Die Sekte – Dein Erbe ist das Böse - Mariette Lindstein - E-Book

Die Sekte – Dein Erbe ist das Böse E-Book

Mariette Lindstein

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Beschreibung

Bedrückende Geheimnisse, beängstigende Wahrheiten: Der neue Band der schwedischen Nummer-1-Bestsellerreihe!

Der ehemalige Sektenführer Franz Oswald lebt heute ein ruhiges Leben auf Dimön, doch sein Sohn Thor traut dem Frieden nicht. Als Franz beginnt, sich komisch zu verhalten, fängt Thor sofort an, in der Vergangenheit seines Vaters zu graben. Seine Recherchen führen ihn zu einem dekadenten skandinavischen Gutshof – Glimmingeholm –, auf dem Franz seine Jugend verbrachte. Angeblich feierte ein heimlichen Kreis Auserwählter dort ausschweifende Partys und frönte geheimnisvollen Ritualen. Warum ist Franz vor dreißig Jahren Hals über Kopf aus Glimmingeholm geflohen? Und warum ist er so sehr darauf bedacht, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt?

Lust auf mehr? Lesen Sie außerdem die neue Erfolgsreihe »Der Kult« von Mariette Lindstein!

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Seitenzahl: 545

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Buch

Der ehemalige Sektenführer Franz Oswald lebt heute ein ruhiges Leben auf Dimön, doch sein Sohn Thor traut dem Frieden nicht. Als Franz beginnt, sich komisch zu verhalten, fängt Thor sofort an, in der Vergangenheit seines Vaters zu graben. Seine Recherchen führen ihn zu einem dekadenten skandinavischen Gutshof – Glimmingeholm –, auf dem Franz seine Jugend verbrachte. Angeblich feierte ein heimlichen Kreis Auserwählter dort ausschweifende Partys und frönte geheimnisvollen Ritualen. Warum ist Franz vor dreißig Jahren Hals über Kopf aus Glimmingeholm geflohen? Und warum ist er so sehr darauf bedacht, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt?

Autorin

Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. Ihr erster Roman »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet und für den CWA Dagger Award 2019 nominiert. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.

Von Mariette Lindstein bereits erschienen:

Die Sekte – Es gibt kein Entkommen

Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang

Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende

Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen

Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah

Die Sekte – Deine Bestimmung ist der Tod

Der Kult – Sein Griff hält dich gefangen

Der Kult – Sein Wort ist dein Gesetz

Weitere Bände in Vorbereitung

MARIETTE LINDSTEIN

DIE SEKTE

DEIN ERBE IST DAS BÖSE

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Skuggan av Dimön« bei Harper Collins Nordic, Stockholm

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein, 2021,

by Agreement with Enberg Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Richard Nixon / Arcangel Images; Will Immink; www.buerosued.de

JS · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-31363-0V001

www.blanvalet.de

Prolog

FRANZ

SCHONEN, VOR DREISSIG JAHREN

Für einen Samstag wirkt Lund sehr verschlafen, es riecht nach Regen. Es ist frühmorgens, halb vier, und ich bin gerade in meiner Studentenbude angekommen, als das Telefon klingelt. Nur eine Person ruft um diese Uhrzeit an. Manchmal, um zu plaudern oder um meine schlaftrunkene Stimme zu hören. Aber der Ton dieses Klingelns wirkt viel schärfer als sonst, ich habe ein Gefühl von Gefahr.

Ich gehe ran, sie sagt nichts, aber ich spüre, dass sie es ist. Ich sage ihren Namen. Stille. Während ich darauf warte, dass sie endlich doch etwas sagt, konzentriere ich mich auf das Geräusch meines eigenen Atems. Von dort, wo ich stehe, habe ich einen Blick auf den Platz, auf dem spätnachts Menschen ein und aus gehen. Aber heute Abend ist er leer, die Bäume in den Ecken werfen dunkle Schatten.

»Du musst kommen«, sagt sie schließlich.

Ihre Stimme ist zwar ruhig, klingt aber verzerrt, als würde sie sich beherrschen müssen.

»Jetzt gleich?«

»Ja, sofort. Es ist etwas passiert.«

Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder. Mir ist völlig klar, dass es keinen Raum für Diskussion gibt.

»Das ist absolut nichts, was wir am Telefon besprechen können«, stellt sie klar.

Sogar jetzt, in ihrer kaum verhohlenen Verzweiflung, ist sie mir überlegen.

»Spätestens in einer Stunde werde ich dort sein.«

Schon wenige Minuten später sitze ich im Auto. Mir ist nicht nach Musik zumute, ich liefere mich meiner eigenen Stille und der Dunkelheit draußen vollkommen aus. Ab und zu ein beleuchtetes Straßenschild, dann dunkle Felder und kahle Bäume. Alles wiederholt sich. Ich muss diese Strecke schon hundertmal gefahren sein, aber noch nie habe ich mich so gefühlt wie heute. Obwohl ich einen kühlen Kopf zu bewahren versuche, entwickelt sich in meinem Inneren eine heftige Auseinandersetzung. Die eine Stimme behauptet, es sei nur wieder einer ihrer Einfälle. Sie wird mir ins Gesicht lachen: Hab ich dich erwischt! Die andere Stimme ist weitaus pessimistischer. Du wusstest von Anfang an, dass das schlimm werden würde.

Am Ende der Straße erhebt sich das Herrenhaus. Im Licht der Laternen sieht es selbstgefällig, leer und herzlos aus. Über das Anwesen ziehen tiefe Wolken und verhüllen die Türme. Es mag ein einsamer Ort sein, aber er ist alles andere als verlassen. Heimtückisch und gierig saugt das alte Haus die Menschen ein, verrät ihre Geheimnisse und spuckt sie später verändert wieder aus. Stellt man Fragen zu den Ereignissen, die in dem Haus vor sich gehen, bekommt man keine Antworten, sondern neue Probleme entstehen. Also muss ich an das, was sie mir sagen wird, vernünftig herangehen.

Sie wartet vor dem Eisentor auf mich, das wie alles andere an diesem Ort massiv ist. Ich stähle mich und wiederhole im Kopf meine Erwartung: Es ist nur wieder einer ihrer Einfälle. Je näher ich komme, desto unwahrscheinlicher erscheint mir diese Hypothese jedoch. Ihr ausdrucksstarkes Gesicht – voller intensiver Faszination und Spott – macht einen unfassbar düsteren Eindruck. Sie trägt ein kurzärmeliges Kleid, obwohl es draußen kalt ist. Mir läuft ein Schauer über den Rücken – ist das eine Warnung?

Am Anfang erzählt sie mir bruchstückhaft, was geschehen ist – trockene Flocken, die wie welke Herbstblätter im Wind umherfliegen. Als hätte ich mein Gehör verloren, ich verstehe die Worte nicht, höre nur die Laute, die über ihre Lippen kommen. Ich bitte sie, alles zu wiederholen, und sie tut es, diesmal etwas langsamer. Zuerst kann ich nur auf ihren Mund starren, dann wird mir die Bedeutung klar. Ein Messer durchbohrt mein Herz. Als ich etwas zu sagen versuche, klingt es wie ein Pfeifen aus trockenen Lippen. Ich sehe zum Turm des Herrenhauses hinüber, der sich aus den Wolken in den Himmel streckt, und es fühlt sich an, als zerreiße ein unsichtbarer, gespannter Draht in mir. Dann, als mein Körper auf dem Boden aufschlägt, ist ein lauter Aufprall zu hören.

Kapitel 1

THOR, GEGENWART

Da war es für ihn vorbei. Nie zuvor hatte er etwas so Unüberlegtes getan. Jetzt war er arbeitslos, und das zu einem Zeitpunkt, als seine Karriere gerade Fahrt aufgenommen hatte. Er spürte eine tiefe Erschöpfung, die ihn fast lähmte, sein Körper hatte seine Adrenalintoleranz ausgeschöpft.

Zunächst konnte Thor es gar nicht glauben: Eine Stelle auf Probezeit wurde ihm angeboten, bei einem der beliebtesten schwedischen Videoblogs. Im Rahmen seines Journalistikstudiums hatte er dort im Frühjahr ein Praktikum absolviert. Der Vlog hieß Lügenfabrik und wurde von zwei Männern namens Vincent und Adam betrieben. Sie beschäftigten sich eher auf humorvolle Art mit gesellschaftlichen Themen und machten sich über Politiker und Prominente lustig. Witze und Sticheleien gehörten zu ihrem Jargon. Die Männer vermittelten ungezwungene Spontaneität und waren ziemlich schlagfertig.

Thors Aufgabe bestand darin, mit einer Kamera durch die Stadt zu laufen und den einfachen Leuten Fragen zu stellen. Manchmal wurde er auch losgeschickt, um einen Prominenten zu interviewen, immer mit vorgegebenen und eher zynischen Fragen. Glücklicherweise war er in der Lage, zu improvisieren. Ausgewählte Filmausschnitte wurden dann veröffentlicht und von Vincent und Adam kommentiert. Mit seinen Interviews hatte Thor es geschafft, die Sendung an die Spitze der Charts zu bringen.

