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Julia kehrt auf die Insel Dimön zurück, dort wartet ein grausames Geheimnis auf sie … Band 6 der Nummer-1-Bestsellerreihe von Schwedens Thrillerkönigin Mariette Lindstein!
Vor 50 Jahren verschwanden drei Teenagermädchen spurlos von der Insel Dimö. Der Fall wurde nie aufgeklärt und die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Journalistin Julia erfährt durch ein anonymes Schreiben davon. Sie kehrt nach Dimö zurück – an den Ort, an dem ihre Mutter als Sektenmitglied einst Entsetzliches erlebte – und beginnt ihre Recherche. Die Spur führt sie zum alten Herrenhaus – und zum sadistischen Vater des ehemaligen Sektenführers Franz Oswald. Als dann auf Franz‘ Grundstück ein Skelett gefunden wird, scheint gar nichts mehr sicher. Was geschah in jener Nacht vor 50 Jahren? Wer lauert im Schatten und beobachtet Julia? Und hat Franz das Böse wirklich hinter sich gelassen?
Lust auf mehr? Lesen Sie außerdem »Der Kult« von Mariette Lindstein.
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Seitenzahl: 582
Buch
Vor 50 Jahren verschwanden drei Teenagermädchen spurlos von der Insel Dimö. Der Fall wurde nie aufgeklärt und die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Journalistin Julia erfährt durch ein anonymes Schreiben davon. Sie kehrt nach Dimö zurück – an den Ort, an dem ihre Mutter als Sektenmitglied einst Entsetzliches erlebte – und beginnt ihre Recherche. Die Spur führt sie zum alten Herrenhaus – und zum sadistischen Vater des ehemaligen Sektenführers Franz Oswald. Als dann auf Franz‘ Grundstück ein Skelett gefunden wird, scheint gar nichts mehr sicher. Was geschah in jener Nacht vor 50 Jahren? Wer lauert im Schatten und beobachtet Julia? Und hat Franz das Böse wirklich hinter sich gelassen?
Autorin
Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. Ihr erster Roman »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet und für den CWA Dagger Award 2019 nominiert. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.
Von Mariette Lindstein bereits erschienen
Die Sekte – Es gibt kein Entkommen
Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang
Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende
Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen
Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah
Der Kult – Sein Griff hält dich gefangen
Der Kult – Sein Wort ist dein Gesetz
MARIETTE LINDSTEIN
DIESEKTE
DEINEBESTIMMUNGISTDERTOD
THRILLER
Deutsch von Kerstin Schöps
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Bortom Dimön« bei HarperCollins Nordic, Stockholm.
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Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein, 2021, by Agreement with Enberg Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024
by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Joern Rauser
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Stephen Mulcahey/Arcangel Images; Will Immink; www.buerosued.de
JS · Herstellung: lor/DiMo
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-31362-3V001
www.blanvalet.de
DIMÖ, VOR FÜNFZIG JAHREN
Feine Nebelschwaden ziehen über die Insel. Am Himmel hängt der Mond, man kann ihn nur verschwommen sehen. Ein Boot gleitet vorbei, ein einziges.
Hätte sich der Mann umgedreht, wäre ihm der wunderschöne Anblick aufgefallen. Aber er ist ganz auf das Loch vor ihm konzentriert. Spatenstich für Spatenstich füllt er es wieder auf. Der Schweiß läuft ihm von der Stirn in die Augen, seinen Körper umgibt eine Dampfwolke, die aufsteigt und mit dem Nebel eins wird. Sein Rücken schmerzt ihn, ein Arm ist taub geworden. Hier riecht es streng nach vermoderter Vegetation und feuchter Erde. Über ihm kreisen schreiende Sturmmöwen und scheinen ihn zu beobachten.
Die letzten Spatenstiche fallen ihm am schwersten. Nachdem das Loch gefüllt ist, tritt er die Oberfläche mit den Stiefeln platt. Eine überwältigende Müdigkeit befällt ihn.
Wie hatte es dazu kommen können? Was war aus ihm geworden?
Bei dem Gedanken an das, was ihn erwartet, wenn er ins Haus zurückkehrt, schnürt es ihm die Kehle zusammen. Er lässt sich auf die Knie fallen, wie beim Gebet in der Kirche, und murmelt die wenigen Verse, die er auswendig kennt.
Dann steht er auf, klopft sich die Erde von der Hose. Plötzlich hört er ein Rascheln und sieht zwei Augen im Dickicht leuchten. Es ist nur ein Fuchs, der zaghaft aus dem Dunkeln angeschlichen kommt, in der kalten Luft Witterung aufnimmt und dann über die Wiesen davonrennt.
Die Vorstellung, dass jemand diese Stelle findet, ist mehr als unwahrscheinlich. Diesen Ort kennt nur er, außerdem ist er absolut unzugänglich. Niemals werden sie hier suchen.
Der Nebel hat sich ein wenig gelichtet. Bald ist Vollmond, nur auf der linken Seite fehlt noch ein winziges Stück. Morgen Nacht wird es so weit sein. Schimmernde Motten fliegen durch die Luft, die kreischenden Möwen sind verschwunden, stattdessen hört er das aufdringliche Surren einer Mücke in seinem Ohr. Er wischt sie weg, alle Laute verschwinden, und zurück bleibt nur die Stille und das Grab vor ihm.
Am liebsten würde er die Augen schließen und die Welt um sich herum vergessen, aber er hat keine Zeit dafür, jede Sekunde zählt. Er hebt den Blick, ein Fenster im obersten Stock ist hell erleuchtet. Das Anwesen wirkt zu dieser Tageszeit einsam und verlassen, aber er weiß, dass es niemals ganz zur Ruhe kommt.
Der Schmerz in seinem Inneren ist so überwältigend groß, dass ihn eine irrationale, unbändige Lust überkommt, laut loszulachen. Wenn er nicht bald eine Entscheidung trifft, wird er am Ende wie ein Wahnsinniger den Mond anheulen. Entweder flieht er und versteckt sich irgendwo in der Wildnis, oder er reißt sich zusammen und besinnt sich auf die Überreste seiner inneren Stärke und tut etwas Schreckliches. Wehmütig sieht er aufs Meer hinaus. Obwohl der Sonnenaufgang auf sich warten lässt – und tatsächlich noch in weiter Ferne ist –, wird es zu dieser Jahreszeit nie richtig dunkel. Weit hinten am Horizont, hinter den Nebelschwaden, bereitet sich der Himmel auf einen strahlend schönen Tag vor. Ihm bleiben nur ein paar Stunden, höchstens drei, dann werden sie mit der Suche beginnen.
Jeder Nerv seines Körpers ist zum Zerreißen gespannt. Eine Stimme in seinem Inneren schreit ihn an, doch endlich zur Vernunft zu kommen.
Das nächtliche Himmelszelt hat seine Farbe geändert, von Indigo in Schiefergrau. Er spürt die Kälte, der Bodennebel hat sich verdichtet, und aus den undurchdringlichen weißen Schleiern steigt eine graue Gestalt empor – mit den Konturen eines Menschen. Ihr Anblick verschlägt ihm den Atem, alles in ihm zieht sich zusammen. Er kann sich nicht einmal bewegen, starrt sie wie hypnotisiert an. Sie ist noch nie so nah gewesen, wie zum Greifen.
Der Himmel senkt sich tief über ihn, das Licht nimmt einen seltsamen Grauton an. Er erweckt die Erde zum Leben und lässt die Bäume noch dunkler werden. Die Gestalt im Nebel bewegt sich, dehnt sich aus, zieht sich wieder zusammen, wächst und schrumpft. Auch er schwankt, mal empfindet er ein tiefes Entsetzen, mal eine absurde Erleichterung. Weil die Gestalt nicht bedrohlich ist. Dieser Augenblick ist vom Hauch der Ewigkeit durchdrungen.
Er wartet, erstarrt. Sein Körper ist wie festgefroren. Sie enttäuscht ihn nicht. Ihre Botschaft entfacht einen Hoffnungsschimmer, wie eine Fackel am Ende eines Tunnels. Und er weiß, was er tun muss.
Im selben Augenblick löst sich der Nebel auf. Was bleibt, sind die taunassen Felder, der hohe Sommerhimmel, eine hauchzarte Brise.
Und die Stille.
FRANZ
Ich weiß nicht, wie lange ich mich schon hier unten im Keller befinde. Das kann fünf Tage oder eine Woche sein. Das trübe Tageslicht, das durch das Fenster dringt, sagt mir: Es muss früher Abend sein. Ich sitze auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers, von wo aus ich ein Stück nach draußen sehen kann. Manchmal lege ich mich zum Schlafen auf den Steinboden, ohne auf die Zeit zu achten. Meine Armbanduhr habe ich schon seit Längerem abgelegt. Das Telefon ist ausgeschaltet. Je länger ich hier bin, desto traumhafter fühlt sich die Existenz an. Ich habe die ganze Zeit nichts gegessen, aber ich verspüre auch keinen Hunger mehr. Wenn ich Durst bekomme, trinke ich aus dem Wasserhahn in der Toilette. Hier unter der Erde ist es kühl, aber ich halte einiges aus.
Am Anfang herrschte nur Leere in meinem Kopf. Albtraumhafte Bilder zogen in einem trägen Strom durch mein Inneres, als würde ich einen Horrorfilm sehen – in Zeitlupe.
