Die schwarzen Tränen von Sines - Claudia Santana - E-Book
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Die schwarzen Tränen von Sines E-Book

Claudia Santana

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Beschreibung

Vinho verde und grausame Morde im Alentejo.

Archäologen entdecken bei Ausgrabungen in der Hafenstadt Sines alte Skelette und finden dabei einen Hinweis auf eine erst seit Kurzem vermisste Person. Wie ist das möglich? Dann werden zwei Leichen gefunden, darunter die des Vermissten, und Inspektor Nuno Cabral übernimmt die Ermittlungen. Wie hängen die beiden Morde zusammen? Bald gerät die Umweltaktivistin Teresa Pinto, auf die er ein Auge geworfen hat, unter Verdacht. Als Cabral an den Leichen seltsame Symbole bemerkt, beginnt er die grausame Wahrheit zu begreifen. Aber kann er einen weiteren Mord verhindern?

Ein Wettlauf gegen die Zeit für Inspektor Nuno Cabral – vor der faszinierenden Landschaft Portugals.

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Über das Buch

Vinho verde und grausame Morde im Alentejo.

Archäologen entdecken bei Ausgrabungen in der Hafenstadt Sines alte Skelette und finden dabei einen Hinweis auf eine erst seit Kurzem vermisste Person. Wie ist das möglich? Dann werden zwei Leichen gefunden, darunter die des Vermissten, und Inspektor Nuno Cabral übernimmt die Ermittlungen. Wie hängen die beiden Morde zusammen? Bald gerät die Umweltaktivistin Teresa Pinto, auf die er ein Auge geworfen hat, unter Verdacht. Als Cabral an den Leichen seltsame Symbole bemerkt, beginnt er die grausame Wahrheit zu begreifen. Aber kann er einen weiteren Mord verhindern?

Ein Wettlauf gegen die Zeit für Inspektor Nuno Cabral – vor der faszinierenden Landschaft Portugals

Über Claudia Santana

Claudia Santana wurde in Hamburg geboren und lebt heute in Norderstedt. Der Liebe wegen kam sie 2009 zum ersten Mal nach Portugal. Schon bald war sie fasziniert von der Gelassenheit und Freundlichkeit der Menschen in der Hafenstadt Sines, wo die Familie ihres Mannes lebt. Für sie ist das Land wie eine Schatzkiste voller alter Geschichten, morbide und geheimnisvoll.

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Claudia Santana

Die schwarzen Tränen von Sines

Inspektor Cabral ermittelt

Ein Portugal-Krimi

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Danke

Impressum

The old man.

He is everywhere.

Prolog

Ein Feuer loderte im Kamin. Die Holzscheite knisterten und knackten, bevor sie schließlich mit einem letzten Aufglimmen zerbarsten und zu Asche zerfielen. Inȇs legte neue Scheite nach. Ihre Wangen glühten, wenn sie sich nah bei den Flammen aufhielt, doch abgesehen davon war ihr kälter als jemals zuvor. Die Kälte war in ihr. Eine eisige Vorbotin.

Dabei war es ein heiterer Tag. Ihre Tochter war ganz vertieft in ihre Stickarbeit, ihr Zweitältester schaukelte auf seinem hölzernen Schaukelpferd vor und zurück. Er lachte sein helles Kinderlachen. Der Kleinste schlief friedlich in seiner Wiege. Und doch konnte sie die Rückkehr des Mannes, der der Vater ihrer Kinder und ihr ganzes Glück war, heute kaum erwarten.

Ein Poltern am Tor ließ sie erstarren. Jemand hämmerte mit den Fäusten gegen das schwere Holz. Sie vernahm Männerstimmen, unheilvoll und unnachgiebig. Sie rührte sich nicht. Sie war ganz alleine mit den Kindern. Wenn sie so tat, als wären sie nicht da, würden die Männer wieder gehen?

Doch das Holz war nicht schwer genug. Es gab nach, und das Tor flog auf. Die Männer waren jetzt in der Eingangshalle. Mit donnernden Schritten auf dem kalten Stein näherten sie sich.

Inȇs riss ihren Sohn aus dem Schaukelpferd und drückte ihn an sich. Schützend stellte sie sich vor ihre Tochter und die Wiege mit dem Kleinkind.

Dann waren sie da. Drei Männer. Straffe Haltung, entschlossene Gesichter. Blicke, aus denen Verachtung sprühte, trafen sie. Die völlige Abwesenheit von Mitgefühl. Sie wusste sofort, wer die Männer geschickt hatte. Auch wenn sie bis zu diesem Moment nicht hatte glauben wollen, dass er tatsächlich so weit gehen würde. Dass nun alles vorbei sein sollte.

Wenigstens die Kinder mussten sie verschonen. Die Älteste kauerte weinend in einer Ecke. Ihre Handarbeit war ihr aus der Hand geglitten und lag unbeachtet zu ihren Füßen. Der Kleinste in der Wiege begann zu schreien, obgleich er die Gefahr nicht begriff. Doch er spürte, dass etwas nicht stimmte. Ihr Sohn klammerte sich mit den zarten Kinderarmen und seinem ganzen Gewicht verzweifelt an ihren Hals. Sie drückte ihn an sich, warf sich auf die Knie und flehte die Männer an, sie zu verschonen.

Einer riss das Kind aus ihren Armen. Die beiden anderen packten sie an den Schultern und beugten sie vor. Ihr rotgoldenes Haar löste sich aus den Kämmen und ergoss sich über ihr Gesicht, fiel in Wellen auf den glatten Steinboden. Sie sprachen nicht mit ihr, erklärten nichts. Es war auch nicht nötig, sie wusste alles. Die Klinge an ihrem Hals war kalt wie Eis. Ihr Blut warm und pulsierend, als es aus ihr herausströmte. Wie ihr viel zu kurzes Leben. Ihr letzter Gedanke war, dass er nun zu spät kommen würde. Und dass er mit diesem Wissen weiterleben musste.

1

Cabral war kurz davor einzunicken, als er hörte, wie sich die Tür endlich öffnete und jemand in den Hauseingang trat. Seit einer halben Stunde saß er auf einer der unteren Stufen im Dunkel des Treppenhauses und wartete auf Mário Gouveia, den ehemaligen Präsidenten des Gemeinderats, und dessen Frau Elisabete. Sie wollten gemeinsam zu Mittag essen. Die Metallstäbe des Geländers, an das er sich gelehnt hatte, gruben sich in seinen Rücken und hatten vermutlich bereits tiefe Abdrücke hinterlassen. Auch war ihm das rechte Bein eingeschlafen. Obwohl er nur noch selten Schmerzen verspürte, waren die Muskeln von der monatelangen einseitigen Belastung verhärtet und machten es ihm schwer, sie zu entspannen. Anders als beim linken Oberschenkel, der bei seinem Unfall in Angola unverletzt geblieben war.

