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Ein bizarrer Mord mitten in der Innenstadt versetzt das beschauliche Mönchengladbach in große Unruhe. Spuren: Fehlanzeige. Doch Kommissar Alexander Artis glaubt die Lösung des Falls in seiner eigenen Vergangenheit finden zu können. "Von oben lugte er auf die nachtgraue Stadt herab, sah die vertrauten Umrisse - und nahm sie doch nicht wahr. Wichtigeres ging ihm im Kopf herum. Alles war gut gelaufen. Einfach perfekt. Es war ein Triumpf, so wie er sich ihn vorgestellt hatte. Sein Triumpf. Aber irgendwie konnte er es noch nicht richtig auskosten. Es war schließlich erst der Anfang. Der Anfang."
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Jürgen Schmicker
Gladbach 4.0
oder
Kommissar Artis und der Hindenburgkristall
Jürgen Schmicker
Gladbach 4.0
oder
Kommissar Artis und der Hindenburgkristall
© Copyright Jürgen Schmicker
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form, durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Schäden jedweder Art ist ausgeschlossen.
Verlag: Jürgen Schmicker
Weiersweg 9
41065 Mönchengladbach
Covergestaltung: Hermann Bloch, Wilstedt
www.hermannbloch.de
ISBN 978-3-9807311-7-1
Jürgen Schmicker
Gladbach 4.0
oder
Kommissar Artis und der Hindenburgkristall
„Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“
Robert Musil – „Der Mann ohne Eigenschaften“
Hinweis
Die Personen dieses Romans und deren Handlungen sind frei erfunden. Sie entspringen nur einer Quelle: Der Phantasie des Autors.
Von Zufälligkeiten abgesehen, haben ihre Namen und Erlebnisse keinerlei Bezug auf Personen des wirklichen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart.
Mit besonderem Dank an:
Hermann Bloch, Monika Meichler,
Bettina Mews, Susanne Zoehren
In diesem Jahr war der Frühling spät an den Niederrhein gekommen.
Aber jetzt, in den ersten Maitagen, schienen sich die grau-drohenden Wolkenformationen der letzten Monate endgültig verabschiedet zu haben und der Himmel war von einem fast schon unverschämt heiteren Blau.
Es war Samstag gegen zehn Uhr morgens und auf dem Kapuzinerplatz und dem angrenzenden Alten Markt war Wochenmarkt.
Margret Berger bahnte sich mit ihren energischen Trippelschrittchen einen Weg durch das bunte Treiben und bedachte die Macksche Skulptur wie üblich mit einem Kopfschütteln.
Samstags hatte sie zwei Stunden Bürodienst. In aller Regel war das ein ruhiger Job und danach war immer genügend Zeit, die restlichen Einkäufe für das Wochenende zu erledigen.
Nichts, absolut gar nichts, deutete darauf hin, dass dies ein besonderer Samstag werden sollte.
Ein schwarzer Samstag.
Einer, den sie nie im Leben vergessen sollte, so sehr sie es sich auch wünschen würde.
Margret Berger leerte zuerst, wie gewohnt, den Briefkasten von Dr. Welters & Partner. Dann fuhr sie mit dem ungemütlich rumpelnden Aufzug nach oben, zog die hölzernen Rollläden hoch, öffnete die Fenster weit, um die frische Morgenluft herein zu lassen und setzte Kaffee auf.
Erst als sie die ersten Schlucke der neuen Kenia-Mischung genossen hatte, machte sie sich daran, die Post zu öffnen.
Sie ging wie immer schematisch vor.
Zuerst die Behörden-Post, die an den Absendern und den Freistemplern leicht zu erkennen war.
Dann die anderen Briefe in Normalgröße.
Und zum Schluss die großen Umschläge.
Heute war es nur ein einziger DIN-A-4-Umschlag aus brauner Pappe, innen offenbar mit Folie ausgesteppt, wie sie an der Dicke und am Knistern leicht feststellen konnte.
Es schien etwas Unförmiges in dem Umschlag zu sein.
Vielleicht ein Warenmuster, dachte sie noch beiläufig.
Sie suchte nach dem Absender, aber sie konnte keinen Hinweis entdecken. Außerdem stellte sie fest, dass der Brief keinen Stempel trug.
Offensichtlich hatte sich jemand die Mühe gemacht, die Sendung persönlich in den Hausbriefkasten einzuwerfen.
Ungewöhnlich zwar, aber Mönchengladbach war nun mal alles andere als eine Millionenstadt und die überwiegende Zahl der Klienten der Kanzlei kam von hier und so kam es doch hin und wieder vor.
Das Kuvert war an beiden Seiten mit schwerem, braunem Klebeband zugeklebt und so musste sie die Schere zur Hilfe nehmen, um es zu öffnen.
Als der Umschlag endlich offen war, kam eine Plastiktüte zum Vorschein.
Etwas ungeduldig zog Margret Berger an einem Zipfel der Tüte.
Von der Sekunde an ging alles sehr schnell.
Halb zog sie eine durchsichtige Zellophan-Tüte heraus, halb fiel sie ihr von selbst entgegen und dann sah sie ungläubig auf das, was sie da in Händen hielt.
In der Tüte steckte etwas seltsam Glitschiges, getränkt in rote Flüssigkeit.
Das Rote sah fast aus wie … ja … es sah aus wie Blut.
Wie Blut?
Unsinn, oder?
Margret Berger atmete geräuschvoll ein, dass ihre Nasenflügel bebten und zwang sich, weiter zu machen.
Sie öffnete mit zittrigen Händen die Tüte, bewegte sie vorsichtig in Richtung ihrer Nase und schnupperte daran.
Ein unangenehm-süßlicher Geruch waberte ihr entgegen.
E--S W--A--R B--L--U--T !
Augenblicklich ließ sie alles fallen, als sei es heiß, glühend heiß und sprang auf.
Der Stuhl fiel scheppernd hinter ihr zu Boden, aber sie achtete nicht darauf.
Wie in Trance spürte sie, dass ihre Zunge sich hektisch über ihre trockenen Lippen bewegte, wie der peitschende Schwanz einer aufgeregten Eidechse über den rissigen Betonboden ihres Gefängnisses.