Noch ist es nicht vorbei.
In diesen Albträumen habe ich … Frauen getötet.
Dabei habe ich in Wahrheit noch nie jemanden getötet. Zumindest nicht absichtlich.
Zu Beginn waren die Träume so real, dass sie mich fast lähmten.
Jeder Herzschlag fühlte sich wie ein Vorbote des Weltuntergangs an.
Wahnsinn kann Menschen schwer zusetzen, auf die verschiedenste Art und Weise. In meinem Fall hat mein Gehirn Halluzinationen hervorgebracht. Meine Psychologin, Magdalena, hat einmal gesagt, dass es an meinen unzugänglichen Kindheitserinnerungen liegt. Aber ich werde mich ihr nicht anvertrauen, und das liegt an den Gedanken, die ich habe. Der Pfarrer hier auf Dimö hat es in einem Gespräch etwas anders formuliert. Er meinte, mein Gewissen hole mich ein.
Das gesamte Anwesen ist verstummt, ich höre kein Lachen mehr, meine Mitarbeiter machen sich verständlicherweise langsam Sorgen um mich. Manchmal sehe ich den einen oder die andere vorbeilaufen, kann fast ihr Flüstern hören: Wann kommt er wohl wieder raus?
Es gibt Phasen, in denen ich mich in einem mentalen Zustand befinde, der so kompakt und undurchdringlich wie der Nebel im Moor ist. Aber die meiste Zeit sind meine Gedanken so klar wie fließendes Wasser. Dabei verlaufen die Nächte ruhiger als die Tage. Die Mondsichel vor dem Fenster steht hoch oben am Himmel. Ich kann die frostigen Sternbilder sehen. Mein Geruchssinn hat sich verändert, er ist erstaunlich präzise geworden. Durch den feuchten Geruch, der vom Boden aufsteigt, kann ich den Duft der verblühten Rosen wahrnehmen. Und mein Gehör ist so außergewöhnlich genau wie das einer Fledermaus geworden. Das Echo der Wellen auf dem Meer brüllt in meinen Ohren. Das sanfte Rascheln des Windes in den Blättern ist so laut wie ein Sturm. Manchmal, wenn ich all die Geräusche nicht ertragen kann, erzeuge ich ein weißes Rauschen in meinen Ohren. Das ist geradezu fantastisch, denn es lässt den anderen Lärm verschwinden.
Aber die meiste Zeit über sitze ich nur hier und lausche den Geräuschen von draußen und denen meines eigenen Atems, der ab und zu wie eine Flutwelle durch meine Brust brandet. Die Mäuse, die entlanghuschen, stören mich schon lange nicht mehr. Die Schritte meiner Sekretärin Elyssa auf der Treppe hingegen schon. Denn sie kommt, um mich hier herauszulocken. Beim ersten Mal habe ich sie noch gebeten, mich in Ruhe zu lassen, was sie getan hat. Am nächsten Tag kam sie aber wieder. Wir unterhielten uns durch die verschlossene Tür, weshalb sie ihre Stimme erheben musste, die dadurch unangenehm laut und grell wurde. Unser Gespräch verlief ungefähr so:
»Franz … was machst du da drin?«
»Du sollst mich in Ruhe lassen.«
»Du bist jetzt seit zwei Tagen dort.«
»Ich weiß das.«
»Willst du was essen?«
»NEIN.«
»Das Personal fragt schon nach dir. Was soll ich ihnen sagen?«
»Dass ich allein sein möchte.«
Die Gedanken surrten und flatterten durch meinen Kopf, ich wollte sie unbedingt loswerden.
»Du kannst doch wenigstens ans Handy gehen!«, sagte sie mit flehender Stimme.
»Das ist ausgeschaltet.«
»Kannst du bitte versuchen, mir zu erklären, warum du hier bist?«
»NEIN.«
Schweigen.
»Geh weg«, sagte ich schließlich. »Ich werde keine Fragen mehr beantworten.«
»Ich bitte dich, Franz … du kannst doch wenigstens …«
»Hau ab!«, knurrte ich.
Dann legte ich mein Ohr an die Tür und lauschte, bis ihre schleppenden Schritte verhallt waren.
Mittlerweile ignoriere ich ihr Klopfen und Flehen ganz, obwohl sie mehrmals am Tag vorbeikommt.
Die Zeit kriecht nur so dahin und vergeht zugleich rasend schnell. Hier unten existiert weder Raum noch irgendeine Art von Dauer. Nur ein atemloses Warten darauf, das ES mich endlich in Ruhe lässt. ES – so nämlich nenne ich diesen neuen Zustand, der unter der Oberfläche meines Bewusstseins lauert. Die Wurzel meiner demütigenden Gefühlsanwandlungen. Die Ursache meiner Albträume. Warum werde ausgerechnet ich davon heimgesucht? Ich bin davon überzeugt, dass die Antwort darauf irgendwo in meinem Unterbewusstsein zu finden ist. Wenn ich nur wüsste, wo ich suchen muss.
Ich hatte einen schönen Sommer, bin mit meinem Sohn Thor nach Frankreich gereist, wir haben gute Gespräche geführt, sind uns nähergekommen. Auch der Herbst nahm einen guten Anfang. Der Stab meiner Mitarbeiter funktioniert wie eine wunderbar geölte Maschine, sie kümmern sich hervorragend um das Herrenhaus. Ich habe darüber nachgedacht, ein neues Business zu gründen und wieder Gäste auf ViaTerra zu empfangen. Mir schwebt vor, anderen dabei zu helfen, im Einklang mit der Natur zu leben, oder inspirierende Vorträge zu halten. Aber die ganze Zeit über haben die schrecklichen Albträume in mir weitergearbeitet, und als das Fass dann vor ein paar Tagen überlief, habe ich mich hierher zurückgezogen.
Nur … was jetzt? Wie geht es mir? Wie geht es mir denn wirklich? Ich versuche nachzuspüren.
Je länger ich das Essen verweigere, desto klarer werden meine Gedanken. Manchmal sehe ich wie durch einen Tunnel, und alles in der Peripherie wird weiß.
Ich schließe die Augen und lasse mich von der Dunkelheit verschlingen. Die Welt um mich herum verblasst.
Die feuchten Wände strahlen eine tiefe Stille aus.
Ich muss an meine Großmutter Sigrid denken, die ich verachtet habe, weil sie mich nicht vor meinem gewalttätigen Vater beschützt hat. Aber diese eine Erinnerung ist eine schöne, bisher war sie mir nicht zugänglich gewesen. Auch das kann das Hungern bewirken.
Ich sitze im Wohnzimmer der Villa auf Sigrids Schoß. Durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen fallen Sonnenstrahlen auf ihre Hände. Ich lehne mich an ihre warme Brust, sie streichelt mir über den Kopf und fängt an, von den vielen Dingen zu erzählen, die es jenseits von Dimö gibt. Von Städten, von Ländern, von Wüsten und Ozeanen. Sie sagt, dass ich die Insel verlassen werde, wenn ich einmal groß bin, dass ich eine Weltreise unternehmen soll. Aber sie sagt auch, dass ich immer wieder nach Dimö zurückkehren werde, wohin ich zwischendurch auch reise. Weil es keinen schöneren Ort auf Erden gibt.
Ich bringe es fertig, in dieser angenehmen Erinnerung zu verweilen. Ich spüre, wie eine Weichheit in mir Form annimmt.
Vielleicht bin ich doch auf dem Weg der Besserung.
Vielleicht hat sich mein aufbrausendes Temperament beruhigt, vielleicht komme ich jetzt endlich zur Ruhe.
Nur noch eine Nacht, und dann noch einen Tag. Danach werden die Albträume Vergangenheit sein.
JULIA
Die vertrauten Abendgeräusche draußen bildeten eine Art Hintergrundmusik. Eine Straßenbahn, die quietschend über die Schienen fuhr. Der hämmernde Bass aus der Bar um die Ecke. Die Stimmen der Fußgänger, die auf dem Bürgersteig vorbeigingen, von denen einer einen schrecklichen Husten hatte. Das Echo ferner Geräusche. Eine Sirene. Ein Flugzeug.
Dass die Dämmerung schon hereingebrochen war, bemerkte sie erst, als ihr das Lesen der Dokumente in ihrem Schoß Schwierigkeiten bereitete.
Nach einem turbulenten Frühling, gefolgt von einem schönen Sommer auf Dimö, hatte sie sich auf ihren neuen Job bei der Zeitschrift Aktuellt Land gefreut. Julias neuester Bericht hatte große Aufmerksamkeit erregt, und sie genoss den Respekt, den ihre Arbeitskollegen ihr entgegenbrachten. Ein paar Wochen später kam Thor von der Reise nach Frankreich zurück, die er mit seinem Vater unternommen hatte, und sie richteten sich schnell wieder in ihrem gemeinsamen Leben ein. Thor studierte Journalismus und liebte es, seine neuen Erkenntnisse mit ihr zu diskutieren.