Er hatte sich schon halb erhoben, da erkannte er, dass es sich nur um eine Person handelte. Dem Umriss nach war es weder Gouveia noch dessen Frau. Lautlos ließ er sich auf die Stufen zurücksinken.

Der Mann war mittelgroß und von sportlicher Gestalt. Er trug ein übergroßes Sweatshirt mit einer Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Beim Betreten des Treppenhauses schien er kurz irritiert. Das trübe Licht hier drinnen stand in starkem Kontrast zu der gleißenden Helligkeit draußen auf der Straße. Für einen Moment musste er innehalten, damit sich die Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten. Er ließ etwas offensichtlich Schweres von seinem Rücken gleiten und schob den unförmigen Gegenstand in eine Ecke des Hausflurs.

Cabral konnte nicht erkennen, was es war. Er musste Gouveia sagen, dass er seinem Hausmeister ein bisschen Dampf unterm Hintern machen sollte, damit der endlich das defekte Oberlicht austauschte. Andererseits war Cabral so nahezu unsichtbar, und irgendetwas sagte ihm, dass das gut war. Er kannte Gouveias Nachbarn, und keiner von ihnen würde ein Kapuzenshirt tragen.

Der Mann brauchte nur wenige Sekunden, um sich zu orientieren. Cabral hatte den Eindruck, dass ihm die Gegebenheiten sogar vertraut waren. Er bewegte sich so sicher, als kenne er jede Ecke und jeden Winkel. Jetzt näherte sich der Eindringling – Cabral hatte sein Urteil über ihn bereits gefällt – zielstrebig ausgerechnet der Tür, hinter der er mit Gouveia und seiner Frau längst am Esstisch sitzen sollte.

Der Mann klopfte. Nichts rührte sich. Er klingelte, aber es blieb ruhig in der Wohnung. Dann bückte er sich, hob die Fußmatte an und tastete die Unterseite ab. Cabral vernahm ein Geräusch. Es hörte sich an, als würde ein Klebestreifen mit einem Ruck von etwas abgezogen. Er fluchte innerlich darüber, dass er nur Schemen in der Finsternis ausmachen konnte.

Der andere hatte einen Schlüssel gefunden, den er ins Schloss steckte und herumdrehte. Cabral wurde es zu bunt. Hier stimmte etwas nicht. Langsam zog er sich am Treppengeländer hoch, damit er dem Einbrecher folgen und ihn auf frischer Tat ertappen und festnehmen konnte. So leise wie möglich setzte er einen Fuß vor den anderen und näherte sich dem Mann. Der öffnete die Tür vorsichtig nur einen Spaltbreit. Er schien zu befürchten, dass von innen eine Sicherheitskette eingehakt sein könnte, die Bewohner sein Klopfen und Klingeln nur nicht gehört hatten und doch zu Hause waren. Seine Hand glitt jedoch ungehindert an der Türkante nach oben. Da war nichts.

Cabral fragte sich, wo Gouveia und Dona Elisabete steckten. Er hatte ihr Handy angerufen, doch wie so oft war es ausgestellt. Gouveia war gerne unerreichbar, besonders wenn er und seine Frau im Café um die Ecke ihre bica zu sich nahmen und mit den Nachbarn schwatzten. Doch als Cabral dort vor ihrer Verabredung noch schnell ein Päckchen Zigaretten gekauft hatte, waren sie nicht dort gewesen. Er verstand nicht, wieso sie nicht zu Hause waren. Doch vielleicht war das jetzt ihr Glück.

Der Mann öffnete die Tür ganz und trat ein. Eine eigentümliche Mischung von Gerüchen wogte in das Treppenhaus. Der Geruch von gegrillten Sardinen, der sich über Jahre in jeder Ritze in der Küche eingenistet hatte, verband sich mit dem frischen Duft von Weichspüler. Und dem köstlichen Aroma von etwas, das im Ofen vor sich hin schmorte. Cabral lief das Wasser im Mund zusammen. Zu seiner Anspannung kam Ärger hinzu. Er hatte Hunger. Und dort drinnen wartete sein Mittagessen.

Die Eingangstür öffnete sich erneut. Die vertrauten Stimmen von Gouveia und Dona Elisabete drangen in die Stille des Treppenhauses. Cabral musste handeln. Er durfte die beiden nicht in ihrer Wohnung auf den Einbrecher treffen lassen, der womöglich bewaffnet war.

Ohne Vorwarnung stürzte er aus dem Dunkel. Dona Elisabete stieß vor Schreck einen spitzen Schrei aus.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, befahl Cabral. »Da ist jemand in …«

Doch es war bereits zu spät. Der Schrei hatte den Mann auf den Plan gerufen. Er trat aus der Wohnung. Mit ausgebreiteten Armen stellte sich Cabral vor seine Freunde, als wäre er ein lebendiger Schutzschild. Und dann ging alles blitzschnell. Der Einbrecher fuhr mit seiner rechten Hand in die Hosentasche. Mit einem Satz war Cabral bei ihm, schlang ihm die Arme um den Oberkörper und rang ihn nieder. Er riss einen Arm auf den Rücken und drückte ihn zu Boden.

Der zarte Duft von Jasmin brachte Cabral kurz aus dem Konzept. Bevor er begriff, glitt dem Einbrecher die Kapuze vom Kopf. Eine Flut dunkler, langer Haare ergoss sich über den Fliesenboden. Eine Frau?

»Was zum Teufel –«

»Sind Sie verrückt geworden?«, presste die Frau aus ihrer unbequemen Position hervor. »Lassen Sie mich sofort los!«

Ein weiterer Schrei von Dona Elisabete gellte bis unter das Dach des Hauses. »Das ist Teresa! Mário, so tu doch etwas.«

Teresa? Cabral lockerte seinen Griff. Gouveia packte ihn von hinten an der Schulter und zog ihn weg von der Person, die sich jetzt aus der Umklammerung wand und panisch auf die Füße sprang.

»Ich bin Chefinspektor Nuno Cabral –«, setzte er an.

Weiter kam er nicht.

»Nuno, lass gut sein.« Gouveia verstärkte den Druck seiner Hand auf Cabrals Schulter.

»Gehen Sie weg von mir!« Die Stimme der Frau klang angstvoll.