Sie konnte ihre Angst förmlich schmecken. Weit hinten in ihrer Kehle und es erinnerte sie an den Geschmack von verwesendem Fleisch.
Endlos lange Sekunden starrte sie auf das seltsame Gebilde, direkt vor ihr auf dem Tisch.
Regungslos stand sie da.
Erstarrt wie die Eidechse, die vom plötzlichen Untergang der Sonne und dem Ausbleiben der lebenswichtigen, wärmenden Strahlen überrascht worden ist.
Ihr Verstand arbeitete fieberhaft, aber ohne jeden Erfolg, denn ihre Gedanken galoppierten wie aufgescheuchte Hühner durcheinander, immer durcheinander.
„Ruhig Maggy, ruhig!“
Mit lauter Stimme versuchte sie, sich zur Ruhe zu zwingen, was ihr aber noch nicht einmal ansatzweise gelang.
„Ruhig Maggy, ruhig!“
Wenn das da Blut war - und es war Blut, da konnte es gar keinen Zweifel geben - dann war das ekelhafte, glitschige Ding da in der Tüte … ja … ja … was?
Langsam, schleichend langsam, sickerte die Erkenntnis zu ihr durch, obwohl sie sich dagegen wehrte.
Aber es konnte keinen Zweifel geben.
Jetzt brach sich der Ekel endgültig seine Bahn.
Margret Berger setzte sich unsicher tapsend in Bewegung und stolperte würgend in Richtung Personaltoilette.
Das da, in der Tüte auf dem Schreibtisch, auf ihrem Schreibtisch, war eine Zunge.
Die blutige Zunge eines Menschen.
Die Luft im Schlafzimmer war drückend, fast schwül. Es war eine der ersten wirklich lauen Nächte des Jahres.
Alexander Artis lag, wenn man von den fehlenden Schuhen absah, komplett angezogen auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Er konnte nicht schlafen, seit Stunden schon.
Sie hatten gestritten, am Abend, wie öfter in letzter Zeit.
Wahrscheinlich war das der Grund.
Jedenfalls, jetzt lag er da und wartete auf nichts anderes, als dass die grünlichgelben Ziffern des Radioweckers von Minute zu Minute umsprangen, endlos weiter, bis er die Lust daran verlieren würde, stummer Zuschauer bei dem vorhersehbaren Spiel der Ziffern zu sein und bis es endlich an der Zeit sein würde, aufzustehen.
Aber bis dahin würde er sich wohl …
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, denn das Handy meldete sich schnarrend und führte auf dem Birkenholz-Nachttischchen mechanisch klappernd ein Tänzchen auf.
Er griff nach dem Gerät und schwang seinen geschmeidigen, muskulösen Körper fast spielerisch hoch, so dass er aufrecht auf der Bettkante saß.
„Artis hier.“
„K-Wache, POM Blömkes. Es gibt Arbeit, Herr Kriminalhauptkommissar, leider!“
„Sofort. Moment, bitte.“
Artis erhob sich, so leise er konnte.
Er balancierte vorsichtig über Orthos, den triefäugigen Beagle hinweg, der wie gewohnt auf dem Boden direkt neben seinem Bett lag und schlüpfte in das Ankleidezimmer, bevor er mit gedämpfter Stimme weitersprach: „Und, Blömkes, was muss ich wissen?“
„Eine unbekannte männliche Leiche. An der Stadtmauer. Tod … also Tod wahrscheinlich durch Erdrosseln!“
… Erdrosseln … Tod durch Erdrosseln .... Erdrosseln … Erdrosseln …
– fraß sich eine hässliche Begriffskette wie eine sich aufreizend schlängelnde, giftige Schlange durch Artis` Gehirn.
„Hallo, Herr Kriminalhauptkommissar, sind Sie noch da?“
„Ja … selbstverständlich … erdrosselt … also …?“
Allmählich hatte er das Gefühl, dass er sich wieder einigermaßen im Griff hatte.
„Ungewöhnlich, die Sache.“
„Ja es scheint in der Tat ungewöhnlich zu sein, denn es gibt da weitere Auffälligkeiten. So etwas wie Zeichen oder so.“
„Zeichen? Welche Zeichen? Tätowierungen etwa?“, fragte Artis rau.
„Wieso? Ich weiß nicht, ich hab in der Hektik nicht alles verstanden. Und die Kollegen vor Ort meinen, der Tote sei so etwas wie zur Schau gestellt!“
„Zur Schau gestellt?“
„Ja, wie eine Demonstration oder eine Inszenierung, oder so!“
„Eine Inszenierung?“
Artis schwieg eine Zeit, dann fragte er: „An der Stadtmauer … An der Stadtmauer … Alter Markt oder? Wenn Sie mir mal bitte helfen …“
„Ja richtig, das ist so eine kleine Straße unmittelbar am Alten Markt. Wenn man die Hindenburgstraße runter fährt, dann ist es die … äh … mal überlegen … ja, dann ist es die zweite Gasse auf der linken Seite, noch vor der Wallstraße.“
„Ja, natürlich“, brummte Artis. „Wer ist denn schon da?“
„Momentan sechs Männer von der Schutzpolizei, und zwar die Besatzungen von Nullzwofünf und Nullzwoacht und zwei Kollegen zu Fuß. Die Wache Abteiberg ist ja direkt um die Ecke. Spurensicherung und Arzt sind schon informiert, ach ja … äh … und dann ist da schon ein Kollege von uns …“
„Ein Kollege?“
„Ja und zwar Verkooyen!“
„Verkooyen? Hauptkommissar Verkooyen?“
„Genau, Karl Verkooyen, der Froschkopf …“
„Blömkes, bitte!“
„Sorry … ist mir so rausgerutscht!“
„Hauptkommissar Verkooyen also? Was macht der denn da? Der ist doch jetzt gar nicht im Dienst, oder hat sich da am Dienstplan was geändert?“
„Keine Ahnung, Herr Hauptkommissar, ehrlich nicht. Aber was ich unbedingt noch sagen muss …“
„Ja?“
„Es hat auch schon eine Festnahme gegeben, praktisch direkt an Ort und Stelle!“
„Eine Festnahme? So schnell? Ungewöhnlich, äußerst ungewöhnlich, mal abgesehen von den anderen Begleitumständen“, sagte Artis.
