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Als der Betreiber des Strandlokals "Plavi kormoran" in Opatija bei einem Brand ums Leben kommt, geht die Polizei von einem Racheakt aus, da der Mann in kriminelle Machen schaften verwickelt war. Joe Prohaska, Kriminalhaupt kommissar aus Stuttgart, der seit seiner Frühpensionierung in Istrien lebt, zögert nicht, als Inspektor Rossi ihn bittet, die spurlos verschwundene Geliebte des Opfers ausfi ndig zu machen. Doch das fein gesponnene Netz aus Lügen scheint undurchdringlich ...
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Seitenzahl: 268
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SILVIJA HINZMANN
Prohaskas vierter Fall in Istrien
wtb 044
A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12
Tel. + 43(0)463 37036, Fax + 43(0)463 37635
www.wieser-verlag.com
Copyright © dieser Ausgabe 2020 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-441-3
eISBN 978-3-99047-110-4
Mit deinen blauen Augen
Siehst du mich lieblich an,
Da wird mir träumend zu Sinne,
Dass ich nicht sprechen kann.
An deine blauen Augen
Gedenk ich allerwärts;
Ein Meer von blauen Gedanken
Ergießt sich über mein Herz.
Heinrich Heine
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung, Personen und einige Orte sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
2. Tag Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
3. Tag Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
4. Tag Vierunddreißig
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Decke wegschob und zur Bettkante rückte. Der Mann neben ihr schlief, doch als sie sich auf den Boden gleiten ließ, drehte er sich auf die Seite und stöhnte auf. Erschrocken starrte sie auf seinen Rücken, der sich im Schimmer der LEDs am Flachbildschirm abzeichnete.
Das Zeug, das sie ihm in den Whiskey geschüttet hatte, schien endlich zu wirken. Sie hatte keine Ahnung, ob die Dosis ausreichte, um ein Herzversagen oder einen Atemstillstand herbeizuführen. Wenn dem so war, wollte sie auf keinen Fall dabei sein. Das Einzige, was zählte, war, dieses Haus so schnell wie möglich zu verlassen, sonst würde alles nur noch schlimmer werden. Im schlimmsten Fall würde sie dafür mit dem Leben bezahlen.
Sie raffte ihre Sachen vom Boden zusammen, zerrte aus dem Kleiderschrank den Rucksack hervor, den sie dort versteckt hatte, bevor er zurückgekommen und über sie hergefallen war. Zutiefst gekränkt, angeekelt und voller Angst hatte sie es auch diesmal über sich ergehen lassen.
Als er danach im Badezimmer verschwunden war, hatte sie vier oder fünf Kapseln des Beruhigungsmittels aufgebrochen, das sie in seinem Nachttischchen gefunden hatte und im ersten Moment selbst schlucken wollte. Doch dann hatte sie das Pulver in sein Glas getan. Als er zurückgekommen war, hatte er den Whiskey hinuntergekippt und war wie selbstverständlich zum zweiten Mal grob in sie eingedrungen. Seit dem ersten Tag ihrer Gefangenschaft hatte sie überlegt, wie sie ihm entkommen könnte, aber er hatte ihr den Ausweis, das Handy und das wenige Geld abgenommen, das sie noch hatte. Es sei zu ihrer eigenen Sicherheit. Schließlich sei die Polizei hinter ihr her, sie solle froh sein, dass er ihr hier einen Unterschlupf bot. Sie hatte ihm geglaubt und ihn angefleht, sie über die Grenze nach Slowenien oder mit einem Boot nach Triest zu bringen, aber davon wollte er nichts hören. Es sei viel zu riskant, sie müsse warten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab.
»Was willst du eigentlich? Du hast ein Dach über dem Kopf, zu essen und zu trinken, außerdem Koks und Sex so viel du willst«, hatte er süffisant lächelnd gesagt und hinzugefügt, dass er etwas mehr Dankbarkeit von ihr erwartet hätte.
Dieser Mistkerl! Er sah nur ihren makellosen Körper, ihr Gesicht, die langen blonden Haare und ihre meerblauen Augen. Er sah nur die Fassade, und er verdiente eine Menge Geld auf ihre Kosten. Sie hasste sich dafür, ihn aber noch viel mehr. Sie hatte versucht, ihre Identität, aber vor allem ihre Seele zu schützen. Anfangs dachte sie, irgendwann genug Geld beisammenzuhaben, um irgendwo weit weg ein neues Leben beginnen zu können. Aber bald war ihr klar geworden, dass es dazu niemals kommen würde, wenn sie sich nicht selbst aus der Situation befreite.
Als er sie zu einer Jacht gebracht hatte, war das Maß des Erträglichen überschritten. Dort wartete Antonio Malin mit zwei anderen Männern, die sie noch nie gesehen hatte. Sie war so eingeschüchtert, dass sie kein Wort herausbrachte. Malin war ein paar Mal im Plavi kormoran gewesen und sie hatte bemerkt, dass er sich für sie interessierte, aber das taten andere auch, deshalb hatte sie ihn nicht beachtet. Außerdem war Miroslav rasend eifersüchtig, das behauptete er jedenfalls.