»Teresa, Liebes, es ist alles in Ordnung. Nuno ist Polizist. Und … ein Freund«, erklärte Dona Elisabete, aber es klang, als müsse sie sich die letzten Worte mühevoll abringen. »Hast du dir wehgetan? Geht es dir gut?«

Die Frau klopfte sich Schmutz von der Kleidung. »Nichts passiert. Außer dem Schreck.«

»Dann lass dich endlich umarmen!«

Die beiden Frauen fielen sich in die Arme. Cabral verstand gar nichts mehr. Dann hielt Dona Elisabete die Frau eine Armlänge von sich entfernt. Sie ließ den Blick über ihre Gestalt wandern, wie um ihr Gewicht zu prüfen und abzuschätzen, ob sie in letzter Zeit ausreichend zu essen bekommen hatte. Wie sie das machte, war Cabral ein Rätsel, denn bei all dem standen sie immer noch in der Dunkelheit, was ihn zunehmend nervte. Er wollte das Gesicht der Frau sehen.

Gouveia zog Cabral am Arm ein Stück von den beiden weg. »Das ist Teresa, die Tochter von Elisabetes bester Freundin.«

»Und wieso schleicht sie hier herum und bricht bei Ihnen ein?«

»Niemand ist eingebrochen. Sie hat doch den Schlüssel benutzt, oder? Elisabete hatte ihr gesagt, wo sie ihn findet, falls sie ankommt, wenn wir nicht zu Hause sind.«

»Aber sie war schließlich vermummt! Mehr oder weniger.« Cabral hörte Gouveia seufzen. Er wollte sich gerade weiter darüber auslassen, wie leichtsinnig es war, den Schlüssel unter der Fußmatte zu deponieren, als Dona Elisabete sagte: »Es gibt Bacalhau à Brás! Das hast du doch früher immer so gern gegessen.«

In Cabral regte sich neuer Unmut. Dona Elisabete hatte dieses Essen eigentlich für ihn zubereitet. Er liebte dieses Gericht aus kleinen Stückchen von Stockfisch, Paprika, Zwiebeln, Tomaten, Kartoffeln und einer spektakulären Menge Olivenöl. Manche gaben noch Eier dazu. Dona Elisabete jedoch verzichtete darauf, genau wie früher seine Mutter.

»Danke, Tia Elisabete, aber ich möchte erst einmal in mein Zimmer und mich ein bisschen ausruhen. Ich hatte eine lange Reise. Und dann gleich so eine Aufregung.« Der vorwurfsvolle Ton, der sich ohne Zweifel an Cabral richtete, war nicht zu überhören. »Ich schaue später bei euch vorbei.«

»Das verstehe ich gut, Kind. So wollten wir dich wirklich nicht willkommen heißen.« Auch das galt ohne Frage ihm. Inzwischen war er froh, dass es so schummrig war. So musste er nicht auch noch ihre tadelnden Blicke ertragen. Die ganze Situation war absurd.

Teresa drückte Gouveia und seine Frau noch einmal und marschierte danach an Cabral vorbei, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken. Sie ging in die Ecke des Treppenhauses, um einen großen Trekking-Rucksack aufzuheben und ihn sich auf den Rücken zu hieven.

Das war es gewesen. Einfach ein Rucksack. Keine professionelle Einbrecher-Ausrüstung.

»Nun mach schon«, drängte Gouveia und stieß ihm auffordernd den Ellenbogen in die Seite. Doch Cabral sah ihr nur nach, wie sie in das strahlende Sonnenlicht hinaustrat und im nächsten Moment verschwunden war wie eine Erscheinung. Er war noch nicht bereit, eine Entschuldigung auszusprechen. Er fühlte sich immer noch im Recht.

2

Anfänglich aßen sie schweigend. Dona Elisabete vermied beharrlich jeden Blickkontakt mit Cabral. Nur einmal hatte sie ihre Augen auf ihn geheftet. Vielmehr auf seine Arme, nachdem er die Hemdsärmel vor dem Essen aufgekrempelt hatte und seine Tätowierungen zum Vorschein gekommen waren. Er hatte sich so unbehaglich gefühlt, dass er die Ärmel wieder heruntergekrempelt hatte. Wenn auch mit leisem Unmut.

So war das eben mit Tattoos. Die malte man sich nicht auf und wusch sie wieder ab, wenn man auf die Vierzig zuging, so wie er.

Stumm füllte sie danach ihre Teller auf, setzte sich wieder, strich sich über die dezent in Wellen gelegten Haare und aß weiter. Gouveia zog die Augenbrauen in einer Weise hoch, die ihm bedeuten sollte, dass er selbst schuld war an dieser Situation und besser ganz vorsichtig mit allem wäre, was er noch sagen würde an diesem Tag. Selbst sein Versuch, Dona Elisabete zu schmeicheln, war kläglich gescheitert.

»Phantastisch, diese goldbraune Kruste! Ich könnte gleich aus der Pfanne essen«, hatte er ausgerufen beim Anblick des köstlich schmorenden Stockfischs hinter der Ofenklappe. Einsatzbereit hatte er einen Löffel in der Hand gehalten. Dona Elisabete hatte ihm lediglich wortlos mit dem Geschirrhandtuch auf die bereits ausgestreckte Hand geschlagen.

Cabral fühlte sich sehr unwohl. Aber auch ein leichter Ärger regte sich in ihm. Er hatte es nur gut gemeint, seinen Job gemacht. Dennoch war er derjenige, der wie ein Verbrecher behandelt wurde. Gouveia schien das zu spüren. Er startete ein Ablenkungsmanöver.

»Was ist da an der Burg los?«, fragte er. »Ich habe gehört, sie haben die Arbeiter abgezogen. Schon wieder ein Problem mit Schwarzarbeit?«

»Sie haben Knochen gefunden.«

Dona Elisabete ließ den Arm mit der Gabel, die sie gerade zum Mund führen wollte, wieder sinken. Gouveia aß voller Hingabe weiter, sah ihn aber erwartungsvoll an.

»Am Largo Poeta Bocage. Oder am Largo do Castelo. Wie man es will. Kaum ein Mensch kennt ja den korrekten Straßennamen, aber wir bei der Polizei müssen natürlich –«

Er brach ab. Was redete er bloß für einen Blödsinn. Das war nicht das, was die beiden interessierte. Er fing noch einmal an.

»Die haben den Boden aufgerissen, um neue Elektroleitungen zu verlegen. Für den Lift, der zur Avenida Vasco da Gama unten am Strand hinunterführen soll. Und da sind Knochen in der Erde. Nicht ein oder zwei einzelne, verstreute Knochen, sondern komplette Skelette.«

»Alt oder neu?«, fragte Gouveia mit vollem Mund.

Dona Elisabete zuckte kurz zusammen.