Auch wenn der Job nicht mehr als ein Sprungbrett zu etwas Größerem sein konnte, so war er doch ein Arbeitsplatz mit Zukunftsperspektiven. Das Massensterben von Tages- und Wochenzeitungen galt als eine unbestreitbare Tatsache, auf der anderen Seite verzeichneten aber Blogs eine wachsende Anzahl von Followern.

Während seines Praktikums hatten ihn die Kollegen scherzhaft den Praktikanten genannt, sogar live im Fernsehen. Der Praktikant war in der Stadt unterwegs oder Jetzt hat der Praktikant ein Interview mit …

Es hatte ihn eigentlich nicht gestört, schließlich war er ja tatsächlich ein Praktikant. Aber als man ihm einen Job anbot, konnte man ihn nicht mehr so nennen, und da Vincent und Adam seinen Hintergrund kannten, begannen sie, ihn immer öfter den Sekten-Typen zu nennen.

Es schien Thors Schicksal zu sein, ständig daran erinnert zu werden, dass er der Sohn des inzwischen geradezu mythischen Sektenführers Franz Oswald war, obwohl die Sekte schon vor Jahren aufgelöst worden war und Thor das alles längst hinter sich gelassen hatte.

»Du bist nicht deine Eltern. Du bist nicht für ihre Handlungen verantwortlich. Du kannst auch nicht für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.« Ja, theoretisch mochte das so sein. In der Praxis war es aber etwas anderes. Franz’ Schatten schwebte ständig über ihm, ganz egal, was er tat.

Als er Vincent und Adam sanft darauf hinwies, dass er diesen Spitznamen nicht mochte, brachen die beiden in Gelächter aus. Dann arbeitest du aber am falschen Ort, mein Lieber. Hier muss man ertragen, wenn einem auf die Füße getreten wird. Paradoxerweise machten sie allerdings nie Witze über sich selbst, dachte Thor.

An dem besagten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, nagte das Geschehene auch wieder an ihm. Er stieg aus der Straßenbahn und wurde von einem strahlend blauen Sommerhimmel geblendet. Das graue Wetter von gestern hatte sich in Sonnenschein verwandelt. Es war Anfang Juli, und Göteborg zeigte sich von seiner schönsten Seite, mit vielen Menschen auf den Straßen und überfüllten Straßencafés. Trotzdem bekam Thor die Füße kaum hoch, er wollte einfach nicht zur Arbeit gehen.

Vincent und Adam dagegen waren in Topform und gerade so weit, die Sendung aufzunehmen, als er im Studio ankam. Hier schien alles modern, stilvoll und unaufdringlich zu sein. Thor sah immer bei der Aufnahme zu, normalerweise aber auf Abstand. Ihm gefiel es, seine Filmausschnitte in Echtzeit zu sehen, außerdem wollte er unbedingt engagiert wirken. Manchmal wurden auch Gäste ins Studio eingeladen, aber nicht an diesem Tag. Adam drehte sich um und schenkte Thor ein vieldeutiges Lächeln. Vincent begann die Sendung mit ein paar Witzen, dann schwenkte er die Kamera so, dass Thor im Hintergrund zu sehen war, und sagte:

»Der Sekten-Typ sieht heute aus wie etwas, das die Katze angeschleppt hat. Wahrscheinlich ist Papa Psychopath wieder auf ihn losgegangen.« Er drehte die Kamera erneut um, und die Männer lachten schallend über den Witz.

Thor senkte den Blick, damit sie nicht sehen konnten, wie sehr ihn das verletzt hatte. Während er auf den Boden starrte, setzte sich etwas in ihm in Gang, wie eine leichte Brise. Die plappernden Stimmen der Männer traten in den Hintergrund. Er konnte ihrem Gespräch schon nicht mehr folgen, das mittlerweile auch zu einem männlichen Politiker abgedriftet war, den Adam einen verweichlichten Vollpfosten nannte.

Warum verhielten sich die beiden überhaupt so widerlich? Hatten sie denn überhaupt jemals etwas Gutes getan? Wie viele Menschen hatten sie mit ihrer Art schon verletzt und gedemütigt? Plötzlich sah er alles mit großer Klarheit. Als lichte sich ein Nebel. Thor wusste, dass die Lügenfabrik von mehreren wohlhabenden Sponsoren unterstützt wurde, über die Adam und Vincent in ihrem Programm niemals ein schlechtes Wort verloren. Sie glauben allen Ernstes, sie wären über jede Korruption erhaben; dabei waren sie in Wirklichkeit doch nicht mehr als ein peinlicher Bluff. Die Überzeugung, an die er sich monatelang geklammert hatte – dass sein Job von Bedeutung war und große, gesellschaftliche Themen aufgriff –, löste sich in Rauch auf. Den Glauben an etwas zu verlieren, für das man sich so engagiert, kann äußerst schwerfallen. Aber in Thors Fall dauerte es nicht einmal eine Minute. Plötzlich klangen Vincent und Adam wie Hyänen. Sie strahlten etwas Kaltes aus. Das unangenehme Gefühl im Nacken, das er sich wahrscheinlich nur einbildete, stellte sich zeitgleich mit der Erkenntnis ein, dass er von diesen beiden Männern einfach abhängig war.

Nach der Sendung sprang er auf.

»Ich kündige«, sagte er. »Ich habe keine Lust mehr auf diesen Scheiß.«

Mit offenen Mündern starrten ihn Vincent und Adam an.

»Dieser Job ist nichts für mich, aber trotzdem – vielen Dank für die Zeit bei euch.«

Damit verließ er den Raum, bevor es zu einer Diskussion kommen konnte. Er hörte sie noch rufen: Wir machen doch nur Spaß. Aber er drehte sich nicht mehr um.

Als er seine Wohnung betrat, überkam ihn eine überwältigende Leere. Er sah in den Ganzkörperspiegel im Flur, seine Augen glänzten fiebrig. In diesem Augenblick hätte er Julia an seiner Seite gebraucht. Wenn sie verreist war, vermisste er sie so sehr, dass es fast wehtat. Wenn sie dagegen zusammen waren, fügte sich alles. Die Welt bekam schärfere Konturen. Sie waren seit über drei Jahren ein Paar, aber er hatte sich schon viel früher in sie verliebt. Liebe auf den ersten Blick sozusagen. Als wäre er von einem Virus befallen worden, so hatte sich das angefühlt. Ihre Gefühle für ihn hatten sich hingegen erst nach Jahren der Freundschaft entwickelt. Sie führten eine glückliche Beziehung. Die Leidenschaft war nicht verglommen, und die meiste Zeit über waren sie sogar unzertrennlich, wenn sie nicht gerade für einen Redaktionsjob unterwegs war, was in letzter Zeit immer häufiger vorkam. Zurzeit befand sie sich für eine Reportage in Spanien. Die Zeitschrift, für die Julia arbeitete, Aktuellt Land, hatte eine neue Abteilung eingerichtet, Aktuellt Land Ausland, und so wurde Julia von Zeit zu Zeit in verschiedene Länder geschickt. Die Aufträge verschlangen sie förmlich. Wenn sie einmal angebissen hatte, schottete sie sich praktisch von der Außenwelt ab. Seit sie als Journalistin arbeitete, ging es mit ihrer Karriere steil bergauf, obwohl sie keine journalistische Ausbildung hatte. Julia war einfach ein Naturtalent. Manchmal war es anstrengend, einen solchen Menschen zu lieben und mit ihr zusammenzuleben, weil man gleichzeitig auch ein bisschen neidisch war und dachte: Und was ist mit mir? Ich habe doch alles richtig gemacht.

Er setzte sich auf das Bett im Schlafzimmer und sah in den blauen Himmel vor dem Fenster. Die Wohnung, die er mit Julia teilte, befand sich in einem Gebäude aus der Jahrhundertwende und gehörte Thors Großmutter. Hohe Decken und viel Licht, aber leider waren sie gezwungen, von allen Zimmern aus auf Häuserfassaden zu starren. Nur im Schlafzimmer zeigte ein Fenster auf einen Park. Das Bett knarrte traurig unter seinem Gewicht, als er auf dem Rücken lag. An der Decke drehte sich eine verirrte Fliege im Kreis, als hätte sie den Gleichgewichtssinn verloren, und schien genauso verwirrt, wie Thor sich fühlte. Dieses beunruhigende Gefühl kannte er gut. Es trat immer dann auf, wenn er etwas Untypisches machte. Das war die Art und Weise, wie ihn sein Unterbewusstsein strafte. Aber auf dem Bett zu liegen und an die Decke zu starren, würde ihm jetzt auch nicht helfen.

Er setzte sich auf und rief Julia an. Sie ging sofort ans Telefon. In einem langen Satz ohne Atempause erzählte er ihr alles, was passiert war. Julia reagierte ganz anders, als er erwartet hatte.

»Ich habe dich von Anfang an vor diesen Schweinen gewarnt. Gut, dass du gekündigt hast.«

»Aber, Julia! Ich bin jetzt arbeitslos.«

Sie schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen.