Sie fragte ihn, wer Malin sei und warum er sie ohne mit der Wimper zu zucken auf seine Jacht brachte. Doch Miroslav schnauzte sie an, sie solle den Mund halten und tun, was er von ihr verlangte. Es gehe um wichtige Geschäfte, er habe keine andere Wahl, müsse Malin wegen einer Sache noch eine Weile bei Laune halten, und sie sei die einzige Person, der er noch vertraue und die ihm aus der Klemme helfen könne. Er werde sie dafür großzügig belohnen, sie müsse nur noch dieses eine Mal so etwas tun.
Malin gab sich anfangs charmant und betont höflich. Er wechselte mit dem Mistkerl ein paar Worte, der stieg ins Schnellboot und überließ sie ihrem Schicksal.
Als Malin sie in die Schlafkabine bat, änderte sich die Stimmung. Einer der Männer, ein väterlicher Typ um die sechzig, redete auf sie ein und füllte sie mit Champagner ab. Sie war wie gelähmt und wehrte sich nicht, als sie nacheinander über sie herfielen. Doch als der dritte Mann anfing, mit seinem Smartphone Videoaufnahmen zu machen, bekam sie einen Schreikrampf. Der väterliche Typ stellte sich als aggressiver Wüstling heraus, schnauzte sie an, sie solle kein Theater machen und drohte ihr, sie über Bord zu werfen, wenn sie sich nicht augenblicklich zusammennehme. Malin und der dritte, dessen Namen sie sich nicht einmal merken wollte, gerieten mit dem Alten in Streit, während sie apathisch und mit angezogenen Knien in der Ecke der Kajüte hockte und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Die drei tranken weiter, stritten und lachten abwechselnd, ließen ihr eine halbe Stunde Zeit, sich zu beruhigen und gingen aufs Deck, um zu rauchen. Danach ging es noch eine Weile weiter, bis sie endlich genug hatten und einschliefen. Am nächsten Morgen brachte ihr Malin einen Kaffee und tat so, als sei nichts gewesen. Sie hätte ihm das Gebräu am liebsten ins Gesicht geschüttet.
Miroslav holte sie ab, sprach kurz mit Malin, als ginge es um ein Geschäft, als wäre sie gar nicht vorhanden. Sie war einfach nur fassungslos. Auf der kurzen Fahrt zur Küste sah er stur vor sich hin, während sie zusammengekauert auf der Bank saß und am liebsten über Bord gesprungen wäre. Kaum, dass sie an Land waren, rief Malin ihn an und behauptete, sie habe einem seiner Freunde die Geldbörse gestohlen. Er machte einen furchtbaren Radau, sagte, er habe Beziehungen zu höchsten Kreisen. Da bekam Miroslav Angst, dass Malin am Ende der Polizei einen Tipp geben würde und die Sache in die Öffentlichkeit geraten könnte. Dann wäre Schluss gewesen mit seinem schmutzigen Geld, den dicken Autos, den Drogengeschäften und anderen Machenschaften, und er und seine Kumpanen würden hinter Gittern landen.
Während er seinen Geschäften nachging, hatte sie das Haus aufgeräumt, was er für eine Selbstverständlichkeit hielt. Dabei hatte sie jeden Winkel durchwühlt, und am Nachmittag endlich ihren Ausweis und das Handy in einer Werkzeugkiste im Abstellraum gefunden. Warum er die nicht in den Safe gelegt hatte, war ihr ein Rätsel.
Als er am Abend nach Hause kam und die Tür aufschloss, rannte sie ins Freie. Sie kam nicht weit. Er zerrte sie ins Schlafzimmer, warf er sie aufs Bett und vergewaltigte sie. Sie weinte nicht, hatte keine Tränen mehr, ließ es über sich ergehen und hasste ihn abgrundtief. Er drohte, sie umzubringen, wenn sie noch einmal versuchen sollte wegzulaufen. Nachdem er sich beruhigt hatte, drehte er sich auf die Seite und schlief ein.
Aber das war ein für alle Mal vorbei. Er wird sie nie wieder anfassen. Weder sie noch eine andere. Nie mehr.
