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Pauline kommt an einem langweiligen Sonntag in ihre Heimatstadt Riedenburg, um mit dem Schiff nach Weltenburg zu fahren. Riedenburg liegt wie ausgestorben da und als sie die Stadt verlassen will, springt das Auto nicht mehr an. Verzweifelt sucht sie nach einer Erklärung und trifft auf Albert. Ein aufreibendes Abenteuer beginnt. — Wochenlanger Schneefall hat das Dorf verschüttet. Eine alte Frau überlebte und kämpft nun allein gegen Schnee und Kälte, bis ihr die Lebensmittel ausgehen. Ein mitreißender Überlebenskampf. — Gusti bewohnt eine große Villa. Sie führt ein ruhiges und zurückgezogenes Leben, bis ein Ehepaar in ihre Nachbarschaft zieht, die Gusti mit vermeintlich harmlosen Bitten zur Weißglut treiben. Sie bittet ihre Schwestern um Hilfe, die Gustis Befürchtungen zuerst als harmlos abtun.
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Seitenzahl: 148
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Spannung pur von der ersten Seite an.
Drei außergewöhnliche Geschichten mit überraschendem Ausgang.
Neu überarbeitete Ausgabe
Die Autorin
Burgitta Egg ist ein Pseudonym. Die Autorin lebt und grübelt im pittoresken Eichstätt. Sie schreibt neben Kurzthrillern auch Krimis und Kinderbücher.
Alle Bücher und eBooks sind über Online-Shops und im Buchhandel bestellbar.
Für meine Geschwister
Burgitta Egg
Die seltsame Stadt
und
andere merkwürdige Geschichten
Die seltsame Stadt
Kapitel 1
A
ls ich am Morgen losfahre, ist alles wie immer. Auf der Landstraße genieße ich die freie Fahrt mit flotter Musik und treffe heiter die falschen Töne.
Im Schambacher Weg stelle ich meinen Wagen ab und werfe mir den Rucksack über. Ich gehe über die kleine Brücke und schlendere voller Vorfreude Richtung Stadtmitte. Mein Schiff wird erst in einer guten halben Stunde ablegen, der Spaziergang wird mir guttun, denke ich.
Komisch, kein Mensch ist auf der Straße. Ich mache mir aber keine großen Gedanken und vergleiche meine Erinnerungen mit dem, was ich sehe. Die Metzgerei, an der ich vorbeischlendere, hat sich äußerlich nicht verändert. Auch die Häuser auf der linken Seite nicht.
Jetzt wundere ich mich doch und die gute Laune vergeht mir. Aber was noch schlimmer ist, es ist totenstill. Nur meine Sandalen klappern.
Eigentlich möchte ich mit dem Schiff zum Donaudurchbruch und im Kloster Weltenburg einkehren. Nach der Brotzeit könnte ich mich an den Kiesstrand setzen, den schönen sonnigen Tag genießen und mit dem letzten Schiff zurückfahren. Ich habe vor, einen ruhigen, erholsamen Sonntag zu verbringen. Doch ich ahne, dass daraus nichts werden wird. Ich bekomme Angst, tue es aber damit ab, dass meine Nerven verrücktspielen, dass ich wieder einmal völlig übertrieben reagiere.
Ich überwinde mich, lege mir einen Satz zurecht und läute an einer Haustür. Niemand macht auf. An der nächsten Tür dasselbe. Ich gehe schneller.
Ich komme in den Geschäftsbereich der Mühlstraße. Manche Läden haben überlebt, andere wurden ersetzt und wieder andere sind spurlos verschwunden.
Den Bäcker zum Beispiel, der leckere weiße Brezen verkaufte, gibt es nicht mehr. Die Brezen waren ohne Lauge und mit feinem Salz bestreut. Sogar als Kind kam mir der Laden winzig klein vor. Ich hätte ihn gerne noch einmal betreten, nur um zu sehen, wie viele Menschen tatsächlich hineinpassen würden.