»Da sind schon irgendwelche Archäologen aus Lissabon vor Ort. Alles ist abgesperrt, und die Arbeiten an den Leitungen sind erst einmal eingestellt. Jetzt buddeln sie vorsichtig weiter, um weitere Funde möglichst nicht zu zerstören, sondern stattdessen zu sichern. Demnach wohl alt.«

»Musst du dorthin nach dem Essen?« Gouveias Augen hatten einen eigentümlichen Glanz angenommen.

»Ich muss gar nicht. Das ist keine Sache für die Polícia Judiciária. Die GNR hält die Schaulustigen auf Abstand, damit sie nicht überall herumtrampeln, wo sie nichts zu suchen haben. Ich schaue da nur so vorbei.«

Cabral erzählte nicht, dass sein Arbeitsalltag seit Monaten recht unausgefüllt war. Er bestand fast ausschließlich aus Auseinandersetzungen mit prügelnden Ehemännern. Häusliche Gewalt galt in weiten Teilen der portugiesischen Gesellschaft immer noch als Naturgesetz. Cabral verabscheute diese Betrachtungsweise. Und davon abgesehen langweilte es ihn.

»Großartig! Ich komme mit und mache Fotos«, sagte Gouveia.

»Mário!« Die Miene von Dona Elisabete verfinsterte sich. In der Mitte ihrer Stirn bildete sich ein steiles V.

»Was denn für Fotos?«, fragte auch Cabral nicht ohne Befremden.

»Stockfotos.«

»Was bitte?«

»Stockfotos. Die verkaufe ich dann.«

Dona Elisabete schlug die Hände zusammen. »Hat man so was schon gehört. Nuno, so sag doch was!«

Auf einmal konnte sie wieder mit ihm reden.

Gouveia holte zu einer Erklärung aus. »Es gibt jede Menge Plattformen, bei denen man Fotografien und Videofilme hochladen kann. Andere Leute, die nach einem Foto zu irgendeinem bestimmten Thema suchen, können es wiederum gegen Bezahlung herunterladen. Und der Fotograf bekommt einen gewissen Prozentsatz von diesem Download-Preis.«

Immer noch sahen ihn beide eher skeptisch an.

»Ich gebe euch ein Beispiel. Wenn Elisabete das nächste Mal kocht, werde ich sie dabei fotografieren. Natürlich hauptsächlich das Ergebnis, wie dieses Bacalhau-Gericht. Und vielleicht stolpert ein Koch darüber, der ein Foto für seine Speisekarte sucht. Jemand möchte vielleicht seinen Blog oder seine Webseite gestalten, Flyer drucken oder ein Kochbuch illustrieren.«

»Und wer sollte Verwendung für Fotos von ein paar alten Knochen haben? Ein Bestatter?«

Niemand lachte über Cabrals Scherz. Im Gegenteil. Der kurze Moment der Versöhnung mit Dona Elisabete war ruiniert. Sie räumte schweigend den Tisch ab und begann mit dem Abwasch. Allein. Das war Frauensache in Portugal. Immer noch. Wenigstens in ihrer Generation.

Cabral bedankte sich für das Mittagessen und wollte sich verabschieden, doch Gouveia hielt ihn auf.

»Warte, ich brauche noch mein Stativ.«

»Das ist nicht Ihr Ernst, Mestre.« Er verwendete immer noch diese respektvolle Anrede und siezte Gouveia, während der ihn schon sein ganzes Leben lang duzte. Anders konnte Cabral es sich aber auch nicht vorstellen.

»Aber natürlich. Hab ich doch gesagt.« Gouveia packte kurz ein paar Gegenstände in einen Rucksack, den er sich auf den Rücken schnallte. Dann hängte er sich eine Tasche über die Schulter, die aussah wie ein Pfeilköcher.

»Sekunde. Das geht so nicht. Ich hab gedacht, Sie machen einen Spaß.«

Doch Gouveia hörte ihm gar nicht zu. Er rief seiner Frau einen kurzen Gruß zu und spazierte zur Tür hinaus. Cabral folgte ihm kopfschüttelnd. Er wunderte sich eigentlich nicht über Gouveias Begeisterung. So kannte er ihn. So war er als Präsident der Junta de Freguesia gewesen, und so verbrachte er seine Zeit nach der Pensionierung. Als Hüter der Stadtgeschichte. Typisch für ihn wäre eigentlich, auf eigene Faust herausfinden zu wollen, wessen Gebeine dort unerwartet ausgebuddelt worden waren. Mit Sicherheit hatte er genau das auch vor. Das ganze Gerede über die Stockfotos war garantiert nur ein Vorwand gewesen.

3

Der Menschenandrang am Largo do Castelo war nicht mehr so groß wie am Vormittag. Ein paar ältere Männer standen herum und fachsimpelten über den Fund. Cabral war froh, dass das Spektakel bereits wieder beendet zu sein schien.

»Boa tarde, Inspektor.« Einer der Männer tippte sich mit vom Rauchen gelben Fingern zum Gruß an die Stirn. »Nach dem Rechten sehen?«

»Verdauungsspaziergang.« Cabral grinste.

Es wehte kein Lüftchen. Das gelb-weiße Flatterband mit der Aufschrift GNR-Àrea interdita hing schlaff zwischen den metallenen Haltestäben, die das Areal absperrten. Dahinter klaffte ein tiefes Loch im Asphalt. Gouveia bewegte sich zielstrebig darauf zu, was Cabral in leichte Unruhe versetzte. Aber ehe er eingreifen konnte, wurde er von einem Cabo der GNR angesprochen, der ihm vom aktuellen Stand der Dinge berichten wollte, obwohl Cabral weder sein Vorgesetzter noch im Dienst war.

»Boa tarde, Inspektor. Sie haben was verpasst. Mit Transportern sind die angefahren gekommen, um die Knochen wegzubringen. Die Instrumente, die die dabeihatten, habe ich noch nie vorher gesehen …«

Cabral hörte nur halbherzig zu. Er beobachtete Gouveia. Der trat gerade noch näher an den Fundort heran. Die ganze Szenerie erinnerte an eine altertümliche Ausgrabungsstätte. Zwei junge Männer, die aussahen wie Studenten, hockten in dem Loch und brachten an verschiedenen Stellen Markierungsstäbe in die Erde. Nachdem sie mit zierlichen Pinseln mal hier und mal da herumgewischt und mit Spateln herumgekratzt hatten, beschrifteten sie sie. Was sie schrieben, konnte Cabral nicht erkennen.

Genau genommen war das Loch eigentlich gar kein Loch, sondern eher ein Graben mit einer Länge von zwanzig bis fünfundzwanzig Metern und einer Breite von anderthalb Metern. Der Graben erstreckte sich hinunter bis zu dem kleinen Vorplatz der Igreja Matriz de São Salvador. Die Kirche thronte gemeinsam mit dem Kastell auf der Klippe über der breiten, palmengesäumten Avenida Vasco da Gama, die dort unten parallel zum Stadtstrand verlief.