Sie nahm ihre Sachen, ging rasch nach unten ins Wohnzimmer und zog sich im Schein der Handylampe an. Dann holte sie seinen Laptop, öffnete den Wandtresor, nahm die Geldbündel und das Samtsäckchen mit den Diamanten heraus und stopfte alles in ihren Rucksack. In einem Anflug von Größenwahn hatte Miroslav ihr tatsächlich gezeigt, wo er sein Geld hortete, und dabei stolz grinsend auch das Samtsäckchen in die Höhe gehalten. Es war einfach gewesen, sich den Code einzuprägen. Zweimal die Runde gegen den Uhrzeigersinn auf dem Tastenfeld. Als sie ihn gefragt hatte, ob er denn keine Angst habe, dass man ihn bestehlen könnte, hatte er nur gegrinst. Niemand würde es wagen, ihm etwas wegzunehmen, sie solle keinen Scheiß reden. Um seine Worte zu unterstreichen, hatte er ihr ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen. Sie war rückwärts auf die Couch gefallen und als sie aufstehen wollte, hatte er sie nach unten gedrückt, sich zu ihr gesetzt und halbherzig um Entschuldigung gebeten. Er habe es doch nur gut gemeint. Sie solle ein braves Mädchen sein und keine Dummheiten machen. Er habe ihr auch etwas mitgebracht, sie solle sich einfach bedienen. Es sei mehr als genug da. Aber sie wollte kein Kokain. Er zog selbst eine Linie durch die Nase und trank Whiskey. Sie hatte ihm dabei stumm zugesehen und ihn innerlich verflucht. Danach hatte er sie wegen ihrer blutenden Unterlippe von hinten genommen. Doch daran wollte sie nicht denken.
Dass sie ihn bestohlen hatte, würde er nicht merken. Er wird überhaupt nichts mehr merken, dachte sie, während sie in ihre Turnschuhe schlüpfte und die Jacke anzog. Sie nahm seine Geldbörse, den Schlüsselbund und die Autoschlüssel und verließ das Haus. Der Nachtwind verfing sich im Geflecht der Zypressen, die wie düstere Wächter die Zufahrt säumten. Hinter einem der Bäume bewegte sich etwas, aber es war zu dunkel, um zu erkennen, was es war. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, dachte sie und fuhr dann doch zusammen, als eine Fledermaus an ihr vorbeihuschte. In den Häusern oben am Hang schliefen die Menschen in ihren Betten. Niemand ahnte, dass sie hier war oder überhaupt existierte.
Sie rannte zum Schuppen, in dem sein schwarzer BMW X5 stand, öffnete die Fahrertür, sprang hinein und startete den Motor.
Die Nacht war ungewöhnlich kalt. Obwohl sie fröstelte, fuhr sie mit offenen Fenstern. Der Fahrtwind half ihr, klare Gedanken zu fassen.
Der schwarze Audi A8 rollte leise an den Straßenrand und hielt neben einem ausladenden Busch. Viktor schaltete den Motor aus und sah zu Karlović, der seine Zigarette im Aschenbecher zerquetschte und sich die Sturmmaske überstülpte. Die andere warf er Viktor zu und nickte.
Widerwillig zog Viktor das Ding an. Es war nicht richtig, dass sie hier waren, sagte er sich zum wiederholten Mal. Was sollte diese Aktion mitten in der Nacht? Die Sache ging ihn im Grunde nichts an. Wenn Karlović eine Rechnung zu begleichen hatte, dann sollte er sie mit dem anderen wie ein Mann klären und nicht wie ein Feigling.
Sie stiegen aus und rannten zum Schotterweg, der zum Haus führte. Viktor sah zu den Häusern weiter oben am Berghang und hoffte insgeheim, dass etwas passierte und sie gezwungen wären, die Sache abzubrechen. Er würde kein Wort darüber verlieren, niemals. Zu bescheuert das Ganze. Wie in einem Actionfilm, nur dass Karlović nicht Bruce Willis war, sondern ein Angeber, der andauernd von irgendwelchen Geschäften und einer Menge Kohle faselte, die er bald besitzen würde. Und natürlich würde Viktor ein Honorar für seine kleine Gefälligkeit bekommen, ist doch Ehrensache.
Viktor wollte aber kein Geld. Er hatte sich dazu nur überreden lassen, weil er den Mann, der in dem Haus da schlief, nicht ausstehen konnte. Aber ihn mitten in der Nacht zu überfallen, war idiotisch, nein, es war kriminell, und sie würden irgendwann dafür bezahlen müssen. Es wäre besser, umzukehren. Soll doch der Idiot zusehen, wie er in die Stadt zurückkam.
Im Gebüsch zirpte ein Zikadenmännchen und verstummte gleich wieder, da es keine Antwort bekam. Nachtfalter schwirrten im gelblichen Licht einer Straßenlaterne. Der Junimond verbarg sich hinter einer zerzausten Wolke. In den Lorbeerhecken raschelte der Wind und trug den Duft von Wildkräutern mit sich. In der Ferne glänzte silbern das Meer. Doch für den nächtlichen Zauber hatten die zwei maskierten Männer weder Interesse noch Zeit. Als sie auf den leicht abschüssigen Weg bogen und im Schatten der Zypressen weiterschlichen, zeichnete sich das Steinhaus am Ende der Allee ab.
»Mensch, pass auf«, knurrte Karlović, als Viktor auf einen trockenen Ast trat.
