während Freienwalde dieses Schmuckes beinah völlig entbehrt und Buckow, den großen See zu Füßen der Stadt abgerechnet, in seinen eigentlichen »Gebirgs-Partien« nur zwei kleine Edelsteine (allerdings vom reinsten Wasser) aufweist, sind Fluß und See das eigentliche Lebenselement der Ruppiner Schweiz. Diese Wasserfülle, abgesehen von der Schönheit, die sie unmittelbar der Landschaft leiht, hat auch das Kind des Sandes, die Fichte, verdrängt; – kostbare Buchen steigen zu beiden Seiten der bald schmalen, bald breiten Wasserflächen auf, und der Fuß des Touristen, statt auf Kiennadeln auszugleiten, freut sich des saftigen Mooses oder raschelt behaglich im abgefallenen Laub.

Die Ruppiner Schweiz hat mehr Länge als Tiefe; – eigentliche Dörfer gehören ihr nicht zu, und nur Weiler und Kolonistenhäuser, hier und da dorfartig gruppiert, ziehen sich am Ufer der verschiedenen Wasserbecken entlang. Alle diese Seen – in der Reihenfolge von Nord nach Süd: der Kalk-, der Tornow-, der Zermützel-, der Tetzen- und Molchow-See – hängen durch eine schmale Wasserstraße untereinander zusammen, und diese Wasserstraße, vielfach ihren Charakter wechselnd, heißt der Rhin[1]. Aus dem Kalksee kommend, zunächst über Steingeröll hinplätschernd (ganz nach Art eines Bergwassers) zieht er von See zu See, bis er an der Südspitze des Molchow-Sees die Heimat seiner Berge aufgibt und nach kurzem Schlängellauf in das große Wasserbecken eintritt, das zu Füßen der Ruppiner Schweiz sich ausdehnt. Dies Wasserbecken ist der Ruppiner See. Hier streift er – ähnlich wie sein hochdeutscher Namensvetter im Bodensee – den Rest seiner Jugend von sich, und, ruhig geworden bis zum Stillstand, windet er sich von nun an durch die Lücher und Brücher hin, die den Namen Linum als Mittelpunkt haben. In Poesie geboren, hat er kaum noch eine andere Bestimmung, als den Torfkahn auf seinem Rücken zu tragen.

Wenn dieser der prosaische Genoß seiner reiferen Jahre ist, so sind Förstereien und Wassermühlen die Gefährten seiner Jugend. Überall wo sein Wasser über ein Wehr fällt, wo hochaufgeschichtete Bretterbohlen an seinem Ufer liegen, da ist er jung, da sind die Stätten seiner Schönheit. Jede dieser Stätten, zwischen zwei Seen gelegen, dürfte die Hand nach dem stolzen Namen »Interlaken« ausstrecken, aber, im Bewußtsein eignen Wertes, verschmähen sie es, mit vornehmen Anklängen zu prunken, und geben sich lieber, ohne jegliche Prätension und nur auf sich selber gestellt, als Rottstiel und Pfefferteich, als Boltenmühle und Kunsterspring. Und wie sie selber klug auf alles verzichten, was die Quelle lästiger Vergleiche werden könnte, so verzichten auch wir darauf, untersuchen zu wollen, wem unter ihnen der Preis der Schönheit gebührt. Wie unter schönen Schwestern die Streitfrage nie gelöst wird, »wer eigentlich die schönere sei«, weil es heute diese ist und morgen jene, je nach der Kleidfarbe, die sie tragen, oder nach dem Bande, das zufällig an ihrem Hute flattert, so ist auch hier die Frage nach der größeren Schönheit eine bloße Frage der Beleuchtung, der Stimmung, des Schmucks. Wenn heute Boltenmühle in Malven siegt, so siegt morgen Kunsterspring in roten Ebereschen, und ein helleres oder dunkleres Abendrot, ein schmaleres oder breiteres Band, das der Regenbogen über die Landschaft spannt, entscheidet darüber, ob Rottstiel über Pfefferteich oder Pfefferteich über Rottstiel triumphiert.

Auch die »Historie« ist leisen Fußes durch diese Gegenden hingeschritten, und in Binenwalde, am Ufer des Kalksees, gehen die Geschichten davon von Mund zu Mund. Es sind Geschichten aus der Zeit von »Kronprinz Fritz«. Von Rheinsberg aus herüberkommend und nach dem »Försterhaus im See« (seitdem verfallen; die Insel selbst zum Weideplatz geworden) das wohlbekannte Zeichen gebend, glitt ein Kahn aus dem Schilfgürtel hervor und der Stelle zu, wo der Prinz, unter den Zweigen einer überhängenden Buche, die schöne Sabine, das »Insel- und Försterkind«, erwartete. Die schöne Sabine stand lächelnd-aufrecht im Kahn, das Ruder mit raschem Schlage führend, bis im nächsten Moment das Ruder an’s Ufer und sie selbst dem Harrenden entgegenflog.

Aber diese Tage (und auch sie mehr Idyll als Historie) liegen weit zurück. Die alte Waldesstille ist wieder drüberhin gewachsen, und nur die Sage davon klingt noch leise nach, wie denn alles leise an dieser Stelle klingt. Eine ewige Sonntagsruhe liegt über diesen Gründen; lautlos die Natur, wenn, wie in diesem Augenblick, die nachbarliche Mühle schweigt.

Ausgestreckt am Hügelabhang, den Wald zu Häupten, den See zu Füßen, so träumst du hier bis die immer wachsende Stille dich erschreckt. Mit angespannten Sinnen lauschest du, ob nicht doch vielleicht ein Laut, ein leisester nur, zu hören sei. Da endlich beginnt das Klingen des Waldes, die Rätselmusik der Einsamkeit. Der See ist glatt und sonnenbeschienen, aber es ruft aus ihm; die Bäume rühren sich nicht, aber es zieht durch sie hin; aus dem Walde klingt es, als würden Geigen gestrichen; nun schweigt es und ein fernes, fernes Läuten beginnt. Ist es Täuschung oder ist es mehr? Ein wachsendes Bangen kommt über dich, bis plötzlich das Klappern der Mühle neu beginnt, und der schrille Ton der Säge den Mittagszauber zerreißt.

Wer will sagen, wenn er die Ruppiner Schweiz durchwandert, wo dieser Zauber am mächtigsten wirkt.

Und fragst du doch: »den vollsten Reiz

Wo birgt ihn die Ruppiner Schweiz?

Ist’s norderwärts in Rheinsbergs Näh’?

Ist’s süderwärts am Molchow-See?

Ist’s Rottstiel tief im Grunde kühl?

Ist’s Kunsterspring, ist’s Boltenmühl?

Ist’s Boltenmühl, ist’s Kunsterspring?

Birgt Pfefferteich den Zauberring?