… Tod durch Erdrosseln … Erdrosseln … Erdrosseln … und Zeichen, irgendwelche Zeichen … womöglich …
„Ja, ungewöhnlich, aber tut mir leid, da kann ich sonst nichts zu sagen, Herr Hauptkommissar.“
„Ist schon gut“, wehrte Artis ab. „Ich mache mich auf den Weg. Danke und Ende!“
„Ende!“
Artis durchquerte Ankleidezimmer und Schlafzimmer auf Zehenspitzen und warf sich im Bad einige Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Dann führte er mit zielstrebigen Bewegungen den Kamm aus Büffelhorn durch sein Haar, bis er den lästigen, wie so oft störrisch abstehenden Wirbel über der rechten Stirnseite einigermaßen gebändigt hatte.
Er unterzog sich im Spiegel einer kurzen Überprüfung, die einigermaßen zu seiner Zufriedenheit ausfiel, wenn er die Uhrzeit und die Umstände berücksichtigte.
Mechanisch öffnete er die linke Hälfte des Spiegelschränkchens, die allein seinen Utensilien vorbehalten war, und tupfte sich noch einen Hauch Cartier Declaration auf die Wangen.
Dann löschte er das Licht und verließ das Badezimmer. Dabei zog er die Tür nicht hinter sich zu, sondern ließ sie einen Spalt offen, um keinen unnötigen Lärm zu machen.
Als er das Schlafzimmer fast durchquert hatte, hörte er ein leises Geräusch.
Er drehte sich um und starrte regungslos in das Dunkel.
„Alexandre?“
Ein leises, fragendes Rufen.
Sascha.
Artis zuckte mit den Achseln und ging die paar Schritte zurück, um sich behutsam auf die Bettkante zu setzen.
„Schlaf weiter“, sagte er leise.
„Hm?“
„Schlaf weiter. Ich muss noch mal weg.“
„Quoi?“
„Ein Einsatz!“
„Mais … ?“
„Ein Bereitschaftseinsatz.“
„Mais Alexandre“, sagte Sascha schläfrig in seiner melodisch gefärbten Sprache, die Artis so an ihm liebte. „Ich meine, gibt es vielleicht auch eine etwas ausführlichere Version?“
„Später sicher.“
„Aber ich mache mir Sorgen. Ich meine, es ist mitten in der Nacht. Du weckst mich und sagst, du musst weg und damit ist der Fall für dich erledigt.“
Artis war ungeduldig, zum Tatort zu kommen, aber er zwang sich, kurz inne zu halten: „Aha, ich bin mal wieder zu kurz angebunden, was? Zu Preußisch, wie? Also gut. Du weißt, ich habe doch Bereitschaft diese Woche. Eben ist eine Alarmierung gekommen, ein Toter. Tod durch … ist ja auch egal, jetzt. Ich muss los. Es ist oben am Alten Markt, in einer kleinen Gasse, die heißt An der Stadtmauer.“
„Hab ich mir doch gedacht“, sagte Sascha und richtete sich halb auf.
„Wieso hast du dir das gedacht?“, horchte Artis auf.
„Du warst so unruhig, gestern Abend. So gereizt. Und dann ist meistens wirklich etwas!“
„Unsinn“, antwortete Artis und seine Hand fuhr gedankenverloren durch Saschas seidiges Haar. „Das kann gar nicht sein!“
„Doch, sicher“, sagte Sascha. „Du hast so … na … wie sagt man … Vorahnungen, ganz bestimmt, und wenn du ehrlich bist, weißt du das auch selbst. Das Problem ist nur, du würdest solche Gefühle nie zugeben, glaube ich.“
„Hört sich ja spannend an“, sagte Artis. „Vorahnungen sagst du? Ich? Das glaube ich nicht, doch jetzt …“
„Doch“, beharrte Sascha. „Du hast definitiv Vorahnungen. Vielleicht eine innere Stimme, oder … oder … na, wie sagt man … den siebten Sinn. Du bist ein sensitiver Typ …“
„Sascha …“
„Doch, ein sensitiver Typ. Tief in dir drin bist du so. Du willst es nur nicht zugeben. Du willst keine Gefühle zeigen. Vor niemandem. Noch nicht mal vor dir selber.“
Artis antwortete nicht.
Er erhob sich.
„Später, Sascha, später. Versprochen. Jetzt muss ich los. Ein Toter in der Altstadt…“
„Pass gut auf dich auf“, murmelte Sascha vom Bett her. „Frédéric-le-Prusse … Alter Preuße, du …“
„Schscht“, brachte Artis ihn zum Schweigen.
Dann beugte er sich nach unten und verschloss die Lippen des anderen mit einem flüchtigen Kuss.
Orthos, der schläfrig den Kopf um einige Millimeter anhob, was für ihn um diese Uhrzeit eine gewaltige Energieleistung war, bekam eine kurze Streicheleinheit.
Dann schlüpfte der Kommissar lautlos aus dem Zimmer.
Alexander Artis fuhr mit dem Aufzug in die kleine, hauseigene Tiefgarage.
Um diese Uhrzeit war von dem alten Vitus, dem ansonsten fast allgegenwärtigen Hausmeister, nichts zu sehen, obwohl man eigentlich immer darauf gefasst sein musste, dass er jeden Moment ein Liedchen pfeifend um die Ecke geschlendert kam.
Unschlüssig blieb Artis für einen Augenblick vor den Wagen stehen, dann entschied er sich für den BMW.
Um diese Uhrzeit sollte er damit in der City keine Probleme haben.
Er bugsierte den silbernen Z 3 flüssig durch die Straßen. Die Stadt war in weiten Bereichen wie ausgestorben.
Über die Aachener Straße und die Sandradstraße erreichte er schnell den Alten Markt, wo nur schemenhaft hier und da Nachtschwärmer auszumachen waren. Er ließ den Wagen im Schritttempo durch den für Autos gesperrten Bereich rollen.