»Ja, aber keine Panik. Das wird sich alles regeln.«

»Was ist, wenn ich kein gutes Zeugnis von ihnen bekomme, außerdem verdiene ich im nächsten Monat kein Geld und …«

»Ich glaube, ich habe verstanden, was du sagen willst«, unterbrach sie ihn. »Aber davon geht die Welt nicht unter.«

»Das war mein erster richtiger Job.«

Sie schwieg eine Weile.

»Trotzdem – das, was sie über dich gesagt haben, war nicht in Ordnung.«

»Ja, das war eine Schweinerei.« Er spürte, wie er sich erneut hineinsteigerte. »Ich bin so wütend …«

»Hallo?«, unterbrach sie ihn. »Du hast doch nichts falsch gemacht. Du kannst dich damit an die Gewerkschaft wenden und ihnen drohen, wenn sie dir kein gutes Zeugnis ausstellen. Vergiss nicht, wie viele Leute gehört haben, wie sie dich in der Live-Sendung beleidigt haben.«

Langsam beruhigte er sich wieder, spürte, wie er ein wenig von seiner Ruhe und Zuversicht zurückgewann.

»Du wirst einen neuen Job finden«, sagte sie. »Soll ich in meiner Redaktion mal fragen?«

»Nein! Auf keinen Fall.«

Er war zu stolz, von ihren Verbindungen zu profitieren. Zu stolz, um Geld von seinem Vater anzunehmen. Zu stolz, um überhaupt um Hilfe zu bitten. Er wollte auf eigenen Beinen stehen.

Julia schwieg wieder.

»Vielleicht solltest du einfach für ein paar Tage wegfahren. Etwas Abstand gewinnen. Fahr doch nach Süden. Mal sehen, wo du landest.«

Er schluckte. Julia nahm die Sache viel zu leicht. Andererseits sah sie in jedem Hindernis eine Chance.

Er versprach, darüber nachzudenken und sich später bei ihr zu melden. Sie tauschten noch ein paar Liebesbekundungen aus, dann beendeten sie das Telefonat. Thor sah, dass Vincent inzwischen versucht hatte, ihn zu erreichen, aber er hatte nicht vor, zurückzurufen und um Verzeihung zu bitten. Nie wieder würde er einen Fuß an diesen verfluchten Ort setzen.

Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken schweifen. Sie landeten in seiner Kindheit – als er als Kind in einer Sekte gewesen war. Diese Zeit fühlte sich sehr weit entfernt und gleichzeitig unglaublich nah an. Er hatte so viele Erinnerungen. Thor hatte seine Lebensgeschichte immer in zwei Teile geteilt: das Leben in der Sekte und das danach. Trotzdem fühlte sich kein Teil wie sein eigener an. Er empfand nur eine große Leere, war nirgendwo zugehörig.

Die Schüler der Sekte – Kinder der Erde – sollten vor allem brav sein und die geistigen Schriften von Franz Oswald auswendig lernen. Sie sollten körperliche Arbeit mit äußerster Sorgfalt verrichten und sich von Drogen, Sex und anderen »unmoralischen« Aktivitäten fernhalten. Er wusste, dass eine solche Art der Erziehung dazu führen kann, dass man sich entwurzelt und ausgestoßen fühlt. Glücklicherweise kann sie einen aber auch dazu ermutigen, sich anzupassen und sich anzustrengen. Letzteres hatte er getan und sein neues Leben in Freiheit mit großer Entschlossenheit in Angriff genommen. Aber jetzt beschlich ihn der diffuse und verwirrende Gedanke, dass er einfach immer nur brav gewesen war. Klassenbester im Gymnasium. Ein Musterstudent im Journalismus-Studium. Er rauchte nicht und trank selten. Vor Julia hatte er nur eine Freundin gehabt. Plötzlich erschien ihm seine Tugendhaftigkeit unfassbar langweilig. Und Julia war das genaue Gegenteil, sie versuchte erst gar nicht, brav zu sein, und hatte viel Spaß. Sie strotzte nur so vor Leben. Und sie zeigte eine Wildheit, die immer neue Abenteuer anlockte.

Leg eine Pause ein, hatte sie gesagt. Geh auf Reisen. Konnte er das tatsächlich tun, ohne von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden, weil er nichts Sinnvolles machte? Was würde passieren, wenn er alles, was er für wichtig hielt, hinter sich ließe? Er stellte sich vor, wie er mit dem Wagen und einem kleinen Rucksack als Gepäck in den Süden fuhr, in Hotels wohnte, abends essen ging und danach in einen Club. Und wenn er all das tun würde, was ihm die Sekte verwehrt hatte. Er würde Spaß haben, so wie jeder andere Zwanzigjährige auch. Der Gedanke erzeugte eine angenehme Erregung. Irgendwo hatte er gelesen, dass Kinder von psychopathischen Eltern übermäßig pflichtbewusst und zu vorsichtig und zaghaft werden können. Ein weiterer Grund, seine Grenzen einmal auszutesten.

Er hatte nicht viel Geld gespart, aber es gab ein Bankkonto, auf das Franz eine große Summe eingezahlt hatte – Geld, das Thor bisher nicht anrühren wollte. Jede Schülerin und jeder Schüler von Kinder der Erde hatte ein solches Konto eingerichtet bekommen. Franz hatte das als ein Wundpflaster bezeichnet, was Thor sofort als Erpressung entlarvt hatte. Denn Franz wollte natürlich verhindern, dass die Schüler und Schülerinnen Details über die autoritären Erziehungsmethoden der Schule verrieten. Und da sich sein Leben gerade wie eine offene Wunde anfühlte, erschien es richtig, das Pflaster zu benutzen. Er würde die Summe zurückzahlen, sobald er einen neuen Job hatte.

Er öffnete die Augen und starrte ausdruckslos ins Leere. Da war er wieder: der Drang, etwas Unüberlegtes, Kopfloses zu tun.

Kapitel 2

Seit einem halben Jahr ging Thor einmal im Monat zur Therapie. Julia hatte ihm das vorgeschlagen, weil sie der Ansicht war, dass er davon profitieren würde, wenn er seine Zeit in der Sekte mit professioneller Hilfe verarbeiten würde. Seine Psychologin war schon etwas älter, hieß Clara Linder und erinnerte ihn auf eine gute Art an seine Großmutter. Groß und kräftig, dunkles Haar, dunkle Augen, dunkle Stimme, und dabei hatte sie die Gelassenheit von jemandem, der schon so viel Wahnsinn erlebt hat, dass ihn nichts mehr überraschen kann. Das war es, was ihm am besten an ihr gefiel. Sie hörte ihm zu, hörte sich die verrücktesten Geschichten aus der Zeit bei der Sekte an, ohne eine einzige Miene zu verziehen.

Anfangs hatte Clara versucht, ein alles auslösendes Trauma bei ihm ausfindig zu machen, wie man es bei jemandem mit einer posttraumatischen Belastungsstörung tut. Und natürlich fand sie auch ein Trauma, aber das war nichts, was so nachhaltig gewirkt hatte, dass es sein Verhalten erklären konnte. Nach einigen Sitzungen kam die Erkenntnis – wie ein Blitz über dem Heidemoor –, dass sein Trauma der damalige Alltag gewesen sein musste. Dinge, die sich so tief eingegraben hatten, dass sie zur Routine geworden waren. Ständiger Schlafentzug zum Beispiel. Willkür und Strafe, wenn Franz schlechte Laune hatte – und seine Laune konnte sich in Sekundenschnelle ändern. Die militärische Disziplin, Unordnung als einen schweren Verstoß gegen die Vorschriften zu verstehen. Der Zwang, über die Ungerechtigkeiten zu schweigen. Die erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit. Das alles war Teil seines Alltags gewesen – hatte über die Zeit hinweg langsam seinen Willen gebrochen und war schließlich zu seinem Trauma geworden. Als er Clara das erste Mal davon erzählte, brach ein Damm, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Die Nichteinhaltung von Regeln löste nach wie vor das größte Unbehagen bei ihm aus. Er fühlte sich gezwungen, bestehende Regeln oder neue Regeln zu befolgen. Und zwar bis aufs Komma genau. Er erzählte von seinem Ordnungsfimmel und seinem ungewöhnlich hohen Kontrollbedürfnis, wenn es um alltägliche Aufgaben ging. Und dass die Aussicht, weniger als acht Stunden Schlaf zu bekommen, Panik in ihm auslöste. Und dann war da noch die Sache mit der Pünktlichkeit. Er verspürte den irrationalen Zwang, wesentlich früher zu einem Termin aufbrechen zu müssen, als es notwendig war. Einmal hatte er verschlafen und kam mit hängender Zunge gerade noch rechtzeitig zur Arbeit. Trotzdem blieb dieses Gefühl von Unbehagen den ganzen Tag über präsent.

Als er fertig war, lächelte Clara ihn an.

»Was passierte denn, wenn man die Regeln der Sekte brach?«, fragte sie.

»Die Bestrafung war vollkommen willkürlich. Es konnte alles sein – die ganze Nacht aufbleiben und die Toiletten mit einer Zahnbürste schrubben bis zum Ausschluss aus der Gruppe. Aber die Umstände haben sich ja geändert, und warum verhalte ich mich trotzdem so?«

Claras Antwort hallte lange in ihm nach.

