Die sieben Brücken von Köln - Jürgen Schmicker - E-Book

Die sieben Brücken von Köln E-Book

Jürgen Schmicker

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Beschreibung

Eine rätselhafte Mordserie lässt die junge, erst kürzlich ins Rheinland versetzte Kommissarin Lena Anders nicht zur Ruhe kommen. Mit der Hilfe ihrer Kölner Kollegen Antwerpes, Burger, Uhlenbruch, Rüther, Heugel und Ruschmeier macht sie sich auf die aussichtslos erscheinende Suche nach Motiv und Mörder. Dann trifft sie den eigenwilligen und bis dahin erfolglosen Privatdetektiv Tommy Eigelstein, der ein ganz persönliches Interesse an dem Fall bekommt ...

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Jürgen Schmicker

 

 

 

 

 

Die sieben Brücken von Köln

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

Jürgen Schmicker

Die sieben Brücken von Köln

 

 

© Copyright: Jürgen Schmicker

 

Impressum:

Jürgen Schmicker

Weiersweg 9

41065 Mönchengladbach

[email protected]

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, sowie das Recht der Übersetzung vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form, durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragen für Schäden jedweder Art ist ausgeschlossen.

 

 

Umschlaggestaltung: Hermann Bloch, Wilstedt

www.hermannbloch.de

 

 

 

 

 

 

 

Jürgen Schmicker

 

 

 

Die

sieben

Brücken

von

Köln

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

Hinweis

 

Die Personen dieses Romans und deren Handlungen sind frei erfunden. Sie entspringen nur einer Quelle: Der Phantasie des Autors.

Von Zufälligkeiten abgesehen, haben ihre Namen und Erlebnisse keinerlei Bezug auf Personen des wirklichen Lebens in Vergangenwart und Gegenwart.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir haben keine innere Stimme mehr,

wir wissen heute zu viel ...

(Robert Musil)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eins

 

 

 

Der Kanzler grunzte missmutig vor sich hin.

Es war kurz nach Tagesanbruch und er war denkbar schlecht gelaunt, wie eigentlich immer, wenn er noch keinen Schluck gefrühstückt hatte.

Außerdem war die frühmorgendliche Kühle Gift für sein beginnendes Rheuma.

Er schob sein Fahrrad schwerfällig den Rheinuferweg entlang. Niemand hatte ihn jemals auf dem Sattel sitzen und wirklich fahren gesehen.

Immer und überall schob er den mit seinen sämtlichen Habseligkeiten, allen möglichen und unmöglichen Fundstücken und - an guten Tagen, wenn das Schicksal ihm gnädig gesonnen war - dem flüssigen Tagesproviant beladenen Drahtesel und schritt selbst mit hoheitsvoller Miene nebenher.

Heute war die Stimmung eher gedrückt.

Der Kanzler spuckte mürrisch aus.

Die Ausbeute war bisher nicht der Rede wert gewesen.

Bis auf ein paar lumpige Pfandflaschen, die er in den unergründlichen Weiten seiner Packtaschen hatte verschwinden lassen, und einem halben Dutzend Marlboros, die ziemlich aufgeweicht in einem Papierkorb auf ihn gewartet hatten, war nichts Brauchbares dabei gewesen.

Für eine Flasche Rachenputzer reichte das noch lange nicht.

Der Kanzler war natürlich nicht wirklich Kanzler.

Nichtsesshaft nannten die anderen ihn, oder Analphabet, ein noch viel schlimmeres Schimpfwort.

Die meisten nannten ihn Penner.

Aber was wussten die schon.

Er war ein freier Mensch.

Ein Berber.

Seinen Spitznamen verdankte er vor allem seiner Vorliebe für vornehme Stresemann-Anzüge.

Irgendwann hatte ihm eine mitleidige Seele ein wenig getragenes Exemplar zugesteckt und seitdem war es kleidungsmäßig um den Kanzler geschehen.

Den Nachschub an feinem Zwirn beschaffte er sich in der Folgezeit mit niederen Dienstleistungen wie Teppichklopfen oder Rasenmähen in den besseren Wohngegenden, wo eine Hausangestellte oder eine Witwe sich seiner erbarmte und mit der abgelegten oder nicht mehr benötigten Festtagskleidung ihres Dienstherrn oder verstorbenen Gatten versorgte.

Abgesehen von seiner Vorliebe, sich staatsmännisch zu kleiden, hatte der Kanzler auch eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Konrad Adenauer - die gleiche hochaufgeschossene, hagere Figur, der spärliche Haarkranz und die Physiognomie eines Steinkauzes - und ganz sicher hatte auch das zur Begründung seines Spitznamens beigetragen.

Dass der Kanzler eigentlich auf den urkölschen Namen Schmitz hörte, wussten mit Ausnahme der Polizei und der Staatsanwaltschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten umfassend mit ihm beschäftigen mussten, nur sehr wenige Menschen.

Die Akte Schmitz war umfangreich, aber sie beinhaltete nichts wirklich Schlimmes.

Beschaffungskriminalität nannten die anderen es.

Sie hatten immer so seltsame Ausdrücke.

Der Kanzler selbst nannte es Organisieren.

Beschaffungskriminalität bedeutete Strafvollzug, also Knast. Aber so ein paar Winterwochen hinter schwedischen Gardinen konnten durchaus ihren Reiz haben.