Ist’s Binenwalde?« – nein, o nein,

Wohin du kommst, da wird es sein,

An jeder Stelle gleichen Reiz

Erschließt dir die Ruppiner Schweiz.

Am Molchow- und Zermützel-See

»An jeder Stelle gleichen Reiz«, aber doch mit der einen Einschränkung, daß wir uns in der Helvetia propria dieser Gegenden halten und von dem westlichen Ufer des Rhin und seiner Seenkette nicht auf das östliche hinübertreten. Tuen wir diesen verhängnisvollen Schritt (wie wir es vorhaben) nichtsdestoweniger, so sind wir aus unserer eigentlichen Schweiz heraus und wandeln nur noch an ihrer Grenze hin. Mit andern Worten: das östliche Ufer hat keinen andern Reiz mehr als den, welchen es seinem Gegenüber, der Nachbarschaft des westlichen Ufers, entnimmt. Aber Ausnahmen auch hier, und unter diesen Ausnahmen zunächst das alte Dorf Molchow, das wir, über eine Schmalung des gleichnamigen Sees hinweg, zu erreichen trachten. Der Blick von der hochgewölbten Brücke aus läßt noch nicht erkennen, daß wir auf dem Punkt stehen, von dem schönheitsreichen Westufer auf das schönheitsarme Ostufer überzutreten, denn noch ist alles Poesie, und ein weißes Segel, bewegungslos, wächst wie ein tropisches Blumenblatt aus der blauen Fläche des Sees zu unsrer Linken auf, und der Himmel und sein weiß Gewölk, als wäre es eine Spiegelung des Bildes unten, steht ausgespannt darüber.

Und malerisch wie die Auffahrt, so das Dorf selbst; die einzelnen Häuser eingesponnen in Gärten und Laub. Die Studentenblume blüht, der Kürbis hängt im Gezweig, und der Hahn begrüßt uns vom Gartenzaun und kräht in den lachenden Morgen hinein. Alles hell und licht; ein rechter Gegensatz zu dem finster klingenden Molchow, das an alle Abgrunds-Schrecken des Schillerschen »Taucher« mahnt.

Alles hell und licht, nur nicht ein rondellartiger Grasplatz inmitten des Dorfs. Hier wird begraben, mehr in Unkraut als in Blumen hinein, und aus der Mitte dieses Platzes wächst ein Turm auf, der aussieht, als habe ihn ein Schilderhaus mit einer alten Windmühle gezeugt. Von beiden etwas. Und wie der Turm, so die Glocke, die in ihm hängt. »Ave Maria, gratia plena« steht an dem obern Rand, aber die Glocke selbst ist geborsten. Die Inschrift war kein Talisman. Zweihundert Jahre jetzt, da fanden die Molchower von 1670 auf einer halb Heide gewordenen, halb waldbestandenen Feldmark eine Glocke zwischen zwei Bäumen aufgehängt; das aufgeschossene Unterholz hatte sie bis dahin ihren Blicken verborgen. Das war die Glocke von Eggersdorf, das im Dreißigjährigen Kriege, wie hundert andere Dörfer, wüst geworden war und es auch geblieben ist. Die Molchower aber erbarmten sich des Findlings und bauten ihm den Glockenturm. Eine Leiter führt nun hinauf, die glücklicherweise von denen, die dort oben regelmäßig wohnen, entbehrt werden kann; denn nur Dohlen sind hier zu Haus. Wenn die geborstene Glocke gezogen wird, fliegen sie auf. Manche von ihnen – wenn es wahr ist, was man sich vom Raben- und Krähen-Alter erzählt – mag die Glocke kennen aus ihren Eggersdorfer Tagen her und Betrachtungen anstellen zwischen damals und heut.

In der Stelle, wo der Molchow-See nach Norden zu in den Zermützel-See übergeht, liegt das gleichnamige Dorf (Zermützel); ihm fahren wir jetzt zu. Ehe wir es indes erreichen, streifen wir zuvor ein altes Waldrevier, »die Stendenitz«, das unter George Wilhelm der gelegentliche Schauplatz von Wildschweinsjagden war. Noch früher hatte hier ein gleichnamiges Dorf gestanden, das, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, lediglich noch in dem Namen des Revieres fortlebte. Um 1750 aber, wo es unter dem großen König hieß »nur Menschen« und die Verwirklichung dieses Grundsatzes eine Massenkolonisation herbeiführte, die vielleicht selbst die großen Kolonisationstage unter Albrecht dem Bären in den Schatten stellte, mochte man sich auch entsinnen, daß hier zwischen dem Molchow- und Zermützel-See einst ein Dorf Stendenitz gestanden habe, und vier Büdner wurden hier hergesetzt, um an dieser wüsten, weltvergessenen Stelle eines jener Kolonistenetablissements zu bilden, wie sie damals zu Hunderten aus der Erde wuchsen.

Die Kärglichkeit unserer märkischen Scholle, – die Ausnahmen kümmern uns hier nicht – kann man nicht leicht besser studieren als an diesen »Etablissements«. Hundert Jahr Arbeit sind gewesen wie ein Tag, und eine Ziege, ein Kirschbaum und ein Streifen Roggenland, über das der alte Beherrscher dieser Gegenden, der Strandhafer, immer wieder Lust zeigt, siegreich herzufallen, diese drei sind nach wie vor der einzige Reichtum dieser und ähnlicher Ansiedelungen. Wenn ein Zweifel daran wäre, so würde ihn die Begräbnisstätte lösen, die zu dem Etablissement Stendenitz gehört.

Da wo der Wald hart an den See tritt, ist die Ecke eben dieses Waldes abgeschnitten und von vier tiefen Furchen quadratisch umzogen worden. Die vier Furchen vertreten die Stelle einer Mauer oder eines Zaunes. Auf dieser abgeschnittenen Waldecke wird nun begraben; die alten Kiefern sind stehengeblieben und tuen ihren Dienst nicht schlechter als Zypresse und Trauertanne. In hundert Jahren stirbt sich etwas zusammen, auch wenn die Lebendigen nur vier Büdnerfamilien sind; und so drängen sich denn hier die Gräber, die meisten freilich schon wieder zu bloßen Moosplätzen geworden, auf denen verspätete Erdbeeren blühen. Nur zwei Grabtafeln ragen noch auf, schräg gedrückt vom Winde und regenverwaschen, aber die Inschriften nichtdestoweniger ohne sonderliche Mühe zu entziffern.

»Hier ruht in Gott« – so lautet die eine – »der Schneidergesell Andreas Laudon, Kanonier von der 3. Garde-Compani, Attollerie-Bregarde, gest. 3. April 1836«. Daneben die Grabtafel eines siebzehnjährigen Mädchens, Namen und Datum und darunter:

Vielgeliebte, weinet nicht,

Seht mir nach und lebt in Segen,

Gott ist euer Trost und Licht, –

Ich habe mich zur Ruh geleget.