Doch von Zeit zu Zeit streckten sich Dimös Tentakel aus, und sie wurde von großer Sehnsucht nach der Weite, nach der salzigen Luft und dem frischen Wind gepackt. Und nach dem Abenteuer. Denn ihr Auftrag, der sie im Frühjahr auf die Insel gebracht hatte, hatte ein dramatisches Ende genommen. Die Ursprungsevangelisten, eine freie Religionsgemeinschaft, deren Mitglieder sich an den eigenen Töchtern vergriffen, hatten sich auf Dimö niedergelassen. Julia enthüllte dieses Verbrechen in einer Reihe von Artikeln. Es hatte dazu geführt, dass sie in Lebensgefahr geriet, weil einer der Mitglieder versucht hatte, sie im Meer zu ertränken. Sie litt auch jetzt noch unter Flashbacks, wurde immer wieder an den Augenblick erinnert, als sie keine Luft mehr bekam. Jede Zelle ihres Körpers hatte ums Überleben gekämpft. Es gehörte zum Menschsein dazu – der Überlebenswille, und dass man sich an das Leben klammert, gerade wenn man im Begriff ist, es für immer zu verlieren. Diesen feinen Grad zwischen Leben und Tod hatte sie in diesen Sekunden unter Wasser berührt.
Im Laufe des Einsatzes hatte sie die Abenteuerlust gepackt, und sie hatte sich mitreißen lassen. Sie hatte begriffen, dass sie von einer unbändigen Neugier angetrieben wurde. Und noch etwas – sie spürte eine Faszination für das Morbide, das Gefährliche. Im Alltag war sie schreckhaft, aber ein Teil von ihr fühlte sich magisch von der Gefahr angezogen.
Die Mappe mit den Unterlagen für ihren nächsten Artikel schob sie beiseite. Die Aufträge, die sie bei Aktuellt Land bekam, waren interessanter als in der Zeitschrift für junge Karrierefrauen, in deren Redaktion sie davor beschäftigt gewesen war. Diese Zeitschrift war seriöser, faktenbasierter und berichtete auch über Ereignisse, die sich außerhalb der großen Städte abspielten.
Die Zeitschrift war finanzstärker als die meisten vergleichbaren anderen. Ihre Onlineausgabe wurde von mehreren großen Unternehmen gesponsert und hatte eine so hohe Besuchsfrequenz, dass die Werbeflächen entsprechend attraktiv waren. Sogar die traditionellen Tageszeitungen bedienten sich ab und zu bei ihren Nachrichten. Die meisten Journalisten arbeiteten von zu Hause aus, und der redaktionelle Austausch fand hauptsächlich per Zoom statt. Sie traf ihre Kollegen einmal wöchentlich zur Redaktionssitzung im Büro, das sie bequem mit dem Fahrrad erreichen konnte. Julia arbeitete gern von zu Hause aus, fühlte sich aber manchmal ein bisschen einsam.
Ihr Magen fing an, sich laut zu beschweren, weil sie noch nichts gegessen hatte. Sie stand auf und streckte ihre steifen Glieder. Das Tageslicht war so schwach, dass ihr Zimmer in ein seltsam schmutzig gelbes Licht getaucht war. Sie schaltete eine Stehlampe ein, öffnete das Fenster. Der Windstoß, der ins Zimmer blies, war so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekam. Schmutzig graue Hochhäuser ragten in den Himmel, ein kaltes, blaues Licht beleuchtete die Straße.
Dämmerung. Für einen kurzen Augenblick sehnte sie sich nach Dimö, in die klare, blaue, ruhige Stunde zurück, die typisch für solche Abende war, wenn sich der Duft von verbranntem Laub mit der salzigen Luft mischte.
Da klingelte ihr Handy. Es war Joanna, die Chefredakteurin von Aktuellt Land.
Julia mochte ihre neue Chefin. Joanna hatte etwas Altmodisches, als käme sie aus einer anderen Zeit. Sie trug einen Trenchcoat, den sie mit einem Gürtel in der Taille schnürte, und eine kleine gehäkelte Baskenmütze. Dazu Herrenschuhe mit flachen Absätzen und höchstens mal ein bisschen Lipgloss. Joanna war klein und stur, hatte zu allem eine klare Meinung und nahm ihre Arbeit sehr ernst. Oft hatte sie dunkle Schatten unter den Augen – von den vielen Stunden am Bildschirm, wenn sie die Texte redigierte. Julia hatte schon viel von ihr gelernt. Zum Beispiel, dass eine gute Angestellte und eine begabte Journalistin zwei vollkommen verschiedene Dinge waren.
Julia vermutete, dass Joanna wegen einer Deadline anrief. Sie ließ sich in einen Sessel sinken, bevor sie den Anruf entgegennahm. Nachdem sie ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, versprach Julia, ihren Artikel rechtzeitig einzureichen.
»Sehr gut«, sagte Joanna. »Aber deshalb rufe ich gar nicht an.«
Julia erstarrte. Sie hatte die kaum wahrnehmbare Veränderung in der Stimme ihrer Chefin gehört, die jetzt ungewöhnlich ernst klang. Julia war erst seit ein paar Monaten Teil des Redaktionsteams, aber soweit sie wusste, liefen die Geschäfte eigentlich ganz gut. Andererseits wusste sie auch, dass sich die Umstände in der Medienwelt jederzeit ändern konnten, und dann waren es immer die neuen Mitarbeiter, die als Erstes gehen mussten.
»Geht es um meinen Job?«, fragte Julia.
Joanna lachte.
»Nein, du hast doch gerade erst angefangen, für uns zu arbeiten. Wir wollen dich sehr lange bei uns behalten, Julia.«
»Wie wunderbar«, sagte Julia erleichtert. »Aber du klingst so ernst.«
»Ich möchte dir eigentlich jetzt zu Anfang nicht so viele Aufgaben geben. Sag bitte Bescheid, wenn es dir zu viel wird. Aber wir haben einen Tipp für eine Story bekommen. Wenn du Montag reinkommst, könnte ich dir die Unterlagen geben …«
Julia hatte sofort Feuer gefangen.
»Kannst du mir das nicht schon am Telefon sagen?«
»Nein, es ist ein ganzer Ordner mit Material. Wir sehen es uns lieber am Montag an, wenn du deinen aktuellen Artikel abgegeben hast, okay? Passt dir halb neun?«
»Klar, das ist gut.«
Nach dem Gespräch blieb Julia eine Weile reglos im Sessel sitzen und sah zu, wie es immer dunkler wurde. Sie konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, dass Joanna anders geklungen hatte als sonst. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass ihre Chefin ihr bei dem Treffen etwas Wichtiges mitteilen würde. Nachdenklich wickelte sie sich eine Haarsträhne um ihren Finger. Es war eine einstudierte, fast unbewusste Bewegung, die ihr dabei half, sich zu konzentrieren. Aber stattdessen machte sich ihr Hunger nur wieder bemerkbar.
Sie hatte schon alles aus dem Kühlschrank herausgeholt, um sich ein Butterbrot zu schmieren, und griff gerade nach dem Messer, als das Handy erneut klingelte. Jetzt war es Elyssa, die Sekretärin von Franz Oswald. Die beiden hatten sich vor Jahren in der Rehabilitationsklinik kennengelernt, in der sich Franz von seinem Schlaganfall erholt hatte. Kaum war er nach ViaTerra zurückgekehrt, hatte er sie als seine persönliche Assistentin eingestellt. Sie war sogar eine Art rechte Hand. Elyssa war ein zerbrechliches Wesen, lieblich und charmant und mit einem geradezu entwaffnenden Hauch von Schüchternheit. Am Anfang hatte Julia sie Franz gegenüber fast lächerlich unterwürfig gefunden, aber mit der Zeit begriff sie, dass hinter ihrer mädchenhaften Fürsorge ein eiserner Wille steckte. Zwischendurch herrschte sie und steuerte die Geschäfte mit einer solchen Willenskraft, dass sogar Franz ganz sprachlos davon wurde. Sie hatte einen Freund, der Anton hieß und Fährmann war. Sie wohnte in der feinsten Personalwohnung, erhielt das höchste Gehalt und genoss bei Franz’ Mitarbeitern großen Respekt. Dabei führte sie ein vollkommen anderes Leben als früher, als sie als Teilzeitkraft im Pflegeheim gearbeitet hatte.
»Oh, hallo, Julia«, sagte sie jetzt und holte schnell Luft. »Ist Thor zu Hause? Ich habe ihn angerufen, aber er geht nicht ran.«
Elyssa klang außer Atem und besorgt.
»Er ist gerade in der Bibliothek und lernt«, sagte Julia. »Er hat bestimmt sein Handy ausgeschaltet. Kann ich dir vielleicht helfen?«
»Ihr müsst sofort herkommen«, sagte Elyssa.
»Nach Dimö?«
»Ja.«
»Wann denn?«
»Am besten mit der nächsten Morgenfähre.«
Elyssas Tonlage ließ Julia das Blut in den Adern gefrieren.
»Ist was passiert? Ist Franz etwas zugestoßen?«
»Nein, noch nicht …«, erwiderte Elyssa und fügte schnell hinzu: »Hoffentlich noch nicht.«
»Ist er krank?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber was ist dann los?«
Elyssa senkte ihre Stimme zu einem Flüstern.