»Sie haben sich diese Verhaltensweisen als Vermeidungsstrategien angewöhnt, damit das Trauma aus der Sektenzeit nicht greifen kann. Es gibt keinen Grund, diese Verhaltensweisen zu ändern, wenn sie Ihnen guttun und Sicherheit bieten. Versuchen Sie daran zu denken, dass die Angst, die Sie ab und zu empfinden, nur eine Reaktion Ihres Körpers ist. Ihr Nervensystem erinnert sich an Vergangenes. Aber darauf müssen Sie nicht immer Rücksicht nehmen.«

»Was kann ich tun?«, fragte Thor.

»Fordern Sie sich ab und zu heraus. Kommen Sie ein paar Minuten zu spät zur Arbeit. Schlafen Sie eine Nacht etwas weniger als sonst. Und stellen Sie sich darauf ein – Sie werden Angst haben, aber vielleicht ist es nicht so schlimm, wie Sie denken.«

Er hatte es versucht, und es war nicht einfach gewesen. Zwei Schritte vor und einen Schritt zurück.

Es war die Erinnerung an Claras weise Worte, die ihm jetzt bei der Entscheidung halfen. Er würde tatsächlich aufbrechen und auf Reisen gehen, obwohl sein Körper schrie, er solle sich sofort einen neuen Job suchen. Aber dieses Mal würde er nicht darauf hören.

Am nächsten Tag stieg er in sein Auto und fuhr in Richtung Süden. Er war schon ein paar Stunden unterwegs und fühlte sich erstaunlich gut. Es war noch früh am Vormittag, der Verkehr floss reibungslos. Die Sonne stand höher am Himmel und blendete ihn nicht mehr. Er hatte einen Halt an einer Tankstelle gemacht, getankt und gefrühstückt, und war wieder aufgebrochen. Vor ihm fuhr ein Lastwagen, hinter ihm ein Wohnwagen, aber er hatte gar nicht das Bedürfnis zu überholen. Er hörte Musik und trommelte im Takt mit den Fingern auf dem Lenkrad.

Es war eine Wohltat, die Großstadt hinter sich zu lassen. Zu beiden Seiten der Autobahn E6 breitete sich ein Flickenteppich von Feldern aus. Weidenröschen und Rote Fingerhüte standen am Straßenrand und wiegten sich im Wind, der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Thor war von der flachen, weiten Landschaft von Schonen begeistert, die sich so sehr von der roh wirkenden Bohusküste unterschied. Das schöne Wetter würde anhalten, hieß es. Der Winter war bitterkalt gewesen, der Frühling nass, aber der Sommer hatte bisher alle mit Wärme und einer Rekordzahl von Sonnenstunden überrascht.

Für seine Reise hatte er sich einen vorläufigen Plan gemacht. Die erste Nacht würde er an der Küste in Båstad verbringen. Morgen würde er weiter in die Studentenstadt Lund fahren, wo es im Sommer zwar eher trostlos und menschenleer war, aber er wollte die alte, historische Universität besichtigen. Dort würde er dann entscheiden, wohin er als Nächstes fuhr. Vielleicht über die Brücke nach Kopenhagen.

Die Kündigung nagte noch in ihm, eine Unzufriedenheit machte ihm zu schaffen. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, allgemein … inkompetent zu sein. Papa hat mir dieses Gefühl immer vermittelt. Dieser Gedanke tauchte wie aus dem Nichts auf und brachte ihn ins Grübeln, ob er seinem Vater unterbewusst das Gegenteil beweisen wollte.

Wie seltsam, dass er in letzter Zeit so viel an seinen Vater denken musste. Eigentlich hatten sie doch ein ganz gutes Verhältnis. Vor drei Jahren etwa, als sich die Skandale um Franz gehäuft hatten, waren sie in ihre größte Krise geraten. Thor hatte gedroht, den Kontakt abzubrechen, und tatsächlich hatte sich sein Vater seither große Mühe gegeben. Franz führte mittlerweile ein relativ ruhiges Leben auf Dimö und betrieb eine Art Retreat, das sich auf Wanderungen durch die Natur, gesunde Ernährung, Eisbaden, Vogelkunde und Sternbeobachtung im Heidemoor konzentriert hatte. Abends unterhielt Franz seine Gäste mit Vorträgen, die angeblich äußerst beliebt waren. Doch manchmal fragte sich Thor, ob das nur die Ruhe vor dem Sturm war. Ob sein Vater nicht in Wirklichkeit eine tickende Bombe war, die jederzeit explodieren konnte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Franz zurückzog, um dann etwas vollkommen Unfassbares zu tun.

Thor hatte noch nie jemanden so sehr gehasst wie seinen Vater, trotzdem liebte er ihn über alles. Als Kind hatte er Franz verehrt, aber je mehr die Grausamkeiten im Sektenalltag zugenommen hatten, desto stärker verblasste die Liebe und verwandelte sich in Bitterkeit. Er erinnerte sich genau an den Moment, als er wieder Liebe empfand. Vor vielen Jahren war Franz nach einem Schlaganfall völlig gelähmt gewesen. Thor besuchte ihn regelmäßig, pflichtbewusst, vor allem, weil Franz sonst niemanden hatte. Er kam sich dumm und unbeholfen vor, als er die schlaffe Hand seines Vaters hielt. Um das peinliche Schweigen zu brechen, erzählte er ihm, wie ungerecht er sich als Kind behandelt gefühlt hatte. Nach einer Weile gingen ihm die schlechten Erinnerungen aus, und er begann stattdessen von den guten zu erzählen. Als Thor von einer besonders schönen Erinnerung sprach, stiegen Franz die Tränen in die Augen, die er selbst nicht wegwischen konnte. Diese offensichtliche Schwäche eines Mannes, der in Thors Welt früher einmal der Stärkste von allen gewesen war, löste etwas in ihm aus. Das Bild brannte sich auf seine Netzhaut. Die hilflosen Tränen eines gelähmten Mannes. Seitdem führte er den unermüdlichen Kampf, um Franz dazu zu bringen, sich wie ein normaler Mensch zu verhalten.

Und ganz plötzlich hatte er Schwierigkeiten, sich aufs Fahren zu konzentrieren. Die Vergangenheit meldete sich zu Wort. Er versuchte, seine Gedanken davon abzuhalten, in diese Richtung zu wandern. Mit Logik an die Sache heranzugehen. In letzter Zeit war doch nichts Schlimmes passiert. Vielleicht sollte er nicht immer so hart mit Franz ins Gericht gehen. Und wahrscheinlich verstärkte der Stress durch die Kündigung alles nur noch.

Das Auto vor ihm wurde langsamer, die Abfahrt Richtung Båstad kam als Nächstes. Seine Beklemmung schlug in Fröhlichkeit um. Ich bin losgefahren. Ich habe es tatsächlich getan! Er verlangsamte das Tempo, hatte eine Hand locker auf dem Lenkrad und sah aus dem Fenster. Hellgrüne Felder unter einem strahlend blauen Himmel. Dieser Anblick genügte, um seine innere Ruhe wiederherzustellen.

Er checkte in einem Vier-Sterne-Hotel ein, fest entschlossen, sich was Gutes zu tun. Am Nachmittag schlenderte er ziellos durch die Straßen und zum Strand hinunter. Zu Mittag aß er in einem Gartenlokal und kam mit einer Gruppe von Leuten in seinem Alter ins Gespräch. Sie waren aus Stockholm, braun gebrannt, leicht bekleidet und lebenslustig. Vor allem fiel ihm ein Mädchen namens Hanna auf. Sie war blond, blauäugig, schlank, mit hohen Wangenknochen. Zerbrechlich. Ganz anders als Julia, die kurvig, dunkel und kraftvoll war. Ihre Blicke trafen sich, und von einer Sekunde zur anderen veränderte sich ihr Ausdruck. Nur für einen Augenblick zwar, aber er hatte es ganz deutlich gesehen. Verlangen. War es so einfach? Gleich im erstbesten Biergarten begegnete er seinem Abenteuer? Hanna lächelte ihn einladend an. Abgesehen von einem Anflug von Gewissensbissen Julia gegenüber bereitete ihm der Gedanke, mit einer Fremden zu flirten, noch keine Schwierigkeiten.

Hanna schlug vor, sich später am Abend in der Bar von Pepes Bodega zu treffen, und Thor versprach zu kommen. Eine Wespe landete auf seinem Teller und krabbelte über die Essensreste. Er versuchte sie wegzuscheuchen, aber sie kam immer wieder. Das hartnäckige, aggressive Verhalten des Insekts gruselte ihn. Ein Detail, dem er aber erst etwas später Beachtung schenken würde.

Es war ein großartiger Abend, zumindest zu Anfang. Er ließ sich vom Strom der Sommergäste durch die Stadt tragen und inhalierte die vielen Gerüche von gegrilltem Fleisch und frischer Seeluft. Er lauschte dem Gemurmel der Stimmen, dem Echo des anhaltenden Lachens und der Musik, die aus den Bars und Booten im Hafen drang. Er lächelte Menschen an, die er nicht kannte und nie kennenlernen würde. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich unbeschwert.

