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Dr. Ulebuhles Geschichten sind keine gewöhnlichen Märchen, es gibt keine Hexen und Unholde, keine Prinzessinnen und verzauberten Froschprinzen, all diese nicht existierenden Dinge werden nicht auftauchen; es sind nur einige Geschichten, aus denen wir eine Menge lernen können. Sie alle sind in das Gewand eines Märchens gekleidet. So wie Kinder eine bittere Medizin, die eine Krankheit heilt, eher schlucken, wenn der Apotheker sie in Zucker einwickelt, so erzählt der gelehrte Dr. Ulebuhle märchenhafte Geschichten über die Wunder der Naturwelt.
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Seitenzahl: 528
BRUNO HANS BÜRGEL
PHANTASTISCHE ERZÄHLUNGEN
ILLUSTRIERTE AUSGABE
DIE SELTSAMEN GESCHICHTEN DES DOKTOR ULEBUHLE wurde zuerst veröffentlicht in Berlin 1920.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
2024
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96130-610-7
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Impressum
Vom Doktor Ulebuhle
Das Herz und die Taschenuhr
Die versunkene Stadt
Johann der Wunderbare
Der alte Baum
Ein Tag auf dem Mond
Das Zündholz und die Kerze
Müller Zirbelwirbel und der Tod
Die fünf Maler
John Dolland, der Taucher
Der Vater der Wälder
Ein Körnchen Salz
Gespenster-Heinrich
Als die Sonne feierte
Gräfin Perle
Die Abenteuer des Balthasar Schaumlöffel
Die Schwalbe und der Telegraphenpfahl
Die Busennadel
Der gläserne Sarg
Die wilden Brüder
Die Flasche
Der Diamant und seine Brüder
Der Eisberg
Der Weltuntergang
Der Tod in der Flasche
Die sonderbare Welt
Das versunkene Land
Der Wassertropfen
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Zu guter Letzt
Da unten im Harzgebirge mit seinen dunklen Tannenbergen liegt die alte Kaiserstadt Goslar mit ihren uralten spitzen Türmen, seltsamen Torbogen und engen Gassen mit wunderlichen, jahrhundertealten Häusern am Fuße des Rammelsberges, in dem tief, tief unter der Erde die Bergleute pochen. Vor vielen Jahren lebte da der Doktor Ulebuhle. Er bewohnte ganz allein eines jener etwas windschiefen, mittelalterlichen Häuser, die verwundert aus ihren vom Alter fast erblindeten winzigen Fensterchen in die neue Zeit hineinblinzeln. Oben auf dem Hause war ein Turm, gedeckt mit lauter Schiefertafeln, fast so wie die, mit denen wir Buben zur Schule zogen, und da oben hatte Ulebuhle ein großes Fernrohr stehn, mit dem man den Mond und die Kometen betrachten konnte. Und dann waren da im Hause ein paar ganz einfache Zimmerchen mit alten Möbeln und seltsamen Uhren und allerlei Schnickschnack, und eines davon war ganz mit Büchern vollgestopft, daß man nicht wußte, wohin man treten und wohin man sich setzen könnte. Nebenan sah es noch viel toller aus! Das wahre Museum. Ausgestopfte Tiere, versteinerte Fische und Schnecken, Tiergerippe und Totenbein und Schmetterlingssammlungen und seltene Käfer, Erdglobus und Himmelsglobus, Elektrisiermaschinen und Mikroskope, hundert Instrumente und weiß der Teufel was noch für Krimskrams.
Und da hauste der alte Ulebuhle ein Leben lang wie ein Maulwurf in seinem Bau. Er hatte keine Frau und keine Kinder; ein ganz altes Weiblein mit einer großen schwarzen Haube besorgte alles und war der einzige Mensch, mit dem sich Ulebuhle vertrug, denn er war ein rechter alter Knurrhahn.
Und wenn ihr nun fragt, wie er ausgesehen hat, der Doktor Ulebuhle, so muß ich sagen, höchst schnurrig! Er war so groß, daß er kaum durch die niederen Türen des alten Hauses ging, und dürr wie ein Pfeifenrohr. Das Alter hatte sein Gesicht in tausend Runzeln zerrissen, es war bartlos und von vielem Tabakrauch gebräunt wie eine alte Meerschaumpfeife, und eisengraues Haar bedeckte das Haupt. Zudem trug er auch noch eine mächtige Hornbrille mit großen runden Gläsern, und wenn er dann so bedächtig mit den Augendeckeln klappte, dann sah das in Verbindung mit der Brille und der scharfen Hakennase aus wie bei einer Eule oder »Ule«, wie die Leute da unten sagen. So aber war auch sein seltsamer Name entstanden. Eigentlich hieß er nur Doktor Buhle, für uns aber war er nur der Ule-Buhle, und dabei blieb es!
In einem langen grauen zugeknöpften Rock, Sommer und Winter mit buntkarierten Filzschuhen an den Füßen, saß der Doktor Ulebuhle so, aus der langen Pfeife blaue Rauchwolken von sich stoßend, über seinen Büchern, seinen Instrumenten und kümmerte sich um keinen Menschen in der weiten Welt.
Aber wenn er auch wunderlich aussah und wenn die Leute auch verstohlen über ihn lachten, sie zogen doch tief den Hut vor ihm, wenn er mal aus dem Fenster schaute oder in seinem Garten die Bäume beschnitt, denn er war ein Mann, der so viel wußte wie keiner in weiter Runde, die Lehrer und den Pfarrer, die Ärzte und den Bürgermeister mit eingeschlossen, und das will was heißen, denn von denen wollte doch auch einer immer mehr wissen als der andere. Er hatte viele gelehrte Bücher geschrieben, und aus fernen Ländern schickten berühmte Professoren, die so weise waren, daß sie sich Tonnenbänder um den Kopf legen lassen mußten, damit er nicht vor lauter Wissen auseinandersprang, Briefe an unseren Ulebuhle und baten um seinen Rat.
Mitunter ärgerte er sich über uns, wenn wir um den großen Brunnen vor seinem Haus herumtollten und ihn bei seinem gelehrten Kram störten, und er gewann uns zu Freunden, weil er uns versprach, uns andere Unterhaltung zu schaffen. Wir wären zwar allesamt Taugenichtse, die noch einmal ein übles Ende nehmen würden, sagte er in einem seltsam knurrigen Ton, aber er wolle uns alle Sonntagabend bei Kuchen und Tee schöne Geschichten erzählen, durch sein Fernrohr den Mond und die Sterne zeigen und andere Dinge, wenn wir versprächen, künftig nicht mehr um den Brunnen zu tollen und Bälle in den Garten zu werfen.
Und so geschah's! Erst kamen nur wenige, dann mehr, und schließlich alle. Und die Geschichten waren sehr interessant, der Kuchen voller Rosinen, und um den Brunnen war es still geworden, denn keiner wollte es mit Ulebuhle verderben. Dieser aber war ein kluger Mann! Das waren keine gewöhnlichen Märchen, die er da erzählte, keine von Hexen und Menschenfressern, von Prinzessinnen und verwunschenen Froschkönigen und all solchen Dingen, die es gar nicht gibt, sondern es waren Geschichten, aus denen wir Kinder viel lernen konnten und viel gelernt haben, und nur scheinbar waren es Märchen.
Zuweilen freilich hat der alte Ulebuhle auch mal geflinkert und geflunkert, und wenn wir Buben ihn dann von der Seite ansahen und ihm sagten, daß wir es nicht glaubten, dann verzog sich sein faltiges Gesicht zu einem verschmitzten Lächeln. »Ihr Taugenichtse!« sagte er, nahm eine Prise und nieste dröhnend. »Wenn ihr mir nicht glaubt, dann lüge ich euch zur Strafe nie wieder etwas vor!«
»Seht«, sagte der alte Ulebuhle, »da lag ein reicher Mann auf seinem Sofa und hielt sein Mittagsschläfchen. Er hatte den Mund weit geöffnet und scharrte und rasselte wie ein Sägewerk. Sonst aber war es still im Zimmer, daß man die Fliegen summen hören konnte. Sie tranken mit ihren kleinen Rüsseln von dem Weinrest, der im Glase stand, und machten sich über die Kuchenkrümchen her, die auf dem zarten Porzellantellerchen lagen. Ja, hier war es gut sein, aber deshalb tanzten sie dem Manne, bei dem sie ungeladen zu Gaste waren, dennoch auf der Nase herum, denn Undank ist der Welt Lohn.
Aber in der Brust und auf der Brust des Schläfers war es lebendig. Wenn man genau hinhörte, so hörte man es leise und geschwätzig wispern: ›Ticktickticktick-Ticktickticktick‹, und von drinnen antwortete es dumpf und taktfest: ›Poch-Poch-Poch-Poch!‹ Die Taschenuhr war es und das Herz. Sie lagen dicht beieinander, jedes tat seine Arbeit.