Ich habe auf manchem Begräbnisplatz gestanden, auf wenigen, die mich tiefer erschüttert hätten. Welche Mischung von groteskem Humor und erschütternder Poesie, erschütternd in ihrer Simplizität! Hier Schneidergeselle Laudon, Kanonier, und daneben:

Gott ist euer Trost und Licht,

Ich habe mich zur Ruh geleget.

Zur Ruhe hier! Die Bahre, die diesem Begräbnisplatze dient, hing an dem abgebrochenen Ast einer alten Kiefer, Bahre und Baumstamm waren gleichmäßig mit Flechten überdeckt. Unten am See gurgelte das Wasser im Röhricht, über uns in den Kronen der Bäume ging der Wind.

Alles Klage. Und doch wie schön! Zwischen den hohen Bäumen hindurch blickten wir in das Blau von See und Himmel.

Zwischen Zermützel- und Tornow-See

Bald hinter Stendenitz liegt Zermützel. Der Weg dahin führt am gleichnamigen See vorüber, aber in einer gewissen Höhe am Abhang hin. Der Ackerstreifen zwischen Weg und See ist überall von gleicher Gestaltung, schmal, zum Ufer hin sich senkend; nur an einer Stelle hebt er sich wieder, springt etwas vor und blickt mit soviel Kühnheit, wie ihm seine Mittel erlauben, auf die Wasserfläche nieder. Ein Vorgebirge im Backofenstil; der »Totenberg«; man muß sagen, er macht seinem Namen Ehre. Die Wirkung, die er übt, wird übrigens wie es immer beim Gruseligen sein muß, durch die einfachsten Mittel erzielt. Ackerfurchen in beinahe peinlich gewissenhafter Ausnutzung des Bodens durchziehen das ganze Terrain; nur den »Totenberg« meiden sie und umkreisen ihn, wie Parallelen eine belagerte und gefürchtete Festung. Eine dieser Linien, vielleicht von einem dörfischen Freigeiste gezogen, rührt schon an den Zauberkreis des Hügels, und tiefer eingeschnitten als die andern, erkennt man deutlich, wie der innere Kampf zwischen Trotz und Furcht die Hand des Pflügers an dieser Stelle energischer führte, als an jeder andern; aber man erkennt auch, daß ihm das Gefühl kam: nun ist es genug! Ausgegraben darf hier werden, nicht geackert. Eine alte Kiefer hält Wacht; so weit ihre Nadeln fallen, ist verbotener Grund. Schädel liegt da an Schädel, natürlich aus der »Schwedenzeit«. Wo das Dunkel beginnt, fangen Torstenson und Wrangel an. Was dem steckenbleibenden Schauspieler die Tabaksdose ist, das ist der steckenbleibenden Forschung unserer Dorfhistoriker die Schwedenzeit; wenigstens in der Grafschaft Ruppin.

Vom »Totenberg« bis zum Dorf Zermützel sind nur noch wenige hundert Schritt. Es liegt entzückend, den Blick auf zwei Wasserflächen und eine mächtige Waldkulisse gerichtet, die die Landschaft nach Westen hin begrenzt.

Unser Weg ging nordwärts geradeaus, um am Abhange hin auf immer gleichem Terrain zunächst eine Waldecke, dann um diese herum die östliche Buchtung einer dritten Wasserfläche, des Tornow-Sees, zu erreichen. Wo Wald und See sich treffen, steht ein weißes Haus, – ein »Etablissement«, wie im vorigen Jahrhundert der offizielle Ausdruck war, – halb noch von Kiefern und jungen Birken, halb von Obstbäumen überschattet. Ein Büdner wohnt darin, der seiner Arbeit nachgeht; aber aus alten Zeiten heißt dies Etablissement der »Teerofen«.

Jetzt liegt es friedlich da und glücklich, als strecke der segenspendende Herbst ihm beide Hände entgegen, denn der Apfelbaum streift die Fenster, während ein Birnbaum, wie müde vom Tragen, seine schweren Malvasier-Birnen auf das Dach des Hauses legt. Friedlich Bild; aber ich entsinne mich eines anderen Tages hier.

Es war im Januar; alles, was einen Pelz und eine Büchse hatte, war auf den Beinen, und seit Tagesgrauen knallte es im Wald und an den drei Seen hin, am Tornow-, Molchow- und Zermützel-See. Um zehn Uhr war Frühstück angesagt; Rendezvous am »Teerofen«. Ich darf wohl sagen, es fehlte keiner. Da waren die Förster und Oberförster: Berger von Alt-Ruppin, Conrad von Rottstiel, Kuse von Pfefferteich, dazu der ganze Adel von diesseit und jenseit des Ruppiner Sees, Offiziere der Garnison und die städtischen Nimrods, die an Billard und Kegelspiel nicht genug haben, und denen nicht wohl ist, wenn sie nicht unter den Zacken eines Sechzehnenders schlafen.

Das Frühstück war kalte Küche, aber desto heißer war der Grog. Über dem Herdfeuer hing ein Kessel, der brodelte und dampfte, und die Büdnersleute gingen auf und ab, um, wo Begehr danach war, mit ihrem kochenden Wasser auszuhelfen. Der Mischung besserer Teil floß aus den eigenen Flaschen. Pelze, Grog und Tabak schufen, noch ehe eine halbe Stunde um war, eine wunderliche Luft, und auf der dicken Wolke saß die Göttin der Jagdanekdote und orakelte in die Versammlung hinein. Nein, sie orakelte nicht, – ihren klassischen Aussprüchen fehlte jedes Dunkel.

Die Büdnersleute waren so ernst. Wie kam das nur? Sonst bei jeder Derbheit, die laut wurde, stimmte ihre Heiterkeit in den allgemeinen Jubel mit ein; heute ging kein Lächeln über ihre Züge. Endlich trat ich an die Alte heran, als sie eben wieder ein Scheit in das Feuer schob, und fragte leise: »Wo ist Hannah?« Sie schüttelte den Kopf; dann sich besinnend, nahm sie mich rasch bei der Hand, führte mich durch eine niedere Tür in den Hinterflur und öffnete eine Kammer, die gerade hinter dem Zimmer lag, in dem die Jäger ihren Imbiß nahmen. Einen Augenblick sah ich nichts, denn die Kammer empfing all ihr Licht von einer zweihandbreiten Öffnung her, durch die eben jetzt, vom Wind getrieben, der Schnee in kleinen Flocken hineinstiebte. Ich suchte mich zurechtzufinden. Die Frau war mittlerweile an ein Strohlager getreten, das ich jetzt rechts, unterhalb des Fensters, erkannte, und schlug ein Laken zurück, welches über das Strohlager ausgebreitet war. Da lag Hannah, die Augen geschlossen, in keinem andern Schmuck als dem ihres langen Haares. Dann deckte die Alte das Laken wieder über und schlich aus der Kammer. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Totenstille; daneben der Lärm; und der Schnee trieb heftiger durch das Fenster und schüttete, noch vor der Zeit, einen Hügel neben der Toten auf.