Der Kanzler verscheuchte die lästigen Gedanken mit einer Handbewegung. Jetzt war Sommer und er war frei. Frei wie der Schwarm Krähen, der da vorne vor der Rodenkirchener Brücke lärmend in den Himmel stieg.

Der Kanzler mochte den Rhein, ja er liebte ihn, denn in seiner Umgebung hatte er im Laufe seines wechselvollen Lebens schon so manches gefunden, was sich direkt oder indirekt verwerten ließ.

Auch heute morgen suchten seine Augen unablässig die Umgebung, den Weg, die Wiesen, die unregelmäßigen Ränder des Flussufers ab.

Es war früh.

Noch war er niemandem begegnet, mit einer Ausnahme. Einmal hatte er die Silhouette eines Mannes gesehen.

Weit voraus.

Der andere hatte ihn an jemanden erinnert, den er kannte.

Er hatte von weitem so ausgesehen wie Dani, der Zigeuner, der mit seinem Wohnwagen schon seit Jahren den Rhein zwischen Düsseldorf und Bonn entlang zog und hier am frühen Morgen vielleicht seine Kaninchenfallen kontrollierte, die er in der Nacht ausgelegt hatte.

Aber vielleicht war die Gestalt in der Ferne auch irgend jemand anders gewesen.

Der Kanzler erreichte die Parkbänke am Bildstock des Heiligen Maternus. Er machte flüchtig das Kreuzzeichen und kontrollierte die Abfallbehälter, fand aber nichts Brauchbares und entschied sich, eine kleine Rast einzulegen.

Hier, in der Nähe der Restaurantschiffe, war abends hin und wieder ein Fang zu machen, aber jetzt, frühmorgens, waren die Aussichten eher schlecht. Er wollte vormittags in Marienburg, im Villenviertel, sein Glück versuchen und dann ab Mittags im Zentrum, im Schatten des Doms, wo eigentlich immer etwas abfiel.

Aber halt.

Der Kanzler merkte auf und runzelte die Stirn.

Seine Sinne arbeiteten so fein wie ein Seismograph und jetzt hatten sie etwas Ungewöhnliches registriert.

Etwas stimmte nicht.

Vielleicht eine belanglose Kleinigkeit, möglicherweise vollkommen ohne Bedeutung.

Aber irgendetwas war da.

Etwas, das hier nicht hingehörte.

Ob sein Gefühl gleichzeitig Gefahr bedeutete, wusste er nicht, aber er registrierte mit Unbehagen, dass sich seine Nackenhaare aufrichteten.

Jetzt war der Kanzler hellwach.

Er sog die Luft prüfend durch die Nüstern, wie ein Araberhengst. Er legte den Kopf abwechselnd nach links und rechts und versuchte, ein Geräusch aufzufangen, aber nichts.

Hau ab!, sagte seine innere Stimme, auf die er sich in der Regel verlassen konnte. Mach, dass du weg kommst, das ist besser für dich!

Er stand auf und wandte sich zum Gehen, aber dann blieb er wie angewurzelt stehen.

Ein Geräusch, ein feines Summen, hatte ihn alarmiert.

Ein feines Summen wie von einem großen Schwarm Fliegen.

Keine gewöhnlichen Fliegen.

Schmeißfliegen, das meinte er deutlich heraushören zu können.

Wenn Schmeißfliegen, sich in Massen versammeln, dann haben sie etwas zu fressen gefunden.

Eine Menge zu fressen.

Das bedeutete Aas.

Ein totes Tier.

Vielleicht ein Kaninchen, überlegte der Kanzler.

Vielleicht war es ja vorhin tatsächlich Dani gewesen.

Dani der Zigeuner.

Vielleicht war in einer der Fallen ein Tier gefangen.

Vielleicht war deshalb auch der Schwarm Krähen kreischend aufgestiegen, als er um die Biegung gekommen war.

Erst die Krähen, dann die Fliegen.

Seltsame Zeichen.

Irgend etwas stimmte nicht, so viel stand fest.

Der Kanzler schwankte einen Moment hin und her, dann hatte er sich entschieden.

Er setzte sich lautlos in Bewegung.

Richtung Fluss.

Hin und wieder blieb er stehen, um mit angehaltenem Atem zu lauschen.

Das feine Summen kam von einem einzelnen, von einem dichten Gestrüpp aus wilden Trieben umgebenen Weidenbaum vielleicht fünfzig, sechzig Meter von der Rodenkirchener Brücke entfernt.

Er schob sich langsam auf den schmalen Trampelpfad zu, der direkt zu der Weide führte.

Hier waren vor kurzer Zeit Menschen gegangen, die Spuren in dem leicht morastigen Untergrund ließen gar keinen Zweifel zu. Außerdem war das Gras, das den schmalen Pfad säumte, an einigen Stellen niedergedrückt, die jungen Schilfpflänzchen abgeknickt.

Der Kanzler ging langsam in die Hocke und beäugte die Abdrücke aus der Nähe.

Die Spuren waren frisch.

Zwei Paar Füße waren in Richtung auf den Baum und das Dickicht gegangen.

Und nur ein Paar zurück.

Er prägte sich das Aussehen der Spuren ein, ohne genau zu wissen, warum er das tat.

Er kratzte sich bedächtig den Kopf.

Für einen Moment musste der Kanzler wieder an die Gestalt denken, die er eben vor sich gesehen hatte.