Im Radio lief ein Song, den er in- und auswendig kannte.
Bruce Springsteen.
„Philadelphia”, na ja, um diese Uhrzeit war das ganz passabel.
„At night I could hear the blood in my veins
Black and whispering as the rain
On the streets of Philadelphia”
Die vertrauten Worte näselten aus den Lautsprechern, aber sie vermochten ihn jetzt nicht zu fesseln.
Seine Gedanken waren woanders.
„Der siebte Sinn“, hatte Sascha gesagt.
Er, Alexander Artis, und der siebte Sinn.
Einfach lächerlich.
Das hörte sich ja fast an, als sei er so eine Art Wahrsage-Tante im Jahrmarktzelt.
„Ein sensitiver Typ!“
Nonsens, ausgerechnet er, für den nur Fakten zählten, blanke Fakten.
Der Rhythmus im Radio drang wieder zu ihm durch.
„Philadelphia“ fühlte sich gut an, auf jeden Fall, aber Springsteen hin, Springsteen her – jetzt war nicht der richtige Moment dafür.
Und außerdem, Philadelphia war ungefähr sechsmal so groß wie Mönchengladbach, hatte aber wahrscheinlich mindestens achtzehnmal so viel Gewaltverbrechen.
Also war es vergleichsweise wahrscheinlich gar nicht so schlecht hier – zumal als Kommissar.
Artis stellte das Radio ab, wischte sich mit einer energischen Handbewegung durch das Haar und spähte durch das Fenster schräg nach oben.
Mittlerweile war eine leichte Bewölkung aufgezogen. Zirrostratus- oder Schleierwolken, konstatierte er mit wissendem Blick. Ansammlungen von Eiskristallen als Wolkenschleier in großer Höhe. Der Mond war nur als schemenhafte, mozarellaweiße Sichel hinter dem diffusen Vorhang auszumachen.
Nach Regen sah es nicht aus. Aber bei dem Wolkenbild würde der in spätestens 36 Stunden folgen.
Artis ließ den Z 3 von der Hindenburgstraße im Schritttempo in das kleine Sträßchen An der Stadtmauer einbiegen. Die Anzeige im wurzelholzverkleideten Cockpit zeigte drei Uhr neunundzwanzig – seit dem Telefonanruf waren ganze elf Minuten vergangen.
Gar nicht so schlecht für eine nächtliche Alarmierung.
Als Artis ausstieg, und die Fahrertür mit einem gedämpften „Blubb“ ins Schloss fallen ließ, kniff er die Augen prüfend zusammen.
Die kleine Altstadtgasse war an beiden Enden von je einem Streifenwagen blockiert.
Im vorderen Drittel, unter dem schummrigen Licht einer Laterne, unmittelbar vor der nervös blinkenden Reklame des Ladengeschäfts, war eine Handvoll Gestalten auszumachen.
Artis hatte den etwas korpulenten Uniformierten neben dem Streifenwagen noch nie gesehen, deshalb hielt er ihm mit einer schwungvollen Bewegung den Dienstausweis unter die Nase und sagte: „Artis mein Name, KK 11.“
Der Dicke leuchtete mit der Taschenlampe auf den Ausweis, dann hob er reflexartig die Fingerspitzen an seine Dienstmütze und schnarrte: „‘nabend Herr Hauptkommissar. Gehen Sie nur weiter bis zur Laterne, da werden Sie die Schweinerei schon sehen!“
„Bis zur Laterne?“
Mit schnellen Schritten näherte Artis sich der kleinen Gruppe.
Karl Verkooyen war tatsächlich da.
Wieso der Kollege am Schauplatz war, blieb Artis schleierhaft, aber es gab jetzt Wichtigeres zu bedenken.
Die vier Uniformierten, das mussten die Schutzpolizisten von der Wache Abteiberg sein, die Luftlinie nicht viel mehr als einen Steinwurf entfernt war.
„‘nabend“, murmelte Verkooyen und nahm für einen Moment beide Hände aus den Hosentaschen.
Artis kam näher und schüttelte ihm die Hand und er fand, dass Verkooyen, der Froschkopf wie ihn alle hinter seinem Rücken nannten, alt aussah. Noch älter als sonst mit der für ihn charakteristischen, graugrünen Gesichtsfarbe, den zu tief gerutschten, verkümmerten Ohren, den wimpernlosen, blassen Augen und den Millionen von Falten in seinem Gesicht.
„Kriminalhauptkommissar Artis“, stellte Verkooyen Artis vor. Die anderen nickten, machten bereitwillig Platz und der kleine Pulk bewegte sich weiter Richtung Laterne.
Von Anfang an war es nach Artis‘ Einschätzung keine normale Alarmierung gewesen. Und das gleich aus mehreren Gründen.
Zuerst seine eigene Unruhe in der Nacht, für die er selbst keine plausible Erklärung hatte.
Jetzt, im Nachhinein schien es ihm fast so, als wenn er unbewusst auf die Alarmierung gewartet hatte, obwohl Saschas Behauptung vom „Siebten Sinn“ natürlich Unsinn war.
Dann auch noch ein Beamter völlig außerplanmäßig am nächtlichen Tatort, Verkooyen. Ein im Dienst ergrauter Beamter. Was machte der an seinem freien Wochenende mitten in der Nacht in einem abgelegenen Winkel der Altstadt?
Dann die seltsamen Details, die ihm - wenn auch nur andeutungsweise - vom Diensthabenden übermittelt worden waren.
Tod durch Erdrosseln …
Dann waren sie angekommen.
Schon der erste, flüchtige Blick auf die Szenerie machte Artis schlagartig klar, dass es bei diesem Einsatz in der Tat so etwas wie Normalität nicht gab.
Er blieb ruckartig stehen.
Eine groteske Gestalt hing kopfüber an der Hauswand.
Ein Mensch.
Ein Toter.
Nackt.
Wenn man einmal von den fingerdicken Eisenketten absah, die an den Hand- und Fußgelenken befestigt waren. Die Kette am rechten Fuß war mit einem Eisennagel in den Fugen der Mauer verankert, deshalb blieb der Leichnam auch in seiner seltsamen Lage.