In zehn Minuten war unter den Gästen alles verändert. Einer hatte geplaudert. »Warum hielt er nicht den Mund?« brummten alle. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« – »Ich fahre nach Haus.« – »Ich bleibe.« So ging es hin und her. »Von Toten träumen bringt Glück«, getrösteten sich die meisten, ohne Rücksicht darauf, daß hier keiner geträumt hatte, und eine Stunde später knallte es wieder an den drei Seen hin. Aber das Bild Hannahs stand zwischen dem Schuß und dem Wild. Kein Hirsch mehr wurde getroffen. Oberförster Berger stieß mit dem Fuß an den Stecher seiner Büchse, die Kugel pfiff ihm am Ohre vorbei, und das Feuer sengte seinen Bart. Es war eine »wehvolle Jagd«, wie es in alten Balladen heißt.

Die Menzer Forst und der Große Stechlin

In der Nordostecke der Grafschaft liegt die Menzer Forst, 24000 Morgen groß, und in ihr der sagenumwobene »Große Stechlin«. Hier waltet ein Leben, das weit abweicht von dem Tun und Treiben im mittleren und südlichen Teile der Grafschaft; der Pflug ist hier zur Ruhe gestellt, auch der Spaten, der den Torf gräbt; nur das Fischernetz und die Angel sind an dieser Stelle zu Haus, und die Büchse knallt tagaus, tagein durch den Wald. Hundert Jahre haben hier wenig geändert; alles blieb, wie es die Tage des großen Königs sahen, nur eines wurde anders: der Schmuggler fehlt, der hier sonst ins Mecklenburgische hinüber sein Wesen trieb. Denn die Menzer Forst trifft nicht nur hart an die Strelitzische Grenze, die Forst setzt sich auch jenseits derselben fort, und ein von abgefallenem Laub halb überdeckter Graben ist alles, was die Territorien scheidet. Nicht viel besser, wie jene ideelle Linie der Längs- und Breitengrade, über die der Reisende hingleitet ohne Ahnung davon.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts oder ein wenig früher oder später wurde die Frage rege: »Was machen wir mit diesem Forst?« Hochstämmig ragten die Kiefern auf, aber der Ertrag, den diese herrlichen Holzbestände abwarfen, war so gering, daß er kaum die Kosten der Unterhaltung und Verwaltung deckte. Hirsche und Wildschweine in Fülle, aber viele Meilen in der Runde kein Haus und keine Küche, dem mit dem einen oder andern gedient gewesen wäre. »Was machen wir mit diesem Forst?« so hieß es wieder. Kohlenmeiler, Teeröfen wurden angelegt, fast von Viertelmeile zu Viertelmeile; aber wenig war damit geholfen: Kohle und Teer hatten keinen Preis. Die nächste, nachhaltige Aushülfe schien die Errichtung von Glashütten zu bieten, hatte man doch das Material dazu unter den Händen. Die Kiefern lieferten die Feuerung, das Laubholz gab die Pottasche, und der quarzene Sand war ja der Grund, auf dem die ganze Waldherrlichkeit ruhte. Also Glashütten! Es entstanden ihrer verschiedene, in Dagow, in Globsow, in Stechlin; ein Feuerschein lag bei Nacht und eine Rauchsäule bei Tage über dem Walde; aber auch die Glashütten vermochten nichts, der Wald brachte es nur spärlich auf seine Kosten.

Da erging Anfrage von Berlin her an die Menzer Oberförsterei: wie lange der Forst aushalten werde, wenn Berlin anfange, aus ihm zu brennen und zu heizen? Die Oberförsterei antwortete mit Stolz: »Die Menzer Forst hält alles aus«. Das war ein schönes Wort, aber doch schöner, als sich mit der Wirklichkeit vertrug. Das sollte bald erkannt werden. Die betreffende Forstinspektion wurde beim Wort genommen, und siehe da, ehe dreißig Jahre um waren, war die ganze Menzer Forst durch die Berliner Schornsteine geflogen. Was Teeröfen und Glashütten in alle Ewigkeit hinein nicht vermocht hätten, das hatte die Konsumtionskraft einer großen Stadt in weniger als einem Menschenalter geleistet. Hülfe war gekommen, die Menzer Forst hatte rentiert, aber die Hülfe war gekommen wie ein Sturm, der, während er das aufgefahrene Schiff flottmacht, es zugleich auch zerschellt. Abermals mußte Abhülfe geschafft werden, diesmal nach der entgegengesetzten Seite hin, und das berühmte, wenn auch unverbürgte Wort Friedrichs des Großen, das dieser einst in einer mißlichen Situation, als es »zuviel wurde« an Schmettau richtete, dasselbe Wort richtete jetzt die Königliche Verwaltung der Forsten und Domainen an den Oberförster von Groß-Menz: »Hör Er auf«. Und man hörte auf. Der Hauptstadt wurde durch dieses Halt nichts entzogen, was sie – unter veränderten Zeitverhältnissen – nicht hätte entbehren können; denn die Linumer Torfperiode war mittlerweile angebrochen. Die Menzer Forst aber stieg auf der tabula rasa ihres alten Grund und Bodens neu empor. Eichen, Birken, Kienen in buntem Gemisch, und der Wald, wie er jetzt sich präsentiert, ist das Kind jener stillen Epoche, die dem »Kriege à outrance«, der dreißig Jahre lang gegen diese Forstkulturen geführt worden war, auf dem Fuße folgte.

Es ist ein achtzigjähriger Forst, – also ein Jüngling noch, da das psalmitische: »Wenns hoch kommt, sinds achtzig Jahre«, für Wälder nicht gesprochen wurde, – und in diesen prächtigen Forst hinein, der ein Leben für sich führt, ein halbes Dutzend Wasserbecken mit grünem Arm umschließt und über Altes und Neues, über Teeröfen und Forsthäuser, über Glashütten und Fabriken gleichmäßig die Herrschaft übt, in diesen prächtigen Forst hinein wolle mich nun der Leser begleiten.

Es ist noch Platz auf dem Pürschwagen; vorn der Kutscher und der Herr, aber neben mir, auf der zweiten Bank, wartet seiner noch ein Kissen und eine Decke. Die Zeit für die letztere wird kommen, wenn die Sonne unter ist; aber die Zeit für das Kissen ist schon da, denn über Stubben und Wurzeln weg geht es bereits weglos, holterdiepolter in den Wald hinein. Die jungen Zweige fegen uns die Augen aus; nun links in den Moorgrund hinein, während rechts die Räder im Laube weiter rascheln; jetzt quer über den Graben hin und dann über den niedergestürzten Baum hinweg, dessen schon angefaultes Holz unter dem Druck der Räder zerbricht und in Moderstaub aufwirbelt. Entzückendes Steeplechase zu Wagen; das Gefühl der Fährlichkeit geht in der Wonne des Hindernisnehmens unter.