Seine Unruhe wuchs.

Die innere Stimme wurde wieder laut: Hau ab! Mach, dass du weg kommst.

Aber wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, schob er sich unbeirrbar weiter Richtung Weide, bis er sie endlich erreicht hatte.

Er hielt einen Moment inne.

Mucksmäuschenstill stand er da, wie festgewachsen.

Er musterte das undurchdringlich erscheinende Dickicht, dann war seine Entscheidung endgültig gefallen.

Er bog mit den bloßen Händen vorsichtig ein paar Brombeerranken zur Seite und wollte sich schon in das Gebüsch schieben, da sah er etwas aus den Augenwinkeln, neben ihm, nur einige Meter entfernt, auf dem Boden.

Etwas, das hier nicht hingehörte.

Einen Farbfleck.

Etwas Buntes.

Ein Bündel Klamotten, oder?

Zeitlupenhaft langsam schob er sich näher.

Ja, Kleider.

Frauenkleider.

Jetzt hatte er das Bündel erreicht.

Misstrauisch witternd sah er sich zu allen Seiten um, ehe er sich hinunterbeugte.

Dann spielte ein Lächeln um seine Lippen.

Ein hübscher Fang.

Modische Frauenkleidung, kaum getragen.

Im Eintausch brachte das mühelos einige Flaschen Lambrusco.

Schade, Unterwäsche war keine dabei.

In der Stadt kannte er einen Abnehmer für Damen-Unterwäsche. Einen vornehmen, älteren Herrn, den sie Professor nannten. Immer gut gekleidet, immer höflich und sehr auf Diskretion bedacht.

Der bezahlte gut für Damen-Unterwäsche. Vor allem, wenn man garantieren konnte, dass sie getragen war.

Aber hier gab es keine Unterwäsche, sondern nur normale Kleidung.

Besser als nichts.

Der Kanzler nahm das Bündel vorsichtig, fast zärtlich auf, als hätte er ein Baby im Arm.

Beim Aufrichten stutzte er, aus den Tiefen des Gebüschs leuchtete ihm etwas Helles entgegen.

Etwas Blondes.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen und linste vorsichtig durch das dichte Zweigwerk.

Ein Mensch.

Abrupt legte er das Kleiderbündel wieder ab.

Ein Mensch?

Aber nein, das konnte nicht sein, oder?

Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er überlegte fieberhaft, kam aber zu keinem Entschluss.

Noch einmal äugte er misstrauisch in alle Richtungen.

Dann zwängte er sich kurzentschlossen in das Gebüsch.

Brombeerranken zerrten an seiner Kleidung, als wollten sie ihn mit Macht zurückhalten, verbissen sich in seiner Haut, Brennnessel waren auch dabei, Pfeifenwinden und Kletten, kleine grüne Stachelbällchen mit Widerhaken, aber er ließ sich nicht stoppen.

Dann hatte er das Hindernis überwunden und er blieb stocksteif stehen.

Mit einem Schlag war ihm klar, was die Fliegen angelockt hatte, die jetzt erschreckt aufstiegen.

Tatsächlich, ein Mensch.

Ein Mädchen.

Das Mädchen bewegte sich nicht.

Er beugte sich vorsichtig zu dem reglosen Körper herunter und betrachtete ihn unschlüssig aus der Nähe. Er fühlte sich wie betäubt, konnte nichts denken, aber er musste etwas machen, wollte irgendwie helfen.

Obwohl er das Ergebnis schon zu kennen glaubte, versuchte er mit den Fingern die Halsschlagader des Mädchens zu ertasten, wie er es den Amtsarzt so oft auf der Krankenstation hatte machen sehen.

Er berührte das Mädchen und schnell zog er die Hand zurück.

Da war eine haarfeine Verletzung am Hals, aber das war es nicht, was ihn erschreckt hatte.

Der Körper war kalt wie Eis.

Das Mädchen würde sich nie mehr bewegen.

Es war tot.

Der Kanzler versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen, aber der Nebel in seinem Kopf lichtete sich nur langsam.

Eine junge Frau, blond und hübsch.

Sehr hübsch.

Sie hatte den Männern sicher sehr gefallen, als sie noch am Leben gewesen war.

Sie hatte ihr Gesicht angemalt, wie es viele Frauen tun, wenn sie zu einer Feier gehen oder zum Tanzen.

Aber jetzt war sie tot.

Die Frau war tot und das bedeutete Ärger.

Viel Ärger und vor allem Polizei.

Polizei ...

Nur zögernd löste sich seine Verkrampfung.

Er musste sehen, dass er weg kam.

Rückwärts, ohne den Blick von dem regungslosen Körper abwenden zu können, zwängte er sich durch das Gebüsch ins Freie.

Geistesgegenwärtig raffte er das Kleiderbündel an sich und rannte, so schnell er konnte.

Weg, bloß weg.

Die Spuren, schoss es ihm im Laufen durch den Kopf. Er musste in dem weichen Boden Spuren hinterlassen. So, wie die Spuren, die er selbst gesehen hatte.

Wenn die Polizei hierhin kam – und sie würde bald kommen, da gab es gar keinen Zweifel – dann würde sie die Spuren entdecken.

Seine und die anderen.

Sein Herz schlug bis zum Hals. Das bedeutete Ärger, eine Menge Ärger.