Am Hals waren blutige, umlaufende Striemen zu sehen.
Aber das war noch nicht alles.
Auf der Brust war offenbar etwas eingeritzt worden: „MG 40“ las Artis leise und schüttelte den Kopf.
Vielmehr schien es nicht geritzt oder geschnitten zu sein, sondern diese „MG 40“ bestand aus vielen kleinen Pünktchen oder Stichen.
Und am Oberbauch gab es eine weitere Wunde.
Bei näherem Hinsehen offenbar auch kein Schnitt, sondern aus vielen kleinen, aneinander geführten Stichen, die dann in ihrer Menge für die klaffende Wunde gesorgt hatten.
Der Kommissar schüttelte sich unmerklich.
In seinen Schläfen pulsierte es und er spürte, wie ihm schwindlig wurde. Er ballte die Fäuste, die Fingernägel gruben sich für lange Sekunden schmerzhaft in seine Handballen – dann war alles wieder vorbei.
Er zwang seine Augen dazu, die Leiche Zentimeter für Zentimeter abzutasten.
Aber sonst gab es nichts mehr zu entdecken.
„Erdrosselt also?“, fragte Artis leise.
Zuerst schien niemand antworten zu wollen, dann kam zögernd Bewegung in Verkooyen.
„Ja, erdrosselt. Deutet alles darauf hin“, antwortete er. „Und selber wird er sich hier nicht weggehängt haben, so viel ist auch klar. Man kann sich schlecht mit dem Kopf nach unten selbst aufhängen Sogar nicht, wenn man ein Varietékünstler ist. Aber diese Aufmachung, ich meine …“
„Vielleicht eine Transe“, meinte der Jüngste der Uniformierten.
Verkooyen gab ihm heimlich mit dem Ellenbogen einen Hieb zwischen die Rippen, dass er ganz verdutzt guckte.
„Was?“, fragte Artis etwas abwesend, ohne einen Blick von dem angebundenen Toten zu wenden.
„Äh … ich meine, vielleicht eine Transe, so ganz nackt zur Schau gestellt“, sagte der Schutzpolizist, diesmal sehr deutlich, wobei er sich vorsichtshalber etwas von Verkooyen wegdrehte, um sich vor einem eventuellen weiteren Hieb in die Seite zu schützen.
„Nein“, sagte Artis bestimmt und ein eisiger Kälteschauer durchlief seinen Körper von oben nach unten.
Aber er war ganz ruhig. „Das ist kein Transvestit. Da müsste ich mich schon sehr täuschen.“
„Eben“, sagte Verkooyen und Artis bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er den anderen demonstrativ zunickte.
Artis stutzte.
Etwas war ihm vorhin wohl doch entgangen.
Irgendetwas war mit dem Gesicht des Toten.
Etwas war anders, als bei einem normalen Gesicht, selbst wenn man berücksichtigte, dass es sich hier um eine Leiche handelte.
Artis sah die anderen an, oder vielmehr, er versuchte Blickkontakt herzustellen, aber der Reihe nach wichen sie wie zufällig seinen fragenden Augen aus.
Niemand sagte ein Wort, bis Artis fragte: „Und die Wunde am Bauch?“
„Kein richtiger Schnitt zu sehen, vielmehr viele kleine Verletzungen wie nadelfeine Stiche, aber die Bauchdecke ist geöffnet“, sagte Verkooyen.
„Was ist mit seinem Gesicht?“, fragte Artis jetzt. „Ich meine, es ist schmerzverzerrt, klar. Aber da ist noch etwas anderes!“
„Keine Ahnung, ist uns auch schon aufgefallen“, antwortete Verkooyen
„Sieht unnatürlich aus, oder?“
Der jüngere Beamte machte eine Bewegung auf den Toten zu, aber Artis hielt ihn mit der Hand an der Schulter zurück.
„Nicht anfassen. Um Gottes willen nichts anfassen!“
„Keine Angst, keine Angst“, fuhr der Grüne zusammen und schüttelte die Hand von Artis ab. „Ich bin ja lange genug dabei!“
„Entschuldigung“, murmelte Artis.
Das Gesicht des Toten ließ Artis unwillkürlich an eine seltsame Rundmeldung denken, die mittags per SMS gekommen war, aber er schob den Gedanken beiseite und sagte nichts zu den anderen.
„Was soll denn diese MG 40 bedeuten?“, fragte er stattdessen in die Runde.
„MG 40 oder MG 4:0, da könnte auch noch ein Punkt oder Doppelpunkt sein“, sagte der jüngere Beamte.
„4:0? Hört sich an wie ein Fußballergebnis“, sagte der kräftigere Kollege.
„Wie lange ist er wohl schon tot?“, fragte Artis.
„Keine Ahnung“, sagte Verkooyen. „Um das festzustellen, müssten wir ihn anfassen. Aber der Doc müsste ja auch jeden Moment hier sein.“
„Déja vu“, murmelte Artis.
„Wat?“, meinte Verkooyen fragend.
„Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das schon irgendwo einmal gesehen“, sprach Artis genauso leise weiter. „Aber wo?“
„Wer hat ihn gefunden?“, fragte er dann laut.
„Wir“, sagte der kräftigste der vier Uniformierten. Ein Mann mit langen, schräg geschnittenen, grauen Koteletten und einem Stiernacken.