Und das Handarbeitsgeschäft, auch weg. Ein mikroskopisch kleiner Eckladen von oben bis unten vollgestopft mit Wollknäueln und Zubehör. Dort habe ich meine erste Wolle gekauft und eine Jacke gehäkelt, die ich Jahre später, ich muss verrückt gewesen sein, wieder auftrennte. Der Jacke trauere ich heute noch nach.
Auch die Eisdiele und zwei Lebensmittelgeschäfte sind verschwunden.
Gleich bin ich am Marktplatz. Ich sehe schon das alte Rathaus. Das flache Zeltdach erinnert an eine viereckige Baskenmütze. In das Dachtürmchen, auf dem ein kleines Zwiebelchen sitzt, ist eine Uhr eingelassen. Seit den Achtzigern dient das Rathaus als Fremdenverkehrsamt.
Die Tür ist offen, ich trete ein. Ich muss mal. Auf dem Klo riecht’s nach Flieder. Der Duft erinnert mich an Fronleichnam. Als Kind war die Prozession für mich langweilig, aber an den einzelnen Stationen lagen, wie von Zauberhand ausgebreitet, prächtige Blumenteppiche, die, das hätte ich schwören können, am Vortag noch nicht dagelegen hatten. Darüber wunderte ich mich jedes Jahr, und auch darüber, dass der Wind die Blüten nicht weggeweht hatte.
Ich wasche mir die Hände und trockne sie an einem Handtrockner ab. Wasser, Strom, alles funktioniert, nur Menschen sind nirgends zu sehen.
Ich gehe aus dem Fremdenverkehrsamt und schaue über den Marktplatz. Links steht das große Hotel und daneben, unterbrochen von einem kleinen Durchschlupf, sind die Häuser in einer Front aufgereiht bis hinunter zur Altmühl.
Drehe ich mich rechts herum, sehe ich in die Schaufenster des Uhrmachers. Auf dieser Seite stehen die Häuser genauso eng beieinander wie gegenüber. Mit ihren schönen Treppengiebeln prägen sie das altertümliche Stadtbild.
Jenseits vom Fremdenverkehrsamt stand einmal das historisch wertvolle Amtsgericht, das – wir lernen! – vor über zweihundert Jahren auf Eichenpfählen erbaut wurde. Im Rahmen der Verwaltungsreform wurde es überflüssig und zuallerletzt an eine Bank verkauft, die es durch einen grässlichen Bau ersetzte.
Um den Marktplatz gruppieren sich hölzerne Sitzbänke, manche mit Lehne, manche ohne. Ich kann mir gut vorstellen, dass an einem Tag wie heute Leute Eis essen oder einfach den anderen beim Spazieren zuschauen, ratschen, dass Kinder herumbrüllen und Hunde schnüffeln, kurz, einen ganz normalen Sonntag verleben.
So still. Kein Vogel singt, keine plappernden Menschen, keine schreienden Kinder, die mir gestern noch auf die Nerven gingen. Jetzt würde ich mich über Kindergeschrei freuen.
Kein Laut. Nicht mal eine lästige Fliege. Nichts. Ich drehe mich um meine eigene Achse, schaue mich um und bekomme keine Luft mehr. Ich habe eine Panikattacke. Um den Anfall loszuwerden, renne ich die Bruckstraße hinunter. Sportlich war ich noch nie und ich muss nach Luft schnappen.
Ich laufe bis zum Café, bleibe stehen, pumpe Luft in meine Lungen. Dann steige ich die wenigen Stufen zur Terrasse hinauf. Hier sieht es wüst aus. Als ob ein Riese mit den Tischen und Stühlen gewürfelt hätte.
Ich kämpfe mich zum Terrassengeländer vor und schaue zur gegenüberliegenden Häuserreihe, die am Ufer der Altmühl steht.
