Die Sekte - Dein Albtraum nimmt kein Ende - Mariette Lindstein - E-Book

Die Sekte - Dein Albtraum nimmt kein Ende E-Book

Mariette Lindstein

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Beschreibung

Du weißt erst, dass du in den Fängen einer Sekte steckst, wenn du sie nicht verlassen kannst!

15 Jahre sind vergangen, seit Sofia Bauman der Sekte für immer den Rücken kehrte. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut, ist glücklich verheiratet und hat eine Tochter. Doch dann zerstört ein Sturm Sofias Besitz, und ihre Familie steht vor dem Ruin. In diesem Moment taucht der zwielichtige Sektenführer Franz Oswald auf und macht Sofia ein teuflisches Angebot: Wenn Sofia ihm verrät, wer der leibliche Vater ihrer Tochter Julia ist, wird er ihr finanziell helfen. Als Sofia schweigt, nimmt Oswald heimlich Kontakt zu Julia auf, die sich von dem älteren Mann wie magisch angezogen fühlt und ihm auf die Nebelinsel folgt. Sofias Albtraum nimmt kein Ende: Nach all den Jahren muss sie nach Dimö zurückkehren, um ihre Tochter den Klauen der Sekte zu entreißen.

Der dritte Teil der packenden »Sekten«-Reihe!

Alle Bände der Bestsellerserie aus Schweden:
Die Sekte – Es gibt kein Entkommen
Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang
Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende
Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen
Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah
(Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar)

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Seitenzahl: 690

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Buch

Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Sofia Bauman der Sekte für immer den Rücken kehrte. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut, ist glücklich verheiratet und hat eine Tochter. Doch dann zerstört ein Sturm Sofias Besitz, und ihre Familie steht vor dem Ruin. In diesem Moment taucht der zwielichtige Sektenführer Franz Oswald auf und macht Sofia ein teuflisches Angebot: Wenn Sofia ihm verrät, wer der leibliche Vater ihrer Tochter Julia ist, wird er ihr finanziell helfen. Als Sofia schweigt, nimmt Oswald heimlich Kontakt zu Julia auf, die sich von dem älteren Mann wie magisch angezogen fühlt und ihm auf die Nebelinsel folgt. Sofias Albtraum nimmt kein Ende: Nach all den Jahren muss sie nach Dimö zurückkehren, um ihre Tochter den Klauen der Sekte zu entreißen.

Autorin

Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« ist ihr erster Roman und wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet und für den CWA Dagger Award 2019 nominiert. Aktuell wird ihre Reihe für das Fernsehen verfilmt. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.

Von Mariette Lindstein bereits erschienen

Die Sekte – Es gibt kein Entkommen

Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang

Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende

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MARIETTE LINDSTEIN

DIE SEKTE

DEIN ALBTRAUM NIMMT KEIN ENDE

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Sektens barn« bei Mörkersdottir Förlag, Rättvik.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein 2017

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images (Marc Owen; Rekha Arcangel);

Wil Immink; www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24374-6V002

www.blanvalet.de

Prolog

Die Schreie des Mädchens durchdringen das Heulen des Windes. Vic hat ihre Handgelenke gepackt und zerrt sie auf dem Rücken über den felsigen Boden. Ich will ihn aufhalten, aber wenn Vic in diesem Zustand ist, kann man nichts dagegen machen. Dann hat er eine nahezu überschäumende Energie, die ich nur zu gut kenne. Er ist ganz aufgekratzt von seinem schrecklichen Vorhaben und verfügt über fast übermenschliche Kräfte, die von seinem Hass geschürt werden.

Als ich das Mädchen zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich gleich, dass sie etwas Besonderes ist. Sie stach aus der Menge heraus, glitzerte wie Venus in einer kalten Winternacht. Ihre Augen funkelten, ihre Haare schmiegten sich um ihre Schultern und reichten bis zur Taille. Rote Wangen, Lebenslust und eine wunderbare Bosheit. Sie war das schönste Wesen, das ich jemals gesehen hatte.

Jetzt brüllt sie wie eine Wahnsinnige. Sie tritt um sich und versucht, sich aus seinem unerbittlichen Griff zu befreien. Aber Vic ist zu stark. Wir sind auf dem Abhang unter dem Teufelsfelsen. Ich weiß genau, wo er hinwill. Zur Hin Håle, das ist die höchste Klippe – sie grinst uns mit ihrem hervorstehenden Zahn an, streckt sich weit über den Abgrund hinaus und schnuppert mit ihrer Nase an den tiefgrauen Wolken über dem Wasser.

»Tu es nicht!«, schreie ich. Aber er hört mich nicht. Ungeduldig reißt er an ihrem Arm, aber sie wehrt sich und bringt ihn fast aus dem Gleichgewicht. Er legt einen Arm um ihren Hals und drückt zu, damit sie still ist. Ihre Arme und Beine zucken hilflos durch die Luft, bis sie leblos am Boden liegen bleibt.

Jetzt schleift er sie hinter sich her, klettert den Felsen hoch wie eine Bergziege, die jeden Stein und jede Spalte kennt, immer höher hinauf, zum Hin Håle.

»Hör auf damit! Lass sie los!«, schreie ich, aber meine Stimme wird vom Wind davongetragen.

Ich bin von Sturm und Meer umgeben, hier ist es kalt und verlassen. Riesige Wellen schleudern ihre Gischt in die Luft. Möwen stürzen mal in die eine, mal in die andere Richtung. Der Wind kommt wie aus dem Nichts und ist überall gleichzeitig. Abenddämmerung. Am Himmel versteckt sich ein blasser Halbmond hinter Schleierwolken. Die Zeitschaltuhr im Herrenhaus springt an und wirft ein unruhiges Licht über das Heidekraut hinter uns.

Mein Blick jagt zwischen Haus und Mädchen hin und her. Stürze ich mich jetzt auf Vic, wird er sie sofort in den Abgrund stoßen. Ich muss zu ihm und irgendwie durch die Mauer seines Wahnsinns dringen.

Sie haben den Hin Håle erreicht. Vic steht an der Stelle, wo sich der Felsen über das Wasser streckt, seine Bewegungen sind hektisch, ungeduldig.

»Kannst du nicht mal helfen?«, ruft er. »Wir werfen sie ins Meer, dann sind wir sie los. Guck nicht so. Das wird niemand erfahren.«

Meine Beine tragen mich nicht mehr. Ich falle auf die Knie und brülle ihn an, dass er damit aufhören soll. Aber er starrt mich entschlossen und aufreizend an.

Das ist nicht mehr Vics Gesicht, in das ich sehe, sondern das meines Vaters, zerstörerisch und höhnisch. Seine Augen sind wie schwarze Würmer, die sich tief in meine Seele bohren.

In meinem Kopf hämmert es. Da will was befreit werden. Das Hämmern geht über in etwas anderes, Schlimmeres und Unbelehrbares. Wie eine Motorsäge, die sich durch mein gefrorenes Gehirn arbeitet.

Ich schreie das Einzige heraus, das mir einfällt.

»Papa wird stinksauer sein!«

Und während ich diese Worte brülle, begreife ich, dass sie wahr sind.

Vic starrt mich mit offenem Mund und weit aufgerissenen, panischen Augen an. Dieser kurze Augenblick der Begeisterung, ihn in letzter Sekunde doch noch aufgehalten zu haben, verwandelt sich in schreckliche Angst, als ich begreife, dass sein Blick auf etwas hinter mir gerichtet ist. Ich muss mich nicht umdrehen, ich weiß, wer hinter mir steht. Der Schatten verdunkelt alles, wie eine unvorhergesehene Sonnenfinsternis, und ich bin umgeben von etwas Dunklem und Unheilverkündendem. Die Geräusche von Meer und Wind sind verstummt. Die Luft fühlt sich jetzt anders an, sie ist härter und kälter.

Ich sehe zu Vic hinüber, für eine Sekunde verschmelzen wir. Etwas verbindet uns. Die Erkenntnis, dass es jemanden gibt, der genau in diesem Augenblick über uns steht.

Die Erkenntnis, dass unser Leben eine vollkommen neue Wendung genommen hat und nie wieder so sein wird wie davor.

1

Der Lärm, der vom Fernseher kam, war ohrenbetäubend. Die Windböen werden eine Geschwindigkeit von bis zu 180 Stundenkilometern erreichen, die höchste Windstärke, die jemals in Westschweden gemessen…

Sofia stellte die Einkaufstaschen in der Küche ab, ging ins Wohnzimmer, riss Benjamin die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus.

»Hey, was soll das?«, rief er.

»Du sollst hier nicht rumsitzen, sondern was tun.«

»Das war aber gerade ziemlich interessant. Die haben gesagt, wie man sich darauf vorbereiten kann.«

»Darauf kann man doch auch selbst kommen. Hol einfach die Gartenmöbel rein und befestige alles, was lose ist. Ich hab eingekauft, damit wir ein paar Tage überbrücken können. Dann müssen wir noch Teelichter, Taschenlampen und so was bereitlegen. Weißt du, wo Julia ist?«

»Keine Ahnung.« Er stand auf und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Mein Schatz, mach dir nicht so große Sorgen wegen dieses Sturms. Wird schon alles gut ausgehen. Die Meteorologen haben doch nur Angst, dass sie Ärger bekommen, wenn sie die Leute nicht ausreichend vorgewarnt haben. Wird schon alles nicht so schlimm werden, wie sie es ankündigen. Du machst dir zu viele Gedanken.«

»Wir werden sehen«, sagte sie und wand sich aus seiner Berührung.