Und dann würden sie nach denen suchen, die die Spuren gemacht hatten.

Also auch nach ihm.

Aber jetzt konnte er sich nicht darum kümmern.

Er musste weiter, schnell weiter.

Er verstaute die gefundenen Kleider in den Packtaschen seines Fahrrads und machte sich auf den Weg. Er schob sein Fahrrad so hektisch voran, dass die Tauben unter der stählernen Brückenkonstruktion flügelschlagend aus ihrem Schlaf aufschreckten.

Noch einmal schaute er sich um, ein letztes Mal, dann ließ er den unheimlichen Ort so schnell hinter sich, wie er konnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwei

 

 

 

Auf den ersten Blick wirkte es fast so, als ob sie schlief.

Sie war jung.

Blutjung.

Und sie war bildhübsch.

Ihr Haar hatte die Farbe von reifem Weizen und reichte bis an die Taille.

Sie trug ein dezentes Make up, obwohl sie es bei ihrem Aussehen wohl nicht nötig gehabt hätte.

Mit Abstand die schönste Leiche, die Hauptkommissarin Lena Anders in ihren neun Dienstjahren zu sehen bekommen hatte.

Der Tod ließ das Mädchen seltsam friedlich aussehen. Friedlich und irgendwie adrett.

Die umlaufende Verletzung an ihrem Hals, die fast aussah wie eine feine, blutrote Kette, wurde fast vollständig von dem Kragen des Strickpullovers überdeckt, den sie trug.

Das Mädchen war vollständig angezogen.

Sie trug einen Pullover und Blue Jeans.

An einem Fuß hatte sie einen Leder-Mokassin, das Gegenstück lag ein Stückchen entfernt im Gras.

Die Kommissarin beugte sich hinunter.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie eine knapp walnussgroße, leicht gerötete Stelle an der oberen Halspartie des Opfers.

Das war kein Würgemal, keine Verletzung, auch nicht wundgescheuert, einfach nur gerötet, als sei diese Stelle stärker durchblutet gewesen.

Was das war, würde die Obduktion ergeben müssen.

Mit einem kaum hörbaren Seufzer richtete sich die Hauptkommissarin auf und rieb sich unauffällig den schmerzenden Rücken.

Sie unterdrückte ein aufkommendes Gähnen.

Die Nacht war kurz gewesen.

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich um.

Fahle Nebelfetzen widersetzten sich dem aufkommenden Tageslicht. Noch immer waren die Konturen unscharf.

Etwas weiter weg, in beiden Richtungen auf dem befahrbaren Deichweg, duckten sich zwei kleine Konvois von Dienstfahrzeugen, wie eine Herde hungriger Tiere, die auf Beute lauert.

Es war seltsam still.

Die ameisenhafte Armee der Spurensicherung, die um sie herum ausgeschwärmt war, tat in ihren weißen Plastikanzügen fast geräuschlos ihre Arbeit.

Es war nichts zu hören, bis auf das allmählich auf Flüsterlautstärke angeschwollene Rauschen des morgendlichen Verkehrs von der Autobahnbrücke und dem Dreieck Hauptstraße - Brückenstraße her und dem geheimnisvollen Wispern des Absperrbands, das den Fundort der Leiche umspannte.

Lena blickte auf die irisierenden Markierungen ihrer Armbanduhr.

Kurz vor halb sieben.

Ein sehr kräftiger Beamter des Erkennungsdiensts, dessen Name die Hauptkommissarin nicht kannte, kam zielstrebig auf sie zu. In jeder Hand trug er einen Plastikbeutel der Spurensicherung für Beweisstücke.

„Frau Hauptkommissar, wenn Sie mal schauen wollen“, schwenkte er den größeren Beutel vor ihren Augen hin und her. „Eine Handtasche mit Inhalt, die lag da vorne, am Rand des Gebüschs. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, aber, na ja, sehen Sie selbst. Make up, Lippenstift und so weiter, Hygieneartikel, Handy, Kaugummis, Sonnenbrille und ein Portemonnaie. In dem Portemonnaie etwas Münzgeld, keine Scheine. Leider aber kein Ausweis, nichts, nicht einmal ein Führerschein oder eine Karte von der Stadtbücherei oder etwas in der Art.“

„Es gibt andere Wege, festzustellen, wer sie ist“, sagte die Kommissarin mehr zu sich selbst. „Das ist nur eine Frage der Zeit.“

Dann sagte sie laut: „Sagen Sie, Herr ...“

„Wolter.“

„Sagen Sie, Herr Wolter, waren Sie zufällig vor drei Monaten bei dieser Körfgen-Sache am Fundort der Leiche mit dabei?“

„Nein Frau Hauptkommissarin, ich habe nur davon gehört. Warum?“

Aber die Kommissarin antwortete nicht.

Sie starrte auf den Rhein, dessen Wellen träge wie ein nach Hause kommender, später Zecher an das Ufer schwappten und schien mit ihren Gedanken woanders zu sein.

Weit weg.

„Ja, und dann ...“, machte der Kräftige zaghaft einen Versuch, das Schweigen zu durchbrechen.

„Ja bitte?“, fragte die Kommissarin höflich, aber kaum hörbar.