Ein Fahrradparkplatz trennt die Häuserreihe in zwei Hälften. An diesem Parkplatz, direkt an der Treppe, die zur Schiffsanlegestelle führt, steht eine Bronzefigur, die zum Jachenhauser Berg schaut. Wahrscheinlich ein Heiliger, weil er einen langen Umhang trägt und die Arme wie zum Schutz ausgebreitet hat. In der rechten Hand hält er einen kurzen Stab oder ähnliches. Ich kann nicht erkennen, was es in Wirklichkeit ist. Ich folge seinem Blick und sehe auch zum Jacherer, wie der Berg von den Einheimischen liebevoll genannt wird.
Der Schwammerl, ein hölzerner überdimensionaler Fliegenpilz mit Sitzgelegenheit, leuchtet zu mir herunter. Ab den Dreißigerjahren entstanden am Berg Häuser, die großzügig verteilt dastehen. Die Altstadt mit ihren engen Gässchen und verwinkelten Straßen hat weniger Platz, dafür mehr Charme. Besonders die Uferpromenade hat durch den Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals an Attraktivität gewonnen.
Im Erdgeschoss der linken Häuserreihe befindet sich eine gläserne Eisdiele. Eine Attraktion, weil die Gäste, während sie ihr Eis genießen, den Schiffen beim An- und Ablegen zuschauen können. Auch hier liegen Tische und Stühle auf der Straße. Kaffeegeschirr liegt am Boden, zum Teil noch heil. Servietten flattern eingequetscht in ihren Haltern.
Die Straße runter stehen Autos kreuz und quer, manche mit offenen Türen.
Ich drehe mich um und schaue zur Burg hinauf, die frisch renoviert über dem Tal thront. Gleich unter der Burg sitzt auf einem Felsvorsprung die Ruine Rabenstein. Noch weiter unten, rechts, auf einer kleinen Anhöhe, erhebt sich die spätbarocke Kirche, die mit ihrem spitzigen Finger in den Himmel zeigt. Übrigens die schönste Kirche der Welt. Um die Kirche herum drängeln sich große und kleine Häuser in unterschiedlichen Formen und Farben. Hier posiert eine Stadt mit Augenmaß, die, verschachtelt und zusammengestöpselt, durch die Jahrhunderte so schön geworden ist.
Im Café ist niemand. Das Geschirr auf den Tischen ist benutzt und auf den Tellern vertrocknet der Kuchen. Zerbrochene Teller und Tassen liegen auf dem Boden und Kuchenreste kleben im Teppich. Als läge die Stadt im Dornröschenschlaf. Leider kommen in diesem Märchen keine Menschen vor.
Die Theke ist voll mit Torten und Kuchen. Die Kühlung läuft. Ich verlasse das Café, überquere die Straße und steige die Stufen zum Schifffahrtsbüro hinunter. Ein kurzer Blick genügt, um meine Befürchtung zu bestätigen.
Was ist hier los?
Wieder auf der Straße, steige ich in ein Auto, der Schlüssel steckt. Ich versuche zu starten. Nichts rührt sich. Ich versuche es bei anderen Autos in der Nähe, aber keines springt an.
Ich gebe auf, kehre wieder um und laufe auf die Stadtbrücke. Was ich von hier aus sehen kann, ist nichts Besonderes, abgesehen von einem Schuh, der am Flussufer vor sich hindümpelt. Ich kehre ins Café zurück, suche ein Telefon. Neben der Kasse steht eins, es ist tot. Im Hotel muss es jede Menge Telefone geben.
Ich laufe los, überquere die Bruckstraße, den Marktplatz, bin am Hotel, drücke die Tür auf, nehme die beiden Stufen auf einmal, stoße die Schwingtür auf und bin an der Rezeption. Ich schaue in die Gaststube, kein Mensch da. Ohne Skrupel greife ich zum Telefon und wähle 110. Niemand meldet sich. Ich will es mit einem anderen Telefon versuchen und gehe rechts um die Theke in die Küche und rutsche um ein Haar auf dem schmierigen Steinboden aus. Überall liegen Scherben herum. Das Telefon hängt an der Wand. Ich nehme den Hörer ab und wähle noch einmal den Notruf. Wieder nur Tuten.