Es stimmte schon, dass der bevorstehende Sturm sie sehr beunruhigte. Und das lag nicht nur daran, dass auch die Meteorologen besorgt klangen. Zusätzlich hatte sie eine böse Vorahnung beschlichen, die sie nicht so einfach abschütteln konnte.

Sie ging in den Garten hinaus und sah auf den See. Die Stille war geradezu unnatürlich und kroch ihr unter die Haut. Das lag an der vollständigen Abwesenheit von Vogelgezwitscher. Die Wasseroberfläche war ein einziger schwarzer Spiegel, der hinter den Bäumen lag. Die einzige Bewegung wurde von einem Blatt erzeugt, das heftig am Zweig flatterte, bevor es zu Boden fiel. Der Himmel war sternenklar. Die Zugvögel glitten lautlos wie Segelflugzeuge durch die Luft. Es war so still, dass sie das schwache Rauschen in ihren Ohren hörte, das immer dort war.

Die Herbstluft war kalt und schneidend. Irgendwo wurde Laub verbrannt. Normalerweise liebte sie diesen Geruch, aber heute machte er sie ganz wehmütig. Da hörte sie ein Geräusch über ihrem Kopf, etwas wie ein langes Seufzen. Aber das war nur ein schwacher Windzug, der über das Laub der Bäume strich. Dann war es wieder still. Sie hatte einen Kloß im Hals.

Ich habe alles, was ich liebe, dachte sie. Meinen wunderbaren Mann, meine wunderbare Tochter, mein schönes Haus. Und trotzdem stehe ich jetzt hier … mit schwerem Herzen.

Sie schämte sich dafür, dass sie Benjamin so angefahren hatte. In letzter Zeit war sie oft unruhig und leicht irritierbar gewesen. Sie wusste genau, warum das so war, hatte es aber weder sich, geschweige denn ihm gegenüber eingestehen wollen. Sie hatte wieder angefangen, von dem Sektenführer Franz Oswald zu träumen. Nach fünfzehn Jahren war er auf unerklärliche Weise wieder zurück und in ihren Träumen aufgetaucht. Die Vergewaltigung, mit der sie sich so ausführlich beschäftigt hatte, bis auch das letzte Gefühl aus den Tiefen ihrer Seele nach außen gekehrt worden war und nichts mehr übrig blieb. Sie spielte sich vor ihrem inneren Auge ab. Aber jetzt hatten die Bilder an Klarheit und Schärfe gewonnen. Sie erinnerte sich an neue Details, sah sie jetzt viel deutlicher.

Ihr Verstand beruhigte sie jedoch und sagte ihr, dass Franz Oswald untergetaucht war. Seit zehn Jahren hatte er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Es hieß, er würde sich im Herrenhaus der Sekte ViaTerra auf der Insel Dimö aufhalten, um dort neue Thesen zu entwickeln. Außerdem hatte sich das Gerücht verbreitet, dass er den Verstand verloren hatte. Sofia hegte aber noch andere, viel dunklere Hoffnungen. Dass er an einer furchtbaren, schmerzhaften Krankheit gestorben war und die verbliebenen Idioten der Sekte entwaffnet und zitternd vor Kälte sowie ohne Strom in dem abgeschiedenen Herrenhaus hockten.

Franz Oswald war nach wie vor Gesprächsthema. Als wäre die Legende des charismatischen Sektenführers unsterblich und unausrottbar. Obwohl er wegen sexueller Nötigung einer Minderjährigen vor fünfzehn Jahren im Gefängnis gesessen hatte, gab es nach wie vor unzählige Verehrer. Sofia versuchte, sich einzureden, dass er sich für immer zurückgezogen hatte, vielleicht sogar gestorben war. Aber ihr Gefühl sagte ihr etwas anderes. Nämlich, dass er nach wie vor äußerst lebendig war.

Ihre Finger zitterten. Das musste an dem kühlen Windzug liegen. Sie ging ins Haus zurück und hielt ihre Hände im Badezimmer unter warmes Wasser.

Im Spiegel über dem Waschbecken sah sie das Mädchen, das der ViaTerra entkommen war. Zweimal. Nur die Lachfalten an Augen und Mund waren dazugekommen. Ein paar graue Haare im Pony. Ansonsten sah man ihr nicht an, wie sehr sie gelitten hatte. Gab es überhaupt einen vernünftigen Grund, dass der herannahende Sturm und ihre Träume von Franz Oswald sie so aus dem Gleichgewicht brachten?

Das Handy in ihrer Hosentasche vibrierte. Auf dem Display war eine SMS von Julia. Komme später nach Hause. Als wäre alles wie immer. Als hätte sie gar nichts von der Sturmwarnung mitbekommen. Sofia durchfuhr der Gedanke, dass sie vielleicht wirklich nichts davon wusste. Sie versuchte sofort, sie zu erreichen, aber es antwortete nur die Mailbox: Hej, Mamalein, da du die einzige Person bist, die mir eine Nachricht hinterlässt, ist die hier für dich. Alles ist in Ordnung, ich melde mich. Ciao, ciao!

Sofia hatte schon kurz nach Julias Geburt erkannt, dass sie einen Wirbelwind zur Welt gebracht hatte. Ein Gewitter, das immer mehr an Stärke zunahm – und zu einem Orkan wurde. Julia hatte eine Energie, die weder Sofia geschweige denn Benjamin bändigen konnten.

Von Benjamin hatte Julia überhaupt nichts. Sie hatte Sofias Haarfarbe, ihre dunklen Augen und Gesichtszüge geerbt. Aber da war noch mehr, eine Intensität, die unter ihrer Oberfläche schlummerte. Julia stürzte sich mit einer unersättlichen Lust in das Leben, trotzig und vollkommen hemmungslos. Im Frühling letzten Jahres hatte sie an einem Gesangswettbewerb im Fernsehen teilgenommen, ihn gewonnen und war über Nacht zum Liebling der Nation geworden. Das Mädchen hatte aber nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ach, ich glaube, die Singerei ist doch nicht mein Ding.« Sie wolle es lieber ruhig angehen lassen, bis sie ihre Berufung gefunden habe. Aus irgendeinem Grund hatte Sofia Angst davor, was diese Berufung sein könnte.

Aber nicht nur Julias Aussehen ließ sie aus der Menge hervorstechen. Sie hatte auch eine besondere Präsenz. Wenn man einen Raum mit hundert Menschen betrat, war Julia die erste Person, die einem ins Auge fiel. Sie war etwas Besonderes.

Und Sofia war bisher nur einem einzigen Menschen begegnet, der genauso war.

Sie schrieb Julia eine SMS: Geh bitte ans Telefon, wenn ich anrufe. Dann wartete sie einen Augenblick. Und dann rief sie wieder an, und danach noch ein drittes und viertes Mal, bis Julia sich endlich mit einem »Was ist denn?« meldete.

»Du musst sofort nach Hause kommen.«

»Und warum?«

»Wir bereiten uns auf den Sturm vor.«

»Könnt ihr das nicht allein machen?«

»Nein, du sollst jetzt gleich nach Hause kommen. Du sollst bei Sturm nicht Moped fahren.«

»Jetzt hör mal auf, die übertreiben doch voll.«

»Da wär ich mir nicht so sicher, die Meteorologen im Fernsehen haben ziemlich besorgt ausgesehen. Die haben dem Sturm auch gleich einen unheimlichen Namen gegeben. Herkules.«

»Meinetwegen, ich komme.«

Benjamin stand im Flur. Ein Schuldgefühl überkam sie, und sie schmiegte sich an ihn. »Tut mir leid, dass ich vorhin so explodiert bin. Mich macht dieses Gerede über den Sturm ganz hysterisch.«

»Das ist doch okay. Du siehst müde aus, mein Schatz. Und so niedergeschlagen.«

»Ich mag es nicht, wenn die Dinge sich verändern«, sagte sie und sah zu ihm hoch. »Aber du nicht, zum Glück. Du bleibst immer derselbe.«

Benjamin war ihr Anker. Er hatte damals einen Job in einer Speditionsfirma angenommen, und seine Arbeitgeber hatten sein Talent für Logistik und Effizienz erkannt und ihn überredet, eine eigene Firma zu gründen. Und diese Firma, die er im Home-Office betrieb, lief hervorragend. Er konnte die Familie damit versorgen, und sie waren sogar in der Lage gewesen, sich das Haus auf der Insel Orust – an der Westküste Schwedens – zu kaufen.

Sofia hatte vor ein paar Jahren ihren Job als Bibliotheksleiterin aufgegeben, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie half Sektenaussteigern bei der Rückkehr ins Leben. Zurzeit betrieb sie eine Einrichtung, zusammen mit Anna Hedberg, die ebenfalls eine Aussteigerin von ViaTerra war. Die Herberge erhielt staatliche Subventionen, und auch Benjamin gab Mittel dazu, wenn was fehlte. Noch warf sie keinen Gewinn ab, aber Sofia liebte ihre Tätigkeit.