»Er hat sich im Keller eingeschlossen und weigert sich herauszukommen. Und zwar ist er seit fast einer Woche dort unten. Er isst nicht und reagiert nicht auf Anrufe. Bitte, Thor und du, ihr müsst mir helfen, ihn da rauszuholen.«
Es klang so absurd, dass Julia es zuerst für einen Scherz hielt. Sie konnte ihre Reaktion nicht unterdrücken, und dabei machte sie ein Geräusch, etwas zwischen Stöhnen und Lachen. Es war so typisch für Franz, so melodramatisch. Er fand immer einen Weg, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und seine Umgebung zu verwirren. Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, war es ihm hervorragend gegangen. Dass er seit einer Woche nichts gegessen hatte, war allerdings beunruhigend. Und seine Weigerung, mit Elyssa zu sprechen, war noch viel alarmierender.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Julia.
»Natürlich! Das ist alles andere als ein Scherz. Was ist, wenn er … stirbt?«, fragte Elyssa leise.
FRANZ
Die Schritte klingen heute anders als sonst. Es sind nicht nur Elyssas zarte, federleichte Schritte zu hören, sondern auch schwerere. Und ich höre gedämpfte Stimmen. Ich befürchte, dass Elyssa jemanden vom Personal mitgebracht hat, um das Schloss aufzubrechen. Das muss ich verhindern, darum stehe ich auf und überprüfe die Tür. Die hat auch auf meiner Seite ein Schloss und einen Riegel, den man vorschieben kann. Obwohl man sich auch darauf nicht hundertprozentig verlassen kann. Meine Mitarbeiter sind nämlich sowohl pragmatisch als auch einfallsreich. Aber eines weiß ich ganz sicher: Meinen Befehlen würden sie sich niemals widersetzen. Obwohl ich selten meine Stimme erhebe, gehorchen sie mir wie einem General auf dem Schlachtfeld.
Ich lege mein Ohr an die Tür, lausche und erschaudere innerlich, als ich Thors Stimme erkenne. Dann ist auch Elyssas helle Stimme zu hören und schließlich die Stimme einer weiteren Frau. Julia!
Verdammt, verdammt. Ich möchte nicht, dass sie mich so sehen.
Sanftes Klopfen.
»Papa?«
Ich antworte nicht.
»Ich weiß, dass du da drin bist, Papa.«
»Danke, dass du gekommen bist, Thor, aber geh jetzt bitte wieder nach Hause und lass mich allein«, sage ich müde.
»Was ist denn passiert?«, fragt er besorgt.
»Nichts. Mach dir keine Sorgen.«
Meine auffallend lässige Reaktion löst etwas in ihm aus. Seine Tonlage klettert um eine halbe Oktave nach oben, und die Worte strömen nur so aus seinem Mund.
»Was tust du überhaupt da drin? Was hast du vor? Alle machen sich wahnsinnige Sorgen um dich, aber das ist dir sowieso ganz egal. Ich müsste eigentlich in der Uni sein, stattdessen kümmere ich mich um meinen infantilen Vater, der wieder mal einen Anfall von Wahnsinn hat.«
»Das tut mir leid, aber ich habe dich nicht gebeten zu kommen«, murmele ich leise und bin der Meinung, dass er es nicht gehört hat.
Hat er aber trotzdem. Er hämmert gegen die Tür. Fest. Wütend.
»Reiß dich gefälligst zusammen und komm da raus«, schreit er. »Jetzt! Sofort!«
»Ist Julia bei dir?«, frage ich mit seltsam dünner Stimme.
Eine Woche Fasten hat offenbar auch Auswirkungen auf meine Stimmbänder gehabt.
»Das ist sie«, sagt Thor. »Übrigens hat sie eine Deadline für einen Artikel, die sie jetzt nicht einhalten kann.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sage ich. »Aber meinetwegen hättet ihr wirklich nicht nach Dimö kommen müssen.«
»Dann wäre es das Beste gewesen, dass du ans Telefon gehst, wenn wir anrufen.«
»Ja, ja, aber jetzt müsst ihr wieder gehen. Ich komme raus, wenn ich so weit bin.«
Einen Augenblick lang herrscht absolute Stille.
»Wir gehen so lange nicht, bis du rauskommst«, sagt Julia.
Thors Stimme wird wärmer, jetzt klingt sie fast flehentlich.
»Wir hatten so eine gute Zeit in Frankreich, Papa. Du hast dich völlig normal verhalten. Was ist denn passiert?«
»Mich hat das Leben eingeholt«, sage ich nüchtern. »Lasst mich jetzt bitte allein. Ich habe keine Kraft zu sprechen, weil ich so lange nichts gegessen habe.«
Es war ein großer Fehler, das zu sagen. Thor ist vollkommen außer sich.
»Willst du dich zu Tode hungern? Ist das dein neues Ziel? Zu verhungern und dann als Märtyrer zu sterben? REISSDICHZUSAMMEN, PAPA!«
Man könnte den Eindruck bekommen, dass er hartherzig und kalt ist, aber er ist weder das eine noch das andere. Einfach nur verstört und verzweifelt. Ich kenne meinen Sohn besser, als er denkt. Er hat sich schon immer zu viele Sorgen gemacht. Er schreit so laut, dass es mir in den Ohren wehtut. Mir wird schwindelig, ich sinke in die Hocke auf den Boden. Diese zwei werden mich nicht in Ruhe lassen. Ich muss auf der Stelle eine Entscheidung treffen.
»Ich trete jetzt die Tür ein«, droht Thor.
»Ist das nicht ein bisschen zu dramatisch?«, frage ich.
»Aber dann komm doch raus«, sagt Julia.
Ich bin nicht bereit, mich ihnen zu zeigen und zu erklären. Allein der Gedanke daran erzeugt in mir Übelkeit. Ich raffe meine letzten Reserven zusammen und rappele mich auf, lege meine Wange an die kühle Tür.
»Der Pfarrer«, flüstere ich durch das Schlüsselloch.
»Was?«, fragt Thor, aber dann antwortet ihm Julia.
»Ich glaube, er meint Emil.«
»Ich werde nicht rauskommen, aber ich kann mir vorstellen, mit dem Pfarrer zu sprechen«, antworte ich.
Ich lausche ihren gedämpften Stimmen, während sie sich beraten.
»Ich rufe Emil an und bitte ihn zu kommen«, beschließt Elyssa.
Ich höre das Klappern ihrer Schuhe auf den Steinstufen und dann die Tür, die ins Schloss fällt. Ich setze mich, schließe die Augen. Verweile in der Haltung. Danach öffne ich sie wieder. Vor dem Kellerfenster sind zwei dunkle Gestalten zu sehen, die hineinschauen. Wahrscheinlich Thor und Julia. Es hört sich an, als würde Julia lachen. Ich mache ihr keine Vorwürfe, das alles hat etwas unfreiwillig Komisches.
Wahrscheinlich war es ein Fehler, nach dem Pfarrer zu fragen. Seit meiner Kindheit habe ich alles verachtet, was mit der Kirche zu tun hat. Aber noch vor einer Woche bin ich kurz davor gewesen, mich vom Teufelsfelsen zu stürzen, dem höchsten Felsen der Insel. Wenn Emil nicht gewesen wäre, hätte ich es vielleicht sogar getan. Aber er war dort, bei mir, und hat mich nicht verurteilt. Emil ist kein typischer Pfarrer. Er ist etwas über dreißig Jahre alt und ziemlich gut aussehend. Gut gebaut, immer leicht gebräunt, was seine strahlenden Augen betont. Er ist der sportliche Segeltyp, und seine Begeisterung für das Segeln war es auch, die ihn nach Dimö gebracht hat. Ich genieße Emils Gesellschaft. Allerdings sorgt dies dafür, dass man ihm viel zu leichtfertig peinliche und private Dinge offenbart. Das muss an seinem freundlichen Ton, dem zurückhaltenden Auftreten und seinem sanften Blick liegen, der keinen Raum für Lügen lässt, wenn er Fragen stellt. Solange er weder über Gott noch über Vergebung sprechen will, kann er gerne kommen. Nachdenklich streiche ich mir mit der Hand über meine Stoppeln, die man mittlerweile schon getrost einen Bart nennen kann.
Lange liege ich schweigend da und warte, dann dämmere ich weg und werde erst wieder vom Regen geweckt. Es sind große Tropfen, die wie Trommelschläge in meinen Ohren dröhnen. Ich folge dem Lauf der Tropfen auf der Fensterscheibe über mir, werde aber durch ein diskretes Klopfen an der Tür unterbrochen.
»Franz, hier ist Emil«, höre ich seine tiefe Stimme.
Ich strecke mich, kann das angenehme Gefühl aber nicht mehr hervorrufen, das ich hatte, bevor ich eingeschlafen war. Langsam erhebe ich mich und gehe zur Tür. Schiebe den Riegel beiseite. Nach langem Zögern öffne ich die Tür. Reglos bleibe ich stehen. Ich habe erwartet, einen ganzen Haufen Leute vor mir stehen zu haben, die ins Zimmer stürzen und mich packen. Aber nichts dergleichen passiert. Dann wird langsam, mit einem traurigen Knarren die Tür aufgeschoben. Emil trägt seinen Talar und lächelt mich freundlich an. Seine Haare sind nass.
Seine ganze Erscheinung – immerhin ist er der erste Mensch, den ich seit fast einer Woche gesehen habe – löst eine Schockwelle aus, die mir durch Körper fährt.
Ich versuche, die Tür wieder zu schließen, aber Emil schiebt einen Fuß dazwischen. Ich spüre ein leichtes Kribbeln. Es fühlt sich so ungewohnt an, gemustert zu werden, meine Wangen werden ganz heiß.