So still ist der Wald, und doch erzählt er uns auf Schritt und Tritt, freilich mehr Ernstes als Heiteres. Wo der Pascher ein Jahrhundert lang zu Hause war, wo Förster und Wildschütz ihre ewige Fehde führen, wo der Sturm die Bäume bricht und die tiefen Waldseen, die von alter Zeit her den Hang nach Menschenopfern haben, ihre schmalen Arme polypenhaft-phantastisch durch den Wald strecken, da sind immer »Geschichten« zu Haus. Tabellen wären hier anzufertigen, drei Rubriken nur: erschlagen, erschossen, ertrunken.

Eben haben wir eine solche Stelle passiert, die ihre Geschichte hat und von neuestem Datum dazu. Hier, wo das Büchen-Unterholz sich durch die Waldrinne zieht, gleich links neben der Weißbuche, da lag er, da fanden sie ihn, den Kopf nach der Tiefe zu, den einen Fuß im Gestrüpp verwickelt. Neben ihm die Büchse. Er war erst neunzehn Jahr. Der grüne Aufschlag des einen Ärmels war rot; man sah, er war mit der Rechten nach der Brust gefahren. Wessen Kugel hatte ihn getroffen? Wer sagt es? Einen Augenblick war man dem Geheimnis auf der Spur, oder glaubte es zu sein. In Herz oder Lunge des Toten hatte man das Kugelpflaster gefunden und an diesem, deutlich erkennbar, acht scharfe, markierte, schwarze Strichelchen, die dem Kundigen deutlich verrieten, daß die Kugel aus einer Büchse mit acht Rillen geschossen war. Solcher Büchsen gab es am Rande der Menzer Forst hin nicht allzu viele. Man wies mit Fingern auf den und den. Aber die Sache kam eben dadurch zu früh in Kurs, und als an den verdächtigsten Stellen gesucht wurde, waren die achtrilligen Büchsen verschwunden. Ein groß Begräbnis war, groß wie die Teilnahme; aber das Geheimnis »Wer tat es?« hat der Tote mit ins Grab genommen.

So ging das Geplauder. Die Sonne stand schon schräg, als es plötzlich zwischen den Stämmen aufblitzte, und gleich darauf unser Auge einer weiten Wasserfläche ansichtig wurde, auf der, glänzend und blendend fast, die Nachmittagssonne lag. Das ist der »Stechlin«, so hieß es. Im nächsten Moment sprang ich aus dem Wagen; mein Begleiter folgte.

Wir standen auf einer Art Quai, die hohen Stämme des Waldes zu Häupten, eine weite Wasserfläche tief unter uns. Drüben wieder Wald, auch links und rechts, von überall her Halbinseln in den See hineinstreckend. Wasser, Himmel, Stille. Das Ganze von jener eigentümlichen Wirkung auf unser Gemüt, als befänden wir uns einem Stummen gegenüber, den es zu sprechen drängt; aber die ungelöste Zunge versagt den Dienst. Wir raten dies und das aus seinen Zügen; umsonst, was er sagen will, bleibt ungesagt.

Wir setzten uns an den Rand des Vorsprungs und horchten auf die Stille. Sie blieb, wie sie war. Kein Boot, kein Vogel, auch kein Gewölk. Nur Grün und Blau und Sonne.

 

Wie still er daliegt, der Stechlin, – hob mein Begleiter an, – aber er ist tückisch, und die Leute hier herum wissen von ihm zu erzählen. Er ist einer von den Vornehmen, die große Beziehungen unterhalten. Als das Lissaboner Erdbeben war, strudelte er in tiefen Trichtern, und stäubende Wasserhosen tanzten zwischen den Ufern hin und her. Er geht 400 Fuß tief, an einzelnen Stellen hat das Senkblei noch keinen Grund gefunden. Dazu ist er launenhaft; dies kann er leiden und jenes nicht; man muß ihn ausstudieren wie eine Frau; mitunter liegt das, was ihm schmeichelt, und das, was ihn ärgert, kaum Handbreit auseinander. Die Fischer, selbstverständlich, kennen ihn am besten. Hier dürfen sie ihr Netz ziehen, seine Oberfläche bleibt klar und heiter, und ein Goldfisch springt in die Luft, als grüß er mit goldenem Finger; aber zehn Schritt weiter will er das Netz nicht haben, sein Antlitz runzelt und verdunkelt sich, und ein Murren klingt herauf. Dann ist es Zeit, den Platz zu meiden und das Ufer aufzusuchen. Ist aber ein Waghals im Boot, der es ertrotzen und erzwingen will, so steigt nun rot und zornig der Hahn herauf, der unten am Grunde des Stechlin die Wache hält. Er schlägt den See mit den Flügeln, bis er schäumt und wogt, greift das Boot an und kräht, daß es die ganze Menzer Forst durchhallt, von Dagow bis Altglobsow.

Die Sonne war mittlerweile weiter hinabgestiegen und berührte mit ihrer Scheibe schon die Wipfel des Waldes, eine Mahnung, uns zu eilen. Der Erdwall, auf dem wir gesessen und geplaudert hatten, grenzte hart an die nördlichste Spitze des Sees, und ehe fünf Minuten um waren, hatten wir, immer hart am Ufer hin, die Biegung gemacht und fuhren wieder, auf der entgegengesetzten Seite des Stechlin, gen Süden zu.

Das Revier, das uns zunächst an dieser Stelle aufnahm, war das Revier der Glashütten; wie Squatter-Ansiedlungen lagen sie auf Waldwiesen oder ausgerodeten Stellen am Saum des stillen Waldes hin. Hütte neben Hütte, regungslos, von Bewegung nichts als der Rauch, der über die Dächer zog. Nur bei der Globsower Glashütte, die hart an einer Buchtung des Großen Stechlin ist und einen weitverzweigten Handel treibt mit Retorten, Glaskolben und großen Ballons, nur hier herrschte Leben, insonderheit in der schattigen Allee, die von den Hütten aus zur Ladestelle am See hinunterführt. Hier spielten Kinder Krieg und fochten ihre Fehde mit Kastanien aus, die, zu vielen Hunderten, in halb aufgeplatzten Schalen unter den Bäumen lagen. Die einen retirierten auf den See zu und suchten Deckung hinter den großen Salzsäureballons, die in dichten Reihen am Ufer des Stechlin hin standen, aber der Feind gab seinen Angriff nicht auf, und die Kastanien fielen hageldicht auf die gläserne Mauer nieder.

