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»Die Seiltänzerin« heißt diese Single-Auskopplung von Rolf Schneider. Sie dreht sich um ein Gemälde des russischen Künstlers Alexej Subkow: Die Seiltänzerin entsteht 1925, und es wird eine unruhige Reise durch die Jahrzehnte antreten, fast auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs landen, irgendwann aber wieder in seine Heimat zurückkehren. Rolf Schneider zeichnet kurze Porträts der wechselnden Besitzer des Gemäldes und beschreibt den Weg, der Die Seiltänzerin mitten durch die politischen Umwälzungen im ehemaligen Ostblock hindurchführt. Und als B-Seite der Single gibt es die Geschichte »Blutmontag«: Was, wenn sich die DDR-Regierung im Oktober 1989 für das chinesische Modell entschieden und die friedlichen Demonstrationen blutig niedergeschlagen hätte? Rolf Schneider lässt sich auf dieses Gedankenspiel ein und dekliniert die Folgen durch. Eine ernüchternde Alternative zum Mauerfall. Rolf Schneider setzt sich kritisch, ungewöhnlich und ironisch gebrochen mit der Geschichte des Ostblocks, der DDR und den tatsächlichen politischen Begebenheiten auseinander.
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Seitenzahl: 84
»Die Seiltänzerin« heißt diese Single-Auskopplung von Rolf Schneider. Sie dreht sich um ein Gemälde des russischen Künstlers Alexej Subkow: Die Seiltänzerin entsteht 1925, und es wird eine unruhige Reise durch die Jahrzehnte antreten, fast auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs landen, irgendwann aber wieder in seine Heimat zurückkehren. Rolf Schneider zeichnet kurze Porträts der wechselnden Besitzer des Gemäldes und beschreibt den Weg, der Die Seiltänzerin mitten durch die politischen Umwälzungen im ehemaligen Ostblock hindurchführt.
Und als B-Seite der Single gibt es die Geschichte »Blutmontag«: Was, wenn sich die DDR-Regierung im Oktober 1989 für das chinesische Modell entschieden und die friedlichen Demonstrationen blutig niedergeschlagen hätte? Rolf Schneider lässt sich auf dieses Gedankenspiel ein und dekliniert die Folgen durch. Eine ernüchternde Alternative zum Mauerfall.
Rolf Schneider setzt sich kritisch, ungewöhnlich und ironisch gebrochen mit der Geschichte des Ostblocks, der DDR und den tatsächlichen politischen Begebenheiten auseinander.
Rolf Schneider wurde 1932 in Chemnitz geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Romanistik in Halle-Wittenberg und ist seit 1958 freier Schriftsteller. Nach Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wurden seine Publikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt, 1979 folgte der Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband.
Rolf Schneider verfasste zahlreiche Romane, Bühnenstücke, Essays und Sachbücher, die in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschienen u. a. der Roman »Marienbrücke« (2009) und die Sachbücher »Das Mittelalter« (2010) sowie die Biografie »Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland« (2013). Rolf Schneider wurde ausgezeichnet mit dem Lessing-Preis der DDR, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden sowie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Er lebt heute als Autor und Publizist in Schöneiche bei Berlin.
Rolf Schneider
Die Seiltänzerin
Erzählung
Deutsche Erstausgabe: © CulturBooks Verlag 2016
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 04.04.2016
ISBN 978-3-95988-038-1
Lauter Heiligenbilder ... Es wäre interessant, eine Zeit unter diesen Menschen zu verbringen ... doch eine andre Welt. Wir wissen eigentlich so wenig von den andern.
Arthur Schnitzler, Der Reigen
Alexej Wladimirowitsch Subkow wurde 1884 in St. Petersburg als Sohn eines Generals geboren. Sein Talent im Zeichnen äußerte sich früh. Die Ausbildung zum Architekten brach er ab, um stattdessen, gegen den Widerstand seiner Eltern, an der Kunstakademie Malerei zu studieren. Der berühmte Ilja Repin erteilte ihm Privatunterricht.
Er entdeckte die Kunst der Lubki, volkstümlicher Bilderbögen satirischen oder sentimentalen Inhalts, deren Stil er übernahm. Er schloss sich der Künstlergruppe »Osliny chwost« oder »La queue de l’âne« (Eselsschwanz) an, die Natalja Gontscharowa und Michail Larionow gegründet hatten. Er probierte sich in der von diesen erfundenen Kunst des Rayonismus und nahm gemeinsam mit ihnen an Ausstellungen in Berlin und Paris teil. Seine Arbeiten wurden beachtet. Seinerseits vertiefte er sich in die künstlerische Avantgarde Westeuropas.