Unter dem Sofa lag Denzel, ihr Hund, und zitterte.

»Wie lange ist er schon so?«, fragte sie Benjamin.

»Seit heute früh. Ich habe ihn kaum vor die Tür bekommen. Und sonst ist er doch immer draußen und will kaum wieder rein.«

»Glaubst du, dass er krank ist?«

»Nein, ich nehme an, er spürt den kommenden Sturm. Tiere merken so was ja viel früher als wir.«

Sofia kniete sich hin und zog Denzel unter dem Sofa hervor. Sie nahm ihn in den Arm und wiegte ihn, aber er hörte nicht auf zu zittern.

»Willst du rausgehen?«, fragte sie ihn und setzte ihn ab. Aber der Hund legte sich flach auf den Boden und drehte den Kopf weg. Daraufhin nahm ihn Sofia an die Leine und zog ihn hinter sich her in den Garten, wo er pflichtbewusst pinkelte und dann sofort wieder ins Haus zurückwollte.

Sie sah die Wolken, die tief und schwer am Himmel hingen, schmutzig grau und dunkellila. Ein sanfter Wind raschelte in den Bäumen. Die schwarze Wasseroberfläche des Sees kräuselte sich jetzt, es sah aus wie früher das Schwarzweißbild im Fernseher nach Sendeschluss. Noch war alles still. Kein einziger Vogel zwitscherte. Kein Auto fuhr vorbei. Es fühlte sich an, als wären sie allein in einem menschenleeren Niemandsland.

Benjamin kam zu ihr nach draußen, er hatte die Kopfhörer mit seinem Handy verbunden und nahm einen Stöpsel heraus.

»Du, die kündigen einen Orkan an. Wenn es wirklich so schlimm wird, wie sie sagen, dann habe ich danach ordentlich zu tun«, sagte er.

»Wie kannst du nur so denken?«

»Man muss jederzeit versuchen, das Positive im Leben zu sehen.«

Das tat Benjamin in der Tat immer.

»Und siehe da, da kommt auch schon unsere Julia!«

Benjamin zeigte Richtung Straße, auf der ihre Tochter auf dem Moped angefahren kam. Ihr langes Haar schlug ihr auf den Rücken. Sie fuhr so schnell, dass Sofia Angst hatte, dass sie die Einfahrt verpasste. Aber dann machte sie einen eleganten Schlenker und hielt vor ihnen an.

»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte sie und machte einen Schmollmund.

Gott sei Dank, dachte Sofia. Jetzt wird alles gut. Wir werden auch das hier überstehen.

Als sie gegen Mitternacht ins Bett gingen, hatte der Wind zugenommen. Er pfiff drohend ums Haus und brachte die Dachbalken zum Knarren und Wimmern. Die Bäume vor dem Haus bogen sich tief. Aber das alles hatte weder etwas Bedrohliches noch Urgewaltiges. Und obwohl der Strom während der Nachrichtensendung plötzlich ausfiel, in der ein Reporter vom Wind gepeitscht wurde, gingen sie unbekümmert ins Bett. Der Sturm würde am nächsten Morgen vorbei sein. Davon waren sie überzeugt. Keiner von ihnen wollte wach bleiben und dem fauchenden Wind zuhören.

Julia schleppte ihre Matratze in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie unterhielten sich, kicherten in der Dunkelheit und schliefen schnell ein.

Einige Stunden später schreckte Sofia von einem unheimlichen Krachen auf. Es war so laut, dass sie aus dem Bett sprang. Der Wind heulte nicht mehr nur, sondern brüllte wie ein Wahnsinniger. Es war stockdunkel, dunkler als in der tiefsten und kältesten Winternacht. Das Dach knackte und knarzte unfassbar laut, es klang, als würde es gleich abheben. Dann ertönte das Geräusch von splitterndem Glas, ohrenbetäubend und durchdringend, geradezu zerstörerisch.

Sturm »Herkules« war da.

2

Das ist meine Geschichte. Meine Gedanken zu den Ereignissen, die zu dem schrecklichen Abend auf der Klippe am Teufelsfelsen geführt haben. In den achtzehn Jahren meines Lebens ist einiges passiert, ich habe viel zu erzählen. Viel zu viel. Deshalb habe ich auch beschlossen, alles aufzuschreiben, um es dir leichter zu machen, die Zusammenhänge zu verstehen. Wie alles dazu kam, wie es kam.

Ich bitte weder um dein Verständnis noch um deine Vergebung. Eigentlich schreibe ich es auf, weil in mir so Vieles ist, was rauswill.

Was wirst du davon halten, solltest du es je lesen?

Aber ich hoffe, du tust es.

Ich kam als zweieiiger Zwilling auf die Welt. Es dauerte Jahre, bis ich begriff, dass Vic und ich zusammengehören. Wir waren so unterschiedlich, vom ersten Tag an. Wie diese Zwillinge aus Australien – der eine hatte helle Haut, der andere war dunkelhäutig. So ähnlich war es auch bei Vic und mir.

Ich habe viel über Zwillinge gelesen, habe nach Erklärungen dafür gesucht, warum es zwischen uns keine Geschwisterliebe gab. In diesem Berg an Informationen bin ich an einer Tatsache hängen geblieben, die immer wieder auftauchte: Auch wenn es Zwillinge sind, handelt es sich um zwei unterschiedliche Individuen.

Die meisten zweieiigen Zwillinge sind sich so ähnlich, wie Geschwister es sind, auch wenn sie sich nicht so gleichen wie eineiige Zwillinge. Vic und ich aber sahen aus, als hätten wir vollkommen unterschiedliche Eltern. Vic war ein Prachtkerl, bei der Geburt wog er über vier Kilo. Ich hingegen war ein kleiner Jämmerling von knapp drei Kilo, schmal und blass.

Und aus diesen beiden Körpern wurden zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten.

In einem ihrer boshaften Momente hat uns das Kindermädchen Fanny erzählt, wie unser Vater reagiert hat, als er uns das erste Mal gesehen hat. Sie war von ihm auserwählt worden, uns zu betreuen, weil sie »reif« und »erfahren« war und nicht so ein »Kindchen« wie unsere Mutter. Fanny war eine verkniffene vierzigjährige Frau mit kurzen Haaren, schmalen Lippen und tiefliegenden, herzlosen Augen. Ich kann mich gut an die Blicke erinnern, die sie mir zuwarf, herablassend und höhnisch. Eigentlich hatte sie meiner Mutter beibringen sollen, wie man Kinder erzieht. In Wirklichkeit aber ging sie ihr nur mit dem ständigen Genörgel und den spitzen Bemerkungen auf die Nerven, was sie alles falsch machte.

Auf jeden Fall erzählte uns diese Fanny von der ersten Begegnung mit unserem Vater. Bei unserer Geburt hatte er noch im Gefängnis gesessen. Erst viel später erfuhr ich, dass er verurteilt worden war, weil er meine Mutter auf dem Dachboden eingesperrt und sie vergewaltigt hatte. Da war sie vierzehn gewesen. So sind Vic und ich entstanden. Aber das habe ich erst sehr viel später erfahren. Als er nach ViaTerra zurückkam, wohnten wir in dem kleinen Haus neben dem Herrenhaus. Wir waren erst ein paar Monate alt. Meine Mutter hatte der Rückkehr meines Vaters voller Angst entgegengesehen. Sogar Fanny war nervös. Die Stimmung im Haus wirkte besonders angespannt. Als würde der Gottvater persönlich vom Himmel herabsteigen und die Kinder segnen. Dann rief einer der Angestellten aus dem Herrenhaus an und teilte mit, dass er in einer Viertelstunde ankäme. Fanny steckte uns schnell noch in die Badewanne, damit wir auch bloß gut rochen.

Als unser Vater dann endlich eintraf, wirkte er gehetzt.

»Sie sollen nach den Prinzipien von ViaTerra erzogen werden«, waren seine ersten Worte, als er das Häuschen betrat.

Wir lagen nackt auf dem großen Wickeltisch, bereit für die väterliche Inspektion und Besichtigung. Wir brabbelten nach dem Bad wohlig vor uns hin und schrien kein einziges Mal. Zumindest behauptete Fanny das.

Unser Vater trat an den Tisch und sah Vic zuerst an.

»Der sieht aus wie ich«, stellte er fest.

Dann fiel sein Blick auf mich, und er fing an zu lachen. Ganz schrill, vor Schreck zuckte Fanny zusammen. Dann packte er einen meiner Füße und zog daran.

»Das ist ja der jämmerlichste Penis, den ich je gesehen habe!«

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ uns wieder.

Willkommen auf der Erde, Invictus und Thor.

Willkommen auf ViaTerra.

Aus diesen Körpern wurden wir.

Vic – mit seinen breiten Schultern, den dunklen Haaren und Augen, dem selbstbewussten Gang, den geraden Zähnen und den Lachgrübchen – war geradezu ein Abbild unseres Vaters. Sogar sein Lachen hatte denselben Klang.

Aus mir wurde eine blasse Kopie meiner Mutter. Spindeldürr und sommersprossig. Rothaarig mit langen Wimpern. Auch noch mit zehn Jahren wurde ich von einigen für ein Mädchen gehalten.