›Unser Herr schläft‹, sagte das Herz, ›ich darf nicht schlafen, ich schlafe niemals, denn wenn ich einschlafen wollte, würde mein Herr nie wieder aufwachen!‹
›Was machen Sie eigentlich da drinnen ?‹ fragte die Taschenuhr.
›Ich halte den ganzen Krempel in Schwung. Ich bin ein großes Pumpwerk und pumpe das Blut durch die Adern meines Herrn. Ja, das ist keine Kleinigkeit. Wenn ich auch nur eine Minute aussetzen wollte, könnte sich mein Herr begraben lassen. Seit fünfzig Jahren arbeite ich nun ununterbrochen, aber Dank hat man nicht davon. Sehen Sie, fünfzig Jahre, das sind achtzehntausendundzweihundertsechzig Tage oder mehr als vierhundertachtunddreißigtausend Stunden. Es sind also über sechsundzwanzig Millionen Minuten vergangen, seit mein Herr geboren wurde und seitdem ich unablässig das Blut durch seinen Körper pumpe. Wenn Sie nun aufpassen, so werden Sie leicht zählen können, daß ich in jeder Minute siebzig Schläge mache, ich habe also in den fünfzig Jahren achtzehnhundertvierzigmillionenmal geschlagen, ohne auch nur einmal auszuruhen!‹
›Ja, das ist wirklich ein Stück Arbeit, das sich sehen lassen kann‹, meinte die Uhr. ›Das sind treue Dienste, und Ihr Herr müßte Sie fürstlich belohnen.‹
›Ach du lieber Gott‹, brummte das Herz, ›er ist noch unzufrieden obendrein! Neulich ist er in der größten Hitze mit mir auf einen hohen Berg hinaufgerannt. Es war eine schreckliche Geschichte, und ich habe mich abgerackert, daß ich glaubte, es gehe mit mir zu Ende. Schließlich ging es aber nicht mehr, und als er immer schneller lief und immer mehr von mir verlangte, da setzte ich einen einzigen Schlag aus. Da wurde mein Herr ganz furchtbar aufgeregt und schimpfte immerfort, daß er ein so schlechtes Herz habe. Da sehen Sie, daß es ein undankbarer Herr ist.‹
›Sind Sie auch aus Metall?‹ fragte die Uhr.
›Nein‹, entgegnete das Herz, ›und es ist ein Glück, denn da wäre ich schon lange hin. Ich bin aus lauter Muskeln und Häuten zusammengesetzt, die halten besser als Stahl und Eisen!‹
›Aber wenn Sie nun einmal repariert werden müssen!‹ meinte die Taschenuhr. ›Wenn Sie zum Uhrmacher müssen, der Ihre Räder ausbürstet und eine neue Feder einsetzt, was macht Ihr Herr dann?‹
›Alles nicht nötig‹, brummte das Herz, ›Räder und Federn habe ich nicht, und ich repariere mich ganz allein. Einmal aber war mein Herr mit mir bei einem Manne, der Menschen reparieren kann. Er hatte eine große Brille auf der Nase und sagte meinem Herrn auf lateinisch, was ihm fehle. Dann horchte er mit einem Rohr auf meinen Schlag, und mein Herr mußte eine große Flasche voll bitterer Tropfen trinken. Der Magen war sehr ärgerlich darüber, denn er sagte, ihn gehe die ganze Geschichte gar nichts an.‹
›Seien Sie froh‹, sagte die Uhr, ›daß der Uhrmacher nichts mit Ihnen zu tun hat. Es ist eine schreckliche Geschichte. Alle Glieder werden einem da auseinandergerissen, man kommt unter die Bürste, sie stochern mit eisernen Haken in den Eingeweiden herum, zwicken und zwacken, und ein scharfes Ding kratzt an einem herum, daß die Späne fliegen. Der Herr bezahlte drei harte Taler und schimpfte, der Doktor sagte, ich sei eine alte Knarre und hätte einen verbeulten Zylinder.‹
›Pumpen Sie auch Blut?‹ sagte das Herz.
›Gott soll mich bewahren‹, wisperte erschreckt die Uhr. ›Ich bin aus purem Golde, aber das ist nicht die Hauptsache, das ist nur eine Äußerlichkeit. Ich habe ein reiches Innenleben. In mir geht es zu wie in einer Mühle. Da dreht ein Rad das andere, und die Hauptsache ist, daß ich pünktlich bin. Pünktlichkeit ist die beste Höflichkeit, sagt mein Herr, und er wird fuchsteufelswütend, wenn ich mich mal verspätet habe. Ich bin aber so gewissenhaft und laufe dafür am nächsten Tage wieder etwas schneller, aber das ist ihm auch wieder nicht recht. Die Menschen sind undankbar und wissen nicht, was sie wollen.‹
›Was mahlen Sie denn in Ihrer Mühle?‹ fragte das Herz.
›Gar nichts mahle ich, ich mache Zeit!‹
›Zeit? Zeit?‹ fragte verwundert das Pumpwerk in der Brust. ›Was ist das für ein Ding?‹
›Ja‹, wisperte die Uhr, ›genau weiß ich es auch nicht, aber es ist eine kostbare Sache, denn mein Herr sagt: Zeit ist Geld, und Geld regiert die Welt! – Ich spiele eine wichtige Rolle im Leben. Kaiser und Könige richten sich nach mir, und bei allen wichtigen Geschäften werde ich zu Rate gezogen. Dennoch sind die Menschen zu mir nicht dankbarer als zu Ihnen. Sehen Sie, ich bin nun schon zwanzig Jahre im Dienste meines Herrn, und das will etwas heißen. In einer Sekunde ticke ich fünfmal, also achtzehntausendmal in der Stunde und vierhundertzweiunddreißigtausendmal am Tage. Einhundertachtundfünfzigmillionenmal im Jahr. Tag und Nacht arbeite ich ununterbrochen. Mein Schwungrädchen ist nicht größer als ein Fingernagel meines Herrn, es dreht sich blitzschnell seit Jahren und Tagen hin und her, so schnell, daß man es kaum sehen kann. Würde es immer geradeaus rollen, so legte es in einem Tage sechsunddreißig Kilometer zurück, und in drei Jahren hätte es einmal die ganze Erdkugel umwandert. Dabei ist alles an mir zart und fein, ich habe Achsen, so dünn wie ein Haar und eine winzige kleine Feder. Ich esse nichts und trinke nichts, brauche nur alle paar Jahre ein kleines Tröpfchen Öl, aber die Menschen sind trotzdem undankbar, und man kann es ihnen nicht recht machen. Wenn ich könnte, so ginge ich weit fort in die Welt, aber ich liege hier an der Kette wie ein Bullenbeißer.‹
›Jeder hat seinen Ärger‹, meinte das Herz. ›Ich muß aufpassen, daß die ganze Geschichte hier drinnen in Schwung bleibt. Mein Herr hat vierzehn Liter Blut in seinen Adern, und die pumpe ich in einem Tage sechshundertmal rundum. Ja, es ist ein schönes Stück Arbeit, und anstatt mir die zu erleichtern, macht mich mein Herr fast krank mit seinem ewigen Weintrinken und Zigarrenrauchen. Dazu der Ärger mit den einzelnen Gliedern! Bald ist zuviel Blut im Kopf, und der hat Schmerzen, bald setzt sich mein Herr so ungeschickt, daß er die Adern zudrückt und ihm die Beine einschlafen, weil das Blut nicht durch die Leitungsröhren hindurch kann, und ein anderes Mal wieder beschweren sich die Hände, daß sie zu wenig Blut bekommen und frieren. Immer hab' ich die Schuld!‹
›Ich‹, meinte die Taschenuhr, ›lebe in einem langjährigen Kriege mit den Gebrüdern Zeiger. Sie denken, sie wären das Wichtigste, weil der Herr nur auf sie schaut, aber wenn das Räderwerk sie nicht dreht, so sind sie zu nichts nütze. Ewig leben sie miteinander in Hader. Der kleine dicke ärgert sich, daß der lange dünne ihn immer überholt, und so hängt er sich zuweilen an seine Frackschöße und geht mit ihm, so daß die ganze Zeigerei beim Teufel ist. Am übelsten aber ist der ganz kleine, der sich nur immer in einem engen Kreise herumschwingt wie ein Zirkuspferd. Er möchte so gern auch weit herum, wo all die großen dicken Zahlen stehen, und so klammert er sich fortwährend an den langen dünnen oder schleift vor Ärger auf dem Zifferblatt, bis die ganze Geschichte stillsteht. Dann nimmt mich der Herr wutschnaubend und klopft mich hart gegen die Tischkante, daß mir die Eingeweide durcheinanderzufallen drohen, und dann schimpft er greuliche Worte, behauptet, ich wäre eine niederträchtige Zwiebel, und wenn ich nicht von Gold wäre, würde er mich zum Fenster hinauswerfen.‹
›Pssst!‹ machte das Herz. ›Er erwacht!‹
Richtig, er erwachte, machte laut ›Uäh! – Aah! Huaaaa!‹, und dann sprang er mit beiden Beinen herab von seinem Ruhebett. Er zog die Uhr. ›Halb fünf!‹ sagte er. ›Hoffentlich geht die alte Pfeffermühle richtig!‹
›Ja, ja‹, seufzte die Uhr, ›Undank ist der Welt Lohn‹!«
Ach, da unten im Süden ist es herrlich! So tiefblau ist der Himmel, wie wir Nordländer ihn gar nicht kennen. Eine warme Luft weht herüber vom Mittelländischen Meere, und wundervolle Blumen blühen. Lorbeerhaine stehen am Ufer, und in sonnigen Gärten leuchten Apfelsinen- und Zitronenbäume. Ja, es ist herrlich da unten im Lande Italien.