„ ... dann ist da noch ein Kondom, ein unbenutztes und ...“ Der Kräftige hielt mit spitzen Fingern den kleineren Zellophan-Schutzbeutel hoch: „Und noch ein Kondom, aber ein benutztes!“

„Zeigen Sie her!“, die Kommissarin beugte sich über die Tüte. „Wo haben Sie das gefunden? Bei der Leiche?“

„Nein, nicht direkt bei der Leiche. Ein paar Schritte entfernt, im Gebüsch. Ganz in der Nähe dieser Handtasche.“

Sie bedankte sich bei Wolter, nahm die beiden Plastikbeutel an sich, und ließ sie in ihrem Anorak verschwinden.

„Ist der Fotograf fertig?“

„Alles im Kasten, die Kleine gibt aber auch ein gutes Motiv ab! Ist jammerschade drum.“

„Ich will auch Fotos von der Umgebung haben, hören Sie? Nicht nur den direkten Fundort mit der Leiche, sondern die ganze Szenerie hier in einem Umkreis von 25 oder 30 Metern. Auch wenn es einiger Aufwand ist!“

„Okay!“

Die junge Kommissarin nickte und schickte den Kräftigen mit einer kurzen Handbewegung wieder zu den anderen.

Regungslos, wie ein aus Stein gehauenes Denkmal, den Kopf gesenkt, beide Daumen an die Nasenwurzel gepresst, überlegte sie einige Zeit.

Dann explodierte sie, unerwartet wie ein Vulkan.

„Antwerpes!“

Keine Antwort.

„Aaaaaaantwerrrrrpes!“, bellte sie noch einmal.

„Ja, ja, ja“, meldete sich eine Stimme aus einiger Entfernung. „Bin ja schon da!“

Der Gerufene tauchte wie ein Gespenst in dem fahlen Lichtschein auf und seine leicht gebeugte, säbelbeinige Jockeyfigur wirkte noch viel zerbrechlicher als sonst.

„Wo bleibt die Gerichtsmedizin?“, fragte Lena Anders.

„Ich weiß nicht genau, hab nur ein paar Fetzen aus dem Funk mitbekommen. Sind im Moment im Einsatz. Eine wüste Schießerei mit Todesfolge in einer Pizzeria irgendwo in Ehrenfeld. Aber der Doc müsste jeden Moment hier sein“, sagte Oberkommissar Hans Antwerpes.

Lena Anders langte in die Taschen ihres Anoraks und hielt ihm wortlos den größeren der beiden Beutel unter die Nase.

Antwerpes beäugte den Inhalt.

„Gucki“, las er langsam vor.

„Das heißt Gucci“, verbesserte Lena ihn milde.

„Schickimicki-Täschchen“, meinte er. „Wahrscheinlich schweineteuer, oder?“

„Geht so“, antwortete sie.

„Irgendein Hinweis, wer sie ist?“, fragte Antwerpes.

„Bis jetzt nicht.“

„Das doppelte Lottchen?“, fragte Antwerpes, aber sein Grinsen geriet reichlich schief und er beeilte sich nachzuschieben: „Aber jetzt mal wirklich im Ernst, Lena, sie sieht so ähnlich aus, wie die Leiche, die wir letztens aus dem Steinhaufen unmittelbar neben der Südbrücke gepult haben. Diese Janine Körfgen. Die beiden könnten Zwillinge sein! Und dann noch die Klamotten.“

„Ich habe mir die Kleidung aus der Nähe angesehen, so gut es bei den Lichtverhältnissen hier möglich ist. Die Kleidung ist nicht nur ähnlich, wie bei Janine Körfgen, sie ist identisch, absolut identisch!“

Antwerpes pfiff durch die Zähne, wie ein altersschwacher Teekessel, sagte aber nichts.

Er sah seine Kollegin an.

Ihre Backenknochen, die sich unter ihrer blassen Haut abzeichneten, mahlten unablässig. Wenn sie im Präsidium Misswahlen abhalten würden, wäre Lena eine heiße Kandidatin für Platz eins. Sie war hübsch, verdammt hübsch, aber ein paar Pfund mehr könnten ihr auch nicht schaden, dachte Antwerpes. Aber das war Geschmackssache, die kleine Neumann beispielsweise, die Schreibkraft bei der Sitte ...

„Ich weiß absolut nicht, was ich von der Sache halten soll“, riss die Anders ihn aus seinen Gedanken. „Die Kleidung, die Haarfarbe, die Frisur, das Make up ...“

„Und ich fresse einen Besen, wenn sie nicht auch erdrosselt wurde, wie Janine Körfgen.“

„Die Verletzung am Hals sieht danach aus“, sagte Lena.

„Ich sag doch: Das doppelte Lottchen“, sagte Antwerpes, aber diesmal grinste er nicht mehr dabei.

„Hast du sonst etwas Auffälliges bemerkt?“, fragte die Kommissarin.

„Reicht das etwa nicht?“, fragte er und zeigte mit ausgebreiteten Armen auf die Szenerie.

„Bitte Antwerpes! Ist dir etwas aufgefallen?“

Antwerpes steckte die Hände in die Hosentaschen und wechselte unwillkürlich in den gemütlichen Rhythmus seiner Muttersprache: „Sischer dat“.

„Und was denn?“, fragte die Hauptkommissarin.

Er legte sein Gesicht in unzählige Falten.

„Eine Kleinigkeit!“

„Rede schon, raus damit!“

„Na, der Knutschfleck!“

„Der was?“, fragte sie.