Tausend Schritt weiter südwärts von der Globsower Glashütte, da wo sich mehrere Wege kreuzen und das ansteigende Terrain einen Überblick über die eben passierte große Waldwiese, zugleich auch über die Dagower Kolonistenhäuser und ein inmitten der Lichtung gelegenes kleines Wasserbecken gestattete, fiel uns eine parkartige Einfriedung auf, die von alten Eichen überragt wurde. Als wir in Front dieses Platzes hielten, lasen wir an zwei Pfeilern, die den Eingang bilden: Metas Ruh. Unsere Neugier wurde wach; wir stiegen ab und erkannten unschwer, daß wir uns auf dem Friedhofe der Glashüttenaristokratie dieser Gegenden befanden. Die Gitter und Kreuze hatten sich hinter dem Unterholze versteckt, das hier reichlich aufsproß; »Metas Ruh« aber, soviel leuchtete uns ein, konnte unmöglich als Bezeichnung für diese Begräbnisstätte überhaupt dienen, es konnte nur der Name jenes seltsamen Baues sein, der sich, einer Katakombe nicht unähnlich, inmitten dieses Eichenkampes befand. Halb schacht-, halb hohlwegartig, die Seitenwände gemauert, führte ein in leiser Schrägung absteigender Gang auf eine Gittertür zu, hinter der wir in das Dunkel einer rundgewölbten Gruft blickten. Drei, vier Särge waren sichtbar. Über diesen Tatbestand hinaus aber schien unsere Neugier nicht befriedigt werden zu sollen.

Wir hatten uns bereits ergeben, als ein Alter, den wir, seit zehn Minuten etwa, von Dagow her des Wegs kommen sahen, unsere Hoffnung neu belebte. Der wird es wissen. – Jetzt war er dicht heran.

Guten Tag, Papa. – Goden Dag. – Wie ist denn das hier mit Metas Ruh? – Ja, dat is, as dat so is. – Na, wie ist es denn? Wer ist Meta? Wer hat es gebaut? – Meta was sine erste Fru. – Aber von wem denn? Lebt er noch? – Leben deit he woll noch, äwer furt is he all lang. – Die Sache schien sich nicht allzu rasch entwickeln zu sollen; wir setzten uns also auf einen Grabstein und luden den Alten ein, auch Platz zu nehmen. Er blieb aber stehen und erzählte uns in dem plattdeutschen Dialekt, den die »Grenzer« zwischen dem Brandenburgischen und Mecklenburgischen sprechen, die Geschichte von Meta, – das alte Lied von Leid und Liebe.

Wir dankten dem Alten, und weiter ging es nun in den bereits dunkelnden Forst hinein. Willkommen waren jetzt die Stellen, wo sich’s lichtete und auf den ausgerodeten graugelben Sandstrecken nichts sichtbar wurde als niederes Buschwerk, hier und dort aus dem Samen eines windverschlagenen Kienapfels aufgewachsen.

Eine solche Heidestrecke lag hinter uns, als wir in die namengebende Metropole dieser Gegenden, in Groß-Menz, einfuhren. Es fielen Worte wie: Burgwall, Ritter Menz, hohles Gemäuer und unterirdischer Gang, allerverlockendste Klänge also, die sechs Stunden früher mich in den Zirkel des Dorfes wie in einen Zauberkreis gebannt haben würden; aber bei dem schon herrschenden Zwielicht siegten die, in Fällen wie diese, nur immer allzu berechtigten kritischen Bedenken über die Forderungen wissenschaftlicher Neugier, und dem sonst so mächtigen Dachshund-Spüreifer ohne sonderliche Mühe entsagend, ging es über den beinah städtisch angelegten Dorfplatz hinweg, an der lindenumstandenen Oberförsterei vorbei, scharf westlich einbiegend in die immer reizloser werdende Landschaft hinein. Nicht nur Groß-Menz lag hinter uns, auch die große Menzer Forst.

Kühler wurde es; wir wickelten uns in die Plaids; niemand sprach mehr. Die Pferde prusteten und warfen den Schaum nach hinten. Acker, Sand, Schonung, immer schattenhafter schwanden sie, immer rascher die Fahrt, immer dunkler der sternlose Himmel. Jetzt Steindamm, lange Pappelreihen und jener wärmere Luftstrom, der uns die ersehnte Nähe menschlicher Wohnungen verhieß. Eine Biegung noch; da schimmerte Licht zwischen den Bäumen, und der Wagen hielt.

Eine halbe Stunde später und der hohe altmodische Kamin sah uns im Halbzirkel um seine Flamme versammelt. Die Scheite – echte Kinder der Menzer Forst – brannten hoch auf; auf uns nieder aber blickten die Ahnenbilder des weitverzweigten Hauses, der Neales, der Oettinger, der La Roche-Aymon, und zwischen ihnen das leuchtende Bildnis des »Saalfelder Prinzen«.

Die Rede ging von alter und neuer Zeit, beide mit gleicher Liebe umfassend. Märchenhaft verschwammen das Jüngsterlebte und das Längstvergangene, und die stille Wasserfläche, die, in unseren Plaudereien von Prince Henri und der schönen Gräfin La Roche-Aymon, noch eben dem Rheinsberger See geglichen hatte, über den es hinklang von Nixengekicher und Flötenspiel, dieselbe Wasserfläche, sie weitete sich jetzt zu einem buchtenreichen Haff, und der Hahn, der unten auf dem Boden des Großen Stechlin sitzt, er kam herauf und krähte, seinen roten Kamm schüttelnd, über den See hin. – Mitternacht war heran, die Scheite niedergebrannt; mitunter fiel noch ein Schein auf die Bilder. Sie lächelten.

»Der Blumenthal«

Und aber nach fünfhundert Jahren

Will ich desselbigen Weges fahren.

Cidher der ewig junge.

»Der Blumenthal« (d. h. der Blumenthal-Wald) ist der Name eines großen Forstreviers, das den östlichen Teil des Barnim von Westen nach Osten hin durchzieht und durch die Straße, die von Berlin nach Wriezen führt, fast seiner ganzen Länge nach durchschnitten wird.

»Der Blumenthal« ist schön und sagenreich. Etwas von dem Zauber Vinetas ist um ihn her, und die Sage von untergegangenen Städten, verschwunden in Wasser oder Wald, begleitet den Reisenden auf Schritt und Tritt. Wer um die Mittagsstunde hier vorüberzieht, der hört an See und Schlucht ein Klingen und Läuten aus der Tiefe herauf; und wer gar nachts des Weges kommt, wenn der Mond im ersten Viertel steht, der hat über Stille und Einsamkeit nicht zu klagen, denn seltsame Stimmen, Rufen und Lachen, ziehen neben ihm her.