Vor Pepes Bodega hatte sich eine Menschenmenge gebildet und hörte dem Live-Auftritt einer Countryband zu. Thor ging hinein, und Hanna kam sofort auf ihn zu. Sie zog ihn mit sich an die Bar, wo sie mit ihren Freunden stand, und sie nahmen ein paar Drinks. Dabei standen sie dicht nebeneinander, ihre nackten Arme berührten sich. Julias Gesicht tauchte für eine Sekunde vor seinem inneren Auge auf, aber das Verlangen, alle Hemmungen fallen zu lassen, war stärker. Nach einem weiteren Drink schlug Thor vor, nach draußen zu gehen, um frische Luft zu schnappen. Sie liefen Richtung Strand. Hanna redete unaufhörlich über Dinge, die ihn eigentlich nicht interessierten, aber er genoss den Klang ihrer weichen Stimme und ihre Gesellschaft. Sie setzten sich in die Dünen, mit Blick aufs Meer. Eine laue Sommernacht, in der die Lichter der Stadt und der fast volle Mond Helligkeit spendeten. Seine Gedanken wanderten nach Dimö, er musste an die undurchdringliche Dunkelheit auf den Klippen denken und an das Meer, das fast immer in Bewegung war. Das Wasser in dieser Bucht schien ihm fast unnatürlich ruhig, wie in einem Ententeich. Der Strand hier war von Hunderttausenden von Touristen plattgetrampelt worden. Er musste an die mächtigen Klippen von Dimö denken, die wie Wächter der Heide in den Himmel ragten. Im Vergleich dazu wirkten die Dünen hier eher armselig. Båstad war bewohnt und wies keine weiteren Besonderheiten auf, Dimö hingegen schien ihm so unergründlich wie das Wetter auf der Insel. Er riss sich aus seinen Gedanken und sah Hanna an. Schließlich war er nicht wegen der schönen Natur zum Strand gegangen. Hanna gestand nach einem kurzen Zögern, dass sie wusste, wer Thor war.

»Dein Vater und du, ihr seht euch ziemlich ähnlich, abgesehen von deinen roten Haaren«, sagte sie. »Ich habe dich sofort erkannt.«

»Sonst sind wir uns aber überhaupt nicht ähnlich«, antwortete er abwehrend.

»Aber du bist genauso heiß wie er«, sagte sie und errötete leicht.

»Ich habe eine Freundin«, platzte es aus ihm heraus.

»Ich weiß«, sagte sie. »Diese Journalistin, die richtig gute Artikel schreibt.«

Die Vorstellung, dass Hanna im Laufe des Nachmittags wahrscheinlich alles gelesen hatte, was sie im Internet über ihn finden konnte, irritierte ihn. Er war es leid, immer und ausschließlich mit seinem Vater in Verbindung gebracht zu werden. Das war abtörnend, und einen kurzen Augenblick lang überlegte er, ins Hotel zurückzugehen und sich ins Bett zu legen. Sie schwiegen. Dabei gelang es ihm, seinen Fluchtimpuls zu unterdrücken.

»Und ich habe auch einen Freund«, sagte sie. »Er sitzt mit den anderen in der Bar. Aber in den Ferien haben wir uns auf eine offene Beziehung geeinigt. Wie sieht das bei dir aus?«

»Eigentlich nicht«, gab er zu.

»Dann lass uns einfach hinterher so tun, als wäre es nie passiert«, schlug sie vor.

Das würde niemals funktionieren, das war ihm sofort klar. Er mochte imstande sein zu lügen, dass sich die Balken bogen, aber Julia konnte er nicht anlügen. Mit einem vielsagenden Blick sagte er: »Das kriegen wir schon hin.« Es klang nach einer Überzeugung, die er gar nicht empfand.

Sie strahlte übers ganze Gesicht, und jetzt hatte er Lust, sie zu küssen. Sie war hübsch, ihr langes Haar bewegte sich sanft im Wind. Aber irgendetwas hielt ihn ab, und er drehte den Kopf zur Seite. Als er sein Gesicht wieder Hanna zuwandte, hielt sie ihm etwas hin. In ihrer Handfläche lagen zwei kleine Pillen. Sie steckte eine in den Mund und schluckte sie schnell herunter.

»Damit wir in Stimmung kommen«, sagte sie und lächelte verschmitzt.

Die zweite Pille lag unberührt in ihrer Handfläche.

Thor kämpfte einen stummen Kampf mit der Stimme seines Gewissens, die ihn schon sein ganzes Leben lang begleitete. Sie warnte ihn, dass es jetzt gefährlich, dumm und zerstörerisch wurde. Aber heute Abend wollte er nicht auf sie hören. Schnell nahm er die Pille, bevor er seine Meinung ändern konnte, und steckte sie sich in den Mund. Schluckte. Er fragte nicht einmal, was es war. Es schien ihm besser, das nicht zu wissen. Er wollte sich überraschen lassen.

Lange saßen sie schweigend nebeneinander, lauschten dem sanften Wind im Schilf und auf das Plätschern der Wellen. Die Spannung zwischen ihnen war spürbar, aber nicht unangenehm. Er sprach über albernes Zeug, über das Wetter, bis er sich endlich ein Herz fasste und sie küsste. Aber der Kuss war nicht so angenehm, wie er erwartet hatte. Zu kalt, zu feucht, eine unerwartete Enttäuschung. Auf einmal hatte er den unwiderstehlichen Drang, sich zu bewegen … und stand auf. Da wurde ihm schlagartig übel und er taumelte. Hanna sprang auf, packte ihn am Arm und sah ihn besorgt an.

»Oh Gott, deine Pupillen sind ja riesig. Das ist doch nicht dein erstes Mal, oder?«

Er nickte schüchtern. Die Übelkeit nahm zu und breitete sich in seinem Körper aus.

Ihm ging es wirklich nicht gut.

»Scheiße, das wusste ich nicht«, sagte sie. »Sorry, ich hätte dich fragen müssen. Das ist ziemlich starkes Zeug.«

»Ich glaube, ich muss mich nur ausruhen«, sagte er. »Ich gehe ins Hotel zurück.«

»Willst du wirklich allein sein?«, fragte sie. »Wenn es dir so schlecht geht, ist das keine gute Idee.«

»Ist schon gut«, sagte er. »Ich komme später wieder und hol dich ab.«

Sie verabschiedeten sich. Auf dem Weg zum Hotel begann sein Puls plötzlich zu rasen und alles um ihn herum war anders als vorher, dramatisch anders. Die Musik aus den Clubs dröhnte in seinen Ohren. Die Farben waren grell, stachen in den Augen. Als er im Hotelzimmer ankam, wo er sofort das Fenster aufriss, weil er das Gefühl hatte, sonst zu ersticken, war er erleichtert. Er legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er hatte Schüttelfrost und einen bitteren Geschmack im Mund, fühlte sich wie vergiftet. Ungeduldig schüttelte er den Kopf und versuchte, das Gefühl loszuwerden. Als das nicht funktionierte, öffnete er die Augen.

An der Decke saß eine Wespe.

Er fand es seltsam, dass es in einem Vier-Sterne-Hotel Wespen gab.

Auf einmal fühlte es sich an, als hätte er Sandpapier im Hals, etwas steckte in seiner Kehle fest. Er räusperte sich, die Kehle vibrierte, und beim Ausatmen schwirrte eine Wespe aus seinem Mund. Verblüfft sah er zu, wie sie an die Decke flog und sich dort niederließ. Sein ganzer Körper begann zu jucken, innen und außen. Als er seine Arme ansah, waren sie mit Wespen übersät. Krabbelnde, schwirrende Wespen. Hungrig und wütend.

Fuck, fuck, fuck! Das ist ein Horrortrip. Du halluzinierst. Beruhige dich. Atme!

Aber es half nichts. Er schrie und fuchtelte mit den Armen, um die Wespen loszuwerden, sprang aus dem Bett und rannte wie ein Verrückter durchs Zimmer. Immer im Kreis. Der Wespenschwarm war mittlerweile so groß, dass er den ganzen Boden bedeckte. Die Wespenkörper wurden unter seinen Fußsohlen zerdrückt. Er wollte Hilfe holen, aber der Nachttisch, auf dem das Handy lag, war nicht mehr da – und das Bett auch nicht. Die Wespen krabbelten ihm an den Beinen hoch. Er stolperte ins Badezimmer, sank auf den Boden und öffnete den Klodeckel. Sogar die Toilettenschüssel war voller Wespen. Sie verschwanden auch nicht, nachdem er sich mehrmals heftig übergeben hatte. Die einzigen wespenfreien Stellen waren die gekachelten Wände. Er redete mit ihnen, lange und wirre Sätze. Es klang wie eine fremde Sprache. Er sprach tatsächlich mit den Wänden!

Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihm aufzustehen. Er betrachtete sein Spiegelbild. Sein ganzes Gesicht, mit Ausnahme von Mund und Augen, war mit Wespen übersät. Es fühlte sich so unerträglich an, dass die Angst in Verzweiflung umschlug. Er taumelte aus der Toilette, sackte auf den Boden und stieß eine Mischung aus Schluchzen und verzweifelten Schreien aus. Dann kniff er die Augen zu, wollte so die Halluzination verjagen. Es wurde schwarz vor seinen Augen. Das hysterische Summen der Wespen verstummte. Der Juckreiz an seinem Körper ließ nach. Als er die Augen wieder öffnete, waren die Wespen verschwunden, als wären sie nie da gewesen. Eine kühle Brise wehte durch das offene Fenster herein. Er zitterte am ganzen Körper, dabei aber fühlte er eine unsagbare Erleichterung.

Kapitel 3

Aus Angst, es könnte alles wieder von vorne losgehen, wagte er nicht, sich zu bewegen. Also blieb er da einfach liegen, mit geschlossenen Augen – und genoss die Dunkelheit. Schließlich schlief er auf dem Boden ein und wachte erst wieder auf, als das Zimmer in Sonnenlicht und er in Schweiß gebadet war. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich an alles erinnerte, was in der Nacht geschehen war. Er suchte das Zimmer nach Wespen ab, erkannte aber schnell, wie unsinnig das war. Alles schien so still und ruhig, als ob der Horrortrip nicht mehr als ein seltsamer Traum gewesen war.

In Gedanken ging er alles durch, was seit seinem Einchecken im Hotel passiert war. Die richtige Chronologie. Er hatte Hanna im Biergarten kennengelernt, dann die Pille am Strand genommen und war schließlich von dem Wespenschwarm im Hotelzimmer angefallen worden. Da fiel das fehlende Puzzlestück an seinen Platz. Das sehr klare Bild von der Wespe, die über seinen Teller gekrabbelt war. Sein Ekel vor dem Insekt musste in seinem Unterbewusstsein hängen geblieben und durch die Droge noch verstärkt worden sein. Seltsam. Er sah sich in dem Zimmer um. Obwohl er in seiner Erinnerung wie ein Verrückter herumgerannt war, war nichts umgestoßen worden. Hatte sich das alles nur in seinem Kopf abgespielt, während er die ganze Zeit wie gelähmt auf dem Bett gelegen hatte? Allerdings lag er jetzt tatsächlich auf dem Boden, während ein Windhauch die dünnen Vorhänge bewegte. Als er nach Hause gekommen war, hatte er das Fenster geöffnet, daran konnte er sich erinnern.

Er stand mit wackligen Beinen auf und ließ sich in einen Sessel sinken. Auf dem Nachttisch lag sein Handy. Er wollte etwas über Horrortrips und ihre Auswirkungen erfahren und fand eine Menge an Informationen. Wahnvorstellungen, Übelkeit, Depressionen, Ängste, Paranoia und Panik waren die häufigsten Symptome. Außerdem kam es manchmal auch zu Flashbacks. Er hatte das dringende Bedürfnis, mit Julia darüber zu sprechen, aber zuerst wollte er duschen. Er schleppte sich ins Badezimmer zurück und stand lange unter dem heißen Wasser. Mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt, setzte er sich aufs Bett und rief Julia an, die sich sofort meldete. Er ließ sich Zeit und erzählte ihr, was passiert war, ohne irgendwelche peinlichen Details auszulassen. Nachdem er fertig war, herrschte am anderen Ende der Leitung langes Schweigen.

»Warum sagst du nichts?«, fragte er.

»Du hast mich betrogen«, sagte sie leise.

»Es war nur ein Kuss, bitte glaub mir.«

»Du wolltest mich aber betrügen.«

Er fand ihre Reaktion unsensibel. Der nichtssagende Kuss war so unfassbar trivial im Vergleich zu dem Horrorszenario, das darauf gefolgt war.

»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, Julia, und es ist ja auch nichts passiert. Kannst du nicht etwas Mitgefühl zeigen? Ich hätte sterben können.«

»Das ist höchst unwahrscheinlich. Doch nicht von einer einzigen Pille. Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht. Möchtest du denn mit anderen Frauen schlafen?«

»Nein, wirklich nicht«, seufzte er. »Ich wollte was ausprobieren. Du weißt schon, Grenzen testen, wie mein Psychologe das nennt. Vermutlich dachte ich, das würde mich weniger langweilig machen.«

»Du bist nie langweilig. Hast du die Pille einfach so geschluckt?«

»Wie soll man es sonst machen?«

»Zum Beispiel fragen, was es ist.«

»Vielen Dank, jetzt fühle ich mich viel besser. Es ist schön, eine so verständnisvolle Freundin zu haben.«

Sie schwieg einen Augenblick lang. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme wie immer, ohne den Hauch von Sarkasmus.

»Ich war nur ein bisschen schockiert, weißt du?«, sagte sie dann, und in ihrer Stimme klang nicht einmal der Hauch von Sarkasmus mit. »Ich fand es ja gut, dass du verreist und so, aber das hatte ich nicht erwartet …«

»Tut mir leid.«

»Das musst du nicht sagen.«

Er konnte Verkehrslärm und Stimmen im Hintergrund hören.

»Bist du unterwegs?«

»Nein, ich stehe auf dem Balkon meines Hotelzimmers.« Plötzlich musste sie lachen. »Jetzt mal ehrlich, was für ein Trip. Das hat doch das Potenzial für einen Horrorfilm. Und das Ende ist ein ganzes Meer aus Wespen, und mittendrin ein Mund, der nach Luft schnappt, und auf der Zunge sitzt eine Wespe. Der letzte Überlebende, nachdem die Killerwespen den Rest der Menschheit ausgelöscht haben. Wie in Die Vögel, aber mit Insekten.«

»Hör auf. Das war wirklich nicht witzig. Ist dir klar, was für ein Glück ich hatte? Das hätte auch anders ausgehen können. So ein Trip kann einen das ganze Leben verfolgen.«

»Aber ich glaube nicht, dass dir das passiert. Du klingst wieder ganz normal.«

»Und was soll ich jetzt tun, Julia? Das war mir echt zu viel.«

»Fahr nach Lund. Sieh dir die Universität an. Das hattest du doch sowieso vor, oder?«

»Das ist doch alles Quatsch, diese Reise ist zum Scheitern verurteilt.«

»Gar nicht. Du hast gelernt, dass Drogen scheiße sind.« Sie senkte ihre Stimme, damit sie leiser klang. »Geht es dir denn immer noch schlecht?«

»Nein, jetzt nicht mehr, aber was ist, wenn ich einen Flashback bekomme?«

»Sehr unwahrscheinlich. Trink viel Wasser. Ich wäre gern bei dir, um mich um dich zu kümmern. Ich würde dir einen Tee machen und zu dir ins Bett kriechen. Versprich mir, dass du zum Arzt gehst, wenn es dir schlecht geht.«

»Schon gut. Jetzt übertreib es nicht.« Er war so glücklich, mit Julia zusammen zu sein. »Alles klar, dann fahre ich nach Lund.«

Später sah er, dass Hanna ihm mehrere SMS geschickt und gefragt hatte, ob es ihm gut ging. Er versicherte ihr, dass alles in Ordnung war. Er wäre sofort eingeschlafen und jetzt schon auf der Weiterreise.

Die Sonne brannte vom Himmel über Lund, im Schatten waren es gefühlte dreißig Grad. Aber auf dem Universitätscampus, umgeben von sommerlichem Grün, fühlte es sich unter den riesigen Bäumen angenehm kühl an. Er konnte sich an den alten Gebäuden, die eine ganz besondere Ausstrahlung hatten, gar nicht sattsehen. Die Fassaden sprachen eine eigene Sprache, strahlten etwas Altes, Wehmütiges und Geheimnisvolles aus. Wenn die Wände doch nur die Geschichten erzählen könnten, die sich hier abgespielt hatten! Während er über den Campus schlenderte, las er auf seinem Handy, was das Internet über die Universität zu sagen hatte. Sie war die größte Universität im Norden Europas und 1666 gegründet worden. Diese Jahreszahl war eine besondere. Er hatte etwas über die 666 gelesen – in der Bibel. Die Zahl des Tieres, nicht des Teufels, sondern der Macht, die ihm auf Erden dient. Das war aufregend. Franz hatte hier studiert. Warum hatte er ihm nie von seiner Zeit an der Universität erzählt?

Er öffnete eine Karte von Lund und stellte fest, dass fast alle Sehenswürdigkeiten zu Fuß zu erreichen waren. Also beschloss er, sich einige davon anzusehen. Zuerst die Domkirche, vor allem die Krypta aus dem 12. Jahrhundert – angeblich war dies der älteste sakrale Raum Schwedens – beeindruckte ihn besonders. Das Licht, das auf die Säulen fiel, erzeugte einen Eindruck, als würde die Decke schweben. Danach ging er ins Museum der Skizzen, wo er sich lange aufhielt und sich die vielen Entwürfe öffentlicher Kunstwerke ansah.

Als ihm schwindlig wurde und seine Beine vom vielen Laufen zittrig waren, stellte er fest, wie durstig er war. Er leerte die Flasche Wasser, die er in einem Kiosk gekauft hatte, setzte sich dann aber ins Restaurant des Museums und bestellte sich eine Spinatquiche und zwei Flaschen Apfelsaft. Es waren kaum Gäste da, außer ihm selbst, einem älteren Mann und einer Familie mit Kindern. Er setzte sich an einen Fenstertisch, streckte seine Beine aus und lehnte sich mit einem genüsslichen Seufzer zurück.