Eine Frau in den späten Fünfzigern, in Kostüm und mit einer bis auf die Nasenspitze vorgeschobenen Brille, lief außerhalb der Grabungsstelle zwischen den beiden Studenten hin und her. Sie gab Anweisungen, wobei sie sich gebärdete, als wäre sie sehr wichtig. Große, nahezu dramatische Gesten begleiteten jeden ihrer Sätze. Mit strenger Miene und nur mühsam verborgener Empörung ging sie auf Gouveia zu, als sie sah, dass er einfach das Flatterband hob und sich gefährlich nahe an die Ausgrabungskante bewegte.

»Treten Sie bitte zurück, Senhor. Sie dürfen sich hier nicht aufhalten. Was glauben Sie, wofür das Absperrband da ist?«

»Boa tarde«, erwiderte Gouveia seelenruhig. Er nahm seine Stativtasche von der Schulter und ließ den Rucksack vom Rücken gleiten. Bäuchlings legte er sich auf den Boden an den Rand des Grabens. Die Frau schnappte nach Luft.

»Presse«, log Gouveia, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wenden Sie sich an den Chefinspektor. Der kann Ihnen das bestätigen. Dort drüben.« Er wies zu Cabral.

Im Stechschritt marschierte die aufgeregte Frau auf Cabral zu. Wie ein Stier senkte sie den Kopf zum Angriff. Er war augenblicklich genervt. Was hatte er hier überhaupt zu suchen? Noch bevor sie vor ihm zum Stehen kam, forderte sie ihn bereits auf, für Ordnung zu sorgen und Gouveia zu entfernen. Er hätte ihr ja auch alles hoch und heilig versprochen, nur um sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Doch auch beim dritten Versuch, etwas zu sagen, fiel sie ihm ins Wort. Ihm platzte der Kragen.

»Ruhe!«

Sie hielt inne, holte jedoch gleich wieder tief Luft, und schon sprudelten die Worte wieder aus ihr heraus. Am Rande vernahm Cabral etwas von Nachspiel und Konsequenzen, Vorgesetzten und Beschwerden.

»Hören Sie, Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben! Hören Sie mir überhaupt zu?«

Cabral blieb ihr die Antwort schuldig. Erstaunt beobachtete er Gouveia, wie er nach und nach eine sehr professionell aussehende Ausrüstung aufbaute. Vor kurzem hatte er seinen einundsiebzigsten Geburtstag gefeiert. Aber wurde er im Alter vernünftiger? Davon konnte keine Rede sein. Insgeheim bewunderte Cabral ihn dafür. Er hatte sich immer gewünscht, sein Vater hätte ein klein wenig von Gouveias Neugier und Begeisterungsfähigkeit gehabt.

Der lag immer noch auf dem Bauch im Dreck, vor sich ein dreibeiniges Stativ. Oben aufgeschraubt befand sich eine kleine digitale Kamera. Er veränderte seine Lage, schob das Stativ vor und zurück, neigte den Kopf zur Seite. Er war so in seinem Element, dass er um sich herum nichts mehr zu bemerken schien. Im Bruchteil einer Sekunde traf Cabral eine Entscheidung, die er sich später selbst nicht mehr erklären konnte.

»Senhora, dieser Mann ist autorisiert. Er macht die offiziellen Tatort-Fotos.«

»Tatort? Aber es ist doch kein Verbrechen geschehen. Wir haben einen archäologischen Fund sichergestellt.«

»Das ist polizeiliche Routine. Bitte beruhigen Sie sich und lassen Sie ihn seine Arbeit machen.« Warum tat er das? Weil er seinem Freund und Mentor nicht den Spaß verderben wollte? Oder weil ihm einfach das Gehabe dieser Frau zuwider war?

Sie schnaubte vor Wut und marschierte davon, wobei sie kleine Staubwolken aufwirbelte. Cabral ging zu Gouveia. Er erhaschte einen Blick auf dessen Gesicht, das sich zu einem Grinsen verzog. Er hatte alles mitbekommen. Cabral gab ihm einen sanften Tritt mit der Stiefelspitze in die Seite. Gouveia lachte leise in sich hinein. Cabral beschloss, in nächster Zeit besser ein Auge auf ihn zu haben.

4

Zurückgelehnt starrte Cabral auf die Wand vor sich. Notizzettel, Computerausdrucke, Zeichnungen, Fotografien.

Alles aus Fällen vor seiner angolanischen Phase, wie er die Zeit nannte, in der er dort an der Polizeischule gearbeitet hatte. Seiner angolanischen Trotzphase, wie Mário Gouveia es nannte. Für ihn war seine Flucht nach Afrika nichts anderes gewesen. Weglaufen, sich verweigern, sich unsichtbar machen. Trotz. Vor allem seinem Vater gegenüber. Cabral wusste, dass es das allein nicht gewesen war. Es war auch seine Trauerzeit gewesen, nachdem seine Mutter bei dem tragischen Unfall auf den Klippen ums Leben gekommen war.

Der Kreis hatte sich geschlossen. Er war wieder in Sines. Er war jetzt Chefinspektor. Mit gerade einmal vierzig Jahren. Alles war doch gut. Was war bloß mit ihm los?

Das Telefon klingelte. Er nahm ab.

»Chefinspektor Nuno Cabral, Polícia Judiciária Sines.«

»Gouveia. Hast du Zeit?«

»Wofür?« Zeit hatte er mehr als genug, auch wenn er im Dienst war.

»Ich hab mir die Fotos angesehen, die ich gestern gemacht habe.«

»Und?«

»Ich hab mir die Bilder am Computer auf die doppelte Größe gezoomt. Da ist etwas drauf, das da meiner Meinung nach nicht hingehört.«

Cabral stöhnte auf. »Was denn? Ein alter Goldschatz?«

»Gar nicht so falsch.«

»Ach, Mestre, hören Sie doch auf.«

»Kannst du herkommen und es dir ansehen?«

»Nein, wirklich nicht. Ich bin im Dienst, und Ihr Anruf ist nicht wirklich ein Notruf.«

»Mário! Caracóis!« Das war Dona Elisabete im Hintergrund. Es war Mittagszeit. Caracóis, Schnecken mit viel Knoblauch in Öl gedünstet. Auf einmal war Cabral sehr hungrig.

»In zehn Minuten bin ich da.«

Ungewohnt hastig raffte er seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. Von seinem leeren Magen getrieben schaffte er die Strecke in acht Minuten, für die er normalerweise zwanzig brauchte, wenn er alle paar Meter ein paar Worte mit jemandem wechselte und eine Zigarette rauchte.