Im August 1914, als Soldat der russischen Armee in der Schlacht bei Tannenberg, trug er eine Verwundung davon. Nach seiner Genesung heiratete er Olga, eine Krankenschwester jenes Lazaretts, in dem er drei Monate gelegen hatte. Den Militärdienst durfte er verlassen. Er begann wieder zu malen, seine Bilder wurden farbintensiver und abstrakter. Er stellte sie aus, in Moskau, er freundete sich mit Kasimir Malewitsch an.
Lenins Oktoberrevolution von 1917 erlebte er in seiner Heimatstadt, die jetzt Petrograd hieß. Die politischen Vorgänge beeindruckten ihn so, dass er sich entschloss, sein Talent in den Dienst der neuen Ordnung zu stellen. Im Petrograder Stadtsowjet war er verantwortlich für Schulen und Museen, das Volkskommissariat für das Bildungswesen berief ihn als Lehrer an die Kunstakademie. Nach achtzehn Monaten Ehe trennte er sich von seiner Frau Olga.
1922 war er mit mehreren Arbeiten bei der Ersten Russischen Kunstausstellung in Berlin vertreten, zu deren Eröffnung er anreiste. Anschließend begab er sich nach Paris, wo er für zwei Jahre blieb. Er hatte Einzelausstellungen in renommierten Galerien und verdiente auch als Bühnenbildner. Nach Sowjetrussland zurückgekehrt, heiratete er die Schauspielerin Nina Fridman.
Die in den folgenden Jahren entstandenen Bilder setzten ihn endgültig durch. Die Seiltänzerin von 1925 zeigte eine in Prismen aufgelöste weibliche Gestalt, die sich über einem das Bild durchquerenden weißen Strich bewegt. Zusammen mit vier anderen Arbeiten Subkows wurde das Gemälde erworben und ausgestellt vom Russischen Museum seiner Heimatstadt, die jetzt Leningrad hieß.
Er hatte zwei Schwächen: den Alkohol und die Frauen. Seine Ehe mit der Schauspielerin Nina Fridmann stand bald nur mehr auf dem Papier. Die Künstlergruppe AChRR, die sämtlichen malerischen Avantgardismus als Formalismus bekämpfte und darin die uneingeschränkte Unterstützung der politischen Administration unter Josef Stalins genoss, wandte sich öffentlich gegen seinen Stil, den sie als kosmopolitisch und volksfremd verwarf. Subkow verlor alle seine Ämter. Er geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Eine erneute Ausreise nach Paris und Berlin wurde ihm verwehrt. Immer wieder betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit. Manchmal las ihn die Miliz von der Straße auf und brachte ihn in eine Ausnüchterungszelle.
Künstlerisch kehrte er zurück zur Gegenständlichkeit. Nach 1930 malte er, wie die sowjetische Kulturpolitik es wünschte, derart entstanden Bilder von Landschaften, von Industrieanlagen, von werktätigen Bauern und Arbeitern, wiedergegeben in der Manier seines einstigen Lehrers Ilja Repin. Das Russische Museum in Leningrad hängte seine früheren Arbeiten ab, darunter Die Seiltänzerin, dies geschah auch auf seine Bestreben hin.
Seine Frau Nina wurde 1936 als Trotzkistin verhaftet, abgeurteilt und erschossen. Gerüchte behaupteten, es sei Subkow gewesen, der sie bei der Geheimpolizei NKWD denunziert habe. 1937 schloss er seine nächste Ehe, mit Alexandra Maximowa, einer hochbusigen Bildhauerin. Er bezog ein Haus in der Künstlerkolonie Peredelkino nahe Moskau, 1941 erhielt er den Stalinpreis.
Während des Großen Vaterländischen Krieges malte er hochgelobte und häufig reproduzierte Bilder von kämpfenden Rotarmisten. Er selbst war 1942 von Moskau nach Kasachstan gezogen. 1945 kehrte er, schon ziemlich krank, nach Peredelkino zurück. 1946 starb er an Leberkrebs.
Im Jahre 1955 stieß Grigori Dawidowitsch Portnoy in einem Außendepot des Russischen Museums von Leningrad auf das ausgelagerte Bild Die Seiltänzerin. Es befand sich in keinem guten Zustand. Der Rahmen war entfernt, die Leinwand hatte sich von ihren Leisten gelöst und schlug Falten. Portnoy erkannte die Signatur Subkows, die ihm von Bildern in der ständigen Ausstellung des Museums geläufig war.