Vic konnte als Erster laufen. Und als Erster sprechen. Als Erster einen Ball mit dem Fuß treffen. Er saß als Erster auf dem Topf. Er bekam als Erster einen Zahn. Er konnte am höchsten klettern. Und als Erster schwimmen.

Das Einzige, was ich vor ihm hatte, war eine Gehirnerschütterung, als Vic mich mit dem Eishockeyschläger verprügelte. Und ich war auch der Einzige, der eine Zahnspange tragen musste.

Er übertraf mich in allem, obwohl das gar nicht notwendig war. Meine Unterlegenheit war vom ersten Atemzug an unverkennbar gewesen.

Die Sonne schien immer für Vic, und ich lebte in seinem Schatten. Manchmal war das unerträglich. Manchmal war es auch herrlich, auf diesem Weg der Aufmerksamkeit zu entkommen.

Aber eines habe ich von unserem Vater geerbt. Sein untrügliches Gedächtnis.

3

Sie öffnete die Schlafzimmertür, wurde aber sofort von einem Windstoß zurückgedrückt. Ein Fenster im Wohnzimmer war zerbrochen. Ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht. Ihr Instinkt signalisierte ihr, dass sie in Gefahr war. Trotzdem zog es sie in Richtung Chaos. Möbel und Blumentöpfe waren umgefallen, zum Teil sogar gegen die Wand geschleudert worden.

Sie konnte den Blick nicht abwenden, obwohl alle ihre Sinne in Alarmbereitschaft waren. Die Fensterscheiben klapperten. Die Dachbalken ächzten. Die Bäume im Garten bogen sich nicht mehr im Wind, sie lagen jetzt am Boden und klagten, als ihre Äste abgerissen wurden. Auch die Büsche hatten sich vergeblich gegen das Massaker gewehrt, das der rücksichtslose Wind anrichtete, wenn er sie mit den Wurzeln aus der Erde zerrte. Die Eschen, deren Holz von einer schweren Baumkrankheit ausgetrocknet war, gaben fürchterliche Geräusche von sich, als sie in der Mitte durchbrachen und in den Graben hinter dem Gartengrundstück stürzten.

Der Himmel sah wie ein heimtückischer Zyklon aus Müll und Gerümpel aus. Aus diesem Wirbel kam plötzlich ein Gewächshaus auf sie zugeflogen und verpasste das Haus nur um Haaresbreite. Ihr kam der Gedanke, dass sie für etwas bestraft wurde, sie fühlte sich förmlich ausgepeitscht, unfähig, sich noch zu bewegen.

Da spürte sie Benjamins Hände um ihre Taille, der sie mit sich zog.

»Komm, wir müssen runter in den Keller! Beeil dich!«

Julia war schon auf der Kellertreppe, sie trug Denzel unter dem einen Arm und eine Decke unter dem anderen. Benjamin hatte seine Hände auf Sofias Schultern gelegt und schob sie vor sich her. Hielt sie fest, wenn sie stolperte. Sie war noch hypnotisiert von dem Anblick des verwüsteten Wohnzimmers. Der hatte sich ihr eingebrannt wie das stehende Bild aus einem Horrorfilm.

Julia stand im Keller, kreidebleich und mit weit aufgerissenen Augen. Sofia hatte ihre Tochter noch nie so verängstigt gesehen. Sie leuchtete förmlich vor Angst. Und trotzdem war da dieser schwache Schimmer von Erregung in ihren Augen. Denzel hatte sich in eine Ecke verkrochen und zitterte.

Benjamin verschloss die Kellertür. Sie legten sich auf die Matratzen, die sie vor dem Zubettgehen nach unten geschleppt hatten. Sie kauerten sich zusammen, lagen dicht beieinander, als wären sie zu einem einzigen Körper verschmolzen. Es war unmöglich, die schrecklichen Geräusche von oben auszuschalten oder zu verdrängen. Gegenstände wurden gegen die Wände geschleudert, und der Wind warf sich mit einer so unfassbaren Wucht gegen das Haus, als würde ihn eine rasende Wut über dessen bloße Existenz antreiben. Möbel und Einrichtungsgegenstände polterten zu Boden und schabten über die Fliesen. Angsterfüllt und ohnmächtig waren sie den Gewalten ausgeliefert, die ihr Haus in Schutt und Asche legten. Die mitleidlosen Kräfte des Sturms entdeckten jeden Ritz in den Rahmen der Kellerfenster. Kalte Luft drang erbarmungslos in den Raum. Sie war wie elektrisch aufgeladen und roch verbrannt.

Sie sprachen nicht viel, vermieden vor allem ängstliche Schreie und Kommentare, um die Panik nicht noch zu verstärken, die ohnehin schon herrschte. Stattdessen versicherten sie einander, wie sehr sie sich liebten, während es über ihnen donnerte, als würde das Dach einstürzen. Benjamin hatte eine Taschenlampe mitgenommen, die aber nach einer Weile anfing zu flackern und dann ganz ausging. In der Dunkelheit hörte sich dann alles nur noch schrecklicher und bedrohlicher an.

Sie hatten das Zeitgefühl verloren. Es gab nur die gruseligen Geräusche, ihre Angst und neue, noch unheimlichere Geräusche. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so ineinander verschlungen dalagen, zu einem warmen, pulsierenden Körper verschmolzen. Eine Stunde, vielleicht auch fünf. Jedes Mal, wenn der Wind abzunehmen schien, kam etwas Neues hinzu: ein Splittern, ein Krachen oder ein schrilles Fiepen.

Aber nach und nach verwandelte sich das Brüllen des Windes in ein gleichmäßiges Sausen. Durch das Kellerfenster fiel das kalte Licht der Morgendämmerung. Alles war still. Vollkommen still.

Sofia löste sich aus Julias Umarmung. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Benjamin, der sich von hinten an sie geklammert hatte, stöhnte auf.

»Ich glaube, es ist vorbei.«

Sie standen auf, streckten ihre steifen Glieder und gingen langsam die Kellertreppe hoch. Sofia zitterte vor Angst, was für ein Anblick sie hinter der Tür erwarten würde.

»Mach auf«, sagte Benjamin hinter ihr. »Ich hoffe, dass die Wände und das Dach noch stehen.«

Sie öffnete die Tür, und ihr erster Gedanke war, dass ein Wunder geschehen war. Obwohl im Wohnzimmer ein wildes Durcheinander aus Möbeln, zersplittertem Glas, Erde und anderen Gegenständen herrschte, hatte ihr Haus doch standgehalten. Nur das Dach des Wintergartens hatte sich gelöst und hing in den Bäumen. Ansonsten aber konnte sie keine größeren Schäden sehen.

Der Wind blies ungehindert in den Raum und wirbelte Staub auf, der wie ein Vorhang in der Luft hing. Aber im Vergleich zu dem Sturm, der in der Nacht gewütet hatte, fühlte er sich wie eine sanfte Brise an.

Sie traten auf das Grundstück hinaus. Am Horizont riss der Himmel auf, als wäre nichts passiert. Die Wolken warfen dunkle Schatten auf die Landschaft, aber das waren nur harmlose Nachzügler des Sturms. Viele der schönen Linden- und Ahornbäume waren entwurzelt worden und lagen nun wie gefällt am Boden. Die mächtige Linde im Garten war geköpft worden, ihre Krone hing herunter und baumelte im Wind. Die Bäume, die noch standen, schwangen ergeben im Wind. Das Einzige, was unverändert schien, war der Rasen unter ihren Füßen.

Der Sturm hatte den kleinen Schuppen in Brennholz verwandelt. Auf der Straße waren weder Autos noch Menschen zu sehen, ab und zu flatterte mal eine Zeitung vorbei. Der See war angewachsen, sein Wasser schwappte über die Uferkante. Die Luft war milder, auch süßer, und roch nach See.

Diese Freude, die sie in diesem Augenblick empfand, die Freude zu leben, die hatte sie erst ein einziges Mal so tief empfunden. Damals, vor fünfzehn Jahren, als sie auf einem Boot saß und ihr zum zweiten Mal die Flucht von ViaTerra gelungen war. Die Bucht und die weite Landschaft lösten das gleiche euphorische Gefühl in ihr aus. Ich lebe. Mein Herz schlägt. Das Blut fließt durch meine Adern.

Erst nach drei Tagen konnten sie wieder Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Der Sturm hatte auch jede Internetverbindung unmöglich gemacht, trotz jahrelanger Schufterei, um auf der Insel Glasfaserkabel zu verlegen. Später erfuhren sie, dass die Multifunktionsgehäuse beschädigt und vom tagelangen Stromausfall zerstört worden waren.

Sie versuchten, die Nachbarschaft zu Fuß zu erreichen, aber der See war an einigen Stellen über die Ufer getreten und hatte die Straßen unpassierbar gemacht. Außerdem waren auch hier die Bäume wie Kegel umgefallen und blockierten die Durchfahrt.