„Walther und Wiersma von Nullzwofünf.“
Artis nickte dem Kräftigen aufmunternd zu und der fuhr fort: „War mehr oder weniger reiner Zufall. Wir kommen hier in der Regel mehrmals pro Nacht vorbei. So auch vorhin. Wir gondeln also mit unserer Fischbüchse nichtsahnend über die Hindenburgstraße, schauen hier um die Ecke und zack, da hängt er, gut beleuchtet direkt unter der Laterne. Und einer rennt weg, im gleichen Augenblick. Eine Gestalt, in die Richtung da hinten. Na ja und dann noch so ein Zufall, dann können wir zusehen, wie der Bursche den Jungs von Nullzwoacht direkt in die Arme läuft. Der ist jetzt immer noch da hinten bei den Kollegen. Vielleicht schauen Sie sich den mal an. Und wenn nicht alles täuscht, können Ihnen die Kollegen da hinten auch ziemlich sicher sagen, wer der Tote hier ist!“
„Wieso?“
„Na, der Typ, den sie geschnappt haben, hatte eine Brieftasche bei sich, nicht seine eigene, meine ich, sondern eine geklaute, also höchstwahrscheinlich geklaut, meine ich, mit fremden Ausweispapieren und allem! Müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht von unserem stummen Freund hier ist!“
„Möglich, durchaus möglich. Den Aufgegriffenen will ich mir mal ansehen. Kümmere dich bitte hier um alles, Karl!“, sagte Artis. Dann nickte er den beiden Schutzpolizisten zu: „Gute Arbeit, meine Herren. Gute Arbeit!“
Der Kommissar wandte sich ab und machte sich auf den Weg in Richtung des grünweißen Astra am anderen Ende der Straße.
Wie aus weiter Ferne hörte er Verkooyen noch zischen: „Bess do beklopp? Von wegen Transe und so …“
Aber dann war er auch schon außer Hörweite.
Artis ging den Weg allein.
Aber es war, als wäre jemand neben ihm, jemand, den er gut kannte:
The night has fallen, I’m lying awake
I can feel myself fading away
So receive me brother with your faithless kiss
Or will we leave each other alone like this
On the streets of Philadelphia.
Als Alexander Artis den Streifenwagen am anderen Ende der Gasse, an der Einmündung zum Marktstieg, erreichte, sah er, dass der Festgenommene, ein schmaler, dunkelhaariger junger Mann um die 20, auf dem Rücksitz saß. Er hatte offenbar die Hände mit Handschellen auf den Rücken gebunden und starrte störrisch aus dem Fenster auf der Artis zugewandten Seite, vermied aber jeden Blickkontakt.
Die beiden Beamten hatten sich beiderseits des Fahrzeugs postiert.
„‘nabend, Herr Hauptkommissar!“, grüßte der größere der beiden, den Artis von einem früheren Einsatz wiedererkannte.
„Ganze Arbeit, Möller“, nickte er. „Irgendwelche besonderen Vorkommnisse bei der Festnahme? Verletzungen, Waffen, Drogen, na, Sie wissen schon!“
„Nicht die Spur“, erwiderte der Große. „War ganz locker. Wir haben das Bürschchen hier von der Straße gepflückt, wie eine reife Frucht. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah, als wir ihn hier kassiert haben. Keine Gegenwehr. Keine Waffen, nichts.“
„Papiere?“
„Scheinen clean zu sein. Murat irgendwer, 21, deutscher Staatsbürger …“
„Stopp“, unterbrach ihn Artis. „Entschuldigung, aber wie heißt der Mann?“
„Na, sag ich doch, Murat … Murat … Moment …“, der Schupo kramte umständlich einen abgegriffenen Notizblock aus der Brusttasche. Sein kräftiger Zeigefinger glitt zögernd über das Papier.
„Ah hier, Murat … äh …B-ü-s-t-ü“, buchstabierte er stockend.
„Deutscher Staatsbürger, aber offenbar türkischer Abstammung, in Neuwerk geboren. Ich habe eben mit der Zentrale gesprochen, die Papiere scheinen in Ordnung zu sein. Der Junge hat noch keine Akte, bis auf ein paar Stunden beim Roten Kreuz wegen einer Schlägerei als Jugendlicher. Ist aber nicht sehr kooperativ, der junge Mann!“
„Hm. Der Kollege Verkooyen sagte, er hätte noch andere Ausweispapiere dabei gehabt?“
„Richtig. Er hatte eine prall gefüllte Plastiktüte mit Klamotten dabei, die steht am Beifahrersitz, können Sie sich ansehen, wenn Sie wollen. Richtig feiner Zwirn, also ich kann mir so was nicht leisten. Außerdem eine Brieftasche mit rund 600 Euro und diesen Personalausweis hier.“
Möller, der dünne Baumwollhandschuhe übergestreift hatte, reichte dem Kommissar den Ausweis, den der mit einem Papiertaschentuch anfasste.
„Mit etwas Fantasie könnte das der Tote sein“, sagte Artis. „Nur sieht der natürlich jetzt etwas anders aus, als hier auf der Fotografie. Hm, wie heißt der?“
Artis verstummte und drehte sich mehr zu dem schwachen Licht der nächsten Straßenlaterne hin.
„Welters, Hubert Welters“, brummelte er. „Das sagt mir was. Das sagt mir ganz bestimmt was!“
„Doktor Hubert Welters, na, Sie wissen schon, der bekannte Rechtsanwalt vom Kapuzinerplatz“, warf Möller ein.
„Richtig, richtig. Die SMS von heute Mittag. Diese seltsame Sache mit der abgeschnittenen Zunge im Briefumschlag. Das war doch in einem Rechtsanwaltsbüro, oder? “
„Abgeschnittene Zunge?“
Der Adamsapfel des Schupos sauste auf und ab wie ein Hochgeschwindigkeits-Aufzug und seine Gesichtsfarbe wechselte in Bruchteilen einer Sekunde zu himmelgrau: „Hab ich da was nicht mitbekommen?“, aber er stockte und sprach nicht weiter.
„Wenn das nicht zusammenpasst, dann weiß ich es nicht“, sagte Artis. „Bekannter Mann in Gladbach, dieser Welters, oder?“
„Gutgehende Anwaltskanzlei, außerdem mischt er in der Politik mit … äh … oder vielmehr mischte … äh … denn jetzt … na ja …“, schien Möller nicht so recht weiter zu wissen.
„Dieser Doktor Welters also, von der Oberstadt, das macht es für uns nicht einfacher“, sagte Artis. „Im Gegenteil, da werden sie sich alle auf uns stürzen, Zeitung, Radio, Fernsehen, die warten doch nur auf Sensationen …“
Er reichte Möller den Ausweis zurück.