So ein schönes Haus hätte er auch gerne gehabt, dachte Viktor, während er die mit vier Marmorsäulen gesäumte halbrunde Treppe vor der Eingangstür betrachtete. Bis vor einem Jahr noch war es mehr oder weniger eine Ruine gewesen, an deren Mauern Eidechsen herumhuschten und Efeu und Flechten wucherten. Aber mit Geld lässt sich bekanntlich alles machen. Nicht, dass er neidisch gewesen wäre, aber manche Menschen schafften es einfach besser als andere, sich so etwas zu leisten. Und er gehörte eindeutig zu den anderen.
Karlović blieb abrupt stehen.
»Was ist da los?«
»Was meinst du?«
»Na da, im Erdgeschoss ist doch jemand, aber er kann uns nicht gesehen haben, wir sind zu weit weg«, flüsterte Karlović.
»Vielleicht solltest du die Sache lieber abblasen«, schlug Viktor vor.
»Kommt gar nicht infrage.«
Viktor drückte sich hinter eine Zypresse, die wie eine schwarze Lanze in den Nachthimmel ragte. Die Wolke löste sich auf und gab den Mond frei.
Im Haus ging das Licht aus.
»Ich gebe ihm zwei Minuten«, flüsterte Karlović.
»Ich warte aber unten.«
»Hast wohl Schiss, was?«
»Hab ich nicht.« Viktor gab sich Mühe, seine Stimme fest klingen zu lassen, aber sie bebte trotzdem. Er biss sich auf die Unterlippe und schwor sich, sobald diese Aktion vorbei war, würde er sich aus dem Staub machen. Karlović konnte ihn mal, mit dem wollte er nie mehr etwas tun haben. Der würde ihn noch tiefer in den Sumpf hineinziehen. »Das ist doch verrückt.«
»Ach, der Bub macht sich in die Hose«, höhnte Karlović.
»Blödmann«, murmelte Viktor.
Karlović fuhr herum und kam mit seinem nach Schweiß und Zigarettenrauch riechenden Schädel ganz dicht an Viktor heran.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts. Ich mache so etwas zum ersten Mal.«
»Und? Da musst du durch. Und merkt dir eins: Erst wenn ich sage, dass du unten bleiben sollst, bleibst du unten, klar?«
»Ich bin ja nicht taub.«
Karlović murmelte etwas und schaute wieder zum Haus.
Als plötzlich die Tür aufging, hätte Viktor beinahe aufgeschrien.
»Wer zum Teufel ist das?«, fragte Karlović aufgebracht.
»Keine Ahnung«, erwiderte Viktor, doch er wusste, wer da zum Schuppen rannte.
»Miro ist es nicht«, sagte Karlović.
»Das war’s dann«, sagte Viktor und riss sich die Maske herunter.
Noch bevor Karlović etwas sagen konnte, fuhr ein dunkler Wagen so schnell vorbei, dass ihnen die Kieselsteine um die Ohren flogen.
»Mann, der haut mit Miros Wagen ab!«
»Wird wohl seine Gründe haben«, bemerkte Viktor trocken.
Karlović drehte sich zu ihm um.
»Zieh das Ding an!«
»Die brauche ich nicht mehr, außerdem krieg’ ich keine Luft.«
»Anziehen. Sofort!«
Viktor stülpte sich die Maske wieder über. Karlović zog die Waffe aus dem Hosenbund und schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf.
Viktor wich erschrocken zurück.
»Was soll das? Ich dachte, du wolltest ihm eine Abreibung verpassen.«
»Das habe ich vor.«
Viktor spürte, wie seine Knie nachgaben.
»Sollten wir nicht lieber versuchen, den Typ einzuholen?«, fragte er, um das Entsetzen zu überspielen, das ihn beim Anblick der Waffe erfasst hatte.
»Um den kümmere ich mich später. Gib mir den Schlüssel.«
Viktor fingerte einen Schlüssel aus der Hosentasche.
Sie schlichen runter zum Haus. Karlović schloss die Haustür auf und ging hinein. Im fahlen Licht des Mondes, das durch die Küchenfenster fiel, zeichneten sich die Konturen der Schränke zu ihrer Rechten, der Garderobe und der Treppe ab, die nach oben führte. Die Tür des Wohnzimmers stand offen.
Auf einen Wink von Karlović drückte Viktor die Haustür zu und lehnte sich dagegen. Er würde keinen Schritt weitergehen. Dass bei dem Kerl ein paar Schrauben locker waren, wurde ihm mit jeder Sekunde klarer. So einer hatte ihm nichts zu befehlen.
»Warte hier«, zischte Karlović und schlich wie eine Katze die Treppe hinauf.
Als in der Küche der Kühlschrank zu brummen anfing, zuckte Viktor zusammen und löste sich aus der Erstarrung. Von oben waren undeutlich Stimmen zu hören, aber er verstand kein Wort. Dann hörte er ein Rumpeln, als wäre etwas zu Boden gefallen. Viktor war schon an der Treppe und wollte hinauf, um nachzusehen, was da vor sich ging, als er zwei dumpfe Geräusche hörte. Schüsse! Er taumelte zurück und knallte mit dem Rücken gegen die Tür.