Und ein schöner Wald ist »der Blumenthal«. Die vielen Seen, die ihn durchschneiden, auch wo sie nicht sichtbar werden, geben seinem Laub und seiner Luft eine duftige Frische, und ein Blühen ist ringsum, als woll es der Wald immer wieder beweisen: ich bin »der Blumenthal!«

Rapsfelder an den offenen Stellen, die sich breit in den Wald hineindehnen, würzen im Mai die Luft; dem Blühdorn folgt die Hagerose und dem Faulbaum der Akazienstrauch; die roten Erdbeeren lösen sich ab mit den röteren »Malinekens« (wie der Landmann, poetischen Klanges, hier die Himbeeren nennt), und wenn endlich der Herbst kommt, so lachen die Ebereschen-Beeren überall aus dem dunklen Laube hervor. Dabei ein Reichtum an Hölzern, wie ihn märkische Forsten wohl kaum zum zweiten Male zeigen. In reichstem Gemisch stehen alle Arten von Laub- und Nadelholz; Eiche und Edeltanne, Else und Kiefer, Buche und Lärchenbaum machen sich den Rang der Schönheit streitig; vor allem aber ist es die Birke, der Liebling des Waldes, die mit weißem Kleid und langem Haar vorüberfliegt und das Auge des Reisenden immer wieder entzückt.

Der Blumenthal ist fast 2 Meilen lang und ziemlich ebenso breit. Hier und dort aber, wie schon angedeutet, unterbrechen weite Ackerstrecken das Waldrevier und dringen, von rechts und links her, bis zur Chaussee hin vor. Ungefähr in der Mitte des Waldes treffen von Nord und Süd zwei solcher Einschnitte beinahe zusammen und teilen dadurch den Forst in zwei ziemlich gleiche Hälften, in eine westliche und eine östliche, oder in eine Werneuchensche und eine Prötzelsche Hälfte. Die erste ist die landschaftlich schönere, die andere die historisch interessantere.

Der schönste Punkt der westlichen Hälfte ist der Gamen-Grund, genau eine Meile östlich von Werneuchen gelegen. Dies war die Waldesstelle, wo Schmidt von Werneuchen Jahr aus Jahr ein die Sommer- und Familienfeste zu feiern liebte. Sein feiner Natursinn bekundete sich auch in der Wahl dieser Stelle. Sie ist von aparter Schönheit, und während sonst der Bau einer Chaussee wenig zum Reiz einer Landschaft beizusteuern pflegt, liegt hier ein Fall vor, wo das Landschaftsbild durch die durchschneidende Weglinie entschieden gewonnen hat.[2] Der Chausseebau machte nämlich, wenn überhaupt eine passierbare und möglichst gerade Straße geschaffen werden sollte, die Überbrückung des Gamen-Grundes nötig, und da die Herstellung eines Dammes als passendstes Mittel dafür erschien, so wurde eine Art Viadukt quer durch die Schlucht geführt, der nun das Hüben und Drüben des Hügellandes verbindet. Von der Höhe dieses Viadukts aus blickt man nun nach links hin in die Wassertiefe des Gamen-Sees, nach rechts hin in die Waldestiefe des Gamen-Grundes hinab. Der Vorüberfahrende fühlt sich wie an diese Stelle gebannt, und der Eiligste hat es nicht eilig genug, um nicht ein paar Minuten an dieser Stelle zu verweilen. Beide Bilder sind schön, auch einzeln betrachtet; aber wie überall da, wo zwei Landschaftsbilder nebeneinander hängen, das eine die Wirkung des andern unterstützt und beide erst, wie Abend und Morgen, eine höhere Einheit herstellen, so schöpft auch hier jedes einzelne der beiden Bilder einen gesteigerten Reiz aus der Nachbarschaft des andern. Nach links hin Klarheit und Schweigen. Der Gamen-See, wie ein Flußarm, windet sich in leis gespanntem Bogen zwischen den Tannenhügeln hin, und nichts unterbricht die Stille, als ein plätschernder Fisch, den die Nachmittagssonne an die Oberfläche treibt. Nach rechts hin Dunkel und Leben. Aus dem Grunde herauf, bis an die Höhe des Dammes (beinahe greifbar für unsere Hände) steigen die ältesten Eichen des Waldes, und während sich die Stämme in Schatten und Waldesnacht verlieren, blitzt die Sonne über die grünen Kronen hin. Allerhand Schmetterlinge steigen auf und nieder, und die Vögel singen in einer Herzlichkeit, als wäre dies das Tal des Lebens und als wäre nie ein Falk oder Weih über den Gamen-Grund hingezogen. In der Ferne Kuckuckruf, und ein blauer Himmel über dem Ganzen, heiß und fest wie eine Glocke.

Die Westhälfte des »Blumenthals« ist der landschaftlich schönere Teil des Waldes; aber die Osthälfte ist reicher an Sage und Geschichte. Wir wandern dieser anderen Hälfte zu. Eine Meile östlich vom Gamen-Grund, den ich eben zu schildern versucht, liegt ein Vorwerk, hart an der rechten Seite des Weges. Der Wald hat uns bis dicht an die Stall- und Wirtschaftsgebäude desselben begleitet, und jenseit desselben, wo das Vorwerk aufhört, fängt der Wald wieder an. Das Ganze erscheint fast nur wie ein Steintor mitten im Walde, wie eine Auffahrt in die Hügellandschaft hinein, die sich, halb Wiese, halb Ackerland, unmittelbar hinter dem Vorwerk auszudehnen scheint. Dies ist die Stelle, die wir suchen. Die Passage dieses Hofes wird auf Ansuchen freundlich gestattet, und hinaustretend in die halb bebauten, halb brachliegenden Felder (die sich nicht nur im Rücken des Vorwerks, sondern auch hinter dem Waldsaume entlangziehen), halten wir uns jetzt links und marschieren etwa 500 Schritt am Rande des Waldes entlang. Wo wir eines Wasserpfuhls, »die Suhle« genannt, ansichtig werden, machen wir Halt und stehen nun vor einem mit Steinmassen überdeckten Terrain. Dies Steinfeld ist die sogenannte »Stadtstelle«.

Hier stand vor 500 Jahren die Stadt oder das Städtchen Blumenthal, das seitdem dem ganzen Walde den Namen gegeben hat. Verfolgen wir nunmehr die Schicksale dieser Stadt durch die Jahrhunderte hindurch.