„Also Lena wirklich, in deinem Alter sollte man so etwas kennen. Ich meine den Fleck da am Hals. Siehst du den? Ein kleiner, subkutaner Bluterguss. So etwas kommt durch intensives Küssen, so genanntes Knutschen zu Stande und das nennt man dann Knutschfleck.“

„Versuch jetzt bitte nicht, witzig zu sein“, sagte die Hauptkommissarin etwas gepresst. „Trotzdem, gut beobachtet, Antwerpes.“

Ein Knutschfleck also.

Na, da hätte sie auch selbst draufkommen können.

Sie ärgerte sich einen Moment über sich selbst, aber dann hatte sie es fast schon wieder vergessen. Keine Zeit für verletzte Eitelkeiten.

„Dieser ... Knutschfleck, wie du ihn nennst, die Kleidung ... “, dachte sie halblaut vor sich hin.

„Die Haare, das Make up, alles gleich. Alles gleich“, ergänzte Antwerpes kopfschüttelnd.

„Ich habe hier noch etwas Bemerkenswertes!“, sagte sie.

Antwerpes schaute fragend.

„Ja“, sagte Lena Anders. „Hier in dem Beutelchen!“

Sie holte den kleineren der beiden Zellophanbeutel aus der Tasche.

Antwerpes rückte neugierig näher.

„En Lümmeltüüt?“, staunte er in breitestem Südstadt-Slang, schaffte dann aber in bemerkenswerter Selbstbeherrschung wieder den Bogen zum Hochdeutschen: „Die Kleine hatte einen benutzten Pariser bei sich? Also, das ist ja wohl der Hammer!“

„Jetzt beruhige dich mal wieder. Alt genug für so etwas ist sie ja schließlich. Außerdem hatte sie es nicht bei sich. Es lag in der Nähe. Wir wissen noch nicht hundertprozentig, ob es zu ihr gehört.“

„Ob das zu ihr gehört?“, brummte der Kleine. „Ja, zu wem denn sonst? Glaubst du, das hat der Osterhase hier versteckt?“

Lena ging nicht auf ihn ein: „Setz dich mal mit der Zentrale in Verbindung, ob die irgendetwas vorliegen haben, was uns einen Hinweis auf die Identität des Mädchens geben könnte. Vielleicht ist sie ja vermisst gemeldet. Versuche, eine möglichst genaue Beschreibung abzugeben. Und hör noch mal nach, wo die Gerichtsmedizin bleibt!“

Antwerpes tippte bestätigend mit der Hand an seine nicht vorhandene Hutkrempe und wandte sich ab zum Gehen.

„Hör zu“, hielt ihn die Kommissarin mit einer schnellen Handbewegung zurück.

Sie wirkte unruhig, das kannte er gar nicht an ihr.

Sie sprach schnell weiter: „Die Klamotten, die ganze Aufmachung. Diese Ähnlichkeit. Das kann kein Zufall sein. Ich hatte so etwas ähnliches nur einmal. Damals in Wiesbaden, beim BKA. Eine Mordserie an ... aber das ist ja jetzt egal ...“

Sie wischte sich über die Augen. „Das ist wie in einem Alptraum. Ich will einen Psychologen, Antwerpes, hörst du?“

„Einen Psychologen? “, runzelte der Ältere die Stirn.

„Ich will einen Kriminalpsychologen, das hier ist kein normaler Fall. Das ist etwas anderes, das ist irgendwie ... irgendwie inszeniert!“

„Ein Psychopath?“, fragte Antwerpes ruhig.

„Das riecht verdammt noch mal danach!“

„Ich ruf im Präsidium an und sag denen, was wir hier wollen!“

„Und Antwerpes!“

„Hm?“

„Niemand soll etwas verändern, bis die Gerichtsmedizin da ist und der Psychologe, ist das klar? Nicht das kleinste Detail!“

Antwerpes nickte und wollte sich zum Gehen abwenden, aber ihr fiel noch etwas ein und sie hielt ihn zurück: „Hör zu, was meinst du, wie wir hier weiterkommen können?“

„Locarde!“, antwortete Antwerpes wie aus der Pistole geschossen und verzog dabei keine Miene.

„Locarde?“

„Ja, wir haben nur eine Chance: Locarde!“

Lena Anders hätte aus der Haut fahren können.

Sie hatte es schon lange aufgegeben, sich zu fragen, ob Antwerpes auch in der Lage war, eindeutig ausformulierte Sätze zu bilden, aber jetzt, in dieser Situation, regte sie seine Art doch ein wenig auf.

„Doktor Locardes Gesetz“, sagte Antwerpes mit spitzem Mündchen.

„Doktor Locardes Gesetz, Doktor Locardes Gesetz“, machte sie ihn nach. „Hättest du die Güte, mal freiwillig mit Infos rüber zu kommen und mich nicht immer nur bröckchenweise zu füttern, wie einen Hund?“, fragte sie und er sah, dass ihre Nasenflügel zitterten.