Karlović kam hinunter und eilte ins Wohnzimmer. Sein Gesicht sah im Schein der Handylampe wie versteinert aus.
»So eine verdammte Scheiße!«, fluchte er durch zusammengebissene Zähne, als er wieder herauskam.
»Was ist passiert?«
»Frag nicht so blöd. Raus hier!« Karlović stieß Viktor beiseite, riss die Tür auf und lief zum Schuppen.
Viktor zerrte sich die Maske herunter und folgte ihm mit wild klopfendem Herzen.
Als die Böschung am Straßenrand höher wurde, schaltete sie die Scheinwerfer an. Weit unten funkelten die Lichter der Küstenstraße, als wären sie an einer Perlenschnur aufgereiht. Das Meer glänzte im Mondlicht gleichgültig gegenüber allen menschlichen Regungen, ihren Irrungen, Sehnsüchten und Wünschen; heute Nacht sanft wiegend wie eine Kinderwiege, doch manchmal tosend und alles verschlingend, seit Anbeginn der Zeit.
Nach zehn Minuten, in denen sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, tauchte die Kreuzung auf, an der sie sich entscheiden musste, ob sie nach Rijeka und von dort ins Landesinnere oder in die entgegengesetzte Richtung fahren sollte. Ihre Hände zitterten, ihr war heiß und kalt, als hätte sie Fieber. Sie hielt in einer Einbuchtung an und stieg aus. Eine kalte Windböe griff nach ihren Haaren. Im Wald, den sie mehr ahnte als sah, rief ein Nachtvogel. Sie ging nach vorne, doch da gaben ihre Knie nach und sie stützte sich an der Motorhaube ab, um nicht umzukippen. Dann erbrach sie sich. Sie wartete, dass ihr Herz zu rasen aufhörte und die Krämpfe nachließen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Auf der Hauptstraße raste ein Auto vorbei. Der Fahrer hatte sie bestimmt nicht gesehen. Und falls doch, war es jetzt auch egal. Sie war eine Mörderin. Ihr Schicksal war besiegelt.
Sie wollte nicht an ihre Mutter denken, die so viel durchgemacht hatte und die sie dennoch nie verstanden hatte. Und auch nicht an ihren Vater, der sie vor zehn Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte. Sie wollte auch nicht an ihren Bruder denken, der sie immer zu beschützen versuchte. Nach der Scheidung der Eltern verlor er wie sie selbst für eine lange Zeit den Boden unter den Füßen. Als sie volljährig wurden, zog er aus dem Provinzort nach Rijeka, machte eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Wenn er sich meldete, behauptete er, sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe ihm gut. Marina hatte da ihre Zweifel, wollte sich aber nicht in sein Leben einmischen. Als sie sich im Frühjahr nach einem Ferienjob für die Semesterferien umschaute, gab er ihr die Telefonnummer von Vera Haller, in deren Fitnessstudio er aushalf. Und so kam Marina nach Opatija und fing im Plavi kormoran zu jobben an. Sie sahen sich zwar selten, telefonierten aber kurz ab und zu.
Er konnte ihr auch nicht mehr helfen. Es war vorbei. Sie musste ihren Weg allein gehen. Keine Buße konnte ihre Sünden abwaschen, keine tausend Priester wären imstande, ihr Absolution zu erteilen. Wie auch? Das ganze Brimborium um Gott und Götter war eine Farce, ein Riesengeschäft seit dem Moment, als die Menschen sie in ihrer Furcht und Unwissenheit beim Anblick von Blitz und Donner, die vor ihren Höhlen und Behausungen wüteten, erschaffen hatten. Erschaffen mussten. Das Geschäft mit der Angst vor der geheimnisvollen Macht der Natur, vor Geistern und Gespenstern, vor Tod und Teufel und der Hölle funktionierte bis heute und lief wie geschmiert. Von ihr aus sollte jeder glauben, an was und wen er auch immer wollte.
Sie war durch die Hölle gegangen, aber die fürchtete sie nicht. Angst hatte sie nur vor jenen, die sie ausgenutzt, gequält und erniedrigt hatten und die dafür bezahlen würden. Die Hölle konnte ihr gestohlen bleiben.
Als sie wieder im Wagen saß, tippte sie die Adresse ins Navi ein und fuhr los. Sie musste ihr Ziel noch vor Tagesanbruch erreichen.
Der Benzinkanister lag unter einem wackeligen Plastiktisch in der Ecke des Schuppens. Karlović trug ihn zum Haus und schraubte den Verschluss auf.
»Hey, was machst du?«, fragte Viktor panisch.
»Siehst du doch. Gib mir den Schlüssel!«
Viktor tat es.