Wie gut, dass er doch noch nach Lund gefahren war. Diese Stadt gefiel ihm nämlich gut. Auch die Kündigung war inzwischen in den Hintergrund gerutscht. Obwohl Vincent angerufen und eine Nachricht hinterlassen hatte, in der er ihm versicherte, dass er absolut nicht die Absicht gehabt hatte, ihn zu verletzen. Klar.

Das Einzige, was die Harmonie jetzt störte, war das Fiasko gestern. Warum hatte er nur diese Pille genommen? Er hatte zwar etwas getrunken, aber er war doch nicht so betrunken gewesen, dass es als Ausrede herhalten konnte.

Das Schlimmste war nun aber überstanden. Ein totales Abschleppdesaster und ein grausamer Horrortrip. Schlimmer konnte es nicht werden.

Aber es wurde noch schlimmer.

Kapitel 4

Von all den schrecklichen Erinnerungen, die Thor an die Zeit in der Sekte hatte, war die Frau, die jetzt an seinen Tisch kam, mit einer der schlimmsten verbunden. Obwohl es acht Jahre her war, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, erkannte er sie sofort. Elisabeth, oder Elisa, wie sie damals hieß, war zu der Zeit in der Schule auf ViaTerra wie eine Bombe eingeschlagen. Ihre Eltern hatten sie dorthin geschickt, weil sie widerspenstig gewesen war, eine jugendliche Rebellin. Sie war außergewöhnlich schön, eine überwältigende Schönheit, die Thor zwar etwas erschreckend gefunden hatte, aber das hatte ihn keineswegs davon abgehalten, wie alle anderen Jungen in der Schule von ihr zu träumen.

Elisabeth strahlte allerdings noch mehr als nur Schönheit aus. Sie war von einer Kühnheit, einer fast elektrisierenden Energie. Und im Vergleich zu ihm, der zu diesem Zeitpunkt noch keine richtige Persönlichkeit entwickelt hatte, hatte sie so besonders echt gewirkt.

Es dauerte nicht lange, bis auch Franz Elisabeth bemerkte. Thor wusste nicht, was dann zwischen ihr und seinem Vater vorgefallen war, aber es musste etwas Schreckliches gewesen sein. Sie war ein paar Tage krankgeschrieben, und als sie schließlich zurückkam, sah sie aus, als wäre sie in ein Erdbeben geraten. Kurz darauf verließ sie ViaTerra und kam nie wieder zurück. Einige Zeit später veröffentlichte sie einen Blogbeitrag, in dem sie erzählte, dass sie mit Franz Sex gehabt hatte. Sie benutzte das Wort Vergewaltigung zwar nicht, aber zwischen den Zeilen war es deutlich zu lesen.

Franz’ Reaktion darauf war ein Video, an dem Thor nur widerwillig teilgenommen hatte. Aber eine Weigerung kam damals nicht infrage. Und genau dieses Video trieb ihm, als Elisabeth jetzt vor ihm stand, die Schamesröte ins Gesicht. Alle Schüler und Schülerinnen von Kinder der Erde wurden vor laufender Kamera interviewt und aufgefordert, von Gelegenheiten zu erzählen, bei denen Elisabeth sie angelogen hatte. Aber Elisabeth hatte Thor niemals angelogen. Im Gegenteil, er fand sie aufrichtig und ehrlich. Nachdem der Druck auf ihn erheblich erhöht worden war, erinnerte sich Thor doch noch an etwas, bei dem Elisabeth vermutlich gelogen hatte. Und diese Aussage wurde gefilmt. Kurze Zeit später entfernte Elisabeth ihren Blog-Eintrag. Das hatte Thor noch lange beschäftigt. Bei den Kindern der Erde gab es die ungeschriebene Regel, dass man sich für Franz als Leiter einsetzte, und zwar koste es, was es wolle. Aber in Wahrheit hatte Elisabeth Thor nie etwas getan.

»Ich glaube es nicht, Thor! Du bist das doch, oder?«, rief sie, obwohl sie ihn schon längst erkannt hatte. In ihren Händen hielt sie ein Tablett mit einem Salat und einem Glas Wasser.

Er sprang auf und stieß dabei sein Glas um. Der Apfelsaft ergoss sich über den Tisch. Elisabeth stellte das Tablett auf dem Nebentisch ab, schnappte sich ein paar Servietten und wischte den Saft auf, was Thor noch mehr in Verlegenheit brachte. Gemeinsam beseitigten sie das Malheur.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie höflich.

»Natürlich«, antwortete er und machte eine einladende Geste.

»Du erkennst mich auch wieder, oder?«, fragte sie.

»Ja, natürlich. Elisa Bonelli, richtig?«

»Stimmt, allerdings ist Bonelli der Mädchenname meiner Mutter, und ich benutze jetzt Troelius, den grandiosen Familiennamen meines Vaters. Und von dem alten Spitznamen habe ich mich auch verabschiedet; ich nenne mich jetzt einfach Elisabeth. Ich glaube, man könnte das einen Neuanfang nennen nach meiner Teenagerzeit.«

Sie stellte ihr Tablett auf seinen Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Sie war noch genauso schön, wie er sie in Erinnerung hatte. Honigblondes Haar, das ihr in einer weichen Welle über die Schultern fiel. Große Augen mit langen Wimpern. Alles an ihr wirkte sinnlich – ihre Bewegungen, ihr Lächeln und ihre Stimme. Für seinen Geschmack war sie etwas zu raffiniert, nicht wie Julia, die sich sofort natürlich und spontan gab. Er wollte sie eigentlich nicht mit anderen Frauen vergleichen, aber jetzt tat er es trotzdem.

Und beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.

»Ich möchte mich ehrlich für das entschuldigen, was damals passiert ist, nachdem du von der Schule gegangen bist. Für den Film, meine ich.«

Elisabeth winkte mit der Hand.

»Mach dir keinen Kopf. Das war ja nicht deine Schuld. Und übrigens haben Franz und ich uns ausgesprochen und wieder versöhnt.«

Zuerst dachte Thor, er hätte sich verhört.

»Du hast dich mit meinem Vater ausgesprochen und versöhnt?«

Sein verständnisloser Blick brachte sie zum Lachen.

»Ja, mit deinem Vater. Er hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Dein Vater wollte die Dinge wieder in Ordnung bringen.«

Sofort schrillten alle Alarmglocken in ihm. Nach Franz’ Schlaganfall hatte es beinahe drakonischer Maßnahmen bedurft, um ihn dazu zu bringen, Verantwortung für seine Vergangenheit zu übernehmen. Was hatte das jetzt zu bedeuten?

»Darf ich fragen, was zwischen dir und meinem Vater passiert ist, bevor du von der Schule genommen wurdest?«

Elisabeth lächelte zaghaft.

»Es war tatsächlich so, wie ich in meinem Blog geschrieben habe. Wir hatten Sex. Am Anfang war es gut, dann wurde er aber grob und hat mir Angst gemacht. Da ich nicht protestiert habe, traute ich mich zunächst nicht, es jemandem zu erzählen. Erst später wurde mir klar, dass er mich ausgenutzt hatte. Ich war ja noch minderjährig und Schülerin an seiner Schule. Und er war der Leiter. Deshalb hatte ich den Blogeintrag geschrieben.«

»Du hättest ihn anzeigen sollen.«

Traurig schüttelte sie den Kopf. »Meine Eltern hätten das nie erlaubt. Sie waren, wie alle anderen auch, überzeugt davon, dass ich gelogen habe. Als Franz den Schlaganfall hatte, fand ich auch, das sei Strafe genug. Und jetzt ist er doch ein ganz anderer Mensch geworden, oder?«

»Kann sein«, sagte Thor zögernd. »Wann habt ihr euch das letzte Mal getroffen?«

Sie spießte ein Salatblatt mit ihrer Gabel auf und dachte ernsthaft nach.

»Kurz nachdem er sich von seinem Schlaganfall erholt hatte. Da war er noch in der Reha. Wir haben zuerst miteinander telefoniert. Ich war natürlich misstrauisch, aber dann habe ich sofort gemerkt, dass er sich verändert hat. Das hat dich doch bestimmt auch erleichtert?«

Thor wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Es kam zu einer langen Pause. Hier stimmt definitiv etwas nicht. Denn auch noch lange nach seinem Schlaganfall war Franz uneinsichtig und so blind wie ein Maulwurf, was seine Unzulänglichkeiten und Verfehlungen betraf.

»Du hast gesagt, er wollte die Dinge in Ordnung bringen«, erwiderte er. »Wie hat er das gemacht?«

»Kennst du meine Eltern? Carl-Fredrik und Justine Troelius. Sie leben auf einem Gutshof hier in Schonen, sind adelig und steinreich. Es gab Phasen, in denen sind wir nicht gut miteinander zurechtgekommen. Seit ich von zu Hause weggezogen bin, habe ich mich geweigert, Geld von ihnen anzunehmen … also Almosen.«

Sie hustete und nahm einen Schluck Wasser.