»Hallo, Franz«, sagt er.
Sein Blick ruht unverändert auf mir, nachdenklich.
Seltsamerweise nimmt meine innere Angespanntheit ab, ebenso wie der Regen an der Fensterscheibe. Emil betritt den Raum und schließt hinter sich die Tür. Dann lässt er seinen Blick über mein Zimmer hier im Keller schweifen. Wegen des Drecks und der vielen Spinnweben verspüre ich einen Anflug von Unbehagen. Er hat eine Hand hinter dem Rücken versteckt gehalten, jetzt holt er sie hervor. Sie hält eine Flasche Wein.
»Flüssigkeitsersatz«, sagt er. »Gibt es hier unten fließendes Wasser?«
»Es gibt eine Toilette mit Waschbecken.«
»Noch besser. Wir werden dieses Loch hier nämlich erst wieder verlassen, wenn du mir gesagt hast, was dich so plagt und quält.«
»Soll das eine Art Beichte werden?«, frage ich und schneide eine Grimasse.
Doch Emil rührt keine Miene. Er strahlt eine fast überirdische Klarheit und Vertrauenswürdigkeit aus.
JULIA
Ende September war Dimö so anders als im Sommer. Es lag eine Frische in der Luft. Das Licht war weicher und wärmer. Der salzige Geruch von etwas Unbestimmbarem war von dem Geruch der Großstadt so weit entfernt, wie es nur sein konnte. Der Herbst war im Anmarsch.
Der Regen hatte sich verzogen und ließ feine Nebelschwaden zurück. Julia und Thor saßen an einem geschützten Platz im Pavillon und warteten auf Franz. Lavendelbüsche, die in ihrer letzten Blüte standen, verströmten einen intensiven, berauschenden Duft. Über ihnen hörte man leise eine Taube gurren. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich etwas verändert, unabhängig von den Vorboten der nächsten Jahreszeit. Zuerst konnte sie nicht genau sagen, was es war. Aber dann wurde ihr bewusst, dass es die Stimmung auf dem Anwesen sein musste. Die Anlage wirkte ordentlich und gepflegt, aber sie konkurrierte mit einer traurigen Stille. Normalerweise liefen die Mitarbeiter über das Gelände und waren mit Gartenarbeiten beschäftigt, aber jetzt war alles menschenleer. Und das lag daran, dass alle sich Sorgen um Franz machten.
Nervös wippte Thor mit dem Fuß. Julia spürte seine Angst. Seine Verfassung übertrug sich automatisch auf sie, zumal sie wusste, dass er sich große Sorgen um seinen Vater machte. Aber nach außen hin zeigten sich diese Gefühle in unkontrollierbarer Wut.
Sie tauschten besorgte Blicke. Keiner von ihnen wusste, wie man sich in einer solchen Situation verhielt. Ein erwachsener Mann schließt sich im Keller ein und weigert sich herauszukommen. Es war unglaublich. Franz’ matte und erschöpfte Stimme hatte der Situation die unfreiwillige Komik genommen. Aber Emil war schon seit einer ganzen Weile bei ihm unten, was ein gutes Zeichen sein konnte.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Julia.
Sie dachte an den Artikel, den sie heute einreichen sollte. Es würde eine furchtbar lange Nacht werden. Sie hatte schon die letzte Nacht durchgearbeitet, und so langsam forderte der Schlafmangel seinen Tribut.
»Wahrscheinlich ist es am besten, dass wir warten, bis Emil herauskommt«, sagte Thor gequält. »Wenn es Papa gut geht, können wir noch die Nachmittagsfähre nach Hause schaffen.«
»Ich glaube, du bist ein bisschen hart zu ihm gewesen«, sagte Julia vorsichtig.
»Findest du?«, fragte er und lachte trocken und verzweifelt. »Ich bin so wütend auf ihn. Er benimmt sich wie ein Kind.«
»Obwohl es doch sein gutes Recht ist, im Keller seines eigenen Hauses zu sitzen, wann und wie lange er will.«
Sie bemühte sich, mit besänftigender Stimme zu sprechen, obwohl das angesichts der Umstände etwas unpassend war.
Thor stieß einen melodramatischen Seufzer aus.
»Wenn er allein sein möchte, stehen ihm fünfundzwanzig Zimmer zur Verfügung. Aber natürlich wählt er die deprimierendste Option. Ich unterstelle ihm, dass er sich einsam und verlassen fühlte, weil wir abgereist sind … und dass dies nun mal seine Art ist, uns hierher zurückzulocken. Emil hat mir erzählt, dass er Papa auf dem Teufelsfelsen gefunden hat, vorn an der Kante. Glaubst du, dass er springen wollte?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Julia. »Aber ihm geht es ganz offensichtlich nicht gut, und wir sollten versuchen, ihm zu helfen.«
Kurz nach diesen Worten folgte die Frage, wie man jemandem helfen kann, der so unberechenbar ist. Jemandem, der innerhalb von wenigen Wochen vom charmanten Gastgeber und engagierten Vater zu einem Wahnsinnigen mutieren kann.
Thor stöhnte leise auf. Seine Schultern sackten herab. Jetzt sah er nur noch müde und traurig aus.
»Ich habe es nicht böse gemeint, als ich ihn angeschrien habe, ich hab nur versucht, zu ihm durchzudringen.«
»Du bist ziemlich laut geworden«, sagte sie und lachte leise, damit er sich nicht angegriffen fühlte.
Thor fuhr mit der Hand durch das rote, dichte Haar, auf das sich der Nebel in Form winziger Wassertropfen niedergelassen hatte. Sie saßen eng beieinander und hatten den Blick auf die Fenster des Herrenhauses gerichtet, die ein rechteckiges, graues Licht auf sie herabwarfen. Das Gebäude wirkte so düster, als schwebe die Vergangenheit wie ein kolossaler Schatten darüber.
»Es ist hier nicht wie sonst«, sagte sie. »So unheimlich still.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich das Personal Sorgen um Papa macht«, sagte Thor. »Oder es …«
Er warf ihr einen langen, eigenartigen Blick zu, der ihr Angst machte.
»Oder was?«
»Die Atmosphäre erinnert mich an eine gruselige Geschichte, die mir Großmutter immer erzählt hat. Kennst du die Legende von der Gräfin, die auf Dimö herumspukt?«
Die kannte sie. Sie hatte die Geschichte sogar schon oft gehört. Die alten Inselbewohner hatten sie ihren Kindern erzählt, und jeder hatte seine Version von dem Spuk ausgeschmückt. Einige behaupteten sogar, sie gesehen zu haben, fast immer im Nebel. Ihre Eltern machten sich über die Legende der spukenden Gräfin manchmal lustig.
»Es ist einfach nur ein Aberglaube«, sagte sie.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Thor und sah jetzt noch grimmiger aus. »Die Gräfin hat es wirklich gegeben. Ihr Name war Amelia Bärensten, und sie war die Urgroßmutter meines Vaters. Ihr Mann hat sie und ihre Kinder jahrelang misshandelt. Am Ende erschoss sie ihn und sprang bei einem Sturm vom Felsen in den Tod. Einige Inselbewohner haben behaupt, dass sie auch heute noch herumgeistert und Menschen an den Felsen lockt und überredet zu springen.«
»Klar«, sagte Julia und versuchte, ungerührt zu klingen.
Tatsächlich fand sie es aber ziemlich aufregend. Sie hatte immer eine Vorliebe für Geschichten mit übernatürlichen Elementen, Mythen und Legenden gehabt. Als Kind liebte sie Gruselgeschichten.
»Meine Großmutter aber hat mir eine ganz andere Version erzählt«, sagte Thor. »Willst du sie hören?«
»Natürlich.«
Die Luft um sie herum leuchtete silbern, der Nebel war dabei, sich aufzulösen.
»Aus Rache an ihrem gewalttätigen Ehemann hat die Gräfin einen Fluch ausgesprochen, der alle männlichen Nachfolger ihres Mannes trifft. Sämtliche Besitzer des Herrenhauses. Sie werden verrückt, und die meisten sterben im Alter meines Vaters.«
»Was für ein Unsinn. Es ist so was von verantwortungslos von Karin, kleinen Kindern mit solchen Räubergeschichten Angst einzujagen.«
»Ich fand es aufregend«, antwortete Thor. »Sie hat Vic und mir diese Geschichte am Kamin erzählt, und ich habe mich zwar wahnsinnig gegruselt, aber fand sie trotzdem gut. Da ist was dran an dem Gerücht: Mein Großvater kam bei einem Brand ums Leben. Sein Vater starb durch eine verirrte Kugel bei einem Jagdunfall. Und dann hat es ja diesen Grafen gegeben, der von seiner Frau Amelia erschossen wurde. Alle drei sind zu ihren Lebzeiten die Besitzer des Herrenhauses gewesen. Und alle drei waren ungefähr in dem Alter, in dem mein Vater jetzt ist.«
Etwas Endgültiges, Sachliches lag in seiner Stimme, als wäre die Existenz des Geistes bereits allgemein anerkannt worden.
»Du denkst dir das aus«, winkte sie ab.