Karlović schloss die Tür auf und schüttete das Benzin auf die Treppe, über die Jacken an der Garderobe, auf den Steinboden in der Küche und den Teppich im Wohnzimmer. Dann ging er nach draußen, rannte ums Haus zum Pool neben der Terrasse und ließ dabei die Flüssigkeit aus dem Kanister laufen.
»Deine Maske!«, herrschte er Viktor an, der ihm fassungslos gefolgt war.
Viktor gab ihm das Ding.
Karlović zog seine Maske herunter, tränkte beide mit Benzin und kippte den Rest auf den Stapel Holzbohlen, die für die Terrasse geliefert worden waren. Dann warf er den Kanister achtlos zu Boden.
»Lauf zum Wagen, ich komme nach.«
»Mann, du bist komplett durchgeknallt.«
»Im Gegenteil, das nennt man Spurenbeseitigung. Solltest du auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken spielen, mich zu verpfeifen oder abzuhauen, bist du ein toter Mann.«
Viktor schüttelte nur den Kopf.
»Verschwinde jetzt!«
Viktor rannte durch die finstere Allee zur Straße. Er war sicher, dass man seine Schritte hunderte Meter weit hören konnte. Aber das Rauschen des Blutes in seinen Ohren machte ihn fast taub. Wenn er jetzt die Polizei anriefe, könnte er den Irren vielleicht noch stoppen. Er war sicher, dass Karlović den Mann erschossen hatte. Wenn er Alarm schlug, würde man ihn als Mittäter verhaften. Nein, er konnte es nicht tun. Aber morgen, wenn Karlović hoffentlich fort war, würde er sich stellen.
Währenddessen zündete Karlović mit seinem Feuerzeug die Sturmmasken an und schleuderte sie in die Diele. Flammenzungen glitten wie Schlangen über den Steinboden zum Teppich im Wohnzimmer, rollten in die Küche und lechzten die Treppe hoch. Die Jacken an der Garderobe loderten hell auf. Im Nu fraßen sich die Flammen durch das ganze Haus. Als ihm der beißende Brandgeruch, die Hitze und der Rauch entgegenschlugen und den Atem raubten, wandte er sich ab, knallte die Tür zu und rannte los.
Viktor lief zum Wagen, sprang ans Steuer und fuhr zum Schotterweg vor. In diesem Moment explodierte die Gasflasche unter der Küchenspüle. Die Detonation war ohrenbetäubend, die Fensterscheiben zersplitterten, Klappläden barsten, Splitter schossen in alle Richtungen. Die dunkle Rauchwolke wand sich unheilvoll über den Flammen, die das Haus verschlangen.
»Was für ein verdammter Idiot!«, schrie Viktor, als er am Kiesweg hielt und dem Inferno zusah.
Die Beifahrertür wurde aufgerissen. Karlović stieg ein und schallte sich an.
»Mach die Scheinwerfer aus.«
»Du blutest«, sagte Viktor tonlos.
Karlović wischte sich mit der Hand übers Gesicht und schlug Viktor auf den Oberarm.
»Fahr endlich!«
Viktor schaltete die Scheinwerfer aus, gab Gas, bremste nach ein paar Metern ab und riss das Lenkrad nach links, um auf die Straße zu kommen. Um ein Haar hätte er die Straßenlaterne gerammt.
»Spinnst du?«, brüllte Karlović.
»Ich nicht!«
Hinter ihnen wütete das Feuer. Dachziegel krachten herunter, der Schuppen, die Bäume und die Lorbeerhecke gingen prasselnd in den Flammen zugrunde. Dicker Rauch verpestete die Luft, Funken flogen wild umher und die glühende Hitze stieg zum Himmel empor. In mehreren Häusern am Hang gingen die Lichter an. Eine Frau schrie von einem Balkon um Hilfe. Bei der Feuerwehr und dem Polizeirevier gingen die ersten Notrufe ein.
Es ist eine seltsame Sache mit der Zeit, dachte Prohaska, als er mit einer Tasse Kaffee auf die Terrasse ging. An manchen Tagen zogen sich die Stunden wie zähes Karamell dahin und man konnte meinen, die Nacht würde niemals hereinbrechen. Und an anderen wunderte er sich, dass schon wieder zwei Stunden vergangen waren, ohne dass er es bemerkt hatte.
Aber im Grunde konnte ihm die Zeit egal sein. Hier musste er nicht nach der Uhr leben. Wie oft war er nach einem langen Tag erschöpft ins Bett gefallen, doch kaum, dass er eingeschlafen war, vom Wecker oder einem Anruf aus dem Schlaf gerissen worden, um ohne Frühstück ins Präsidium oder zu einem Tatort zu fahren? Und dabei musste er stets einen kühlen Kopf zu bewahren, seine Kolleginnen und Kollegen motivieren und unterstützen.