Die Eile hatte sich gelohnt. Als ob Dona Elisabete gewusst hatte, dass er mit Sicherheit kommen würde, hatte sie eine extragroße Portion für ihn mit zubereitet. Jetzt nahm er den Rest des würzigen Öls auf seinem Teller mit frischem Brot auf und putzte ihn damit blank. Cabral liebäugelte mit dem Sofa in der anderen Zimmerecke. Er konnte eine Siesta gebrauchen. Doch Gouveia gönnte ihm diese kleine Pause nicht.

»Komm her und sieh dir das an«, sagte er, deutete auf den zweiten Stuhl und forderte Cabral auf, sich neben ihn zu setzen, damit er ebenfalls auf den Bildschirm blicken konnte.

»Ich hab mir die Fotos angesehen«, fuhr Gouveia fort. »Knochen wären interessanter gewesen, aber die waren schon geborgen worden.«

»Na, dann …«, meinte Cabral desinteressiert und wollte sich umgehend wieder erheben.

»Warte!« Gouveia packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Cabral mochte das nicht und machte sich los. »Ich habe aber etwas anderes gefunden. Siehst du das hier?«

Gouveia deutete mit der Spitze eines Bleistiftes auf einen kleinen hellen Fleck auf der Fotografie.

»Und was soll das sein?« Cabral kniff die Augen zusammen.

»Du brauchst eine Brille«, konstatierte Gouveia tonlos. Er vergrößerte noch mehr, was aber leider auch dazu führte, dass das Bild an Schärfe verlor. »Das ist etwas Metallenes. Sieht aus wie Messing oder sogar Gold. Es könnte eine Münze sein, aber da ist noch etwas dran. Sieht aus wie ein Haken.«

»Woher wollen Sie denn wissen, dass das Metall ist?«, meinte Cabral skeptisch. »Ich sehe nur einen hellen Fleck. Mestre, Sie haben zu viel Phantasie.«

»Ich sage dir«, fuhr Gouveia ungerührt fort, »das ist Metall. Und was macht das in diesem Ausgrabungsloch?«

Er stieß Cabral mit dem Ellenbogen zweimal in die Seite. Cabrals Blutdruck stieg.

»Dafür kann es tausend Gründe geben. Vielleicht gehört es zu einem Werkzeug, das die Leute dort zum Graben benutzt haben.«

»Hier ist doch eine Prägung zu sehen«, insistierte Gouveia. Er pikste die Bleistiftspitze auf den Bildschirm.

»Der Herstellername?«, entgegnete Cabral unbeeindruckt.

»Lass uns gehen«, sagte Gouveia.

»Gehen? Wohin?«

»Zu dem Ausgrabungsloch natürlich. Ich will diesen Gegenstand da rausholen.«

»Sind Sie verrückt geworden? Ich bin im Dienst und werde mich jetzt wieder an die Arbeit machen.«

»Dann gehe ich alleine. Ist da noch immer alles abgesperrt?«

»Ja, sicher. Die Leute vom Museum sind weg, aber die haben alles mit Planen abgedeckt. Je nachdem, was sie über die Knochen herausfinden, werden die sicher in den nächsten Tagen wieder da sein. Vielleicht schon morgen. Also beruhigen Sie sich und fragen Sie sie einfach beim nächsten Mal.«

Gouveia schüttelte den Kopf. »Fragen? Auf keinen Fall. Ich will das Ding da selbst rausholen. Wenn es sich um ein Artefakt, zum Beispiel eine Münze, handelt, welches Aufschluss über kulturhistorische Zusammenhänge unserer Stadt gibt, dann sind es auch die Menschen in Sines, die ein Anrecht darauf haben. Wenn diese Dinge aber erst einmal nach Lissabon gebracht werden, landen sie am Ende im Nationalmuseum, und wir sehen sie nie wieder. Du warst ja noch nicht einmal geboren, als 1966 der Schatz von Gaio gefunden wurde. Was glaubst du, wie lange es gedauert hat, bis beschlossen wurde, dass die Schmuckstücke ins archäologische Museum in Sines gehören? Nein, mein lieber Nuno. Ich gehe. Mit dir oder ohne dich.«

5

Der komplett mit grauen Kunststoffplanen abgedeckte Graben war für die Bewohner von Sines nicht mehr interessant genug, um herumzustehen und darüber zu schwadronieren. Außerdem war durch die großzügige Absperrung der Durchgang vom Largo do Castelo zum Kirchenvorplatz versperrt. Fußgänger mussten den Umweg über die Rua Teófilo Braga machen. Nicht einmal der Posten der GNR war noch vor Ort.

Cabral und Gouveia waren also die einzigen Menschen, die sich um die Absperrung nicht scherten und geradewegs auf das verhüllte Loch zusteuerten. Sollte womöglich doch jemand einen flüchtigen Blick in die Gasse werfen, würden sie Cabral als Chefinspektor erkennen und beruhigt sein.

Er hatte Gouveia begleitet, um zu kontrollieren, was dieser vorhatte. Er hatte das Gefühl, dass der Ex-Präsident genauso gelangweilt war wie er selbst. Begierig stürzte der sich auf irgendetwas, in der Hoffnung auf eine sich eventuell offenbarende Sensation.

»Es geht ganz schnell«, sagte Gouveia. »Ich weiß ziemlich genau, wo die Stelle ist. Du brauchst nur die Plane anzuheben, und ich schlüpfe darunter.«

»Sie schlüpfen darunter …«, wiederholte Cabral brummig. »So etwas Bescheuertes. Wenn das jemand sieht … Verdächtiger geht es nicht.«

»Dann heben wir sie eben einfach hoch und schlagen sie zurück. Ganz offen, wenn du meinst, dass das besser aussieht. Aber nun mach schon. Ich glaube, hier müsste es sein. Es war ziemlich nah an dem obersten Ende in Richtung der Burgmauer.«

Cabral blickte sich noch einmal um, bückte sich und nahm die Plane in die Hand. Gouveia ging in die Hocke und duckte sich darunter. Er machte einen kleinen Satz und war verschwunden. Plötzlich hörte Cabral Schritte hinter sich. Er ging ebenfalls in die Hocke und begann an der Plane zu ziehen und zu zerren. Ein alter Mann mit einem krummen Krückstock tauchte innerhalb der Absperrung hinter ihm auf. Er blieb stehen und sah ihm über die Schulter.

»Alles verrutscht hier«, fluchte Cabral. »War wohl zu windig.«

Windig. Was rede ich für einen Schwachsinn. Seit Tagen weht kein Lüftchen.

Aber der alte Mann gab nur einen unbestimmten Brummlaut von sich und entfernte sich wieder. Cabral atmete auf.