Ich laufe zurück zum Fremdenverkehrsamt, wähle abermals 110, dann 112, nichts. Dann rufe ich meine Brüder an, keiner hebt ab.
Mir reicht’s! Ich hau wieder ab! Sofort! Scheiß auf die Schiffsfahrt, die Lust ist mir sowieso schon längst vergangen. Mein Golf steht im Schambacher Weg, nichts wie hin.
Schnaufend laufe ich ohne Unterbrechung bis zum Auto. Mir kommen die schlimmsten Vorstellungen in den Sinn, und, Gott sei Dank, mein Auto steht noch da. Hektisch fingere ich nach dem Autoschlüssel und schließe auf. Als ich den Schlüssel umdrehe, springt mein Auto nicht an. Ich versuche es noch einmal und noch einmal. Nichts. Jetzt werde ich wieder panisch und halte die Luft an. Mein Kopf sinkt auf das Lenkrad und Tränen tropfen auf meine Hose. Ich drücke die Verriegelungstaste.
Also bin ich gefangen in der verlassenen Stadt. Ich mache eine Atemübung und ja, nach ein paar Minuten beruhige ich mich. Was soll ich jetzt tun? Ich überlege fieberhaft und denke an Naturkatastrophen, Krieg, Bunker und Schutzräume. Ja genau, Schutzräume. Vielleicht verstecken sich dort Menschen, warum auch immer. Am besten fange ich im Rathaus an, aber ich weiß nicht, wo es jetzt ist.
Ich sprinte zurück zum Fremdenverkehrsamt. Im Gang hängt ein Stadtplan, auf dem das Rathaus eingezeichnet ist. Es ist leicht zu finden. Da die öffentlichen Gebäude am Wochenende geschlossen sind, suche ich nach Material zum Einbrechen. Hier ist nichts, also laufe ich zum Hotel hinüber.
Hier gibt es bestimmt irgendwo richtiges Werkzeug, aber ich habe es eilig. In der Küche suche ich in den Schubladen, nehme einen stählernen Fleischklopfer, ein großes und ein kleines Messer, eine Fleischgabel und eine Schere mit. Da der Proviant, den ich dabei habe, wohl nicht ausreichen wird, belege ich vier Brote, zwei mit Käse und zwei mit Salami, die trotz dieser Temperaturen wohl eine Zeitlang halten sollten. In die Seitennetze des Rucksacks stecke ich zwei Wasserflaschen.
Dann mache ich mich auf den Weg. Mit dem Gewicht am Rücken fällt mir das Laufen schwer und ich wechsle in ein schnelles Gehen. So eile ich wieder die Bruckstraße hinunter, biege links ab, dann rechts über die Stadtbrücke, ich überquere eine Straße und schnaufe den Jachenhauser Weg hinauf.
Ich muss nicht weit gehen, das blaue Rathaus ist schon in Sicht. Links steht meine alte Schule, aber für Nostalgie habe ich jetzt keine Zeit. Ich biege rechts ab und nach zwanzig Metern stehe ich am Rathaus.
Ich hole den Fleischklopfer heraus und schlage, ohne zu zögern ein Fenster ein. Erschrocken schaue ich mich um, ein Reflex, der in dieser Situation unsinnig ist. Ich kann so viel Lärm machen, wie ich will. Es ist niemand da, der mich hören könnte. Ich reinige den Fensterrahmen, steige auf den Mauervorsprung und bin drin.
Ich schalte einen Computer an und warte ungeduldig, bis er hochgefahren ist. Nach etlichen Klicks werde ich fündig. Schutzräume gibt es hier im Rathaus, in meiner alten Schule, im Kindergarten und auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände.
Ich steige in den Keller, mache Licht, klopfe an sämtliche Türen, rufe, presse mein Ohr an jede Tür und lausche. Hier ist niemand.