Seht, da pflügte an einem schönen Frühlingstage ein Bauer das Feld. Er zog das blanke Eisen durch die dampfende Erde, die ein warmer Regen aufgeweicht, und rauchte vergnüglich seine Tonpfeife. Das war nicht weit von dem spitzen Kegelberge, der da hoch aufragt wie ein mächtiger, umgestülpter Napfkuchen und den die Leute »Vesuv« nennen. Und was der Bauer konnte, das konnte der Berg auch! Eine feine Rauchsäule stieg aus seinem Gipfel, denn er ist ein feuerspeiender Berg und ein gefährlicher Bursche. Wenn er seinen Rappel kriegt, rumort er plötzlich los. Mit Blitz und Donner fährt das glühende Teufelszeug aus ihm heraus, heiße Asche und brennende Steine sausen durch die Luft und zerstören alles ringsum. Dann ist der tiefblaue Himmel verschwunden, die Lorbeerhaine verbrennen, die Apfelsinen- und Zitronengärten werden im heißen Schlamm begraben. Ach, dann ist es nicht mehr herrlich da drunten im Süden, im Lande Italien.
Der Berg raucht, aber ganz friedlich nur, und der Bauer raucht unbekümmert um ihn sein Pfeifchen, da fährt sein blankes Pflugeisen gegen ein hartes Ding. Ein Stein, denkt er und bückt sich, ihn aus dem Wege zu räumen. Aber wie er das Ding aufheben will, ist es eine wunderschöne Bronzekanne, ein metallener Krug, wundervoll verziert. Wenn man die Erde und Asche abscheuert, die ihn mit dicker Kruste überzieht, sieht man, daß er uralt ist, so, wie ihn die Menschen heute nicht mehr herstellen.
Der Bauer freut sich wie ein König. Das ist eine gar seltene Erdfrucht, denkt er, und nachdem er den Krug lange genug betrachtet, stellt er ihn behutsam seitwärts. Sein Weib wird sich freuen, ein so feines Ding auf ihrem Schrank zu haben.
Der Bauer pflügt und pflügt, und als der Mittag kommt und er eben aufhören will mit seiner Arbeit, da sitzt das Eisen wieder fest und will sich nicht mehr lösen. Ei, denkt der Bauer, bin ich ein Schatzgräber heute! Er holt seinen Spaten und gräbt das Ding heraus. Was ist es? Ein riesiger Metall-Leuchter mit fünf Armen und Löwenfüßen, und ist wohl einen Meter groß und so schwer, daß man ihn kaum heben kann.
Der Bauer ist ein Pfiffikus. Er schiebt den Strohhut in den Nacken und überlegt. ›Wo das gesteckt hat, kann noch mehr stecken‹, sagt er sich, und so gräbt er im Schweiße seines Angesichts immer tiefer auf seinem Acker und sieht, daß da unten alles Asche ist, Asche, die der feuerspeiende Berg wohl vor vielen Jahrhunderten ausgeworfen hat. Einen niedlichen Handspiegel findet er noch, und ganz unten stößt er auf Mauerwerk und kann nicht weiter. Tief da unten muß also einmal ein Haus gestanden haben, sagt sich der Bauer, denn wo sollte sonst das Mauerwerk herkommen?
Da lädt er denn Krug und Leuchter und Spiegel auf seinen Wagen und fährt vergnügt nach Hause. Ja, das war mal ein Glückstag für einen armen kleinen Bauersmann da drunten am Fuße des Feuerberges!
Die Bäuerin ist voll Staunen über die schönen Sachen und stellt sie stolz in ihre gute Stube, aber sie sind so schön, daß man merkt, sie gehören gar nicht hin, wo die alten wackligen Tische, die Stühle mit dem Rohrgeflecht stehen.
Der Bauer sucht noch morgen und übermorgen, aber er findet nichts mehr. Am Abend sitzt er vor seinem Häuschen, schmaucht seine Pfeife und flickt am Sattelzeug seines Esels. Sieh, da staubt es auf der Landstraße, und eine Kutsche, mit zwei schönen Pferden bespannt, kommt dahergerollt.
Ein vornehmer Mann sitzt darin. Der Bauer grüßt, und der Vornehme grüßt freundlich wieder. Er läßt halten.
»Kann man einen guten Schluck Landwein bei Euch haben, guter Mann?« fragt der Vornehme.
»Ei freilich, Euer Ehren!« antwortet der Bauer.
Da steigt der Mann aus seinem Wagen und geht in das Haus. Er trinkt sein Gläschen Wein und sieht verwundert Leuchter und Kanne und Spiegel und betrachtet sie von allen Seiten rundum, wieder und immer wieder.
»Freund«, sagt er endlich zu dem Bauer, »wo habt Ihr diese Dinge her? Das ist uralte, wunderbare Arbeit. Vor Jahrhunderten, wenn nicht vor Jahrtausenden muß diese Gegenstände ein Künstler geschaffen haben. Sie sind einen Scheffel Silber wert, und wie kommt es, daß sie in Eurem bescheidenen Hause stehen?«
Ein Wort gibt das andere, der Bauer will erst nichts von seinem Geheimnis erzählen, aber als er merkt, daß der Vornehme ein Mann von der Regierung ist, da berichtet er, wie alles hergegangen.
Der Fremde nickt und hat verstanden, und dann sagt er, daß er wiederkommen werde, und bedeutet dem Bauer, seine Schätze wohl aufzuheben, denn man würde sie ihm zu hohem Preise abkaufen. Dann fährt er davon.
Nach drei Tagen rollen zwei Kutschen vor des Bauern Haus. Der Vornehme ist wieder da, und noch sechs andere Herren in feinen Röcken und mit goldenen Brillen auf der Nase sind bei ihm. Alle betrachten die alten Schätze, und dann fahren sie hinaus auf den Acker und bedeuten dem Bauer, mit einigen Arbeitern mit Schaufeln und Picken nachzukommen.
Da graben sie denn bis zum Abend und graben da und dort und finden überall unter der viele Meter dicken Aschenschicht Mauerreste, Teile von Dächern, Säulen, auch manches kleine Kunstwerk noch, und endlich, gegen Abend, das Knochengerüst eines Menschen.
Da wissen die gelehrten Männer, hier unter dem Acker liegt eine alte Stadt. Eine Stadt, die vor vielen Jahrhunderten versunken ist, verschüttet wurde durch den Steinregen und Ascheregen, den der feuerspeiende Berg da hinten über die unglückliche Stadt schüttete.
»Freund«, sagen die gelehrten Männer zu dem Bauern, »Ihr habt einen großen Fund gemacht und sollt dafür reich belohnt werden, so daß Ihr Euch ein schönes Häuschen kaufen könnt und neue Äcker und wohl gar ein Weingut. Diese Schätze aber und Euren alten Acker, den müßt Ihr freigeben, denn wißt, Ihr pflügt über einer versunkenen Stadt, die hier unterging, bald nachdem Jesus Christus am Kreuze verschieden. Wir wissen es lange aus alten Schriften, daß hier zwei Orte standen, Herculanum und Pompeji geheißen, die der Vesuv verschüttete. Ihr habt endlich ihre erste Spur gefunden, und nun wollen wir sie wieder ausgraben, die alten Städte.«
So sprachen die Männer, und so geschah es. Der Bauer wurde reich belohnt, er zog ein wenig weiter hinunter in die Ebene und wurde bald ein wohlhabender Mann. Auf seinem Acker aber und weit in der Runde ging es nun geschäftig her. Hunderte von Arbeitern kamen, die schaufelten und pickten Tag um Tag, Monat um Monat, rollten unablässig die Aschemassen fort, unter denen die alten Städte versanken, und langsam kamen sie zum Vorschein.