»Nein, ich schwöre, es ist wahr. Alles steht in der Familienchronik, die Sigrid, die Großmutter meines Vaters, geschrieben hat. Denk doch mal darüber nach, Julia: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass drei Männer, alle im gleichen Alter und Herrenhausbesitzer, einer nach dem anderen eines gewaltsamen Todes sterben?«
Julia hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, sich Männer vorzustellen, die in den Wahnsinn getrieben werden. An Fantasie fehlte es ihr nicht. Aber ein weiblicher Geist als Verursacherin? Es dauerte eine Weile, bis ihr dämmerte, was Thor damit andeuten wollte.
»Warte mal. Willst du vielleicht sagen, dass Franz von diesem Fluch getroffen wurde und verrückt geworden ist?«
Er hielt ihrem Blick stand.
»Man kann nie sicher sein«, sagte er sehr langsam. »So wie er sich verhält. Die Gräfin ist kein gewöhnlicher Geist, Julia. Wenn sie jemandem etwas Böses will, dann raubt sie seinen Verstand, saugt ihm die Lebenskraft aus dem Körper, nimmt ihm die Herzenswärme und quält ihn, bis er zusammenbricht.«
Die Luft um sie herum schien sich zu verdichten. Ein Regentropfen fiel von einem der Äste in ihren Nacken. Sie zuckte zusammen und schüttelte das Unbehagen ab.
Da vertiefte sich eines von Thors Lachgrübchen und relativierte ihre irrationale Angst.
»Hör auf damit! Du kannst mir keine Furcht einjagen.«
»Ehrlich gesagt, das ist ein Kinderspiel«, sagte er und fing an zu lachen.
Sie ließ sich anstecken, aber ihr Lachen klang hohl.
»Warum ist dir diese Geschichte ausgerechnet jetzt eingefallen?«, fragte sie.
Jetzt verdunkelte sich Thors Blick schlagartig.
»Wegen Papa. Ich glaube eigentlich gar nicht an Geister, aber ich hatte plötzlich die Sorge, dass sein seltsames Verhalten vielleicht erblich bedingt ist. Und was ist, wenn ich auch davon befallen bin?«
»Du wirst niemals so enden, Thor. Das verspreche ich dir.«
Er errötete.
»Ach, lass uns bitte über etwas anders sprechen.«
Es war unverkennbar, dass ihm das Gesprächsthema unangenehm sein musste. Und um sie herum tanzten die Schatten der Bäume. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Raben auf dem Rasen landen und auf sie zuspazieren. Der Vogel neigte seinen Kopf und starrte sie unverhohlen an. Dieser Blick. Etwas an seinen glänzenden schwarzen Augen störte sie. Plötzlich wurde sie von einem dumpfen Gefühl der Vorahnung gepackt. Oft tauchte doch ein Rabe in Märchen auf, als Omen mit einer Warnbotschaft. Ja genau, dann ist der Rabe der Bote des Todes. Wie war es möglich, dass ein Ort von so vielen Tragödien getroffen wurde, ohne dass es einen Zusammenhang gab? Oder war der Aberglaube, den sich die Inselbewohner erzählten, am Ende wirklich wahr? Lag tatsächlich ein Fluch auf dem Herrenhaus?
Es war ein verrückter Gedanke, den sie sofort wieder verwarf. Das ist doch alles nur Unsinn, dummes Zeug und abergläubisches Geschwätz. Und doch hatte die gruselige Geschichte eine Stimmung erzeugt.
FRANZ
»Nur Katholiken gehen zur Beichte«, versuche ich Emil abzufertigen. »Die Schwedische Kirche sieht doch gar keine Beichte vor, oder?«
»Doch, bei uns gibt es die Beichte schon«, sagt er. »Es ist zwar eher ungewöhnlich, aber wir haben eine Anleitung für die Beichte, und wir lernen das auch in unserer Ausbildung. Wenn du es aber vorziehst, es als ein Gespräch zwischen Freunden zu betrachten, bin ich damit genauso einverstanden. Ich unterliege allerdings der Schweigepflicht.«
Er hat mir den Flüssigkeitsersatz gegeben, einen Tisch und einen zusätzlichen Stuhl aufgestellt und außerdem eine Kerze angezündet, die er dabeihatte. Er findet das Licht gemütlicher als das Deckenlicht.
»Willst du mir sagen, was dich hierhergeführt hat?«, fragt er. »Unser letztes Gespräch hat am Teufelsfelsen stattgefunden. Bist du seitdem hier unten, die ganze Zeit?«
»Ja.«
»Und … hast du den Wunsch, mir zu erklären, warum?«
Ich zögere einen Moment, aber das könnte meine einzige Chance sein, der erdrückenden Dunkelheit zu entkommen, die mich in letzter Zeit umgibt. Also versuche ich es.
»Im Laufe meines Lebens habe ich mich mit jeder Menge Menschen umgeben – Personal, Frauen, vielen Personen in bedeutenden gesellschaftlichen Positionen. Am Ende musste ich mit Entsetzen feststellen, dass ich im Grunde mit meinen Albträumen allein bin.«
Sobald ich anfange zu reden, kann ich mich kaum noch bremsen. Ich beschreibe, wie ich mich manchmal einer ungezügelten Sentimentalität hingebe. Ich erzähle ihm von meinen Albträumen, in denen ich bei Sexspielen aus Versehen Frauen umbringe. Aus irgendeinem Grund erwecken die Worte meine Träume wieder zum Leben, und dabei wird mir kalt und übel. Ich habe Emil schon früher davon erzählt, aber er hört auch dieses Mal aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Als mir nichts mehr einfällt und ich verstumme, senkt er für einen Moment den Blick.
»Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«, fragt er.
»Wenn es sein muss.«
»Ist es in Wirklichkeit einmal dazu gekommen, dass du jemanden beinahe getötet hast?«
»Beim … Sex?«, frage ich und schüttle den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich bin so etwas wie ein Experte auf dem Gebiet gewesen und hatte jederzeit eine ausgezeichnete Impulskontrolle.«
Emil nickt sanft und aufmunternd.
»Es gibt einen Romanentwurf von mir, in dem ich mir vorstelle, Menschen zu töten«, sage ich und bringe ein gezwungenes Lächeln zustande, als wären diese Zeilen nur eine alberne Sache gewesen. In Wirklichkeit ist dieser Entwurf Ausdruck meiner verborgenen Wut auf alle gewesen, die ich damals hasste und verachtete.
»Hm…«, sagt Emil nachdenklich. »Meiner Erfahrung nach sind Fantasien selten die Ursache für Albträume. Normalerweise liegt ihnen etwas Wesentlicheres zugrunde. Manche Leute sagen, dass Träume Mitteilungen unseres Unterbewusstseins sind. Ich entschuldige mich, wenn das unsensibel klingen sollte, aber bist du schon einmal im Begriff gewesen, jemanden umzubringen? Auf andere Weise … vielleicht?«
Ein Bild taucht vor meinem inneren Auge auf. Ein Gesicht. Ein viel zu starker Parfümgeruch. Das Besuchszimmer im Skogome-Gefängnis. Anna-Maria Callini. Ich stütze mich mit den Ellbogen auf den kleinen klapprigen Tisch und schlage mir die Hände vors Gesicht. Darüber möchte ich nicht sprechen. Niemals. Mit niemandem.
»Ist dir da etwas eingefallen?«, hakt Emil nach.
»Nein, nicht richtig. Nichts Wichtiges. Ich bin ein bisschen müde. Warum setzen wir das Gespräch nicht ein andermal fort?«, sage ich und tue so, als würde ich gähnen.
»Ich verstehe«, sagt Emil. »Aber du hast mich neugierig gemacht. Es schien mir ziemlich deutlich, dass dir sofort etwas in den Sinn gekommen ist.«
Ich verfluche meine Schwäche, meine Unfähigkeit, mein Gehirn zu kontrollieren. Es ist nicht fair, dass sich diese Erinnerung ausgerechnet jetzt meldet. Das ist über zwanzig Jahre her. Es ist schon längt begraben. Aber offenbar nicht endgültig.
»Ich werde dich nicht verurteilen, egal was du mir erzählst«, sagt Emil.
»Das versprechen die Psychologen auch immer«, murmle ich misstrauisch. »Und dann melden sie alles, was man ihnen erzählt, trotzdem der Polizei.«
Ich kann nicht glauben, dass ich so etwas Idiotisches gesagt habe. Jetzt habe ich keine andere Wahl, als es bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Das Tragische daran ist, dass die Person, die ich noch vor ein paar Jahren gewesen bin, Emil mit Leichtigkeit dazu gebracht hätte, klein beizugeben. Ich hätte mich ohne jedes Problem aus dieser peinlichen Situation herausgewunden. Mit einem charmanten Lächeln und ein paar irreführenden Kommentaren. Aber das erbärmliche Wrack, das ich heute bin, hat nicht die geringste Chance, Emil umzustimmen.
»Ich bin Pfarrer, kein Psychologe«, sagt er. »Ich werde alles, was du mir sagst, für mich behalten.«
Zögernd, stockend, atemlos erzähle ich ihm also von Anna-Maria. Sie war meine Anwältin, als ich eine Haftstrafe verbüßte. Mir wurde vorgeworfen, Elvira, Thors Mutter, angeblich sexuell missbraucht zu haben. Elvira war erst vierzehn gewesen, als ich sie geschwängert habe, aber sie hatte mich angelogen und ihr wahres Alter verschwiegen. Da Anna-Maria damals nicht zögerte, sich außerhalb der Grenzen des Gesetzes zu bewegen, war sie mir sehr nützlich. Ich versprach ihr ein paar Dinge, deutete an, dass wir eine gemeinsame Zukunft hätten. Als dann meine Entlassung anstand, konnte ich sie nicht mehr ertragen. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als einen Weg zu finden, sie loszuwerden.