Ich verlasse das Rathaus, gehe zu meiner alten Schule hinüber und suche nach einem Fenster, das nicht vergittert ist. Neben der großen Treppe ist eines. Mein Fleischklopfer kommt wieder zum Einsatz. Ich werfe meinen Rucksack hinein und nach mehreren Versuchen kann ich mich hochziehen.
Ich stehe im Sekretariat. Das Zimmer ist abgesperrt. Ich habe Glück, die Tür hat zwei Glaseinsätze. Einen zerschlage ich und zwänge zuerst mich, dann meinen Rucksack hindurch.
Ich weiß nicht mehr, wo die Tür zum Keller ist. Unter dem Treppenaufgang entdecke ich sie. Aus meinem Rucksack hole ich das größere Messer und halte es stoßbereit in der Faust. Vorsichtig stufe ich die Kellertreppe hinunter, ich weiß ja nicht, was mich da unten erwartet. Ich mache Licht und drücke jede Türklinke. Mehrere Räume sind abgesperrt, bei anderen steckt der Schlüssel, so wie bei dieser.
Ich betrete den Raum, drücke den Lichtschalter und mit einem Poing erwachen alte Neonröhren. In einer Ecke stapeln sich ausgediente Schulbänke und Stühle und große Weltkarten hängen an den Wänden. Ansonsten ist der Raum leer.
Weiter.
Angestrengt horche ich an jeder Tür. Jetzt stehe ich vor einer massiven Eisentür. Ich klopfe – und höre ein Geräusch. Erschrocken springe ich in eine Türnische.
Eine Stimme fragt, wer da sei. Ob ich allein sei.
Ich verstehe fast nichts und trete näher heran, das Messer erhoben, bereit, zuzustechen.
Die Stimme fragt wieder und ich bejahe.
»Sind Sie wirklich alleine?«
Spöttelnd antworte ich: »Schön wär’s, wenn massig Leute hier wären. Ja, verdammt! Ich bin allein. Machen Sie schon auf.«
Der Schlüssel dreht sich. Mein Messer verschwindet im Rucksack. Im Türspalt erscheint eine römische Nase, ein Auge scannt mich von oben bis unten. Erinnert mich an Shining. Eine fette Stahlkette sichert die Tür.
Er öffnet die Tür so weit, dass sich die Kette spannt, und fragt mich aus.
Ich unterbreche ihn und erkläre kurz, was mir passiert ist.
Er kann nicht glauben, dass ich einfach so durch die Stadt spaziert bin, am helllichten Tag.
»Jetzt lassen Sie mich schon rein«, dränge ich noch einmal.
Endlich entriegelt er die Tür. Er packt mich an der Schulter und zieht mich in den Raum.
Ich befreie mich aus seinem Griff und mir verschlägt es den Atem, so muffig ist die Luft.
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Zwei Tage oder drei, so genau weiß ich es nicht mehr.« Er schließt die Tür ab.
»Ich bin Pauline und Sie?« Ich reiche ihm die Hand.
»Albert«, sagt er, greift zu und schüttelt kräftig.
»Wollen wir uns duzen?«, frage ich.
»Ja gut.«
»Was ist passiert?«, frage ich geradeheraus.
»Ich weiß es nicht«, druckst er herum. »Vor zwei oder drei Tagen kam mein Nachbar zu mir. Er war völlig aus der Fassung, faselte was von einer unheimlichen Bedrohung. Er hat mich überredet, mitzukommen, hierher. Ich wollte zuerst nicht mit, aber dann ...«
»Was dann?« Abwartend schaue ich ihn an. Oh Mann, er sieht verdammt gut aus.
»Ich kann es dir nicht erklären.«
»Wir können ja später darüber reden.« Ich mustere ihn und lasse es vorerst gut sein.
Endlich bin ich nicht mehr allein und es fühlt sich nicht mehr an, als würde ich in dieser gruseligen Serie aus meiner Kindheit mitspielen. Wie hieß die Reihe gleich? Ach ja, S.R.I. und die unheimlichen Fälle, eine japanische Mystery-Serie. Erleichtert atme ich auf und sehe mich um.