Ja, das war wie ein großes Wunder! Nach Jahr und Tag konnte man wieder durch die Straßen von Herculanum und Pompeji wandern, in die Häuser eintreten, die siebzehn Jahrhunderte früher versanken. Der alte Berg im Hintergrunde, der noch immer ein klein wenig schmauchte, blickte verwundert herüber. Da kamen all seine Schandtaten wieder ans Tageslicht. Der gute Mond aber, der sein bleiches Licht in die öden, toten Gassen der ausgegrabenen Städte warf, machte ein verdutztes Gesicht. Ja, vor siebzehn Jahrhunderten sah es hier anders aus, da liefen fröhliche Menschen in langen weißen Gewändern in den Gassen einher, spielten Kinder, tönte Gesang durch die Straßen, fuhren hohe zweirädrige Wagen mit schönen, kräftigen Männern ratternd hinaus in die Ebene. Nun war die Stadt tot, aber sie war wieder auferstanden, und der alte Mond konnte wieder sein Licht auf die weißen Wände der Häuser werfen, die so lange Zeit unter der Erde verborgen waren, begraben durch den rauchenden Berg.
Die Menschen aber wanderten durch die Ruinen und konnten sich nicht satt daran sehen, wie hier ihre Vorväter gewohnt und gearbeitet, gelebt und gelitten hatten.
Ja, da sah man noch alles so deutlich, als sei es erst gestern geschehen! Die Straßen waren gerade und sauber, schöne Tempel standen da und kreisrunde Zirkus-Theater, Säulentore und steinerne Badehäuser, Gärten und Türme. Wundervolle Malereien waren an den Wänden, Tische und Bänke, Leuchter und Spiegel, Kannen und Krüge, Teller und Messer, Betten und Schränke fanden sich noch überall in den Häusern. Da sah man noch allerlei Ankündigungen an den Mauern der Häuser, sah noch allerlei Kritzeleien, die auch damals schon ungezogene Buben eingeritzt, und konnte in Kaufmannsläden und Schenken, Apotheken und Bäckereien eintreten.
Noch heute ist das alles zu sehen, und wer hinunterreist nach dem sonnigen Lande Italien, da, wo der Vesuv raucht, der sieht sie noch jetzt so stehen, die versunkenen Städte, kann dahinwandeln in den Gassen und die Bilder beschauen, die vor fast zweitausend Jahren die alten Künstler an die Wände malten.
Aber wenn die Männer, die die Städte ausgruben aus dem Aschenmeer, hineingingen in die Häuser, dann fanden sie zusammengekauert die Skelette der Menschen, die damals gelebt, die der Berg lebendig begraben. Da konnte man sehen, wie die Mutter ihre Kinder an sich preßte, wie sie nahe der Tür kauerten, die nicht mehr aufging, weil der Steinregen sie zusperrte. Da konnte man noch sehen, wie die Männer sich abgemüht hatten, die Hauswände zu durchbrechen, und fand in den Gassen Fliehende, die vom Steinregen erschlagen wurden.
Ach, es war ein trauriges Bild, und es gab wohl Leute, die noch weinen konnten über die Armen, die vor vielen Jahrhunderten hier mitten im friedlichen Glück des Hauses grausam getötet wurden von dem schrecklichen Berge.
Kommt ihr hinunter in den schönen Süden, vergeßt nicht, sie aufzusuchen, die Stätte des Schreckens, das alte Pompeji!
Seht, da wandeln die kleinen Menschen vergnügt auf der Erdkugel umher, wie die winzig-winzigen Bazillen, die auf einem Apfel leben. Sie bauen ihre Häuser und Städte, sie säen ihr Korn und pflanzen ihre Bäume und tummeln sich in tausenderlei Geschäften. Aber die Schale eines Apfels ist nur ganz dünn, und dann kommt das Fleisch, und die Schale der Erdkugel ist auch nur ganz dünn, und drunten ist alles Glut und Feuer. Die kleinen Menschlein aber spazieren da oben auf der Erdschale herum und denken gar nicht daran, daß unten das Feuermeer brodelt wie in einer wahrhaftigen Hölle. Die dicke Schale von Stein und Sand wird es schon da unten schön beieinander halten, denken sie. Aber die Schale hat tausend kleine Risse und Löchlein, und da hinein läuft auch dann und wann das Wasser des Meeres. Es rinnt durch allerlei geheimnisvolle Gänge und Schluchten tief hinunter in die Gesteine, und plötzlich kommt es dahin, wo das unterirdische Feuer glüht und sprüht. Da vermischt es sich mit der heißen Höllenglut, und mit einem Male ist der Teufel losgelassen von seiner Kette. Die Höllenglut und das Wasser vertragen sich nicht. Das dampft und zischt und explodiert wie Millionen Granaten, wie hunderttausend Dampfkessel, und preßt mit wilder Wut gegen die Erdschale. Da reißt sie entzwei, das wilde Feuer bricht aus dem Innern hervor, schleudert Steine und Erde ringsum, und der feuerspeiende Berg ist fertig. Aus dem Loch in der Erdschale aber fließt glühendes Gestein als ein siedeheißer Brei immer weiter hervor, heiße Asche und Millionen Steine schießen aus dem schrecklichen Berge, der sich über dem Höllenloch türmt, tagelang hervor wie aus einer Kanone, und alles ringsum wird verwüstet und vernichtet. Die Menschlein aber kriegen es mit der Angst! Die Erdschale ist zerrissen, das wilde Feuer steigt heraus, sie fliehen entsetzt von der grausigen Stätte.
Es war am 23. August des Jahres 79. Ein blauer Himmel lag über dem Meere, und aus Blütengärten zog ein süßer Duft über das Land. Die weißen Häuser der Städte Herculanum und Pompeji glänzten in der Sommersonne, und im Hintergrunde stand der Kegel des Feuerberges, umgeben von grünen Weingärten.
Die Menschen wanderten fröhlich durch die Straßen, saßen bei allerlei Handwerk vor ihren Hütten, und die Kinder spielten zwischen den steinernen Säulen der Torbogen. Am Abend, bei Sonnenuntergang, sollte in dem großen Zirkus ein Wagenrennen sein, und die Frauen saßen in ihren Gemächern und schmückten sich.
Als die Sonne sich hinabsenkte zum Meere, da stand über dem Berge eine dunkle Rauchwolke, und wenn es einen Augenblick still war in den Straßen, hörte man unter der Erde ein dumpfes Brausen und Grollen, aber niemand achtete darauf, denn jahrhundertelang war der brennende Berg friedlich gewesen, und die Menschen hatten vergessen, daß er wie ein Panther heimtückisch auf der Lauer lag, sie zu überfallen. Sorglos noch, eilten sie festlich gekleidet zu dem Schauspiel, aber immer dunkler stand über dem Berge die Wolke, immer lauter grollte es in der Tiefe, und ganz leise zitterte der Boden unter den Füßen. Da wandten viele den Blick zu dem Berge, und ein dunkles Ahnen kommenden Schreckens stieg auf in den Herzen der Menschen.
Die Nacht verging noch ruhig, am nächsten Morgen aber stieg die Sonne blutigrot auf, und unheimlich rumorte es in den Schlünden der Erde. Über dem Berge stand eine seltsame schwarze Wolke, riesenhoch. Wie ein Baum erhob sie sich und breitete sich in der Höhe aus gleich einem breiten Blätterdach. Immer weiter und weiter schwebte ihre Masse, sie verdunkelte die Sonne, machte den Tag zur Nacht, und ungeheure Aschenregen senkten sich aus ihr hernieder. Dumpf grollte der Donner vom Berge her, grelle Blitze zuckten durch die zunehmende Finsternis. In der Ferne aber lag im Sonnenschein das Meer und die Küste, und in den Ortschaften dort standen die Menschen und sahen entsetzt nach dem furchtbaren Berge und bedauerten die Menschen, die an seinem Fuße wohnten.
Zur Mittagszeit ringelten sich plötzlich glühende Schlangen aus dem Rachen des Berges hervor, flossen in die Weingärten, verbrannten alles ringsum, zerstörten die Wohnungen der Menschen. Da liefen die Bewohner von Herculanum und Pompeji wehklagend durch die Gassen, eilten mit ihrer Habe fort aus der Stadt, weiter hinaus in die Ebene. Aber ein neues Unheil kam vom Feuerberge! Aus seinem Innern schoß ein unendlicher Hagel von glühenden Steinen, stundenlang, tagelang, der erschlug Hunderte der Fliehenden, und die Landstraßen und Felder waren bedeckt mit Männern, Weibern und Kindern, die in der tiefen Finsternis mitten im hellen Tag untergingen. In Todesangst eilten die anderen weiter, umwallt von der sinkenden Asche, umrauscht vom Steinhagel, umzuckt von den Blitzen aus der Höhe. Der Donner rollte. Aus dem Erdboden, der da und dort barst, stiegen giftige Schwefeldämpfe auf, dunkelrot glühend krochen die Schlangen des Feuerbreies, der dem Berge entquoll, immer weiter hinein in die Ebene. Jeder dachte nur an die eigene Rettung. Der Freund verließ den Freund, schreiend wälzte sich der Strom der Fliehenden dahin.