Am Ende akzeptierten sie den Umstand, dass sie bis auf weiteres in ihrem Haus festsaßen. Sie räumten im Garten das Gröbste weg, setzten vor die zerborstenen Fensterscheiben Holzplatten, reparierten das Dach des Wintergartens und putzten so gründlich wie noch nie zuvor. Auf der Rückseite des Hauses sammelte sich ein großer Berg Unrat. Denzel rannte über das Grundstück und schnüffelte wie besessen, glückselig über die vielen neuen Gerüche, die der Wind hervorgebracht hatte.

Ungeduldig und rastlos machte sie das fehlende Wissen über alles, was der Sturm den anderen Einwohnern des Landes angetan hatte. Die meiste Zeit arbeiteten sie schweigsam, sahen gelegentlich auf und lächelten sich erleichtert an, wenn sie das Gesicht des anderen sahen, unverletzt und am Leben.

Sofia machte sich große Sorgen um den Zustand ihrer kleinen Unterkunft für Aussteiger, aber sie konnte nichts tun. Es war unmöglich, mit jemandem vor Ort Kontakt aufzunehmen. Auch ihre Angst um die Eltern und Freunde wuchs stündlich. Sie hatte das Gefühl, nach dem Jüngsten Gericht in einer geschützten Blase gefangen zu sein.

Die Akkus ihrer Handys waren schon lange leer. Den ersten Tag hatte Julia noch damit verbracht, mit ihrem Tablet herumzulaufen, auf der Suche nach einem Netz. Am Ende war auch dieser Akku leer. Sie warf das Tablet auf den Boden, stürmte auf die Toilette, knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab. Sofia hörte, dass sie weinte. Als sie wieder herauskam, waren ihre Augen rot und geschwollen. Sofia wollte sie in den Arm nehmen, sie trösten, aber Julia wollte offensichtlich nicht berührt werden.

Sofia ließ sie in Ruhe, denn sie wusste, dass Julia – wenn man sie allein ließ – sich meistens nach einer halben Stunde von allein wieder beruhigte.

In der ersten Nacht konnte Sofia nicht schlafen, sie lauschte, meinte in der Ferne ein Grollen zu hören und wartete voller Angst darauf, dass die Hölle erneut über ihr hereinbrach. Bei jedem noch so kleinen Poltern hatte sie das Gefühl, keine Luft zu bekommen. In der zweiten Nacht aber war sie so erschöpft, dass sie schon um acht Uhr einnickte und dann zwölf Stunden durchschlief. In den Tagen danach befiel sie immer wieder ein Schwindel, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben. Manchmal musste sie sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.

Schon am dritten Tag waren sie so genervt davon, trocknes Brot zu essen, dass sie anfingen, sich wegen Kleinigkeiten zu streiten. Da hatte Benjamin die Idee, seinen Laptop mit der Autobatterie aufzuladen, und bekam sogar Netz. Sie saßen dicht nebeneinander auf dem Sofa und lasen die Schreckensnachrichten.

Der Sturm Herkules hatte nahezu die gesamte Infrastruktur des Landes zerstört. Die Verluste waren enorm.

Über hundert Tote waren zu beklagen.

Tausende Häuser waren zerstört, der Wind hatte die Dächer und Wände fortgetragen. Jetzt standen nur noch die Keller da.

Schulen, Kindertagesstätten und kommunale Einrichtungen – zerstört und nicht einsatzfähig.

Der Flug-, Zug- und Fährverkehr war lahmgelegt, und niemand wusste, wie lange das noch dauerte.

Archäologische Fundstätten und jahrhundertealte Gebäude waren vernichtet worden.

Alles war im Chaos versunken.

Sie verschlangen alles, was sie finden konnten, waren entsetzt und bedrückt.

»Steht meine Schule noch?«, fragte Julia.

»Ich weiß es nicht, mein Herz«, sagte Benjamin. »Darüber finden wir nichts im Netz. Aber wahrscheinlich hat sie es geschafft. Die war ja nagelneu. Ich kann unsere Handys aufladen, dann können wir alle anrufen und fragen, wie es ihnen geht.«

»Und was, wenn einer von meinen Freunden tot ist?«

»Das glaube ich nicht. Sobald das Handy aufgeladen ist, kannst du sie anrufen und mit ihnen reden.«

Sofia schickte von Benjamins Laptop Mails an Anna und ihre Eltern. Mit brennenden Augen und einem Kloß im Hals machte sie sich auf das Schlimmste gefasst. Annas Antwort traf ein paar Stunden später ein.

Uns geht es gut, wir haben es alle geschafft. Aber das Haus ist dem Erdboden gleichgemacht. Wir konnten nichts retten.

Benjamin nahm sie in den Arm, während sie schluchzte. Das schöne Haus mit der Veranda. Die Gemeinschaft. Die Geborgenheit für jene, die kein Zuhause hatten. Das alles hatte der Wind zunichtegemacht.

»Das kriegen wir wieder hin«, beruhigte Benjamin sie. »Wir werden es neu aufbauen. Du solltest das Positive sehen. Alle leben.«

Das war so typisch für Benjamin.

Auch Sofias Elternhaus in Fjelie außerhalb von Lund hatte den Sturm bis auf ein paar gefällte Kirschbäume, die aufs Dach gestürzt waren, unbeschadet überstanden.

An diesem Tag kam der Strom zurück. Der Fernseher schaltete sich von allein an und zeigte eine Flut von Bildern der Zerstörung. Benjamin saß gebannt vor dem Bildschirm. Auch von ihrer Gegend wurden Filmaufnahmen gezeigt. Die Pension an der Schleuse war überschwemmt, die Veranda und das Restaurant waren zerstört worden. Die Uddevallabrücke war gesperrt, Teile der Fahrbahn waren beschädigt. Es würde lange dauern, bis sie wieder passierbar wäre. Auch die Brücke nach Stenungsund war gesperrt, aber dort waren die Schäden geringer.

Sofia und Julia hielten das nicht so lange aus wie Benjamin, vor allem wiederholten sich die Nachrichten in Dauerschleife. Kaum waren die Handys geladen, konnten sie endlich die Familie und Freunde anrufen.

Alle hatten den Sturm überlebt. Benjamins Schwester war wegen Schnittwunden, die von einer zersplitterten Fensterscheibe herrührten, im Krankenhaus gewesen, konnte es aber am gleichen Tag wieder verlassen.

Julias Schule in Henån war tatsächlich mit geringen Schäden davongekommen und würde schon in wenigen Tagen wieder benutzbar sein. Julia wurde unruhig, nachdem sie mit ihren Freunden telefoniert hatte. Wenn sie nicht mit der Nase auf dem Display hing, lief sie wie ein Tier im Käfig durchs Haus und biss Nägel.

Am siebten Tag sah sie irgendeine Sendung über Prominews im Fernsehen.

Das war nur Klatsch und Tratsch, fand Sofia, aber Julia mochte es.

»Komm, Mama! Schnell! Beeil dich!«, rief Julia plötzlich und so laut, dass Sofia sofort aus der Küche gestürmt kam.

Auf dem Bildschirm war ein schwarz gekleideter Mann auf einer Böschung zu sehen, im Hintergrund Klippen und das Meer. Langsam zoomte die Kamera näher an den Sprecher heran.

Sofia wusste sofort, wer es war. Sie hätten ihn auf zehn Kilometer Entfernung erkannt.

Für eine gefühlte Ewigkeit lang hörte ihr Herz auf zu schlagen.

Franz Oswald.

Ihr erster Gedanke war, dass es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit war, dass er noch immer so gut aussah.

Ihr zweiter Gedanke war, dass die eigentliche Hölle noch auf sie wartete.

4

Mein bisheriges, noch recht kurzes Leben lässt sich in zwei voneinander getrennte Phasen einteilen: die Zeit vor und nach Kinder der Erde. Und es ist keine Übertreibung, wenn ich die Zeit davor als paradiesisch bezeichne im Vergleich zu dem, was danach kam.

Vic und ich waren sechs Jahre alt, als sich alles veränderte. Die Tage bis dahin waren von den Depressionen unserer Mutter und der Launenhaftigkeit unseres Vaters geprägt. Aber trotzdem gab es Zeiten, in denen wir ihre kräftezehrenden Beziehungsprobleme nicht erlebt haben und glücklich waren, wie nur Kinder das sein können.

Außerdem hatten wir viele Freiheiten.

Hin Håle

Es ist früh am Abend, es ist Frühling. Fanny ist nach Hause gegangen. Mutter sitzt zusammengekauert auf dem Sofa, die Arme um die Beine geschlungen. Sie trägt noch ihr Nachthemd, das sie den ganzen Tag nicht ausgezogen hat. Vic und ich sind in diesem Zustand für sie unsichtbar. Sie befindet sich in einer anderen Welt, die wir ohnehin nicht verstehen.

Wir sind drei, fast vier Jahre alt. Fanny ist weg, wir können machen, was wir wollen und nutzen diese Gelegenheit. Ich nehme Bücher aus den Regalen, blättere sie durch, versuche vergeblich, die Buchstaben zu entziffern, und reiße die Seiten aus, die ich besonders spannend finde. Vic ist in der Küche. Ich höre das laute Scheppern, als er mit der Kelle auf Töpfe schlägt. Kurz darauf folgt das Geräusch von zersplitterndem Glas und dann ein wütender Schrei.