»Verstehe, das kenne ich selbst ganz gut«, sagte Thor.

»Als Franz mich kontaktierte, ging es mir finanziell gerade nicht so gut«, fuhr sie fort. »Ich hatte Schulden, habe Überstunden gemacht, bin aber trotzdem nicht über die Runden gekommen. Das Leben in Lund ist teuer.«

»Hat er dir Geld gegeben?«, fragte Thor entsetzt.

»Nein, nicht direkt. Er hat hier im Stadtzentrum eine Wohnung gekauft, die er mir zu einer absurd niedrigen Miete überlassen hat. Das hat mir dann geholfen, aus dieser Krise herauszukommen. Und es schadet auch nicht, dass die Wohnung wirklich schön ist.«

Thors Entsetzen wurde immer größer. Um den Schock zu verbergen, sah er aus dem Fenster. Die gleißende Sonne stand plötzlich im krassen Gegensatz zu seiner Stimmung. Als er Elisabeth wieder ansah, war ihr Blick auf ihn gerichtet, ohne zu blinzeln.

»Tut mir leid, aber…«, er sah gequält aus, »… das klingt irgendwie verdächtig.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, war es eine reine Investition. Er investiert doch hier und da in Immobilien.«

»Ist das alles?«

»Ja, wir haben uns auch noch ausführlich unterhalten. Offenbar hat er sich in einer Therapie mit seinen Aggressionsproblemen auseinandergesetzt. Ich habe aber auch viel über mich gesprochen. Dein Vater ist seit seiner … Veränderung ein richtig guter Zuhörer.«

Thor musste sich auf die Zunge beißen, um es nicht laut auszusprechen: Und dann hat er mit dir geschlafen. Denn das würde zu seinem Vater passen. Elisabeths verträumter Blick, wenn sie über Franz sprach, ließ Thor innerlich erschaudern. Er kannte diesen Blick. Wenn Menschen so aussahen, war es unmöglich, ihnen das auszureden. Sie kannten seine dunklen Seiten und waren trotzdem davon überzeugt, dass er zu ihnen anders sein würde – und nur sie das Biest zähmen könnten. Erst kam Wärme, dann eine eisige Kälte, gefolgt von noch größerer Hitze. Es war eine altbewährte Technik, die Franz schon in der Vergangenheit bis zur Perfektion beherrscht hatte. Am Anfang gab er sich unwiderstehlich. Am Ende grausam und brutal. Aber dieses dubiose Geschäft mit Elisabeth war nach Franz’ sogenannter Wandlung zustande gekommen.

»Ehrlich gesagt klingt es so, als hätte mein Vater panische Angst gehabt, dass du ihn doch noch anzeigst«, sagte er.

Elisabeths Augen verengten sich.

»Das glaube ich nicht. Es ging eher um meine Eltern. Mit denen wollte er es sich wahrscheinlich nicht verderben. Sie hatten früher offenbar viel miteinander zu tun. Du weißt schon, als er hier an der Uni war.«

»Mir gegenüber hat er sie nie erwähnt«, sagte Thor.

»Das war wohl auch vor langer Zeit, bevor wir geboren wurden«, erklärte sie.

Thor wollte wenigstens versuchen, Elisabeth zu warnen.

»Meinem Vater kann man nach wie vor nicht trauen.«

Elisabeth beugte sich zu ihm und strich mit einem Finger leicht über seine Wange. »Wie süß du bist. Aber ich kann schon auf mich selbst aufpassen.« Thor wollte sie unterbrechen, aber sie war schneller. »Franz und ich haben uns jetzt schon lange nicht mehr gesehen, nur damit du es weißt. Aber ab und zu schickt er mir eine SMS.«

Thor rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

»Bitte sag ihm nicht, dass ich dir das erzählt habe, okay?«, flehte sie. »Es ist zwar kein Geheimnis, aber ich hatte den Eindruck, dass er nicht so gern wollte, dass es jemand erfährt.«

Während sie aßen, unterhielten sie sich ungezwungen. Elisabeth erzählte von ihrem Job als Verkäuferin in einem Modegeschäft. Thor war für diesen Moment der Normalität dankbar und erzählte ein wenig von sich und seiner Leidenschaft für den Journalismus. Dann musste Elisabeth aufbrechen, ihre Pause war vorbei.

Thor blieb sitzen und versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Elisabeths Enthüllung hatte ihn wütend gemacht. Franz hatte sich also eine Wohnung gekauft, in der die junge Frau wohnte, an der er sich damals vergriffen hatte, und dafür bezahlte sie eine absurd niedrige Miete – und er schickte ihr SMS. In den letzten Jahren hatte sich Thor hinreißen lassen, vorsichtig hoffnungsvoll zu sein. Aber die angespannte Vater-Sohn-Beziehung konnte keine weiteren Geheimnisse mehr vertragen. Könnte es sein, dass Franz seine psychopathischen Neigungen hinter Thors Rücken heimlich weiter auslebte?

Das war so typisch. Der zweite Tag seines sogenannten Urlaubs war noch nicht vorbei, und schon verspürte er den starken Drang, seinen Vater zur Rede zu stellen.

Kapitel 5

FRANZ

Den Sommer auf ViaTerra zu verbringen, ist wie eine Reise in eine andere Zeit zu unternehmen. Die alten Bäume, die üppigen Blumenbeete, die Umrisse des alten Herrenhauses vor einem gleichmäßig blauen Himmel. Aus den Sträuchern steigt der verführerische Duft von reifem und sonnengewärmtem Geißblatt auf. Man hört die Wellen, die geduldig und gleichmäßig gegen die Felsen schlagen. Manchmal fühlt es sich so an, als könnte der Rest der Welt verschwinden, ohne dass wir es hier auf der Insel bemerken.

Gerade habe ich das gemeinsame Mittagessen mit meinen Gästen beendet und bin auf dem Weg in mein Büro. Ich fühle mich ruhig und gelassen. Und das ist keine Ruhe vor dem Sturm, sondern eher die Ruhe vor einer Welle des Erfolgs. Seit ich ViaTerra wieder für Gäste geöffnet habe, läuft mein Geschäft gut. Die Gewinnspanne ist zwar immer noch minimal, aber der Zauber dieses Ortes spricht sich herum … wie ein Lauffeuer. Es ist ein Zufluchtsort, der seine magische Ausstrahlung aus der rauen, brutalen Schönheit der Natur und meinen inspirierenden Vorträgen bezieht.

Als ich über den Hof laufe, schrecke ich einen Schwarm Krähen auf, die in der alten Esche sitzen. Sie heben ab und steigen wie Rußflocken in den Himmel. Die Krähen bewohnen den alten Baum schon, solange ich mich erinnern kann. Ich wette, sie waren sogar bereits da, bevor es Menschen auf der Insel gab. Manchmal, bei Nebel, kauern sie dicht aneinander und sitzen regungslos, wie gefrorene Blätter. Nebel und Dunst ziehen hier schnell auf. Im Herbst kann die ganze Insel tagelang in eisgrauen Dunst gehüllt sein. Aber in diesem Augenblick ist das unendlich weit entfernt. Der Sommer war bisher ungewöhnlich schön.

Auf dem Weg begegne ich einer Frau, die zu meinen Gästen gehört. Von dem kleinen Hügel, auf dem wir stehen, sieht man das Meer, eine schimmernde Hommage an die Farbe Azurblau. Der Leuchtturm hebt sich wie eine silberne Linie vor dem Horizont ab, so gerade wie ein Bleistift. Wir unterhalten uns über das schöne Wetter, die Wassertemperatur, den fangfrischen Fisch, den es zum Mittagessen gab. Sie dankt mir für den gestrigen Vortrag, den sie ergreifend nennt. Ich mache ihr ein Kompliment und sage, dass ihr die frische Seeluft sehr gut steht. Mir gefällt es, ein wenig leichtfüßige Wärme zu verbreiten. Meine Gäste sollen mich als Freund und … Ihresgleichen in Erinnerung behalten.

In dem Moment, in dem ich mein Büro betrete, ruft Thor an.

»Hallo, Papa, ich bin in Lund«, sagt er.

Das ist nicht wirklich eine Überraschung. Mir war klar, dass er verreisen würde. Er hatte mich angerufen, nachdem er gekündigt hatte. Kein Tag zu früh. Seine Integrität und seine Fähigkeit, sich gegen Unterdrückung zu wehren, machen mich stolz.

»Wie geht es dir, wie findest du es dort?«, frage ich.

»Ich habe mir alles angesehen und lustigerweise eine alte Schulfreundin getroffen. Elisabeth Troelius. Kommt dir der Name bekannt vor?«

Ich höre meinen zischenden Atem. Aber schnell sammle ich mich wieder und wähle einen eher lässigen Tonfall.

»Ja, natürlich. Ich weiß, wer das ist.«

»Dann kannst du mir vielleicht auch erklären, warum du dich sofort mit ihr in Verbindung gesetzt hast, nachdem du dich von deinem Schlaganfall erholen musstest?«