»Und was hast du getan?«, fragt Emil.
Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht und schließe die Augen. Aber hinter den Augenlidern sehe ich keine Dunkelheit, sondern nur Anna-Marias Gesicht.
»Alle haben das, was passiert ist, falsch verstanden«, erkläre ich. »Es war nicht meine Schuld. Es sollte nicht aus dem Ruder laufen.«
»Ich weiß darüber kein bisschen Bescheid, versuch doch, es mir zu erklären«, fordert Emil mich auf.
Er legt seine großen, rauen Hände auf den Tisch und faltet sie. Mein Blick wird magisch von ihnen angezogen, ich kann ihm nicht in die Augen sehen.
»Anna-Maria hatte einen Gehilfen zur Hand, einen Berufsverbrecher, der bestimmte Aufgaben für sie erledigte«, sage ich. »Mit ihm habe ich mich im Gefängnis verabredet, und wir haben einen Plan geschmiedet, um …«
Meine Stimme versiegt. Mein kleiner Finger zittert. Es fühlt sich an, als hätte jemand einen Betonblock auf meine Brust gelegt.
»Anna-Maria und ich hatten beide ein Faible für Motorräder«, fahre ich fort. Meine Stimme ist auf einmal auffällig dünn. »Mein Lieblingsmotorrad war eine Harley, eine echte Schönheit. Anna-Maria holte mich am Tag meiner Entlassung vom Gefängnis ab und sollte das Motorrad mitbringen. Ich gab ihr einen Tipp, eine einsame Straße, auf der man mal so richtig Gas geben kann. Der Plan war, dass dieser Typ sich – verkleidet – auf die Straße stellt und sie zum Anhalten zwingt. Dann sollte er das Motorrad zerkratzen. Nicht besonders schlimm, das hätte ich nie zugelassen, aber genug, um es so aussehen zu lassen, als wäre sie unvorsichtig damit gewesen.«
Ich habe nach wie vor das verwirrende Gefühl, dass in diesem Augenblick nichts real ist. Emils sanfter Blick. Die Schatten der brennenden Kerze, die über die Wände zucken. Eine verräterische Ruhe herrscht in dem kleinen Raum. Die Worte purzeln mir einfach so aus dem Mund.
»Ich hätte sie nur ausgelacht, wenn sie diesen maskierten Mann dafür hätte verantwortlich machen wollen, und ihr vorgeworfen, nichts als wilde Lügen zu erfinden«, sage ich. »Dann hätte ich genug Gründe, um mit ihr Schluss zu machen. Schließlich wusste sie, dass die Harley mein wertvollster Besitz war.«
»Darf ich fragen, warum du nicht einfach mit ihr Schluss gemacht hast?«, erkundigt sich Emil.
»Es war ein Spiel. Ein Scherz. Ich habe mich damals gern über Leute lustig gemacht. Anna-Maria war wie eine Klette. Ich wollte ihr eine Lektion erteilen, damit sie mich in Ruhe lässt, mehr nicht.«
»Aber es kam alles anders, oder?«, fragt Emil und sieht mich fragend an.
Ich habe es noch nie in Worte gefasst, und jetzt, wo ich es tun muss, fällt mir das Atmen schwer. Verdammt. Dabei bedeutet es mir doch gar nichts.
»Nein«, sage ich und schlucke. »Der Mann rief mich an und sagte, dass er es sich anders überlegt habe. Er hatte Angst, dass Anna-Maria ihn trotz Maske erkennen würde. Anstatt sich an den vereinbarten Plan zu halten, spannte er einen Draht quer über die Straße und sie … überschlug sich und starb.«
Ich verstumme. Der Adrenalinstoß ist gewaltig, meine gesamte rechte Hand zittert. Ich habe die Befürchtung, dass Emil mir seine Hand auf meine legen könnte, stattdessen lehnt er sich aber in seinem Stuhl zurück.
»Hattest du gewusst, was er vorhatte?«, fragt er.
Sofort gehe ich in Verteidigungsstellung.
»Natürlich nicht. Aber einige Leute sind davon ausgegangen. Ich meine, einige Leute haben mich im Netz angegriffen und mir unterstellt, ich sei für Anna-Marias Tod verantwortlich. Die waren wie ein Mob.«
»Was ist dann passiert?«
»Der Typ hat mich erpresst. Und weil ich meine Freilassung nicht gefährden wollte, habe ich auch tatsächlich bezahlt. Den Draht hat er entfernt. Es gab keine Beweise, und Anna-Marias Tod wurde als Unfall behandelt. Die Vorwürfe verliefen sich im Sand.«
Ich atme schnell und unrhythmisch und spüre, wie meine Nasenlöcher beben.
»Sonst noch etwas?«, fragt Emil.
»Nein. Was spielt das jetzt auch für eine Rolle?«, frage ich aufgebracht und schüttle den Kopf, als wolle ich seine hartnäckigen Fragen loswerden. Mir gelingt es nicht, das Zittern meiner Hand unter Kontrolle zu bekommen, das sich bis zu meiner Schulter ausgebreitet hat. Nichts in Emils Gesicht verrät, dass er es bemerkt.
»Es scheint dir wichtig zu sein«, sagt er. »Zumindest unterbewusst. Eine Anzeige bei der Polizei würde dein schlechtes Gewissen sicher beruhigen.«
»Ich habe sowieso kein Gewissen!«, platzt es aus mir heraus. »Hör auf, mich auch noch unter Druck zu setzen. Darf ein Pfarrer so etwas überhaupt tun?«
Da kommt sie endlich. Die alte Wut ist durchzuspüren, laut und deutlich. Es ist wirklich eine Erleichterung. Der beruhigende Klang von Emils Stimme, die Wärme in seinen Augen – das ist alles nur eine Falle. Er hat ein Geständnis aus mir herausgelockt.
»Dieser Kriminelle sollte bestraft werden«, sagt er leise. »Stell dir doch vor, er tut anderen Menschen ähnliche Dinge an. Und du könntest Anna-Marias Verwandten dabei helfen, Frieden zu finden.«
»Sie hat sowieso keine Verwandten mehr«, sage ich. »Sie war ein Einzelkind, und beide Eltern sind schon vor Jahren gestorben.«
»Es ist interessant, dass du dich mit ihrer Familie beschäftigt hast«, sagt er nachdenklich. »Vielleicht interessiert sie dich doch ein wenig?«
»Nicht besonders. Ich habe nur ein paar Nachforschungen angestellt.«
»Und trotzdem …«, sagt er mit Nachdruck.
»Ja, manchmal ist mir der Gedanke gekommen«, gebe ich zu. »Ich meine, wenn ich mich heute in die Person von damals hineinversetzen könnte, würde ich alles anders machen. Aber der Mensch, der ich damals gewesen bin, wollte nicht anders sein, verstehst du?«
»Aber der, der du heute bist, kann die Verantwortung übernehmen«, entgegnet er. Die Hartnäckigkeit in seinen Augen lässt mich vor Unbehagen zittern.
»Aber ich würde wieder ins Gefängnis müssen«, protestiere ich. »Das möchte ich nicht. Und ich habe auch keine Zeit dafür.«
Emil beißt auf seine Unterlippe und denkt einen Moment lang nach.
»Die Sache ist die«, sagt er. »Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass du wieder im Gefängnis landen wirst. Ich denke, man wird es eher so sehen, dass du nach deinem Schlaganfall Verantwortung für deine Vergangenheit übernimmst. Bei einem solchen Verhalten reagieren die Gerichte in der Regel mit Nachsicht. Manchmal gibt es sogar überhaupt keine Strafe.«
»Aber die Medien werden mich kreuzigen, wenn das durchsickert.«
»Das ist sehr wahrscheinlich«, gibt er zu. »Doch … du hast schon weitaus schlimmere Stürme überstanden. Außerdem bist du der Typ, der immer auf den Füßen landet. Und du wirst dich besser fühlen, egal was die Medien schreiben.«
»Glaubst du das wirklich?«
Er denkt einige Augenblicke lang nach.
»Da bin ich mir ganz sicher. Du solltest mit der Polizei hier auf der Insel sprechen. Mach eine Selbstanzeige und zeige auch den anderen Typen an. Du könntest es als einen ersten Schritt betrachten, um einen neuen Imageplan zu entwerfen. Die Leute auf der Insel würden über dich als denjenigen sprechen, der den Mut gehabt hat, sich seiner Vergangenheit zu stellen.«
Er lächelt, und ich kann nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Es ist offensichtlich, dass er versucht, mein großes Ego anzusprechen. Das auf einmal winzig klein ist. Dafür wird der Betonklotz auf meiner Brust etwas leichter. Der Adrenalingehalt in meinem Blut sinkt.
»Du hast recht, ich werde es tun«, sage ich, zu meiner eigenen Überraschung. »Aber nur, wenn du dir sicher bist, dass es gegen die Albträume hilft.«
Nachdenklich nickt Emil.