„Ruhig Mädchen, ruhig. Ich will dich ja gar nicht auf den Arm nehmen, ich meine das durchaus ernst. Also, dieser Doktor Locarde hat mal gesagt, jeder Täter nimmt von jedem Tatort etwas mit, und sei es noch so winzig und unscheinbar, und gleichzeitig lässt jeder Täter etwas zurück. Quasi im Austausch. Und das Ganze ist dann eben Locardes Gesetz.“

Die Anders rollte mit den Augen: „Ich weiß, ich weiß, ich bin auch auf der Polizeischule gewesen, oder dachtest du, ich hätte einen Fernlehrgang belegt? Locardes Gesetz, schön und gut. Aber was bedeutet das für uns?“

„In erster Linie Laborarbeit, denn zu sehen ist ja nichts Auffälliges!“

„Laborarbeit, Laborarbeit!“

„Ja, sie sollen das suchen, was der Mörder hier gelassen hat, oder das, was fehlt!“

„Aber was, verdammt noch mal, können wir hier tun?“

„Na, auch suchen!“

„Auch suchen? Manchmal hasse ich dich für deinen seltsamen Humor, weißt du das?“

Antwerpes schob wortlos ab.

Sie konnte nicht beschwören, ob er grinste, aber es sah verdammt noch mal danach aus.

Die Kommissarin sah ihm mehr nachdenklich als böse hinterher.

Insgeheim beneidete sie ihn für seine Art, die Dinge zu nehmen. Aber oft genug trieb er sie auch zur Weißglut.

Antwerpes war mal wieder unmöglich, aber das mit dem Knutschfleck, das war nicht schlecht.

„Verdammt jung, die Kleine. Verdammt jung und verdammt hübsch!“, sagte die Kommissarin abwesend vor sich hin.

„Und verdammt tot!“, rief Antwerpes von hinten.

Sie sah ihn vorwurfsvoll an.

Er zog schuldbewusst die Schultern hoch und schlurfte weiter in Richtung Autos.

Lena Anders schüttelte den Kopf, dass der fast armdicke, hellblonde Zopf auf ihre Vorderseite flog. Sie zupfte ihn in Gedanken versunken etwas zurecht.

Hänsken Antwerpes.

Manchmal konnte er eine Nervensäge sein, aber irgendwie war er ihr ans Herz gewachsen.

Antwerpes mit seinem schlitzohrigen, rheinischen Humor. Kölsches Dreigestirn, Bauer, Prinz und Jungfrau in einer Person. Mit seinen fast schon intimen Kenntnissen der Stadt und der Menschen, die hier lebten.

Lena Anders war vor einem halben Jahr nach Köln gekommen und praktisch vom allerersten Tag an war klar gewesen, dass sie und Antwerpes ein Gespann bilden würden.

Antwerpes war 52, also ziemlich genau ein Vierteljahrhundert älter als sie selbst, aber aus Gründen, über die keiner jemals offen gesprochen hatte, einen Dienstrang und eine Besoldungsstufe unter ihr eingestuft.

Manchmal war Antwerpes schwer zu ertragen, das stimmte schon, aber irgendwie hatten sie sich immer wieder zusammengerauft.

Lena Anders schüttelte sich und der Zopf, der so etwas wie ihr Markenzeichen war, flog wieder nach hinten.

Sie zog ihre Nase kraus.

Sie konnte förmlich spüren, wie die Feuchtigkeit vom Fluss her in ihre Knochen kroch.

Warum hatte es sie ausgerechnet in dieses Regenloch verschlagen?

Rheinland?

Pah, Regenland wäre der passende Name.

Über alles musste man sich hier Gedanken machen, nur über eins nicht: Über das Wetter.

Im Zweifelsfall regnete es ja doch.

Und wenn es rein zufällig gerade mal nicht regnete, was höchst selten vorkam, bedeutete es nicht etwa, dass dann schönes Wetter war, dann erhöhte sich nämlich lediglich die Chance auf Nebel. Und das sprunghaft.

Warum hatte sie nach Abschluss der Ausbildung nicht einen Job irgendwo anders ergattern können?

Oberstdorf beispielsweise, Garmisch-Partenkirchen, etwas in der Richtung. Da hätte man Möglichkeiten: Am Wochenende zum Skifahren in die Alpen, oder mal eben zum Shopping nach München, Salzburg oder Mailand.

Na ja, es mussten ja nicht unbedingt die Berge sein.

Berlin wäre vielleicht auch nicht schlecht gewesen.

Die Hauptstadt.

Ihre Heimatstadt.

Aber nein.

Das Rheinland musste es sein.

Köln.

Ausgerechnet.

Und der Karneval war auch eine einzige Katastrophe gewesen. Sie, die Neue, hatte natürlich Dienst schieben müssen und so hatte sie alles verpasst.

Kein Rosenmontagszug, nichts, gar nichts.

Einen Mann hatte sie hier auch noch nicht kennen gelernt.

Wahrscheinlich würde sie noch als alte Jungfer sterben.

 

Von oberhalb, von der Uferstraße her, waren Bremsgeräusche zu hören.

Ein Auto hielt kreischend an.

Lena Anders erwachte aus ihren Gedanken.

Eine Wagentür klatschte laut wie ein Peitschenschlag.

Dann galoppierte ein kleiner, dicker Mann mit wehendem Mantel und hochrotem Kopf in vollem Lauf die schmalen Treppen hinunter.

Der unvermeidliche Dr. Kloefers.

Die Gerichtsmedizin, endlich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drei

 

 

Tommy Eigelstein tanzte schimpfend auf einem Bein im Halbdunkel seines nicht gerade luxuriös eingerichteten Einzimmer-Appartements herum.