Mit Schiffen wollte man vom Meere her den Bedrohten Rettung bringen, aber der Steinregen vertrieb die Seeleute, und einige, die gelandet, erstickten in den giftigen Dämpfen, die dem Boden entstiegen.
Viele von den Einwohnern der unglücklichen Städte waren in den Häusern zurückgeblieben. Sie fürchteten in dem Steinregen umzukommen und verkrochen sich in ihren Gemächern vor dem dichten Staub, der die Luft erfüllte. Da harrten sie der Stunde der Erlösung von all den Übeln. Aber drei Tage und drei Nächte wütete der schreckliche Berg. Immer dichter fiel der Staub, immer höher türmten sich die Steine. Die Häuser versanken darin, die Menschen wurden begraben in der heißen Asche, und jeder Laut erstarb.
Fern auf den Höhen aber standen die Bewohner glücklicherer Orte und sahen Herculanum und Pompeji untergehen.
Als am vierten Tage der Himmel sich wieder ein wenig geklärt, das unterirdische Rollen nachgelassen, die Sonne wieder ein wenig die noch immer mit Asche gefüllte Luft durchdrang, wagten sich mutige Männer heran an die Stätten des Grauens, aber keine Spur mehr fanden sie von den Ortschaften, die hier gestanden. Bis an die Knie versanken sie in der heißen Asche, Herculanum und Pompeji waren vom Erdboden verschwunden, versunken im Aschenmeer, und in der Ferne ragte der Feuerberg düster und drohend aus der stauberfüllten Luft.
Da wandten sie sich verstört und traurig um und verließen das weite Aschenfeld, auf dem vor wenig Tagen noch zwei reiche Städte gestanden. Erst siebenzehn Jahrhunderte später grub man sie aus, wandelten wieder Menschen durch die Gassen und Ruinen.
»Zu Basel«, so erzählte eines Abends der alte Ulebuhle, »lebte vor Jahren ein berühmter Uhrmacher, der war ein Meister in seiner Kunst, wie ihn die Welt noch nicht gesehen. Er baute wundervolle Uhren mit allerlei beweglichen Figuren, die zu jeder Stunde aus dem Gehäuse herauskamen, ihre Verbeugung machten und mit einem Stab die Stunde wiesen. Dann drehten sie sich um, schlugen mit einem kleinen Hämmerchen auf silbernen Glocken die Zeit, und dann verbeugten sie sich wieder und verschwanden.
Von weit und breit kamen die Leute herbei, um die Kunstuhren des Meisters zu sehen, und Fürsten und hohe Herren ließen sich für teures Geld da prunkvolle Werke bauen. Aber der Meister schuf immer wunderbarere Sachen. Da war ein Reiter aus purem Golde, der alle Mittag um zwölf eine Trompete zum Munde führte, ein lustiges Stücklein blies und dann eine Pistole abfeuerte. Das Pferd aber konnte wiehern und mit dem rechten Vorderhuf scharren. Schließlich baute er eine künstliche Ente, die auf dem Wasser schwimmen konnte und so natürlich schnatterte, daß alle Welt voll Staunen war. Setzte man sie aufs Trockene, so watschelte sie dahin und schlug auch zuweilen mit den Flügeln. Man ließ sie in der ganzen Welt sehen, als einen Beweis menschlicher Kunstfertigkeit, und endlich kaufte sie ein reicher Mann für viele tausend Gulden.
Aber der Meister, verwöhnt durch die Gunst hoher Herren, wollte immer höher hinaus. Er wollte etwas schaffen, das seinen Namen bis in die fernsten Zeiten berühmt machte, und darüber grübelte er Tag und Nacht. Endlich hatte er den richtigen Gedanken gefunden. Er beschloß, einen künstlichen Menschen zu bauen, einen Mann aus Eisen, in Lebensgröße, der täuschend Menschenart und Menschentum nachahmen sollte.
Er schloß sich in seine Werkstatt ein, rechnete und zeichnete und ließ niemand vor. Als er endlich das große Werk auf dem Papier fertig vor sich hatte, ging er daran, es wirklich auszuführen. Alles machte er selber, denn mit niemand wollte er seinen Ruhm teilen. Er goß die Form in Eisen und Bronze, er schmiedete und hämmerte, feilte und bohrte, schuf tausend Räder und Hebel, Gelenke und Lager, Wellen und Kurbeln, Federn und Gewichte. Aber nur langsam ging das schwierige Werk vonstatten, und da er keinerlei andere Arbeit annahm, so verbrauchte sich schnell das früher erworbene Geld, und seine Familie kam in Not.
›Mann‹, sagte seine Frau, ›es ist bald kein Pfennig mehr im Hause. Seit Jahr und Tag sitzt du bei deiner geheimnisvollen Arbeit in deiner Werkstatt, niemand, nicht einmal ich weiß, was du da für ein Kunstwerk baust, und da du alle alten Kunden mit ihren Aufträgen abweisest, so wird bald niemand mehr kommen, und wir wissen nicht mehr, wovon wir leben sollen.‹
›Geht zum Teufel mit eurem Plunderzeug‹, sagte wütend der Meister. ›Für die nichtige Schusterarbeit sind genug andere Uhrmacher da, die nichts weiter verstehen, aber ich will etwas bauen, daß alle Gelehrten und Künstler der Welt vor Neid erblassen sollen, etwas, das Fürsten und Könige aus aller Welt nach Basel locken wird. Dann werde ich berühmt werden auf der ganzen Erde, man wird mich zum Ober-Hofmechanikus ernennen, und es wird Gulden regnen.‹
›Es wird aber noch lange dauern‹, entgegnete die Frau, ›und inzwischen ergeht es uns elender als dem kleinsten Uhrmacher, der die Schwarzwälder Uhren repariert. Es ist kein Brot mehr im Hause und kein Fleisch für dich und die Kinder.‹
›So nimm die Tauben, mit denen Jung-Heinrich spielt‹, sagte der Mann, ›das hilft einen Tag weiter!‹
›Das bringe ich nicht über das Herz, Mann, sie sind seine liebsten Gefährten, sie sitzen auf seinen Schultern und picken ihm die Erbsen aus dem Munde, sie schmiegen sich an seine Wangen, er hängt mit ganzem Herzen an ihnen, und es wäre grausam, dem Knaben die beiden weißen Täubchen zu nehmen. Was hülfe es auch, nur einen Tag Rat zu schaffen!‹
›So laß mich in Ruh! Geh borgen und warte die Zeit ab. Ich schaffe ein Kunstwerk, das Scheffel Goldes bringt, und man wird mich feiern wie einen Großen!‹
›Mann, sieh dich vor! Dich hat der Hochmutsteufel beim Kragen! Versuche Gott nicht!‹
›Hol euch alle der Fuchs!‹ schrie wütend der Meister und stürzte davon, in seine Werkstatt, die Tür donnernd hinter sich zuschlagend. Er schloß sich ein, Frau und Kinder sahen ihn kaum mehr, denn er schlief auch dort in seiner verborgenen Klause, und selbst die Mahlzeiten nahm er da ein.
So verging noch ein Jahr und noch ein halbes. Die Frau borgte sich überall den Lebensunterhalt zusammen, verkaufte, was in der Wirtschaft entbehrlich, und bald stak des Künstlers Familie so tief in Schulden, daß niemand mehr eine Semmel leihen wollte. Die Frau des Künstlers und seine Kinder wurden blaß und mager, und es flossen viel Tränen im Hause. Aber der Mann sah das alles nicht. Eine unstete Hoffart, eine unbezwingliche Ruhmsucht flackerte aus seinen Augen. Er sah zuweilen aus, als sei sein Geist verwirrt.
Aber eines Tages war er mit dem Werk fertig. Mitten in der Nacht, als alles schlief, beschloß er, es zu probieren. Er stand auf und machte Licht, und dann nahm er die schwarzen Decken, die das Kunstwerk verhüllten, ab.
Es war wirklich ein Kunstwerk! Da stand ein leibhaftiger Mensch, ein hochgewachsener, kräftiger Mann. Er hatte eine dunkelblaue Livree an, mit blanken Knöpfen, wie ein vornehmer Bedienter. Das Gesicht war, da die äußere Hülle aus feinster Emaille bestand, so natürlich, daß man auf den ersten Blick einen wirklichen lebenden Menschen vor sich zu haben glaubte. Ein schwarzer Vollbart floß vom Kinn lang hernieder, die Augen, obwohl von Glas, Blickten durchaus nicht starr, die Hände waren wohlgeformt, nur die Füße, die in hohen Stiefeln mit flachen Sohlen steckten, sahen ein wenig plump aus, aber das mußte so sein, denn der Mann war ganz aus Eisen, und er mußte auf diesen mit Blei beschwerten Füßen sicher stehen.