»Was ist denn jetzt?«, rief er verhalten in Gouveias Richtung. Der gab keine Antwort, was ihn beinahe auf die Palme brachte. Nach zwei oder drei weiteren zermürbenden Minuten war Gouveia wieder da. Wie ein Wiesel, das aus seiner unterirdischen Höhle auftauchte. Er grinste, sagte aber nichts. Sorgfältig deckten sie alles wieder ab. Cabral fühlte sich, als wäre er nicht Polizist, sondern ein Verbrecher, der seine Spuren verwischt. Anschließend machten sie sich davon, als wäre nichts geschehen.

»Wohin wollen Sie denn jetzt? Nun sagen Sie doch etwas!« Cabral folgte Gouveia, der leichtfüßig und augenscheinlich zehn Jahre jünger die Gasse hinuntertrabte. Es musste ein außergewöhnlich interessanter Fund sein.

»Zu Azevedo.«

»Dem Zahnarzt?«

»Zahntechniker.«

»Von mir aus auch das. Und was soll das?«

»Wirst du schon sehen.«

Sie erreichten den kleinen Platz Largo 5 de Outubro und bogen an der ersten Häuserecke scharf rechts ab. Vor der dritten Tür in der Reihe stoppte Gouveia. Die Fassade des Hauses war vollständig mit Keramikfliesen verkleidet. Bedauerlicherweise nicht mit kunstvollen Azulejos, die Landschaften oder Pflanzenornamente zeigten und manchmal in kunstvollen Bildern die Geschichte des Landes erzählten. Blau-weiß waren diese zwar auch, aber das Dekor war billig, an vielen Stellen verblasst und mit Rissen durchsetzt wie ein trockenes Flussbett.

Gouveia klopfte zweimal, dann noch mal und wiederholte das Ganze ein weiteres Mal. Es war, als ahmte er einen Herzschlag nach. Cabral ahnte, was das zu bedeuten hatte.

Die Tür öffnete sich, und ein alter Mann erschien. Kurz wirkte er erstaunt, dann breitete sich Freude auf seinem Gesicht aus. Er war so schmal und wirkte so fragil, dass Cabral befürchtete, ein kräftiger Wind vom Atlantik auf offener Straße würde ihn wahrscheinlich aus den Schuhen wehen. Weißes Haar umrahmte sein Gesicht. Kluge kleine Knopfaugen hinter einer Brille mit feuerroter Fassung sahen sie an. Er breitete die Arme aus, und Gouveia umarmte ihn herzlich. Cabral hatte Sorge um die Knochen des Mannes, der zart wie ein Vögelchen schien.

»Nuno, ich möchte dir Marco Azevedo vorstellen«, sagte Gouveia, als er von dem anderen abließ. »Er ist …«

»… ein alter Freund von Ihnen. Natürlich.« Das ungewöhnliche Klopfzeichen hatte Cabral bereits ahnen lassen, dass auch der alte Azevedo, genau wie Gouveia, Acacio Fernandes von der Busstation und seine Pensionswirtin Dona Augusta, zu den Kämpfern der Resistência gegen Salazar gehört hatte.

»Lass uns in deine Werkstatt gehen«, drängte Gouveia. Azevedo ging voraus in einen angrenzenden Raum, ohne nach dem Grund zu fragen. »Du hast doch sicher Lupen, oder?«

Jetzt dämmerte Cabral, was hier vor sich ging. Azevedo fertigte in seiner Werkstatt Zahnersatzteile aller Art an, und natürlich hatte er für die Feinarbeiten neben seinen Werkzeugen auch Lupen. Azevedo drehte sich im Kreis in die eine und wieder in die andere Richtung, als schien er sich plötzlich in seiner eigenen Werkstatt nicht mehr auszukennen. Dabei schmiss er sich die Enden seines Schals wie ein Operntenor über die Schulter. Gouveia ließ ihm Zeit, bis er sich gesammelt hatte.

»Setzt euch hierher«, sagte Azevedo und zog zwei Stühle an den Arbeitstisch heran. Über allem lag feiner weißer Schleifstaub. Azevedo baute eine Lupe auf, die wie eine Leselupe aussah, hinter die sich Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit ein Buch klemmen konnten. Die Vergrößerung war enorm.

Nun endlich zog Gouveia seinen Fund aus der Hosentasche. Er hielt ihn in der geschlossenen Hand wie nach einem Beutezug triumphierend in die Höhe, dann öffnete er die Faust. Auf seiner flachen Hand lag ein Manschettenknopf.

»Mestre«, stöhnte Cabral. Die Show, die Gouveia abzog, nervte ihn.

Gouveia legte das Schmuckstück hinter das Vergrößerungsglas. Deutlich trat eine Prägung hervor.

»Mein Gott, ist der hässlich«, stieß Cabral hervor. Gouveia und Azevedo wandten sich beide gleichzeitig zu ihm um. »Ich meine ja nur. Wer trägt denn Manschettenknöpfe mit Löwenköpfen? Wer trägt heutzutage überhaupt noch Manschettenknöpfe, wenn man es genau nimmt? Nicht einmal ich …«

»Ältere Herren?«, warf Gouveia ein.

»Oder Geldsäcke«, ergänzte Cabral.

»Zuhälter.« Cabral und Gouveia sahen Azevedo an. Dass der so viel Phantasie hatte, überraschte sie.

»Wir sind uns doch wohl einig, dass so ein Manschettenknopf nicht schon Hunderte von Jahren in der Erde gelegen hat«, überlegte Gouveia laut. »Die Studenten tragen so etwas nicht bei der Arbeit. Also muss jemand unbefugt dort unten gewesen sein, nachdem das alles aufgerissen worden ist.«

»Geldsäcke und Zuhälter kriechen bestimmt nicht zum Spaß in dem Loch herum. Schon gar nicht in einem Aufzug, zu dem dieses Schmuckstück passen würde«, meinte Cabral. »Ältere Herren ebenso wenig. Es sei denn …«

»Was?«

»Ach, nichts.« Es sei denn, sie heißen Mário Gouveia, wollte er sagen, aber er verkniff es sich.

»Da sind Buchstaben auf der Rückseite. Ihr habt euch nur die Vorderseite mit diesem entsetzlich geschmacklosen Tierkopf angesehen.«

Gouveia nahm ihm den kleinen Gegenstand aus der Hand und hielt ihn erneut hinter das Vergrößerungsglas, nur andersherum.