Dann beugte er sich zu dem hinteren Seitenfenster, das ein paar Zentimeter nach unten gedreht war und sagte: „Guten Abend, Artis mein Name, Kriminalpolizei Mönchengladbach. Ich nehme an, Sie sind von meinen Kollegen auf Ihre Rechte hingewiesen worden?“
Der Schmale zeigte keine Reaktion.
„Junger Mann, Ihr Name ist …?“
Beharrliches Schweigen.
„Hören Sie, das hier ist kein Spaß. Da hinten, da ist ein Toter, das wissen Sie doch genau so gut wie ich!“
Nichts.
Der Dunkle sah konsequent an dem Kommissar vorbei.
„In der Plastiktüte, die die Kollegen bei Ihnen sichergestellt haben, war eine Brieftasche mit Ausweispapieren dabei. Ganz offensichtlich Ausweispapiere, die nicht Ihnen gehören. Können Sie uns das in irgendeiner Form erklären?“
Erstmals zeigte der Festgenommene eine Reaktion, wenn auch eine, mit der Artis nicht unbedingt gerechnet hatte.
Völlig ansatzlos spuckte der Mann durch den schmalen Fensterspalt, haarscharf am Kopf des Kommissars vorbei.
„Herr Hauptkommissar, soll ich …“, sprang Möller zur Hilfe, aber Artis winkte ab.
„Will nicht reden, was?“, fragte Möller.
„Lassen Sie nur“, antwortete der Kommissar. Und leiser: „Er wird schon noch reden. Früher oder später reden sie alle, auf ihre Art. Aber jetzt macht es keinen Sinn, es weiter zu versuchen. Im Übrigen gute Arbeit, meine Herren. Gute Arbeit, danke dafür!“
Er nickte, gab den beiden Beamten die Hand und machte sich auf den Rückweg.
„Mannomann“, brach Mast, der jüngere Beamte, sein Schweigen, „ich bin jetzt über zehn Jahre dabei, aber das ist das erste Mal, dass sich ein Hauptkommissar bei mir bedankt. Alter Schwede, der hat was auf dem Kasten.“
„Artis? Das ist bei ihm Standard. Gentleman durch und durch, aber der kann auch gnadenlos hart sein. Hast du mitgekriegt, wie er mich festgenagelt hat, wegen des Namens? Aber alles auf die elegante Tour, nie ein böses Wort, hab ich jedenfalls noch nicht erlebt. Der stand kurz davor, Karriere zu machen. War in Düsseldorf die Nummer eins, wäre normalerweise danach nach Wiesbaden gegangen. Weißt du, für die ganz großen Dinger, die wir nur im Fernsehen mitkriegen!“
„Die Nummer eins? Und was will so einer dann hier in Gladbach?“, fragte Mast.
In der Zwischenzeit hatte sich die Situation in der Gasse grundlegend verändert.
Fast hätte man glauben können, in die Dreharbeiten zu einem Kinofilm geraten zu sein.
Der Lima-KW, der polizeieigene Beleuchtungswagen, war eingetroffen und leuchtete den Bereich mit der Laterne im Zentrum taghell aus. Und die Straße wimmelte jetzt vor Menschen.
Neugierige, Anwohner und Nachtschwärmer aller Art, Reporter, Fotografen; unmöglich zu sagen, wer noch alles dabei war. Angelockt wie die Motten von dem gleißenden Licht, umringten sie den mittlerweile mit Trassierband abgesperrten Bereich, argwöhnisch beobachtet von ungefähr einem Dutzend Streifenbeamten, die den Bereich sicherten.
In dem ausgeleuchteten Zirkel herrschte ein scheinbar ungeordnetes Durcheinander von Uniformierten und Beamten in Zivil von Kriminalwache, Spurensicherung und anderen Aufgabenbereichen, Bestattern, Arzt, Polizeifotograf und allen möglichen anderen Hilfskräften.
Janssen, der stark übergewichtige Mediziner, packte gerade mit asthmatischem Schnaufensein Köfferchen wieder zusammen.
Artis steuerte auf ihn zu, aber Verkooyen fing ihn ab: „Und, Alexander?“
„Schwieriger Fall, der Kandidat da hinten. Absolut immun gegen Gesprächsversuche. Lässt sich nichts entlocken. Kümmern wir uns morgen in Ruhe drum.“
„Und der Tote, wer ist es?“
„Das muss natürlich erst noch alles überprüft werden. Aber allem Anschein nach ist es Welters, du weißt schon, Doktor Welters, der Rechtsanwalt!“
Verkooyen pfiff durch die Zähne: „Der? Ausgerechnet? Der spielt doch eine wichtige Rolle bei der CDU. Der ist doch auch im Stadtrat, oder? Schöne Driet! Äh ... ´tschuldigung!“
„Jaja, Karl, hab schon verstanden. Bald wissen wir mehr, aber wenn sich das bestätigt, dann ist das eine unangenehme Sache, die viel Staub aufwirbeln wird. Der Mann ist in der Stadt eine ziemlich große Nummer. Das macht es für uns nicht leichter. Im Gegenteil!“
Der Kommissar trat auf Janssen, den Doktor, zu und der feixte: „Ach, Artis, Sie haben also das zweifelhafte Vergnügen hier!“
„‘nabend, Herr Doktor“, grüßte Artis den Dicken. „Und? Wie sieht es aus?“
„Ist noch zu früh“, schnaufte Janssen. „Viel zu früh für eine verlässliche Aussage, das wissen Sie doch auch!“
„Durchaus“, nickte Artis. „Trotzdem, jeder Hinweis von Ihnen kann für uns in der jetzigen Phase Gold wert sein. Wenn nicht alles täuscht, Tod durch … Erdrosseln?“
Jetzt kam ihm das Wort schon ganz normal von den Lippen.
„Der erste Eindruck ist diesmal der Richtige!“, Janssens Schweinsäugelchen leuchteten listig. „Der Beste hat aber auch unübersehbar Strangulationsmale am Hals. Allerdings nicht von den Ketten, die wir da sehen.“
„Nicht?“, fragte Artis rau.
„Nein, sondern von einem anderen, geeigneten Gegenstand, vielleicht von einem Hosengürtel, aber … also wenn ich mir es genau überlege, dann auch kein normaler Hosengürtel …“
„Vielleicht ein schmaler, geflochtener Gürtel?“, fragte Artis dazwischen.