Dort führte er regelmäßig Aufsicht. Daneben versah er für das Haus Botengänge und andere Hilfsarbeiten. Er war achtunddreißig Jahre alt und entstammte einer Familie, in der es Kaufleute, Ärzte, Musiker, Wissenschaftler und Anwälte gab. Während seiner Freizeit verfasste er Verse, die er nicht veröffentlichen konnte, da sie in Inhalt und Form der aktuellen sowjetischen Kulturpolitik widersprachen. Auch der Untergrundpresse »Samisdat« überließ er sie nicht, da er dann um seine Freiheit, seine Arbeit und die Arbeit seiner Frau hätte fürchten müssen. So blieb es bei dem mündlichen Vortrag vor Freunden, in der nächtlichen Küche seiner Kommunalwohnung, zu Wodka, Zigaretten, Salzhering und Zwiebeln.
Den Namen Subkow kannte er nicht bloß von den, wie er fand, absolut scheußlichen Bildern schwitzender Arbeiter und Bauern in der ständigen Ausstellung. Seine Mutter Lea war eine gebürtige Fridman und die jüngere Schwester von Nina, Subkows zweiter Ehefrau, die 1936 als Trotzkistin verhaftet und hingerichtet worden war. Dieser verräterischen Verwandtschaft wegen hatte Grigori Dawidowitsch einst nicht studieren dürfen. Seine Anstellung im Museum verdankte er der Vermittlung seiner Ehefrau Anna, die im Orchester des Kirow-Theaters Cello spielte.
Der überraschende Fund des Bildes Die Seiltänzerin beschäftigte ihn. An den Folgetagen, wenn er es einrichten konnte, schlich er sich in das Depot, um das Gemälde eines Mannes, mit dem er entfernt verwandt war und den er eigentlich verabscheute, immer wieder zu betrachten. Spätnachmittags setzte er sich in die Universitätsbibliothek, um alte Ausstellungskataloge und Bücher mit Aufsätzen über Subkow zu studieren. Er fand heraus, dass der Mensch, den er bislang als angepassten Staatskünstler kannte, eine Vergangenheit hatte, in der er maßgeblich an der internationalen malerischen Avantgarde beteiligt gewesen war. Auch wenn er sich später von den Bildern aus jener Zeit öffentlich distanziert hatte, machte es das vormals Geleistete nicht ungeschehen. Die Seiltänzerin entstammte erkennbar jener frühen Periode.
Grigori fasste einen Plan. Eine Weile trug er ihn mit sich herum und sagte keinem etwas davon, auch nicht seiner Frau Anna. Subkow, so meinte er, war ihm und den übrigen Portnoys etwa schuldig: durch das Ungemach, das er über sie gebracht hatte. Umgekehrt verpflichteten ihn, Grigori, seine verwandtschaftlichen Beziehungen, dass er das an dem Maler verübte Unrecht, wie selbstverschuldet es sein mochte, ein wenig milderte.
Eines Spätherbstabends schlich er sich in das Depot und vergewisserte sich zunächst, dass er allein war. Er trug Werkzeuge bei sich. Vorsichtig löste er die Leinwand des Bildes Die Seiltänzerin von ihren zerbrochenen Leisten, wickelte sich das bemalte Gewebe um den Leib und fixierte es mittels einer Schnur. Danach zog er sich seinen Wintermantel über. Niemand hatte ihn beobachtet. Gemessenen Schrittes verließ er das Depot und winkte freundlich dem Pförtner zu, einem Kriegsinvaliden, der gähnend hinter seiner Teetasse saß und in einer Zeitung blätterte.
In seiner Wohnung angelangt, überlegte Grigori, wie er mit der bemalten Leinwand verfahren sollte. Er hatte sie in seinen Besitz gebracht. Die Folgen hatte er nicht bedacht. Er erkannte, dass es für ihn unmöglich war, sie etwa neu aufziehen und rahmen zu lassen und an einer Wand seiner Wohnung aufzuhängen. Jeder Besucher würde dann zum Risiko. Ein Mitarbeiter der Russischen Galerie bekannte sich heimlich zur verfemten Kunst des Formalismus? Wieso war er überhaupt im Besitz eines derartigen Bildes gelangt? Grigori hüllte die Leinwand sorgfältig in braunes Packpapier, wickelte Fäden darum und verbarg die Rolle in einem Winkel der Kommunalwohnung. Seiner Frau Anna erzählte er, dies sei ein Erinnerungsstück aus seiner elterlichen Familie, was nicht ganz falsch und nicht ganz richtig war.
Vier Jahre später wechselte Anna Portnoya zum Philharmonischen Orchester Moskau. Die Familie zog in die Hauptstadt. Dort gelang es Grigori, einige seiner Gedichte in der Zeitschrift »Nowy Mir« zu veröffentlichen, woraufhin er es zu einer Anstellung als Korrektor in einem Staatsverlag brachte. Im Geistesleben Moskaus ging es, so hatte er den Eindruck, etwas großzügiger zu als in Leningrad. Vielleicht auch hatten sich die Zustände in den Künsten entspannt.
Jetzt nahm Grigori die Leinwand des Gemäldes Die Seiltänzerin