Mutter reagiert nicht. Sie starrt aus dem Fenster. Unerreichbar. Sie zittert, obwohl es im Wohnzimmer überhaupt nicht kalt ist.

»Mama! Der dumme Krug ist auf den Boden gefallen«, ruft Vic.

Aber sie hört ihn nicht.

Als ich die Haustür ins Schloss fallen höre, zucke ich instinktiv zusammen. Ich drehe mich um und erkenne Vaters Schuhe sofort. Ich kenne sie so gut, ich würde sie überall wiedererkennen. Auch seinen Geruch. Manchmal wache ich nachts auf und kann ihn riechen. Ich weiß, dass ich mir das einbilde, aber schon der Gedanke daran lässt mein Herz rasen.

Schweigend steht er in der Tür und betrachtet das Chaos. Dann entdeckt er mich und die herausgerissenen Buchseiten. Seine Kiefer arbeiten, der Blick ist unerbittlich. Ich versuche, ihn mit einem unschuldigen Lächeln milde zu stimmen. Erfolglos.

Vic hat ihn auch kommen hören und steht mit dem kaputten Krug in der Hand in der Tür. Er ist direkt unter dem Henkel zerbrochen. Die Bruchstellen sehen wie Haizähne aus.

Vater reißt ihm den Krug aus der Hand, legt ihn auf den Couchtisch, hebt Vic hoch und setzt ihn aufs Sofa. Mit etwas zu viel Nachdruck allerdings, denn Vic hüpft ein paarmal auf und ab und sieht ihn aus erschreckten, aufgerissenen Augen an.

Mutter taucht langsam aus ihrem Dämmerzustand auf. Sie sieht noch ängstlicher aus als Vic.

Vater zerrt sie vom Sofa hoch und schüttelt sie. Er schreit sie an, brüllt böse Dinge. »Nutzloser Psycho!« und »Du bist zu nichts zu gebrauchen!« Ich befürchte, dass er sie schlägt, aber das tut er nicht. Er will ihr nur Angst einjagen.

»Du kannst die Kinder behalten, aber bitte lass mich gehen«, sagt sie mit piepsiger Stimme.

Früher sind wir öfter mit meiner Mutter aufs Festland gefahren. Davon habe ich nur noch wenige, verschwommene Erinnerungen. Aber Fanny hat uns erzählt, dass Mutter die Insel verlassen wollte, was Vater sehr wütend gemacht hat. Und jetzt darf sie das Anwesen überhaupt nicht mehr verlassen, was Mutter sehr traurig macht. Aber mehr weiß ich nicht.

Er stößt sie aufs Sofa zurück, zischt etwas davon, dass sie sich zusammenreißen soll, sonst …

Die letzten Worte verstehe ich nicht.

Du kannst die Kinder behalten.Die Worte hallen mir noch jetzt im Kopf.

Dann wendet er sich an uns. Und lächelt. Und wenn er lächelt, fühlt sich das an, als hätte man den Hauptgewinn gezogen. Er sieht so vollkommen freundlich aus, als würde das Chaos im Wohnzimmer gar nicht existieren.

»Kommt, Jungs! Ich möchte euch etwas zeigen. Zieht euch an, wir gehen raus.«

Uns allein anziehen, das können wir schon. Außerdem geht es noch schneller, wenn Vater uns dazu auffordert.

Er nimmt uns an die Hand. Mir wird ganz warm im Inneren von seiner Berührung. Ein bisschen von seiner Energie fließt in meinen Körper. Ich halte seine große, trockene Hand so fest ich kann.

Wir gehen über die Heide zum Meer. Er läuft schnell, ich stolpere immer wieder, aber das macht ihn nicht wütend. Im Gegenteil, er hebt mich hoch, ich schwebe für einen Moment in der Luft, dann setzt er mich wieder ab. Es kribbelt so toll im Bauch.

Hier draußen ist es schön. Es ist Tag und Nacht gleichzeitig. Auf der einen Seite versinkt die Sonne wie flüssige Bronze im Meer, auf der anderen Seite kann man den Mond erahnen, der gerade erst aufgewacht ist. Der Wind ist nicht stark, aber er genügt, um kleine, sich kräuselnde Wellen zu erzeugen.

Beim Teufelsfelsen bleibt Vater stehen und zeigt auf den Felsen.

»Wisst ihr, wie man diesen Felsen nennt?«, fragt er uns.

»Klar«, antwortet Vic frech. »Teufelsfelsen.«

»Das ist richtig. Aber wenn das der Teufelsfelsen ist, wo ist dann der Teufel?«

Vic und ich sehen uns ratlos an. Vater lacht laut auf. Er zeigt auf den Felsen neben der Böschung, wo die spitzen Konturen in den Himmel ragen.

»Erkennt ihr die Klippe dort? Das sieht doch aus wie ein Gesicht mit einem hervorstehenden Zahn?«

Jetzt sehe ich ihn. Der große Felsen sieht tatsächlich wie das Profil eines Mannes aus, aus dessen Mund etwas herausragt. Als wäre dieses Bild bis zu diesem Augenblick unsichtbar gewesen. Aber jetzt sehe ich ihn das erste Mal so deutlich, und es macht mir Angst.

»Die alten Bewohner dieser Insel haben diesen Felsen Hin Håle genannt. Das Böse«, erklärt uns Vater. »Für sie wachte der Teufel dort oben persönlich über die Insel. Und der Teufelsfelsen war eine Falle, mit der er die Menschen anlockte, damit sie von dort ins Meer und damit in den sicheren Tod stürzten.«

Vic und ich sind sprachlos. Das ist alles so spannend, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Es ist plötzlich ein Gefühl von Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit zwischen uns dreien entstanden. Ein fast intimes Gefühl, das ich so nicht kenne.

»Wollt ihr mit mir zusammen dort hochlaufen?«, fragt er.

»Ja, ja!«, ruft Vic begeistert, ich aber habe Angst davor.

Wir setzen uns alle drei in Bewegung. Vater merkt schnell, dass ich zurückfalle. Er hebt mich hoch, ich darf auf seinem Rücken reiten. Ich schlinge meine Arme um seine breiten Schultern, spüre die Wärme seines Rückens, bin ihm so nah, dass es mir fast den Atem nimmt. Vic muss nicht getragen werden. Er springt und hüpft den ganzen Weg bis hoch zur Felsenkuppe.

Das Heidekraut badet im Mondlicht, der Ort ist wie auf einer Bühne ausgeleuchtet. Das Wasser tief unter uns plätschert träge gegen das steinige Ufer.

Vater setzt mich ab.

»Na los! Geht bis vorn an die Spitze. Ich will mal sehen, was ihr euch traut!«

Vic rennt los, fast zu schnell, denn er muss sich abbremsen. Ich schleppe mich nach vorne, will Vater so gern beweisen, dass ich auch so mutig bin. Als ich die Spitze fast erreicht habe, packt mich Vater von hinten und hebt mich hoch. Ich habe einen freien Blick aufs Meer. Es erstreckt sich in seiner ganzen Schwärze bis an den Horizont. Das Licht des Festlandes glimmt auf der anderen Seite des Sundes. Ich schwebe in der Luft. Kleine Wassertropfen landen auf meinem Gesicht. Auch Vater schwebt. Mir wird schwindlig. Mein Magen dreht sich um. Da lässt er mich wieder runter und drückt mich fest an sich.

»Früher hat man auch ungehorsame Kinder von diesem Felsen gestoßen«, sagt er. »Vergesst das nicht, wenn ihr das nächste Mal so eine Unordnung macht.«

Die Wellen haben zugenommen, donnernd brechen sie unter uns und übertönen Vaters Stimme. Aber wir haben ihn verstanden.

Vic hat Panik in den Augen und rennt los, stürmt die Böschung hinunter und bleibt dort stehen. Vater trägt mich zurück, setzt mich neben Vic ab. Er mustert uns eingehend. Die Wärme in seinem Blick ist erloschen.

Aber dann fängt er plötzlich an zu lachen und geht neben uns in die Hocke.

»Seht doch nicht so ängstlich aus. Diese Lektion habt ihr jetzt gelernt. Kommt, lasst euch mal drücken!«

Aber eine richtige Umarmung wird es nicht, nur eine kurze Berührung, dann wird es Zeit, wieder nach Hause zu gehen.

Das Atmen fällt mir schwer, ein großer Druck liegt auf meiner Brust.

Das schöne Gefühl, das ich vorher hatte, ist verschwunden.

5

Sofia griff nach Benjamins Hand. Die Kamera hatte nah an Franz Oswalds Gesicht herangezoomt. Er sah noch genauso aus wie früher: sonnengebräunt, durchdringender Blick, kein Schatten von auch nur einem grauen Haar in seiner schwarzen Haarpracht. Die einzigen sichtbaren Spuren der vergangenen fünfzehn Jahre waren die schmalen Falten an den Mundwinkeln. Oder sind das Lachgrübchen gewesen? Unmöglich.

Aber an seiner Stimme und Tonlage hatte sich etwas verändert. Hier sprach ein ruhiger, beherrschter Franz. Er hatte seine Rolle als versessener Erlöser abgelegt und sich eine reifere Persona gewählt. Eine seriöse, Geborgenheit ausstrahlende Vaterfigur.