Der Künstler knöpfte die Livree auf und öffnete die eiserne Tür, die die Brust des künstlichen Menschen verschloß. Himmel, wie sah es darin aus! Ein Gewirr von Hebeln und Rädern und Drähten und Magneten und Drahtspulen, es konnte einem schwindlig werden, und kein Mechaniker der Welt hätte diesen verwickelten Apparat auseinandernehmen und wieder zusammensetzen können. Nicht anders sah es in den Armen und Beinen aus. Da waren Laufwerke und Gewichte und elektrische Batterien, Zugfedern und kunstvolle Gelenke, und alles bewegte sich wie am Schnürchen.
Am großartigsten aber war es im Kopfe des eisernen Mannes bestellt! Der Uhrmacher nahm ihm die Perücke ab und öffnete den Schädel, um noch einmal nachzusehen, ob alle Schrauben am rechten Fleck. Die Glasaugen konnten wirklich sehen. Ein fotografischer Apparat war an ihnen angebracht. Ein Uhrwerk bewegte langsam den Film weiter, auf dem die Aufnahmen entstanden, und was die Glasaugen sahen, das wurde so auf dem abrollenden Fotografenfilm festgehalten und abgebildet. Auch hören konnte dieser eiserne Mensch. In den Ohren steckten Schallkapseln, wie bei einer Sprechmaschine, und der eingebaute Phonograph grub in eine Wachswalze ein, was die Ohren hörten. Drückte man auf einen verborgenen Knopf, dann wiederholte die Figur, was sie gehört hatte, denn dann fing die Sprechmaschine an zu schnurren, und aus dem Munde kamen deutlich alle Worte wieder. Dabei bewegten sich die Lippen so naturgetreu, daß man einen lebenden Menschen vor sich zu haben glaubte. Da war außerdem noch eine besondere Walze, die mancherlei alltägliche Redensarten enthielt, wie ›Guten Tag!‹ ›Gute Nacht!‹, ›Schlafen Sie wohl!‹, ›Wie geht es Ihnen?‹, ›Ich danke, mir geht es gut!‹, ›Ich heiße Johann der Wunderbare und stamme aus Basel. Mein Vater ist der Uhrmacher Cornelius!‹, ›Hatschi, es zieht, schließen Sie das Fenster!‹ Dies und ähnliches konnte das Kunstwerk sprechen.
Die Figur drehte den Kopf, nickte, hob Arme und Beine, grüßte wie ein Soldat, und vor allem konnte sie auch gehen. Freilich, sie ging ein wenig schwerfällig, und der Gang war langsam, aber im ganzen sah es doch recht natürlich aus, denn es gibt ja auch Menschen, die sich ein wenig langsam und unbeholfen fortbewegen. Durch ein Uhrwerk und einige einstellbare Hebel konnte man erreichen, daß der Mann soundso viele Schritte geradeaus ging, dann links oder rechtsum machte, wieder eine bestimmte Zahl Schritte tat und dann stehenblieb.
Aber er konnte auch ein treuer Wächter sein. Trat ein unberufener Eindringling auf einen elektrischen Draht, der von ihm ausging, so schoß er eine Pistole auf jenen Platz hin ab. Diese Pistole mußte man ihm natürlich zuvor in die Hand schrauben.
Ja, es war wirklich ein Kunstwerk.
Es kam der große Tag, an dem der eiserne Mann öffentlich gezeigt werden sollte. An allen Straßenecken war das Wunder in großen Plakaten angekündigt, alle Zeitungen hatten davon berichtet. Der Meister Cornelius wolle ein nie dagewesenes Kunstwerk zeigen, einen künstlichen Menschen: ›Johann den Wunderbaren‹. Tausende und aber Tausende liefen herzu. Die armen Leute gingen, die Vornehmeren fuhren im Wagen, und die ganz Hochgeborenen saßen zu Pferde. Es war ein Geschiebe und Gedränge vor dem Hause des Meisters, daß es beängstigend wurde, und die Polizisten liefen mit blauroten Köpfen umher, ihre Schnurrbärte waren gesträubt, und sie fuchtelten mit weißbehandschuhten Händen gewaltig in der Luft herum.
Es war angekündigt, daß Johann der Wunderbare ganz allein von seinem Geburtshause bis zu der großen Ausstellungshalle laufen sollte, in der er sich der Menge und den hohen Herrschaften vorstellen würde. Das war ein schöner glatter Weg bis dahin und ging zweimal um eine Ecke.
Die Frau des Künstlers und seine Kinder hatten Johann den Wunderbaren schon einen Tag vorher zu sehen bekommen. Da stand nun die Figur, wegen der sie zwei Jahre lang so viel hatten leiden und dulden müssen. Johann der Wunderbare hatte einen bösen Zug um den Mund, und auf der Stirn hatte er eine düstere Falte. Dazu sein langer dunkler Bart . . . ja, so kunstvoll er war, die Frau konnte keine Freude empfinden. Er kam ihr vor wie ein böser Dämon. Auch die Kinder fürchteten sich fast vor diesem künstlichen Menschen; am meisten aber Heinrich, des Meisters Jüngster. Er haßte diesen eisernen kalten Mann, wegen dessen die Mutter so viel geweint. ›Er sieht so böse aus‹, sagte Heinrich zur Mutter, ›so wie ein Mensch, der kein Herz hat.‹ – ›Da hast du recht, mein Junge‹, meinte die Mutter, ›aber er hat ja auch kein Herz, und deshalb ist er auch kein richtiger Mensch. Aber wir dürfen dem Vater seinen Stolz und seine Freude über sein Werk nicht verderben. Gebe Gott, daß er uns wieder besseren Zeiten zuführe und Geld bringe und wieder Frieden im Hause.‹
Da ging Jung-Heinrich wieder hinweg, um mit seinen beiden weißen Täubchen zu spielen, denn das war sein größtes Vergnügen auf der Welt, und er liebte nichts so wie diese Täubchen.
Die Menge vor dem Hause wuchs immer mehr. Endlich aber kamen in Begleitung des Bürgermeisters und der gelehrten Herren der Stadt die hohen fürstlichen Gäste an, und man benachrichtigte den Meister Cornelius, daß es an der Zeit sei.
Da tat sich die Tür auf, Meister Cornelius erschien, und hinter ihm kam langsam und bedächtig, sorgsam die Beine hebend und senkend, Johann der Wunderbare. Hurra, schrie die Menge, als sie seiner ansichtig wurde. Er legte ein paarmal die Hand an die Mütze, und dann lief er kerzengerade die glatte Straße hinunter. Vor ihm her ging sein Verfertiger. Weiter hinten folgten des Meisters Frau und die Kinder.
Im Winde wehte der dunkle Bart Johanns. Hin und wieder drehte er den Kopf nach rechts und nach links, und zuweilen hob er die Hand und grüßte.
Die Leute staunten und schrien durcheinander, und alle rühmten laut, wie er daherkam. Das Erstaunen wuchs aber, als Johann der Wunderbare im richtigen Augenblick linksum machte und um die Ecke bog, in die Seitenstraße, und der Jubel und das Verwundern nahm zu, als er richtig an der nächsten Ecke wieder einschwenkte und dann geradenwegs auf die große Halle zulief.
›Bei Gott, er ist wie ein lebendiger Mensch‹, sagten die Leute, ›hoffentlich betrügt uns der Meister Cornelius nicht, und es ist nicht wirklich ein Mensch, der nur eine Figur vortäuscht!‹
Die vornehmen Leute aber sagten, es wäre ›pyramidal‹, und die Gelehrten meinten, es wäre ein ›exorbitantes Phänomen‹. Die kleinen Bürger, die das hörten, wußten zwar nicht, was das zu bedeuten hatte, aber sie bekamen noch mehr Respekt vor Johann dem Wunderbaren, über den die hohen Herren so seltene Worte sagten.
Mitten in der weiten Halle lag ein Teppich, und als der eiserne Mann diesen Platz erreicht hatte, machte er halt. Nun setzten sich die Vornehmen auf Sessel ringsum, und alles Volk füllte die weite Halle bis auf den letzten Platz.
Meister Cornelius hob die Hand, und alles wurde mäuschenstill.