»Tatsächlich«, sagte er. »Hier ist etwas eingraviert. Sieht aus wie ein E und ein N. Nein, kein E. Der eine Strich ist nur ein Kratzer. Das ist ein F. F und N. FN. Ganz sicher Initialen.«

»Dann seht mal zu, wie ihr das Rätsel löst.« Azevedo nahm eine Zigarette aus der Packung, ein Feuerzeug und ging vor die Tür. Cabral und Gouveia blieben sitzen, obwohl Cabral es dem alten Mann nur zu gerne gleichgetan hätte. Doch er versuchte diesmal ernsthaft, sich das Rauchen abzugewöhnen. Dona Augusta wurde nicht müde, ihm dazu zu raten. Aus gesundheitlichen Gründen und weil sie der Geruch des kalten Rauchs störte, der in seinen Klamotten hing, wenn er vom Dienst kam. Sie befürchtete wahrscheinlich, dass sich dieser Geruch irgendwann auch in den Wänden ihrer ehrenwerten Pension einnisten würde. Cabral respektierte die alte Dame, daher gab er sich wirklich Mühe, sich selbst zu disziplinieren.

»Was können wir tun?«, fragte Gouveia. »Mich würde sehr interessieren, wer der Besitzer von dem Ding ist.« Er drehte den schimmernden Knopf in den Fingern hin und her.

»Steigern Sie sich da in nichts hinein, Mestre. Das mag völlig uninteressant und banal sein«, erwiderte Cabral nüchtern.

»Kann sein. Kann aber auch anders sein. Du hast gedacht, ich hab sie nicht alle, als ich Fotos machen wollte, und auch, als ich den Fleck auf den Bildern gesehen habe. Aber ich habe Recht behalten. Und ich schwöre dir, da steckt noch mehr dahinter. Es tut doch keinem weh, ein paar Nachforschungen anzustellen. Wenn nichts dabei herauskommt, bitte sehr, dann ist das Thema erledigt. Aber wenn doch …«

»Und wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich könnte hiervon noch ein paar gute Close-ups machen. Die stelle ich auf meine Facebook-Seite und frage, ob jemand dieses Ding schon einmal gesehen hat.«

Close-ups? Facebook? Schnappte Gouveia jetzt über?

»Wollen Sie dort etwa auch noch verraten, wie Sie da rangekommen sind? Womöglich handeln Sie sich eine Anzeige von der Museumstante ein. Die war schon sauer genug wegen der Fotos.«

»Schlag was Besseres vor.«

Cabral presste zwei Finger auf seine Nasenwurzel. Gouveia ließ ihm Zeit zum Nachdenken.

»Bevor wir uns auf diese Weise Ärger einhandeln, behaupte ich lieber, wir haben den Manschettenknopf bereits gefunden, als die Arbeiten noch in Gang waren. Sie hätten ihn aus der Grube gefischt und der GNR übergeben. Ganz offiziell. Cabo Parreira hatte Dienst an der Ausgrabungsstätte. Ich werde sehen, ob er mit sich reden lässt und bei dieser Version mitspielt. Er scheint mir nicht so kooperativ wie Cabo Santana zu sein, aber ich kann es versuchen.«

»Hast du etwas von ihm gehört?«

»Von Cabo Santana? Er macht sich gut bei der PJ in Lissabon. Die ersten Prüfungen hat er bereits erwartungsgemäß gut abgelegt.«

»Schon?« Gouveia schien überrascht.

»Er bringt alle Voraussetzungen mit, die die Ausbildung erfordert«, erklärte Cabral, der den Unteroffizier der GNR überhaupt erst auf die Idee gebracht und ihn beim Bewerbungsverfahren unterstützt hatte. Schließlich hatte er bei seinem inoffiziellen Einstand in Sines dessen Qualitäten bei der Ermittlungsarbeit kennenlernen können.

»Und wie geht es dann weiter?«, fragte Gouveia.

»Die GNR wird dieses Ding zu Protokoll nehmen und danach an mich übergeben, damit wir wegen … sagen wir, wegen versuchter Grabräuberei ermitteln.«

»Ich? Grabräuberei?«

»Nein, nicht Sie, Mestre.« Cabral verdrehte die Augen. »Auch wenn ich gerade große Lust dazu habe. Natürlich derjenige, der den Knopf bei einem unautorisierten Aufenthalt in der Grube verloren hat. Gott, wie bescheuert sich das alleine schon anhört.«

»Und wenn jemand fragt, warum ich es nicht den Ausgrabungsleuten ausgehändigt habe, werde ich sagen, dass ich es nicht der Ausgrabung zugeordnet habe. Sieht ja schließlich jeder, dass es sich um einen Gegenstand aus der heutigen Zeit handelt.«

Cabral sah Gouveia nur an. Er wusste nicht, was er zu der ganzen Sache noch sagen sollte. Vor allen Dingen konnte er nicht fassen, wie der Ex-Präsident ihn dazu hatte bringen können mitzumachen. Nun musste er allen Ernstes versuchen, den Besitzer eines Manschettenknopfes zu ermitteln. Weiter bergab konnte es mit ihm kaum gehen.

Er fragte sich, wie der Arbeitsalltag von Leonel Bernardes, seinem Erzrivalen bei der PJ in Setúbal aussah. Er würde es wohl nie erfahren, denn fragen würde er ihn ganz sicher nicht. Die beiden waren sich spinnefeind.

»Habt ihr nicht auch so etwas wie eine Verbrecherkartei?«, wollte Gouveia wissen.

»Hoah, langsam, Mestre. Sie sind jetzt aber schon ganz woanders.«

»Wieso? Du hast die Initialen. Es ist doch nichts leichter, als mal kurz einen Abgleich mit der Kartei zu machen und herauszufinden, ob ihr da jemanden mit einer passenden Vorgeschichte habt.«

»Passend wozu denn? Es liegt doch keine Straftat vor. Kein Diebstahl, kein Vandalismus. Und zum In-der-Erde-Herumkriechen braucht es keine verdächtige Vorgeschichte. Dafür reicht es aus, ein ehemaliger Präsident der Junta de Freguesia zu sein, wie es scheint.«

»Hör auf Mário«, mischte sich Azevedo ein, der wieder in die Werkstatt getreten war. Er klopfte Cabral aufmunternd auf die Schulter. »Er hat die Nase für so etwas.«

»Komisch«, sagte Cabral mit einem schiefen Grinsen. »Ich dachte bisher, der Polizist wäre ich.«

Azevedo ließ nicht locker. »Das bleibst du ja auch. Aber die Rätsel löst nun einmal Sherlock, und der ist kein Polizist.«

»Nein, der ist ein schräger Egozentriker«, rutschte es Cabral heraus.

Für eine Sekunde waren die beiden älteren Männer wie erstarrt. Cabral war zu weit gegangen. Immer seine verdammte große Klappe. Gouveia lächelte betont munter, was aber nicht verbergen konnte, dass er sich getroffen fühlte.