Wenn er an seinen letzten Einsatz dachte, bei dem er angeschossen wurde und sein Leben danach aus den Fugen geraten war, zog sich sein Magen zusammen. Dennoch musste er sich allen Widrigkeiten zum Trotz, die er damals zu bewältigen hatte, eingestehen, dass er seine Arbeit manchmal sehr vermisste. Schließlich hatte er seinen Dienst nicht freiwillig beendet, sondern wurde von einem durchgeknallten Typen von einer Sekunde zur anderen aus der Bahn katapultiert. Der Mann hatte sich nach einem heftigen Streit mit seiner Noch-Ehefrau mit der gemeinsamen fünfjährigen Tochter in der Wohnung verschanzt. Die Frau konnte zu den Nachbarn fliehen und die Polizei verständigen. Er drohte, das Kind und sich selbst zu erschießen, wenn die Frau nicht zu ihm zurückkehrte. Als sich herausstellte, dass der Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte, wurde Prohaska hinzugerufen. Er sollte versuchen, den Mann zur Aufgabe zu überreden. Doch der wurde noch wütender und beschimpfte Prohaska als Verräter. Als die Lage zu eskalieren drohte, stürmten sie die Wohnung. Der Mann saß auf der Couch und hielt das Kind fest. Prohaskas Kollege forderte ihn auf, die Waffe fallen zu lassen. Doch der Mann schoss sofort und der Kollege stürzte tödlich getroffen zu Boden. Der Mann sprang auf, das Kind riss sich los und rannte zu Prohaska, der in der Tür stand und das Kind nach draußen schob. Als er sich wieder umdrehte, stand der Mann da und zielte auf ihn. Sie schossen gleichzeitig. Der Mann kippte auf die Couch zurück. Prohaska hatte ihn am rechten Arm getroffen. Er selbst schlug mit dem Rücken gegen die Wand und sackte in sich zusammen. Weitere Polizisten stürmten herein, fixierten den Mann. Alle schrien durcheinander. Prohaska starrte auf sein linkes Bein. Überall war Blut. Er wurde ohnmächtig und wachte erst nach einer mehrstündigen Operation auf. Die Verletzungen waren schwer. Nach drei Wochen wurde er aus der Klinik entlassen und kam in die Reha. Danach folgte die Gerichtsverhandlung, bei der er freigesprochen wurde, da ihm die Richter Notwehr zubilligten. Aber arbeiten konnte er nicht. Er bekam Depressionen und wurde schließlich frühpensioniert. Die Kollegen riefen immer seltener an, er hing zuhause herum, wurde aufbrausend. Seine Frau Heidi, die als Schreibkraft ebenfalls bei der Polizei arbeitete, kümmerte sich um alles, machte Überstunden, warf ihm schließlich vor, sich gehen zu lassen. Sie stritten sich und versöhnten sich halbherzig und schwiegen dann tagelang. Die Tochter Anna begann nach dem Studium zu arbeiten und zog von zu Hause aus. Als er nach Wochen ohne Krücken gehen konnte, hatte Prohaska sich wieder aufgerappelt. Er machte Spaziergänge und entdeckte sein altes Hobby, das Fotografieren. Er fuhr mit dem Auto durch die Gegend und war bald jeden Tag unterwegs. Es schien, als würde alles wieder in Ordnung kommen. Doch dann fand er eines Morgens seine Frau im Badezimmer auf dem Boden liegend. Sie war nicht ansprechbar, er versuchte sie wiederzubeleben, rief den Notarzt. Doch es war zu spät. Heidi hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und war tot.
Als er seinem Freund Ivo Horvat davon erzählte, schlug dieser vor, für einige Zeit nach Rovinj zu kommen. Prohaska wollte es sich überlegen. Doch nach einem Vierteljahr hielt er es nicht mehr allein in der Wohnung aus, stellte die Möbel in einem Lagerhaus unter, vermietete die Wohnung und fuhr nach Istrien. Die erste Zeit wohnte er bei Ivo und Miranda. Über einen Makler fand er ein altes Steinhaus in Kloštar. Er kaufte es sofort, renovierte es mit ein paar Handwerkern, die Ivo gefunden hatte, und als es fertig war, holte er einen Teil seiner Möbel aus Stuttgart ab. Da Ivos Fotoladen seit einiger Zeit nicht so gut lief und Prohaska sich auch nicht vorstellen konnte, den Rest seines Lebens untätig zu sein, bot er Ivo an, ihm finanziell zu helfen, und wurde sein stiller Teilhaber.
Prohaska hatte nie bereut, dass er nach Istrien gezogen war. Er war gerne Fotograf, war finanziell unabhängig und konnte tun und lassen, was er wollte. Und dennoch fehlten ihm die Aufregungen und Herausforderungen, die er früher bei der Polizeiarbeit gehabt hatte.
Das war wohl der Grund, warum er sich hier allzu leicht in irgendwelche Kriminalfälle hineinziehen ließ. Er war ein Polizist und würde es sein Leben lang bleiben, egal wo und wie er lebte.