»Es ist für uns Schweden eine Zeit großer Trauer und auch eine Zeit zum Nachdenken«, sagte er mit ernster Miene. »Was will ich mit meinem Leben anfangen? Was tun wir unserem Lebensraum, unserer Erde an? Diese Fragen sollten wir uns in der gegenwärtigen Situation alle stellen. Die Klimaveränderungen sind die größte Bedrohung der menschlichen Existenz. Wir haben keine Zeit, noch länger abzuwarten. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Gier. Das Schicksal der Menschheit, die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder steht auf dem Spiel.«

Er lächelte fast wehmütig in die Kamera.

»Allen, die einen geliebten Menschen oder ihr Zuhause verloren haben. Deren Existenz vor den eigenen Augen vernichtet wurde. Die ein traumatisches Erlebnis verarbeiten müssen. Euch allen möchte ich sagen: Ich fühle mit euch. Und euretwegen bin ich zurückgekommen.«

Eine Windböe ergriff eine seiner Haarsträhnen, aber er verzog keine Miene. Er sah feierlich und ernst aus, beschwert von dieser neuen Last, die er sich auf seine Schultern laden wollte. Um dem schwedischen Volk aus seiner Krise zu helfen. Er erinnerte die Zuschauer daran, dass er bereits vor zwanzig Jahren Naturkatastrophen dieses Ausmaßes vorhergesagt hätte. Wenn mehr Menschen den Reinheitslehren von ViaTerra gefolgt wären, hätte das vielleicht verhindert werden können. Er wiederholte mehrmals die Phrase: »Lauscht der Mutter Erde.« Und machte auch vor poetischen Elementen keinen Halt: »Ihren Hunger, ihren Durst, ihren Atem.« Merkwürdigerweise klang es schön, wenn er das sagte.

Benjamin drückte Sofias Hand und flüsterte: »Was für ein Heuchler!«

»Ja, oder?« Sie wusste aus ihrer Zeit bei ViaTerra, dass sich Franz Oswald kein bisschen für die Umwelt interessierte. Er hatte ihr einmal gesagt, dass die Reinheitslehre lediglich eine Methode war, um Mitglieder zu werben. Die Leute würden so etwas mögen. In Wirklichkeit ging es ihm immer nur um seine Thesen, die eigentlich nichts anderes waren als gängige Übungen, um Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Aber er behauptete, sie alle selbst erfunden zu haben. Ziel war es dabei, die Erinnerung an Vergangenes zu wecken und daraus Kraft und Energie zu schöpfen. Ein Teil der Thesen waren für sie unverständlich geblieben, sogar als enge Mitarbeiterin und Vertraute.

Julia war vom Sofa aufgesprungen und stand mit den Ellenbogen auf die Rückenlehne gestützt. Allem Anschein nach war sie schwer begeistert von Franz Oswald.

Der machte gerade eine Pause.

»Ich weiß. Das Leben fühlt sich manchmal hoffnungslos und ungerecht an. Es ist schwer, nach einer solchen Katastrophe weiterzumachen. Aber es gibt einen Weg – ViaTerra, der Weg der Erde. Ihr dürft diesen Weg gerne mit mir gemeinsam gehen. Vielen Dank, dass ihr mir zugehört habt!«

Sofia spürte den warmen Atem ihrer Tochter an der Wange.

»Verdammt, Mama! Der ist ja noch immer heiß!«

Sofia blieb reglos sitzen und starrte auf den Fernseher. Wenn du wüsstest.

Die Kamera zoomte weg von den Klippen auf Dimö, und der Zuschauer befand sich auf einmal in einem Fernsehstudio, in dem ein paar Menschen auf dem Sofa saßen und sich unterhielten. Der Sender nannte das den Krisenraum. Einige Promis, ein Psychologe und ein Architekt diskutierten über die verschiedenen Aspekte des verheerenden Sturms Herkules.

Allerdings gab es jetzt nur ein Thema – Franz Oswalds Comeback.

»Dieses Video wurde uns heute zugesandt«, erklärte der Moderator. »Wir hier bei Extra sind die Ersten mit diesen Breaking News über sein Comeback. Was sagen meine Experten dazu?«

Der Psychologe war besonders skeptisch. Er betonte, dass Franz Oswald nicht der Einzige sei, der vor den Konsequenzen des Treibhauseffektes gewarnt habe. Außerdem habe er eine mehr als zweifelhafte Vergangenheit. Eine der Promis, eine platinblonde Schauspielerin, unterbrach ihn vehement.

»Come on! Man sollte ihm doch wenigstens eine Chance geben. Diese angebliche Vergewaltigung ist über fünfzehn Jahre her. Damals hat das Wort der Frau gegen seins gestanden. Er wurde wegen Nötigung verurteilt und hat seine Strafe abgesessen. Ich habe gehört, dass er das Sorgerecht für die Kinder hat, die er mit dieser Frau bekommen hat und sich sehr gut um sie kümmert.«

Eine ältere Dame, eine Autorin, nickte zustimmend. »In seiner Rede wurde wunderbar deutlich, wie sehr ihn das alles bewegt. Das konnte man auch gut in seinen Augen sehen, das war unverkennbar.«

»Es ist doch bewundernswert, dass wenigstens einer versucht, die Menschen aus dieser Krise zu führen«, fügte die Platinblonde hinzu. »Die Politiker reden immer nur dummes Zeug.«

Dann unterhielten sie sich über die Gerüchte, die über Franz Oswalds Verschwinden aus der Öffentlichkeit kursierten. Erst danach kehrten sie zum eigentlichen Thema, dem Sturm und seinen Folgen, zurück. Fürchterliche Aufnahmen der Zerstörungen wurden gezeigt. Diese Bilder hatte Sofia schon an die hundert Mal gesehen. Unter den Aufnahmen standen in der Laufschrift Aussagen von Prominenten: Mein Herz blutet. Kräftige Küsse an alle, denen Herkules Schlimmes angetan hat.

Sofia seufzte und schaltete den Fernseher aus. Sie löste ihre Hand aus Benjamins, weil sie schweißnass war.

»Es ist einfach unfassbar! Die Leute hören dem tatsächlich zu! Die glauben ihm.«

»Verdammt!«, sagte Benjamin. »Die Leute haben einfach keine Ahnung, was er uns angetan hat. Sie wissen nicht, wie er seine Angestellten auf ViaTerra behandelt hat. Das Letzte, was sie von ihm mitbekommen haben, waren seine Abschlussworte bei der Gerichtsverhandlung. Als er behauptet hat, dass Elvira mit allem einverstanden gewesen war. Und wenn sie älter als vierzehn gewesen wäre, hätte er den Gerichtssaal hundertprozentig als freier Mann verlassen. Es gibt Politiker und andere Anführer, die bei wesentlich größeren Vergehen straffrei ausgegangen sind. Außerdem, was kann er schon ausrichten? Eine kleine Rede auf seiner Insel halten? Seine Methoden sind völlig altbacken und unmodern.«

Julia saß rittlings auf der Armlehne des Sofas, versunken im Display ihres Handys.

»Das Netz ist voll mit dem!«, rief sie. »In allen sozialen Medien ist der unterwegs. Twitter, Facebook, Newsflashs, Online-Sendungen, überall. Hunderte von Tweets allein in den letzten Minuten. Doch nicht so unmodern, was? Und seht mal! Es gibt auch eine neue Homepage.«

»Julia!«, ermahnte sie Benjamin. »Dein Enthusiasmus ist ziemlich unpassend, wenn man bedenkt, was dieser Typ deiner Mutter und mir und vielen anderen angetan hat.«

»Schon bei dem Gedanken daran, dass er wieder aktiv ist, muss ich kotzen«, sagte Sofia.

»Liebling, das hat alles nichts mit uns zu tun«, sagte Benjamin beschwichtigend und nahm sie in den Arm.

»Die Medien werden einen ökologischen Nationalhelden aus ihm machen.«

»Wohl kaum. Schließlich ist er nicht der Einzige, der über die Umweltzerstörung spricht. Außerdem hat er in den letzten zehn Jahren nichts von Bedeutung von sich gegeben.«

Julia schien von ihren Worten vollkommen unbeeindruckt zu bleiben. Sie klickte eine Seite an und betrachtete ein Foto von Oswald. Ihr fasziniertes Lächeln gefiel Sofia überhaupt nicht. Auf einmal bekam sie keine Luft mehr, sprang auf und rannte in den Garten.

Es war Oktober. Der Sturm hatte den Bäumen viel zu früh ihr Laub genommen, es machte den Eindruck, als wären die brennenden Farben des Herbstes ein Feuer gewesen, das er mit einem einzigen Atemzug ausgepustet hatte. Die Bäume, die den Sturm überlebt hatten, streckten ihre nackten Zweige in den Himmel. Es mochte karg und kahl sein, war aber trotzdem schön. Der Tau hatte sich schon wie eine silberne Decke auf den Rasen gelegt. In den Herbstduft hatte sich der Geruch von Seewasser gemischt, es roch süßer und stechender.