»Hier ist alles, was man braucht. Man könnte Monate überleben. Die Lebensmittel und Konserven sind nicht übel.«
Albert klingt wenig überzeugend. Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu und halte mir das T-Shirt vor Nase und Mund. Der Raum zieht sich nach hinten auseinander und an der rechten Seite stehen Regale, vollgestopft mit Büchern und Spielsachen. Es folgt ein großer Gasherd und daneben steht ein riesiger Geschirrschrank.
Alle Türen sind beschriftet. Ich gehe zu einer mit der Aufschrift Kleiderkammer. Kleidungsstücke hängen an Stangen und liegen in Regalen. Der typische Geruch von Second-Hand-Klamotten liegt in der Luft. Ein Schild mit der Aufschrift Badezimmer weist den Weg zu den Duschen und Toiletten. Ich schließe die Kleiderkammertür und drehe mich um. Vor dem Herd steht ein langer Esstisch mitten im Raum. Die Stühle drumherum sind aus Metall. Weiter hinten liegt ein weitläufiger Vorratsraum mit Konserven, Teigwaren, Reis, Wasser und anderem Krimskrams. Daneben befinden sich die Schlafräume mit Stockbetten. Auf jedem Bett liegen hygienisch verpackte Decken, Kissen und Körperpflegeprodukte.
»Ich will hier nicht bleiben«, murmle ich, gehe zur Eisentür, drehe den Schlüssel um, reiße sie auf und mache einen tiefen Atemzug. Albert geht mir nach und bleibt hinter mir stehen.
»Gibt es hier keine Belüftung?«
Er deutet auf einen Schalter neben der schweren Tür.
»Wieso ist sie ausgeschaltet?«, frage ich empört und drücke darauf. Die Antwort erübrigt sich. Lautes Wummern erfüllt den Raum.
»Ich hab den Lärm nicht mehr ausgehalten.«
»Verstehe. Darf ich duschen und mir Klamotten aussuchen? Ich bin total verschwitzt.« Ich warte keine Antwort ab und im Vorbeigehen frage ich ihn, warum wir nicht ins Hotel gehen.
»Warum? Hier ist es doch sicher.«
»Ja schon, aber im Hotel hätte jeder sein eigenes Zimmer«, sage ich barscher, als ich es meine. Etwas milder frage ich: »Willst du zuerst duschen?« Ich glaube, er hat es nötiger als ich.
»Ja klar, duschen wäre nicht schlecht.«
Er verschwindet ins Badezimmer. Ich stemme die Eingangstür auf und schalte die Klimaanlage ein. Die Belüftung ackert vor sich hin und endlich fühle ich eine frische Brise. Kurz darauf schalte ich sie wieder aus. Der Lärm ist wirklich nicht auszuhalten. Anschließend bediene ich mich aus der Kleiderkammer. Ich wähle eine bequeme Hose, ein lockeres T-Shirt, einen warmen Pullover und eine dicke Jacke.
Albert kommt vom Duschen zurück. Seine Haare stehen wild ab. Er ist mindestens eins fünfundachtzig, hat dunkle lange Haare, in der Mitte gescheitelt, was man selten bei einem Mann sieht. Ich wende mich ab, damit er meinen Blick nicht sieht und gehe schnell zu den Waschräumen. Das hat mir gerade noch gefehlt.
»Ich habe Hunger und will etwas Gutes essen. Du auch?«, frage ich Albert nach der Dusche. »Ich laufe schnell zum Hotel und hole Fleisch, ok?«
Er will nicht, dass ich gehe, kann mich aber nicht umstimmen. Ich ziehe meinen Rucksack an und er begleitet mich zur Eingangstür.
»Pass auf dich auf«, ruft er hinter mir her und im Weggehen höre ich, wie die Tür schwer ins Schloss fällt.
Ich laufe den Hang hinunter, über die Brücke, biege links ab und gleich wieder rechts. Nach zweihundert Metern bin ich am Hotel. Kurz durchatmen, dann trete ich ein.