Das Telefon klingelte und klingelte und es schien gar nicht mehr aufhören zu wollen.

Tommy hatte einen Schlappen an seinem rechten Fuß, den anderen in der Hand und versuchte nun den verschiedensten, mehr oder weniger natürlichen Hindernissen hüpfend und balancierend auszuweichen und dabei auch den zweiten Schuh anzuziehen.

Irgendwie schaffte er es, der beeindruckenden Armee von Flaschen und Papptellern, benutzter und unbenutzter Wäsche, Comic-Heften, CD-Hüllen und Weißgottnichtalles ohne Zusammenstoß zu entkommen.

Fast hatte er das lärmende Telefon ohne Unfall erreicht, und es zum Schweigen gebracht, aber dann verließ ihn sein Schutzengel doch noch.

Er tapste mit dem nackten, linken Fuß in einen Kronkorken, machte vor Schmerz eine unkontrollierte Bewegung, landete mit dem anderen Fuß in einer ekelhaft glitschigen Masse, die sich nachher, bei genauerem Hinsehen, als geöffnete Packung Russen-Ei - Tommy liebte Russen-Ei - herausstellen sollte und spätestens ab dann eskalierte die Sache.

Er verlor endgültig das Gleichgewicht und prallte in vollem Lauf gegen den Box-Sandsack, der mitten im Raum aufgehängt war.

Der Sandsack setzte sich schwerfällig in Bewegung, pendelte in gemächlichem Schwung weg, um dann auf der gleichen Bahn zurückzukehren, bis er kraftvoll auf ein Hindernis traf.

Dieses Hindernis war Tommy.

Schwungvoll hob er vom Boden ab und flog elegant, so elegant, wie es mit fünfundachtzig Kilo möglich ist, durch die Luft.

Der Aufprall hätte sicher auch gar nicht so weh getan, wenn er nicht mit dem Kreuz auf den ausgesprochen stabilen Rand des Tischchens aus japanischer Wildkirsche gefallen wäre, das mit einem trockenen Ächzen unter seinem Gewicht zerbrach.

Als Tommy aufsah, schaute er direkt in die Augen von Müller, der ihn stumm und vorwurfsvoll anstarrte.

Tommy setzte zu einer Schimpfkanonade an, sagte aber denn doch nichts, weil das Telefon ununterbrochen weiterlärmte.

Das rücksichtslose Klingeln hatte ihn aus dem tiefsten Schlaf gerissen und er musste es zum Schweigen bringen, ehe es ihn endgültig wahnsinnig machen würde.

„Detektivbüro Eigelstein und Müller, zuverlässig und diskret“, krächzte er ungehalten in die Muschel.

Eine Stimme, die er kannte.

Schwester Rita aus dem Pflegeheim.

„Was jetzt? Mitten in der Nacht?“, maulte Tommy protestierend.

Dann kratzte er sich den Kopf.

Zehn Uhr morgens, versuchte Ritas Stimme ihm zu suggerieren.

„Jaja, ist ja gut. Bin praktisch schon unterwegs“, sagte Tommy müde. Er legte den Hörer auf die Gabel und versuchte irgendwie, das abgedunkelte Fenster zu finden.

Als er die Jalousie mit einem Ruck öffnete, zuckte er schmerzhaft zusammen. Diese Rita hatte die Wahrheit gesagt, draußen war hellster Sonnenschein.

Auf die unvermittelt hereinbrechende Helligkeit reagierte sein Kopf mit offener Rebellion. Außerdem war da ein Summen in seinem Schädel, das ihn fast taub machte.

Der letzte Abend war etwas länger gewesen, erinnerte er sich vage.

 

Tagsüber war Tommy auf verworrene Art und Weise Besitzer eines funkelnagelneuen 500-Euro-Scheins geworden.

Der Hergang war so absonderlich gewesen, dass er beschlossen hatte, ihn auf der Stelle zu vergessen, weil er befürchtete, die Erinnerung daran könnte ihn verrückt machen.

Stattdessen war er mit dem Geld schnurstracks zum „Kölschen Joe“ gegangen. Das war die Kneipe im Erdgeschoss des altersgrauen Hauses am Alter Markt, in dem Tommy oben unter dem Dach hauste, und der Kölsche Joe war der Wirt.

Jedenfalls, Tommy hatte den Fünfhunderter.

Zu Joes Verwunderung bezahlte er auf einen Schlag seine aufgelaufenen Schulden und hatte noch einen ordentlichen Batzen übrig. Kurzerhand entschied er, sich zur Feier des Tages ein warmes Abendessen zu gönnen und zwei oder drei Kölsch gegen den schlimmsten Brand zu trinken.

Und genau das hätte er besser nicht getan.

Rein zufällig schneiten Schmal Hecker, sein bester Freund seit Kindergartenzeiten und noch ein paar Kumpels herein, als hätten sie das mit den 500 Euro gerochen.

Na ja, in Gesellschaft schmeckt es einfach besser und so nahm die Sache unweigerlich ihren Lauf.

Als Joe ihn unter dem gemeinschaftlichen Absingen der Nationalhymne mit sanftem Druck vor die Tür setzte, musste es nach drei in der Nacht gewesen sein. Jedenfalls hatte er den Kanal gehörig voll und die 500 Euro, die hatten sich bis auf einen kümmerlichen Rest verflüssigt.

---ENDE DER LESEPROBE---