Sie musste an ihre kleine Unterkunft für Aussteiger und das Telefonat mit Anna denken. Das Haus war in der stürmischen Nacht dem Erdboden gleichgemacht worden. Wenn sie nicht schnell eine große Summe zusammenbekämen, würden sie nicht weitermachen können. Sieben Aussteiger hatten sie zurzeit aufgenommen. Die waren mit Anna ins Landesinnere geflohen und für ein paar Tage bei einer freundlichen Familie im Keller untergekommen. Mittlerweile hatte Anna einen alten VW-Bus organisieren können und war mit den Aussteigern auf dem Weg in das Sommerhaus ihrer Eltern, das in den Stockholmer Schären stand. Von dort aus würde es ihr hoffentlich gelingen, sie so schonend wie möglich ins richtige Leben zu entlassen. Sofia wollte sie zuerst begleiten, aber Anna fand es besser, dass sie vor Ort blieb und sich nach den Möglichkeiten erkundigte, das Haus wiederherzustellen. Mithilfe von Spenden vielleicht. Auf erneute staatliche Subventionen konnten sie nicht hoffen, der Sturm hatte Schäden in einem solchen Ausmaß verursacht, dass erst andere gesellschaftlich relevante Bereiche bevorzugt werden würden.

Nach dem Telefonat fühlte sich Sofia, als läge ihr ein Stein im Magen. Die Bilder von dem schönen Haus tauchten auf, die schönen Sommerabende auf der Veranda, die Gesichter derer, denen sie hatten helfen können. Obwohl die Herberge nur ein paar Kilometer entfernt war, wollte sie lieber nicht dort hinfahren und sich das Elend ansehen. Noch nicht. Das Haus war zwar versichert, aber nicht gegen Naturkatastrophen. Nicht gegen Herkules.

Damit war alles, wofür sie in den letzten Jahren gekämpft und gearbeitet hatte, zerstört worden. Und gleichzeitig feierte Franz sein Comeback und bereicherte sich an der Katastrophe. Da meldete sich ihr glühender Hass wieder zu Wort. Obwohl sie gedacht hatte, dass sie ihn endlich hinter sich gelassen hatte. Ihr Verlangen nach Gerechtigkeit – Wiedergutmachung – war so stark, dass ihr ganz schwindelig wurde. Sie wollte ihn in die Zange nehmen. Am liebsten wollte sie alles zerstören, was ihm etwas bedeutete.

Sie legte sich auf den Rasen und wurde sofort von der Dunkelheit, den Millionen von Sternen und der vollkommenen Stille umschlungen. Ihr Atem erzeugte kleine Wolken, sie stiegen auf und lösten sich auf. Der kalte Tau drang durch ihre Kleidung, als würde sie auf einer Eisscholle liegen.

Mein Leben ist nur ein kurzer Atemhauch in der Unendlichkeit des Universums, dachte sie voller Ehrfurcht bei dem Anblick der Sterne am Himmel. Sie schloss die Augen, und plötzlich war sie wieder einundzwanzig, genauso trotzig wie Julia und auf dem Weg nach Dimö – zu dem größten Abenteuer ihres Lebens. Sie erinnerte sich an die Insel. An die Sonnenuntergänge, die Stürme, die Kälte in den Winternächten und die ständig wiederkehrenden Nebel. Sie erinnerte sich an das Glücksgefühl am Anfang, als sie sich in Benjamin verliebt hatte. Aber auch an die Gefangenschaft und ihre Verzweiflung, bis sie endlich befreit wurde. Sie ließ alle Erinnerungen Revue passieren. Wie schnell einem das Leben zwischen den Fingern hindurchrinnen konnte, ohne dass man den geringsten Abdruck auf der Erde hinterlassen hatte. Ich muss die Herberge retten, beschloss sie, sie wiederaufbauen. Das werde ich auf jeden Fall tun, koste es, was es wolle.

Eine kleine Windböe trug Julias Lachen aus dem Haus zu ihr. Die Feuchtigkeit war durch ihre Hosenbeine gedrungen, sie stand auf und ging zurück. Franz Oswalds Erfolg sollte ein schnelles Ende haben. Die Medien würden ihm ein paar Glanztage bescheren, aber ViaTerra würde in der erschütterten Gesellschaft nie wieder Fuß fassen können. Die Leute würden sich um ihre Sachen kümmern. Es gab keine Zeit mehr für mystische Zusammenkünfte und Götzenverehrung.

Außerdem interessiert mich das alles nicht mehr, sagte sie sich.

Aber das tat es doch.

6

Es hieß, Vater sei abgetaucht. Es klang fast so, als wünschten sich die Medien das für ihre Schlagzeilen. Das ließ ihn nur noch mystischer erscheinen. Doch zugleich war er die ganze Zeit da und in unserem Leben mehr als präsent.

Kurz bevor er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, war das Herrenhaus in Flammen aufgegangen. Die Polizei war zuerst von Versicherungsbetrug ausgegangen und hatte Vater verdächtigt, aber sie fanden keine Beweise. Bis heute ist es ein Rätsel, wie es dazu kommen konnte. Aber er hatte das Haus sofort wiederaufbauen lassen, jetzt sieht es noch prachtvoller und stattlicher aus als vorher. Ich war damals – als es geschah – natürlich noch viel zu klein, aber ich habe gehört, dass es nicht lange gedauert hat. Und danach war alles genauso wie zuvor.

Die Frage bleibt: Warum hat sich Vater danach aus der Öffentlichkeit zurückgezogen?

Ich habe keine endgültige Antwort, aber eine Sache ist gewiss: Er tauchte ab und in eine ganze Reihe von neuen Projekten ein. Zukunftsvisionen, die er verwirklichen wollte.

Eines dieser Projekte war Kinder der Erde.

Aber bevor das ins Leben gerufen wurde, kam Großmutter. Wäre sie nicht gewesen, würde ich heute nicht hiersitzen und dir diese Geschichte aufschreiben.

Großmutter

Mutter hat einen ihrer besseren Tage. Sie ist mit uns draußen auf dem Spielplatz und auf einem kleinen Waldspaziergang gewesen. Jetzt sitzen wir drei auf dem Sofa, und sie liest uns etwas vor. Sie kann nicht so gut lesen, nur ganz langsam und ein bisschen abgehackt, aber das macht nichts.

Wir sind so von der Geschichte gepackt, dass wir Vater erst bemerken, als sein Schatten auf uns fällt.

»Liest du denen immer noch vor? Wann sollen die denn bitte selber lesen lernen?«, fragt er.

Mutter windet sich. Ihre Fröhlichkeit ist wie weggeblasen.

Ihre Stimme klingt kindlich und flehend.

»Sie sind doch erst vier. Außerdem kann Thor schon ein bisschen lesen.«

Er reißt ihr das Buch aus den Händen und legt es in meinen Schoß. Ich sehe Mutter unsicher an, hoffe inständig, dass sie mich aus dieser unangenehmen Situation befreit, aber sie sagt kein Wort.

»Also, Thor. Dann lies mir mal was vor! Da bin ich ja gespannt.«

Ich starre auf die aufgeschlagene Seite. Sie ist voller unbegreiflicher Zeichen in langen schwarzen Reihen, die alle ineinanderfließen. Mir steigen die Tränen in die Augen, und alles verschwimmt.

»Die Sterne leuchten an dem großen, dummen Himmel«, stammele ich, weil ich mich an Mutters Worte erinnere. Aber Vater schüttelt verärgert den Kopf.

»Da steht dunklen, Thor, nicht dummen«, korrigiert er mich. »Ich sehe, so gut kann er also lesen. Analphabetin.«

Ich weiß, dass er Mutter die Schuld dafür gibt. Sie ist kreidebleich und kaut nervös auf ihrer Unterlippe.

Vater reißt mir das Buch aus den Händen und schleudert es quer durch den Raum. Es fliegt gegen die Wand und fällt mit einem lauten Poltern zu Boden. Seine Augen glühen vor Zorn, er brüllt Mutter an, wie nichtsnutzig und faul sie sei. Wie außer sich wirft er Sachen durch die Gegend, Bücher, Kaffeebecher und Mutters Nagellack, der an der Wand zerschellt und sie mit roten Flecken übersät. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen. Er starrt mich an, und ich bekomme furchtbare Angst. Ich habe keine Angst, geschlagen zu werden, sondern dass ich seine Liebe verliere.

Fanny kommt aus der Küche gestürmt, auch sie wird angeschrien. Sie solle sofort ins Büßerprogramm verschwinden. Das Wort kenne und verstehe ich nicht, aber Fanny ist zu Tode erschrocken, sammelt ihre Sachen zusammen und geht. Mutter hat sich aufgerappelt und steht wie ein Soldat vor Vater stramm. Er packt ihre schönen, langen Haare und zieht sie zu sich heran.

»Wenn du versuchst, mir dumm zu kommen, wirst du sehen, was du davon hast«, zischt er.

Dann lässt er ihre Haare los und reißt mit einem Griff ihre Bluse auf, die Knöpfe fliegen zu Boden, der Stoff gibt nach und entblößt ihre Brüste. Er packt sie und drückt so fest zu, dass sie laut aufschreit.

»Wenn du nicht so fett geworden wärst, würde ich dir jetzt eine Lektion erteilen. Du bist noch nicht mal zum Ficken geeignet.«

Angewidert stößt er sie von sich und stampft davon.