»Ich glaube sogar, du wirst schon heute Nacht besser schlafen. Willst du, dass ich dich zur Polizei begleite?«
»Jetzt?«
»Nein, heute musst du erst mal wieder anfangen, Lebensmittel zu dir zu nehmen. Aber vor allem solltest du duschen«, sagt er und rümpft die Nase. »Und dich vielleicht rasieren?«
Das fühlt sich gar nicht so demütigend an. Als ich vor einer Woche hierhergekommen war, habe ich die Welt noch durch einen dunklen, verzerrten Filter gesehen. Das tue ich jetzt nicht mehr. Aber die Frage bleibt immerhin, welche Version der Welt wahr ist.
»Und was passiert als Nächstes?«, frage ich Emil.
»Ich habe einen Vorschlag. Sofern du Lust hast, unser Gespräch fortzusetzen?«
»Du meinst im Gefängnis?«, frage ich und lache trocken.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du wirklich ins Gefängnis gehen musst. Aber ich würde unser Gespräch trotzdem gerne fortsetzen. Hättest du Interesse daran?«
Ich muss nicht lange nachdenken. In gewisser Weise fühlt es sich so an, als sei Emil mein letzter Rettungsanker. Ein Pfarrer. Es ist wirklich absurd.
»Ja, ich glaube schon«, antworte ich. »Mit wem sollte ich sonst reden? Es hat mir immer gutgetan, mit Julia zu sprechen, aber sie will bestimmt nichts mehr von mir wissen. Besonders nach diesem Fiasko.«
»Sag das nicht«, erwidert Emil. »Thor und Julia warten immer noch darauf, dass du rauskommst. Sie machen sich Sorgen um dich.«
»Ja, das ist wirklich peinlich. Was schlägst du vor?«
»Die Kirche muss neu gestrichen werden, bevor die Herbststürme kommen. Die Kirche hat kein Geld, um eine Malerfirma zu beauftragen, also werde ich es selbst tun. Du könntest mir dabei helfen …«
»Du willst, dass ich die Kirche streiche?«, frage ich entsetzt.
»Warum nicht? Die Inselbewohner werden es zu schätzen wissen, du wirst sehen. Wir malen vormittags. Dann koche ich uns was zum Essen, und wir unterhalten uns. Über dein Leben.«
»Du meinst über all die schlimmen Dinge, die ich getan habe?«, sage ich und seufze. »Hast du nichts Besseres zu tun?«
»Auch Pfarrer brauchen Freunde, und ich bin neu hier«, sagt er. »Manchmal ist es einsam, und ich habe gehört, dass man mit dir gut entspannen kann. Stimmt es, dass du segelst?«
Endlich ein Gesprächsthema, bei dem ich nicht unterlegen bin.
»Ja, und ganz gut sogar«, sage ich. »Ich bin gern da draußen auf dem Meer.«
»Wir könnten doch mal mit dem Boot rausfahren, das du Thor geschenkt hast«, schlägt er vor. »Das ist eine Mälar 22, oder?«
»Stimmt«, sage ich. »Na gut. Wenigstens ist das ein neuer Ansatz für meine idiotischen Probleme.«
»Das freut mich«, sagt er.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Aber natürlich.«
»Warum willst du dich weiter mit mir unterhalten?«
»Warum sollte ich das nicht wollen?«
»Du bist ein Pfarrer, und ich bin ein schlechter Mensch.«
Emil neigt den Kopf auf die eine Seite und grinst mich schelmisch an.
»Vielleicht ist es deshalb ein Glück, dass du in den Händen eines Pfarrers gelandet bist. Denn im Christentum geht es grundsätzlich um Reue, Vergebung und Liebe. All die anderen Botschaften sind zweitrangig.«
»Ah …«, sage ich.
»Lukas 24, 46 – 47«, fügt er hinzu und strahlt übers ganze Gesicht.
JULIA
Eine leichte Brise strich ihr über die Haut. Sie hörte ein zaghaftes Murmeln, ein Flüstern in den Bäumen. Alles Einbildung. Das war immer so, wenn sie müde und verängstigt war. Diese ungesunde Mischung machte sie überempfindlich gegenüber Geräuschen. Aber sie wollte sich nicht von Thors Geistergeschichten verunsichern lassen.
Am Tor des Herrenhauses sah sie Emil. Sie stand auf, erleichtert, sich mit etwas anderem beschäftigen zu können. Zugleich spürte sie den kleinen Schock, den man bekommt, wenn man schon lange auf eine Nachricht wartet – Erleichterung und Sorge zugleich. Sie gingen Emil auf dem Schotterweg entgegen. Je näher sie kam, desto deutlicher sah sie die kleine Sorgenfalte auf seiner Stirn.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Thor.
»Franz duscht jetzt und zieht sich was Sauberes an. Dann möchte er euch sehen.«
Julia betrachtete Emil.
»Sie sehen ziemlich beeindruckend aus. Tragen Sie das immer so?«
»Nein, aber aus irgendeinem Grund fühlte es sich feierlich an, in die Tiefen des dunkelsten Raumes von Franz Oswald einzudringen, also habe ich mich für den Talar entschieden.«
»Hat mein Vater eine Erklärung für sein Verhalten?«, fragte Thor.
»Ich möchte sein Vertrauen nicht missbrauchen«, erwiderte Emil und legte eine Hand auf sein Herz. »Es ist besser, wenn er es euch selbst sagt.«
Er musterte Julia aufmerksam, aber freundlich.
»Fast hätte ich vergessen zu fragen, wie es dir geht? Du hattest einen ziemlich dramatischen Frühling auf der Insel, aber der liegt nun hinter dir.«
Emil hatte sie vor dem Ertrinken gerettet, weil es ihm als ehemaligem Wettkampfboxer mit Leichtigkeit gelungen war, ihren Angreifer zu überwältigen.
»Oh ja. Ich habe jetzt einen neuen Job, den ich sehr aufregend finde«, sagte sie. »Aber … nichts im Vergleich zu dem Drama im Frühjahr.«
»Das ist wahrscheinlich auch besser so«, sagte Emil. »Ich hoffe, ihr kommt bald unter angenehmeren Umständen zurück.«
»Das werden wir«, sagte Thor. »Danke, dass du meinen Vater zur Vernunft gebracht hast.«
»Gern geschehen«, sagte Emil und machte eine angedeutete Verbeugung, drehte sich um und ging weiter zum Tor.
Im Herrenhaus blieben sie in der geräumigen Diele stehen, die größer war als ihre ganze Wohnung, und warteten auf Franz. Julia sah sich in den hellen, offenen Räumen um. Schlicht und nüchtern, hell und luftig. Das Licht, das durch die großen Fenster auf die Wände fiel, brachte sie zum Glänzen. Es war hier so still, als wäre das Haus menschenleer. Nach ein paar Minuten erschien Franz auf der Treppe.
Als er sie unten stehen sah, blieb er auf halber Höhe stehen.
»Ach, da seid ihr ja«, sagte er dann nachdenklich.
Er war frisch rasiert und trug eine blaue Jeans und ein weißes T-Shirt.
Sein Haar war noch nass vom Duschen. Den Duft seines unverwechselbaren Rasierwassers konnte man schon von Weitem riechen, mild und holzig. In dem hellen Licht, das durch das Treppenhausfenster hereinfiel, erschien er ungewöhnlich müde und erschöpft. Die Energie, die früher in seinem Inneren vibriert hatte, war wie erloschen. Zuerst wandte er den Kopf ab, dann sah er wieder zu ihnen. Seine Augen ruhten auf Julia, ihre Blicke trafen sich.
»Willst du da stehen bleiben und uns anstarren, oder kommst du runter?«, fragte Thor mit aufgestauter Wut.
Franz zuckte zusammen. Julia legte ihre Hand auf Thors Arm und flüsterte: »Beruhige dich.«
»Ja … äh …«, begann Franz, brach aber gleich wieder ab.
Zügig kam er die Treppe herunter, und für ein paar Augenblicke schien er wieder ganz der Alte zu sein. Es lag an der Art, wie er sich bewegte. Mit einer Geschmeidigkeit und Kraft, die an eine Großkatze erinnerte.
»Ich werde versuchen, mich zu erklären«, sagte Franz, der offensichtlich nicht wusste, wie er das alles zusammenfassen sollte.
»Wirst du … ich meine, wirst du jetzt hier oben bleiben?«, fragte Thor und trat ein paar Schritte näher an Franz heran.
»Es war ein freiwilliges Exil«, sagte Franz. Er ließ die Worte einen Moment in der Luft hängen, bevor er fortfuhr. »Aber ja, ich habe genug von diesem Keller … für eine Weile.«
»Wie geht es dir, Papa?«, fragte Thor, von seinen Gefühlen überwältigt.
Franz zuckte niedergeschlagen mit den Schultern.
»Na ja, eine Woche Fasten ist ja nicht weiter schlimm. Ich habe unten viel Wasser getrunken, mir geht’s gut. Elyssa hätte dich nicht anrufen sollen, das war unnötig.«
»Ich meine hier«, sagte Thor und tippte sich an die Stirn. »Was ist passiert? Ich verstehe es nicht.«
Franz räusperte sich und fühlte sich sichtlich unwohl. Er wirkte ziellos, unkonzentriert.
»Es war ein bisschen einsam geworden, nachdem ihr abgereist seid. Ich hatte Albträume und konnte nicht so gut damit umgehen.«