Die älteste Nachricht über Stadt Blumenthal, die wir haben, reicht bis auf 1375 zurück. Das Landbuch der Mark Brandenburg (bekanntlich in genanntem Jahre entworfen) führt »Blumendal« noch unter den Ortschaften des Landes Barnim auf; der Umstand aber, daß nur das Areal des Städtchens angegeben, aber weder von Abgaben noch Hofediensten gesprochen wird, spricht dafür, daß die Feldmark bereits wüst und wertlos zu werden begann. Die Trefflichkeit der Äcker, so wie die Bedeutung, die »Blumenthal« bis dahin gehabt hatte, machen es zwar wahrscheinlich, daß im Laufe der nächsten Zeit verschiedene Versuche gemacht wurden, die wüst gewordenen Höfe neu zu besetzen und die Äcker neu zu bebauen, aber diese Absichten scheiterten an der Ungunst der Zeiten. 1348 war das große Sterben; 50 Jahre später, als neue Kolonisten mutmaßlich eben anfingen dem toten Orte ein neues Leben zu geben, fielen die Pommern ins Land, und wieder 30 Jahre später ging der Hussitenzug (der bei Bernau sein Ende fand) mit Mord und Brand über »den Blumenthal« hin. In 80 Jahren die Pest, die Pommern und die Hussiten, – das war zu viel für das Leben von Blumenthal. Ein Fluch schien über den Ort ausgesprochen zu sein. Er war nun wirklich tot, die Wiederbelebungsversuche blieben aus, und das Mauerwerk zerfiel. Der Wald mit Eichen und Schlingkraut zog in die offenen Tore ein, und die Malinekens rankten und blühten über Steintrog und Brunnen hinweg. Die Sage fing an, ihre Kreise um diesen Steinplatz zu ziehen, und ehe ein Jahrhundert um war, war es ein unheimlicher Ort, eine »verwunschene Stelle«. Jeder mied sie. Wie es Seen und Seestellen gibt, wo die Fischer nicht fischen, weil sie fürchten, daß eine Hand aus der Tiefe fahren und sie hernieder zerren wird, so berührte kein Jäger die Stelle, wo die alte Stadt gestanden hatte. Rundum tobte die Jagd, die Kurfürsten selbst jagten hier mit »Hund und Horn«; aber vorüber an der Stadtstelle zog der Zug. Und waren Kinder beim Himbeersuchen unerwartet unter das alte Mauerwerk geraten, so befiel sie’s plötzlich wie bittere Todesangst, und sie flohen blindlings, durch Gestrüpp und Dorn, bis sie zitternd und atemlos die Ihrigen erreichten. Was gab es da nicht alles zu erzählen! So wuchs die Sage und zog immer festere Kreise um die »Stadt im Wald«. Immer gefürchteter wurde der Platz. Selbst das Wild schien die Stelle zu meiden, und nur Bache und Keiler hatten ihre Tummelplätze hier. An den tiefer gelegenen Stellen der »alten Stadt«, wo aus moderndem Eichenlaub und sickerndem Quellwasser sich Sumpflandstücke gebildet hatten, kamen die Wildschweinsherden aus dem ganzen »Blumenthal« zusammen, und wenn sie dann in Mondscheinnächten ihre Feste feierten, klang ihr unheimliches Getös bis weit in den Wald hinein und mehrte die Schauer des Orts.

So vergingen Jahrhunderte. Die Eichen wurden immer höher, das Gestrüpp immer dichter, – die alte Stadt schien verschwunden. Nur um die Winterzeit, wenn alles kahl stand, wurden die Reste alten Mauerwerkes sichtbar. Aber wer war, der ihrer geachtet hätte? Es waren die Zeiten des 30jährigen Krieges und der Jahre, die folgten; – so viele Dorf- und Stadtstellen lagen wüst, so viel neue Herde waren zerstört; wer hätte Lust und Zeit gehabt, sich um alte, halbvergessene Zerstörung zu kümmern?

So kam das Jahr 1689 und mit diesem Jahre tritt die alte Stadt, die bis 1375 ein Stück wirklicher Geschichte gehabt hatte und dann erst sagenhaft geworden war, aufs neue in die Geschichte ein. 1689 besuchte Bürgermeister Grüwel aus Kremmen die Stadtstelle und fand noch Feldsteinmauern, die den Boden in Mannshöhe überragten. Von da ab folgten weitere Besuche in immer kürzeren Zwischenräumen: Bekmann um 1750, Bernouilli um 1777; beide fanden Mauerreste und hielten sie für die Überbleibsel einer alten Stadt. Noch andere Reisende kamen; aber ausführlichere Mitteilungen gelangten erst wieder zur Kenntnis des Publikums, als im Jahre 1843 der Prediger Lehmann (Geistlicher in dem benachbarten Dorfe Prötzel) einen auf genaue Forschung gegründeten Bericht veröffentlichte. In diesem heißt es: Die merkwürdige Stadtstelle Blumenthal ist unstreitig[3] in alten Zeiten ein menschlicher Wohnort gewesen. Man sieht noch jetzt Spuren von Feldsteinmauern. Vor einigen Jahren sind von den Waldarbeitern mehrere Werkzeuge, Hämmer, Sporen u. dergl. gefunden worden, die, den Kindern dann zum Spielen gegeben, leider wieder verloren gingen. Kalk wird noch jetzt dort gefunden. Die Stadt soll von den Hussiten auf ihrem Zuge nach Bernau zerstört worden sein. Einige meinen, daß die Zerstörung älter sei. Der große platte Stein innerhalb der »Stadtstelle« (der sogenannte Mark- oder Marktstein) ist vielleicht ein Denkmal aus der heidnischen Zeit. Es ist nicht undenkbar, daß hier, mitten im Urwalde, schon die Semnonen einen Volksversammlungsplatz oder eine Opferstätte hatten, und daß die Städte erbauenden Wenden (oder vielleicht auch erst die Sachsen), als sie an dieser Stelle einen Wohnort gründeten, den heidnischen Opferstein liegenließen, wo er lag, weil es unmöglich war, ihn fortzuschaffen. Dieser Markstein wird hier auch noch liegen, wenn von den Feldsteinmauern ringsumher längst die letzte Spur verschwunden ist. Sollen diese Spuren gewahrt werden, so ist es die höchste Zeit. Schon hat die Pflugschar ganze Strecken der »Stadtstelle« in Äcker umgewandelt, und der Eichenwald ist hin, der diese Stelle so lange in seinen Schutz nahm.

Soweit der Bericht von 1843. Ich suche nun in Nachstehendem zu schildern, wie ich beinahe 20 Jahre später (1862) die Stadtstelle gefunden habe.

Von dem Hügelrande aus gesehen, der die schon genannte »Suhle« einfaßt, hat man nach Osten (nach Prötzel) hin ein wellenförmiges, hier und da angebautes Stück Land vor sich, das an einzelnen Stellen von lose aufgetürmten, sehr niedrigen Steinmauern eingefaßt, an anderen Stellen mit großen Feldsteinen wie besäet ist. Wer viel in der Mark gereist ist, dem fällt der Anblick zunächst nicht auf, denn es gibt unendlich viele solcher mit Feldsteinmassen übersäter Felder, deren Feldsteinblöcke – um das Feld doch einigermaßen nutzbar zu machen – die Menschenhand bei Seite geworfen, sozusagen an den Tellerrand gelegt und dadurch ein freies Feld mit einer steinernen Einfriedigung geschaffen hat.