Ivo sah diese Rückfälle nicht gern und machte sich Sorgen, dass Prohaska eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte. Und tatsächlich verspürte Joe seit seinem letzten »Fall« kaum noch Lust, sich als Privatermittler zu betätigen. Streng genommen war es ja illegal. Er hatte weder die Befugnisse eines Polizeibeamten noch eine Lizenz als Privatdetektiv. Deshalb hatte er diesbezügliche Anfragen, die man mehr oder weniger hinter vorgehaltener Hand an ihn gerichtet hatte, abgelehnt. Allerdings hatte er doch einmal der Bitte von Inspektor Rossi nachgegeben, ihn für eine gelegentliche Zusammenarbeit zu gewinnen.
Er trank einen Schluck Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, die trüben Gedanken zu verscheuchen.
So gut es eben ging.
Am Abend zuvor hatte er bis tief in die Nacht am Rechner gesessen und die unzähligen Fotos, die er von Hochzeiten, Kindergeburtstagen oder anderen Anlässen gemacht hatte, sortiert, bearbeitet oder gelöscht. Die besten auftragsfreien Aufnahmen hatte er auf einem Stick gespeichert. Die Sache mit dem geplanten Istrien-Bildband zog sich hin. Der Mann vom Verlag hatte beim letzten Telefonat versprochen, sich bald zu melden, aber das war auch schon wieder Wochen her. Prohaska nahm sich vor, ihm in den nächsten Tagen zu schreiben und zu fragen, ob er das Buch nun in sein Verlagsprogramm aufnehmen wollte oder nicht. Falls nicht, würde er sich nach einem anderen Verleger umsehen.
Mittlerweise konnte er sich die Aufträge als Fotograf aussuchen. Was ihm schon schmeichelte, da er sich immer noch als Amateur betrachtete. Nie hätte er gedacht, dass er auf seine alten Tage, wie er scherzhaft sagte, da er sich mit knapp Fünfzig absolut nicht alt fühlte, als Fotograf Karriere machen würde.
Ivo scheute keine Mühe, für Prohaska die Werbetrommel zu rühren. Eine Visitenkarte hier, ein Wort dort, reichten schon aus. Die Mundpropaganda funktionierte am besten, vor allem, wenn Ivo sagte, Joe Prohaska habe leider kaum Kapazitäten, doch es lasse sich bestimmt ein Termin finden. Er sei gerade bei einer Hochzeitsfeier, drüben in dem piekfeinen Fünf-Sterne-Hotel, die Eltern der Braut gehörten zu den oberen Zehntausend in Zagreb. Oder er sei bei der Einweihung der Niederlassung irgendeines Konzerns. Aber was solle man machen, Geld regiere nun mal die Welt. Die Zeiten seien schlecht, waren es schon immer gewesen, und man müsse zusehen, wo man bleibt. Doch das sagte Ivo nicht laut. Er deutete es lediglich mit ein paar Wortfetzen und Gesten an, das genügte, um bei den Leuten Eindruck zu schinden.
Überhaupt, dachte Prohaska und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, waren die meisten Menschen leicht zu beeindrucken. Und Ivo war, was Prohaskas Person und seine Fotokunst betraf, zu einem Meister der Andeutungen geworden.
»Du bist ein Künstler und als solcher solltest du eine Aura haben und dein Image pflegen. Du musst geheimnisvoll und unnahbar wirken, vor allem gewissen Damen gegenüber, die dich anhimmeln oder sogar verführen wollen«, dozierte er, wenn sie in dem winzigen Hinterzimmer des Ladens, das als Warenlager und Kaffeeküche diente, Mokka schlürften und rauchten.
»Jetzt bleib aber auf dem Teppich«, hatte Prohaska amüsiert erwidert, als Ivo sich wieder einmal ausmalte, wie reich sie werden könnten, wenn Joe als der beste Portraitfotograf im Land, ja in ganz Europa, berühmt würde und ihn die Reichen und Schönen, oder Filmstars aus Hollywood, die mit ihren dicken Autos und Jachten nach Rovinj kamen, engagierten. Oder das englische Königshaus selbst riefe nach ihm. Prohaska hatte schallend gelacht und versprach, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Geisteskraft an seiner Aura und dem Image zu arbeiten.
»Aber die Sache mit dem englischen Königshaus kannst du vergessen. Erstens hat die Queen ihren eigenen Hoffotografen, und zweitens bin ich nicht interessiert.«
Er hatte den Satz leicht durch die Nase gesprochen, eine Augenbraue gehoben und dabei eine unsichtbare Fussel von seinem Jackenärmel geschnippt.
Ivos Herz schlug zwar in alter Familientradition links, aber insgeheim bewunderte er den englischen Hochadel und dessen unermesslichen Reichtum. Schade fand er nur, dass sich die Engländer derzeit vom Kontinent distanzierten und aus der Europäischen Union aussteigen wollten, die ihr Premier Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg doch selbst angeregt hatte.