›Meine hohen Herrschaften, hochgelehrte Herren, verehrtes Publikum‹, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung, ›hier stelle ich Ihnen mein neuestes Kunstwerk vor, an dem ich zwei und ein halbes Jahr gearbeitet habe. Es ist etwas noch nie Dagewesenes, ein künstlicher Mensch. Ich darf mich rühmen, der erste Mensch auf Erden zu sein, dem es gelang, ein solches fast vollkommenes Wesen herzustellen. Der von mir geschaffene Johann der Wunderbare handelt so natürlich, daß vielleicht manche glauben, es sei ein wirklicher Mensch, und sie würden betrogen. Ich werde daher meinem Kunstwerk den Kopf abnehmen, werde seinen Körper öffnen, damit sich jeder überzeugen kann, daß es eine Maschine ist.‹
Das tat der Meister dann, und alle sahen: es ist wirklich ein Kunstwerk. Dann brachte der Künstler sein Werk wieder in Ordnung, und als er abermals die Hand hob und Schweigen gebot, begann die Figur ihre Vorstellung. Sie machte eine kleine Verbeugung, legte die Hand an die Mütze und sagte mit deutlicher Stimme: ›Guten Tag! Ich heiße Johann der Wunderbare und stamme aus Basel. Mein Vater ist der Uhrmacher Cornelius! Hatschi!! Es zieht, schließen Sie das Fenster!‹
Erstaunen ging durch die Menge. Die Leute lachten vergnügt über den spaßigen Kerl, und einige schlossen wirklich das Fenster. Ja, das ist ein großes Kunstwerk, sagten die Leute. Die Vornehmen aber meinten, es wäre wirklich pyramidal, und die gelehrten Herren schüttelten die Köpfe und sagten ein Mal über das andere: ›In der Tat, ein exorbitantes Phänomen!‹
Dann sang Johann der Wunderbare ein kleines Lied, und als die Leute klatschten, verbeugte er sich und sagte: ›Ich danke, mir geht es sehr gut!‹
›Jetzt‹, meinte der Meister, ›wird der künstliche Mann zeigen, daß er auch hören und verstehen kann. Einer von den Herrschaften wird ihm mit lauter Stimme etwas zurufen, und er wird es wiederholen.‹
Einer der gelehrten Herren, der berühmte Professor Konfusemathesius, trat heran und sagte laut zu dem wunderbaren Johann: ›Kannst du mir sagen, wer Amerika entdeckt hat?‹
Der Meister, der neben der Figur stand, drückte auf den Knopf, der den Phonographen in Tätigkeit setzte, und so nahm er die Worte auf. ›Johann‹, sagte er dann, ›was sagte der berühmte Professor Konfusemathesius zu dir?‹ Da schnurrte die Walze wieder ab, und die Figur sprach deutlich: ›Kannst du mir sagen, wer Amerika entdeckt hat?‹
Die Leute klatschten und waren ganz aus dem Häuschen. Inzwischen aber rief der Meister in das andere Ohr hinein: ›Christoph Kolumbus.‹ Und als die Figur nun den Namen des Entdeckers Amerikas aussprach, da war alles des Lobes voll.
›Jetzt‹, rief Meister Cornelius, ›wird der künstliche Mann zeigen, daß er auch sehen kann. Er wird an das Fenster treten, Sie werden ihm irgend etwas zeigen, und nachher werde ich Ihnen sagen, was Sie ihm gezeigt haben. Ich aber werde hier ruhig stehen bleiben, Sie sollen mir die Augen verbinden, damit ich es selbst nicht sehen kann, was meiner Figur vorgeführt wird.‹
Man verband dem Künstler fest die Augen und führte ihn in eine dunkle Ecke. Johann stand am Fenster. Draußen auf dem Platz standen zwei Schimmel. Man setzte auf jeden einen Knaben und führte die Pferde vor das Fenster. Dann führte man sie wieder weit fort und nahm dem Meister die Binden ab. Er brachte sein Kunstwerk wieder auf den Teppich zurück, griff hinein in das Hinterhaupt, zog den fotografischen Film hervor, ging in eine dunkle Ecke, goß eine Flüssigkeit darüber, die das Bild sichtbar machte, und kam wieder zurück.
›Man hat Johann dem Wunderbaren zwei Schimmel vorgeführt. Knaben saßen darauf. Einer hatte eine Fahne in der Hand. Ja, er hat das alles deutlich gesehen und mir verraten.‹
Eine Bewegung ging durch die Menge. Viele sagten, daß es eine tolle Sache sei, eine Art Hexerei, und ein paar Frauen meinten, es sei unheimlich, und man könnte sich fürchten vor dem eisernen Kerl mit dem schwarzen Bart.
Aber den Meister Cornelius, den das Staunen über sein Werk immer hoffärtiger machte, plagte der Teufel. Er wollte immer mehr und mehr von ihm zeigen.
›Geben Sie Obacht‹, rief er, und sein Gesicht war vor Eifer feuerrot, ›jetzt wird sich Johann der Wunderbare als Kunstschütze produzieren. Dort vor dem Fenster ist ein Pfahl aufgestellt, und auf ihm ist eine Taube angebunden, die wird er herabschießen. Er ist ein treffsicherer Schütze.‹
Damit schraubte er seinem Mann eine Pistole in die Hand und drehte ihn dem Fenster zu. Richtig, da draußen war ein Pfahl, und auf dem Pfahl saß, an einem Band befestigt, das ihr Davonfliegen verhinderte, eine niedliche weiße Taube. Die machte Gurr-Gurr und langweilte sich, denn sie war gewöhnt, mit ihrer Schwester zu spielen und auf der Schulter des kleinen Knaben zu sitzen, der Erbsen in der Tasche hatte und auch kleine süße Kuchen. Sie liebte den kleinen Knaben, und er liebte sie. Sie pickte mit ihrem rosa Schnäbelchen vorsichtig Erbsen von seinen Lippen, sie saß oft mit ihrer Schwester stundenlang auf seiner Schulter, wenn er in seinen Märchenbüchern las.
Heut aber war er nicht gekommen, sie aus ihrem Wohnkäfig zu befreien. Ein harter Mann kam, der fest zufaßte und sie in einen Sack steckte. Nun saß sie hier auf der Stange, sagte unablässig Gurr-Gurr, denn sie hatte Sehnsucht nach der Schwester, nach dem kleinen Jungen und nach Erbsen und Wasser.
Johann der Wunderbare stand mit finsterem Gesicht und starren Augen da. Sein schwarzer Bart stand weit ab vom Kinn, sein Mund schien zu lächeln, es war, als läge ein böser Zug auf seinem Antlitz. Er hatte den Arm erhoben und zielte auf das Täubchen.
Es entstand ein Murmeln in der Menge. Einige Kinder und Frauen sagten, es sei schade um das niedliche Täubchen, und es sei nicht recht, es von dem Eisernen töten zu lassen. Plötzlich drängte sich ein kleiner Knabe vor. Jung-Heinrich war es. Er hatte ganz hinten mit der Mutter und den Geschwistern gestanden, und nun drangen die Worte vom Schießen und von dem Täubchen an sein Ohr. Da packte ihn ein düsteres Ahnen. Sollte es gar sein Täubchen sein? Er zwängte sich durch die Menschen hindurch, um das Fenster und den Pfahl sehen zu können, und erblickte seinen Liebling mit dem blauen Band um den weißen Hals. Ein heftiger Zorn faßte ihn. Er sprang vor, geradewegs auf den eisernen Menschen zu, der ihm so großen Schmerz antun wollte. Er sah den Vater kaum, er stand plötzlich neben Johann dem Wunderbaren auf dem Teppich, und viele tausend Menschen blickten erstaunt auf ihn.
›Was willst du tun, eiserner Mann?‹ schrie er. ›Warum willst du mein Täubchen töten? Du bist ein böser Mensch, du hast kein Herz, du bist ein grausamer Mensch, ein herzloser Mensch!‹
Aber schon hatte der Vater auf den Mechanismus gedrückt, der den Schuß auslöste, und als der Knall verhallt war, sah man das Täubchen an der Schnur niederfallen. Johann hatte gut getroffen, oh, er war ein trefflicher Schütze, ja er war wirklich ein Kunstwerk.
Es ging ein Murren durch die Menge.
Der kleine Knabe aber brach in Tränen aus. Er war außer sich. Wütend sprang er auf den Verhaßten zu. ›Herzloser, böser Mensch! Mörder, Mörder!‹ schrie er ihm zu, und dann stieß er mit der ganzen Kraft seines Körpers nach ihm. Die Figur, die den einen Arm weit vorgestreckt hielt und auf einer Kante des Teppichs stand, war nicht im Gleichgewicht. So wankte sie, drehte sich, und es war, als ob sie den Knaben erschlagen wollte. Sie neigte sich vornüber, ihm zu, stürzte mit ihm, über ihn zu Boden.
Das ging alles so schnell, daß der Künstler, der verblüfft daneben stand, gar nicht die Zeit hatte, einzugreifen.
Erschreckt drängten die Menschen sich hinzu, zogen den Knaben unter der eisernen Figur hervor. Noch lebte er . . . vielleicht konnte man ihn retten. Auf einer Bahre ward er davongetragen. Aber das Murmeln der Menge wuchs drohend an, es wurde zu wildem Schreien, zu brausenden Rufen.
›Er hat kein Herz, nein, er hat kein Herz‹, so schrie es von allen Seiten. ›Er kann Tiere und Menschen töten, er würde auch uns ohne Erbarmen töten, wenn es ihm befohlen wird. Er ist ein Bösewicht, ein Mörder!‹
›Mörder, Mörder, herzloses Ungeheuer!‹ tobte die Menge. Man nahm den Knaben auf den Arm, führte ihn der Mutter zu und versprach ihm neue Täubchen. Empört und wütend, schreiend und tobend schob und drängte sich die Menge aus der Halle.
›Ja‹, sagten die Vornehmen, ›er ist ein pyramidales Kunstwerk, aber ein Herz, nein, ein Herz hat er nicht!‹ – ›In der Tat, ein exorbitantes Phänomen‹, sagten die Gelehrten und wiegten die Köpfe, ›aber cum venia zu sagen, gewissermaßen herzlos!‹ Darauf verschwanden auch sie.
›Er kann alles‹, brüllten die erregten Massen, ›er kann sich bewegen wie wir, er kann sehen und hören, sprechen und singen, aber er tötet, denn er hat kein Herz, kein Herz, kein Herz! Es gibt schon genug Herzlosigkeit in der Welt, wir wollen nicht, daß man sie noch künstlich herstellt!‹
In der Ferne verlor sich das Toben und Schreien, schließlich war es nur noch ein fernes Brausen, und dann wurde es ganz stille.
Einsam stand in der weiten Halle Cornelius, der Künstler. Er war leichenblaß. Unheimlich funkelten seine Augen. Neben ihm lag sein Werk. Da faßte ihn eine namenlose Wut. Er ergriff eine schwere eiserne Stange, die in der Ecke der Halle lehnte, er hieb wie ein Rasender mit wuchtigen Schlägen auf den wunderbaren Johann ein, der ihn mit starren Augen und offenem Munde höhnisch anblickte. Er zerschmetterte ihn mit wahnsinnigem Eifer, er trat mit den Füßen in das kunstvolle Gewirr von Rädern und Hebeln, Walzen und Gelenken, Drähten und Federn, bis alles ein wüster Trümmerhaufen war.
Dann hüllte er sich in seinen Mantel, und als der Abend hereinbrach, eilte er aus der Stadt, wanderte ohne Ruh und Rast durch Wälder und Felder in die unbekannte Ferne.
Man hat ihn nie wiedergesehen.«
»Höret nun die Geschichte von dem alten Baum, ihr Kinder, der da wohl ein Jahrhundert im stillen Walde stand und ein merkwürdiges Ende nahm.
Kerzengerade war er gewachsen, denn das ist für eine rechtschaffene Fichte eine Ehrensache. Sein dunkelgrünes Nadelkleid war dicht und voll, und wenn der Wind durch den Wald fuhr, dann rauschte er durch das Geäst des alten Baumes und klapperte mit dürren Zweigen wie ein Storch mit seinem Schnabel. Die kleinen Vögel saßen auf den breiten Fächern von Nadeln, die so schön nach Harz dufteten, und sangen ihre Lieder. Der Specht hämmerte, daß ihm der Kopf brummte, und die Eichkätzchen jagten auf und nieder und spielten Verstecken in dem Dunkel des dichten Geästes.
Im Winter lagen mächtige Schneewuchten auf den breiten Armen der Fichte, und im Frost knackten ihre mit tausend Diamanten behangenen Zweige, daß man es weithin schallen hörte. Dann kamen Hirsche und Rehe und schnoberten an der Rinde, denn sie litten Hunger. Reinecke, der Fuchs, schnürte mit gespitzten Ohren vorüber, wartete hinter dem breiten Stamm auf Lampe, den Hasen, und nachts saß zuweilen eine Eule auf dem Wipfel und schrie und miauzte wie ein Wickelkind.
Aber am schönsten war es doch im Sommer, wenn die Sonne so warm schien und die Vögel sangen. Einmal kamen ein alter Mann und ein altes Mütterchen. Sie gingen Hand in Hand. Sie blieben vor dem alten Baum stehen.
›Dieser war es‹, sagte der alte Mann und putzte seine Brille.
Und dann suchte er ringsum am Stamm und betastete die rissige Rinde.
›Ja‹, rief er plötzlich fröhlich, ›da ist es! Oh, wie lange ist es her, und wie jung waren wir damals!‹
Richtig, da war ein Herz in die Rinde des alten Baumes eingeschnitten, und zwei Buchstaben standen darunter, aber man konnte sie kaum noch lesen, denn die Zeit hatte sie zernagt und verwischt. Ja, vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und so lange war es her, daß der alte Mann, der damals ein ganz junger war, die Zeichen hier eingegraben in die Rinde. – Lange standen die beiden Alten vor dem Baum und redeten kein Wort, und dann gingen sie Hand in Hand weiter.
Ja, so ein alter Baum ist wie ein treuer Freund, und der junge Jäger, der oft in seinem Schatten ruhte, wenn die Mittagshitze über der Welt lag, liebte ihn wie einen Menschen.
Aber eines Tages nahm das alles ein Ende. Da kamen die Holzfäller mit blanker Säge und scharfer Axt, und viele Bäume mußten sterben. Der Förster kam und machte mit Kreide drei Kreuze an den Stamm der alten Fichte, und das war ihr Todesurteil.
›Es tut mir leid, alter Bursche‹, sagte der Grünrock, ›aber es ist nicht zu ändern, die Welt braucht Holz!‹
Ach, es war nicht zu ändern! Da kamen die Männer und sägten den Stamm durch. Die Vögel hörten den alten Baum ächzen und stöhnen, erschreckt flogen sie weit fort. Der Star, der da oben im Wipfel eine Dachkammer bewohnt hatte, mußte schleunigst ausziehen. Er setzte sich auf den nächsten Baum und schnatterte und schimpfte stundenlang auf die Störer des Waldfriedens.
Dann legten die Männer ein Seil um den Baum, riefen ziehend ›Horuck! . . . Horuck!‹ und krachend stürzte die Fichte nieder auf den moosigen Waldboden.
Äste und Zweige wurden abgeschlagen, die dicke braune Rinde abgelöst, und der lange, kahle Stamm lag wie ein Leichnam im Walde. Nach ein paar Tagen aber kam ein riesiger Wagen mit vier Pferden daher, und der Stamm wurde davongefahren, fort aus der grünen Heimat, hinunter in die Stadt, zum Sägewerk.
Da kreischten die Sägen von früh bis spät, schnitten den Stamm in lauter kleine Scheiben, und dann hackte die Hackmaschine das alles in tausend Trümmer. Ja, das Sägewerk war schrecklich. Ganze Wälder hatte es schon gefressen, und die Leute, die den grünen Wald liebten, mochten die blanken Sägen mit ihren tausend Raubtierzähnen nicht leiden.
Als die beiden alten Leute nach Monaten, im Frühlingssonnenschein, wieder durch den Wald schritten, da fanden sie den alten Baum nicht mehr. Nur ein breiter Stumpf ragte noch aus dem Boden. Lange standen sie da, und als sie fortgingen, glänzten Tränen im Auge des alten Mütterchens.
Der junge Jäger aber schimpfte und wetterte, als er seinen Liebling nicht mehr fand, und mißmutig warf er die Flinte über die Schulter und ging heimwärts.
Die Trümmer des Baumes waren inzwischen weitergewandert. Sie kamen in eine große Fabrik, da machte man Papier. Man warf sie in mächtige Kessel, in denen kochte ein scharfer Teufelssaft, und schließlich wurde ein dicker Brei aus dem Holz der alten Fichte. Der Brei wurde weiß gefärbt, kam auf mächtige Siebe, das Wasser wurde verdampft, und da war ein dünner, feuchter Filz aus dem Holzbrei geworden. Der ging dann durch viele Walzen und Pressen, wurde immer dünner und dünner, und endlich wurden schöne glatte Papierbogen daraus.
Ja, es ist eine tolle Geschichte, was die Menschen alles aus so einem alten Baume machen können! Aber was nutzt das ganze schöne Papier, wenn es nicht beschrieben oder bedruckt wird, sagten sich die Leute. Das sagte auch der langgelockte Dichtersmann, der da drinnen in der großen Stadt hauste, und so nahm er ein paar von den schönen weißen Bogen, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb lauter Reime und Gedichte auf das Papier. Ja, da besang er den Wald mit seinen grünen Bäumen und die Vögel, die da in den Zweigen wohnen, und sagte, daß es nicht Schöneres gebe in Gottes weiter Welt als den stillen Wald mit den rauschenden Wipfeln. – Ach, er dachte nicht daran, daß der alte Baum sterben mußte, damit der Dichter auf dem Papier seine Lieder über den Wald niederschreiben konnte.
Aber das meiste Papier, das aus dem Fichtenstamm entstanden, kam in eine große Druckerei, und da wurden die Gedichte über den Wald zehntausendmal abgedruckt, und aus dem Baum waren zehntausend Bücher geworden, die hinauswanderten in alle Welt.