Janssen schaute Artis verdutzt an: „Ja, ja, vielleicht ein geflochtener Gürtel … oder so! Interessant, dass Sie das sagen, aber das Besondere ist etwas anderes, was nicht so direkt ins Auge fällt …“
„Ja?“
Janssen nickte so eifrig, dass sein Doppelkinn gefährlich auf- und ab wippte: „Ja, seltene Sache, das. Bitte, sehen Sie doch selbst.“
Er trat nahe an die Leiche heran, die mittlerweile auf dem Boden lag. Mit einiger Kraftanstrengung machte er sich am Kiefer des Toten zu schaffen.
„Komm Junge, stell dich doch nicht so verbissen an“, presste er dabei hervor. Und, zu Artis hingewendet: „Rigor mortis, schon ziemlich fortgeschritten. Aber hier, sehen Sie!“
Endlich hatte er den Mund des Toten öffnen können.
Artis trat etwas näher heran und beugte sich hinunter. Alles, was er erkennen konnte, war ein großer, dunkler, unförmiger Klumpen Blut im Mundraum des Toten.
Da, wo eigentlich die Zunge sein musste.
Eigentlich.
Aber die Zunge fehlte.
Ein ganzer Klumpen Blut, daher hatte der Tote also die Pausbacken.
„Tja, die Zunge fehlt. Herausgetrennt, so etwas habe ich in natura noch nie gesehen …“, sagte der Doktor.
„Herausgeschnitten?“, fragte Artis.
„Nein, auf gar keinen Fall. Da war kein Messer im Einsatz, keine Rasierklinge oder so etwas Ähnliches. An dem Stummel hier ist kein glatter Schnitt zu sehen. Das sieht ganz seltsam aus. Irgendwie … ja, irgendwie wie abgenagt, säuberlich abgenagt … warten wir mal, was die Kollegen dazu sagen, die haben die besseren Bedingungen als wir hier, mitten in der Nacht, auf offener Straße.“
Gleichzeitig richteten sich beide wieder auf.
Artis sagte: „Dann passen die Meldungen zusammen. Dann wird das hier tatsächlich Welters sein!“
„Ach“, sagte der Doktor und fast klang er etwas enttäuscht. „Sie wissen schon Bescheid?“
„Da war doch diese Mitteilung, heute Mittag. Eine abgetrennte Zunge in einem Briefumschlag, im Briefkasten eingeworfen. Habe ich ehrlich gestanden noch nicht gehabt, in meiner Laufbahn. Jetzt passen die Puzzlestücke zusammen. Sind allerdings auch groß genug. Sagen Sie, und was ist mit dieser Wunde da am Bauch?“
„Die Leber“, antwortete der Doktor knapp.
Artis` Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
Der Arzt sprach weiter: „Na, die Leber ist entfernt. Komplett. Nicht herausgeschnitten, sondern auch wieder diese kleinen nagelspitzen Verletzungen, wie bei der Zunge und wie bei dieser kryptischen Kombination da auf seiner Brust. MG 40 oder 4:0 oder 4.0 - also, wenn das mittlere ein Punkt sein soll - haben Sie vielleicht eine Ahnung, was das heißen soll?“
Artis schüttelte den Kopf.
Der Doktor zündete sich einen Zigarillo an und inhalierte tief.
Dann sagte er: „Bevor sie danach fragen: Sie sind beide weg!“
„Wovon sprechen Sie?“
„Na, von der Zunge und der Leber. Von beiden gibt es nicht die kleinste Spur!“
„Soso, muss ich drüber nachdenken. Irgendetwas klingelt da bei mir. Muss ich verdammt noch mal drüber nachdenken“, murmelte Artis. Dann setzte er in Richtung des Dicken hinzu: „Was meinen Sie, wann wird er umgekommen sein?“
„Also, wie gesagt, die Leichenstarre hat voll eingesetzt. Die rektale Körpertemperatur ist jetzt 24,5 Celsius, bei den Außentemperaturen wie wir sie im Moment haben, würde ich mal sagen, der Mann ist 12 bis 14 Stunden tot.“
Der Kommissar sah auf seine schwarze Luminor, die vier Uhr fünf zeigte.
„Also ist die Sache schätzungsweise gestern Mittag, also Samstag, zwischen zwei und vier passiert!“
„Mit aller gebotenen Vorsicht, ja“, nickte Janssen. „Aber jetzt habe ich mich vielleicht schon zu weit aus dem Fenster gelehnt!“
„Nichts ist ohne Risiko“, sagte Artis ohne zu lächeln. „Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Sie haben uns sehr geholfen!“
Er schüttelte dem Dicken die Hand.
„Ist schon gut, für mich war es das denn in dieser Sache. Ich denke, Montag haben Sie den Bericht der Gerichtsmedizin auf dem Schreibtisch. Wer weiß, vielleicht hat der alte Leichen-Seifert ja noch eine Überraschung auf Lager.“
„Vielleicht. Danke jedenfalls“, sagte Artis noch einmal und hob die Hand zum Gruß.
Janssen nickte und entfernte sich unrhythmisch schnaufend.
Die Bestatter sahen den Kommissar fragend an und der nickte mit dem Kopf. Dann hievten sie den leblosen Körper in den mitgebrachten Zinksarg und stiefelten mitsamt ihrer Last aus dem hellerleuchteten Kreis heraus.
Artis wandte sich einem quirligen, blonden Mittdreißiger in Zivil zu: „Küppers, alles im Kasten, soweit?“
„Alles klar, soweit“, nickte Michael Küppers, der Fotograf vom Erkennungsdienst. „Polaroids, analoge und digitale Aufnahmen noch und nöcher, Videos, das volle Programm, Herr Hauptkommissar. So was bekommt man aber auch nicht alle Tage zu sehen, oder?“
„Zum Glück“, murmelte Artis. „Zum Glück, Küppers! Was meinen Sie, wann können wir das Material haben?“
„Morgen früh, so gegen zehn, würde ich sagen. Ich bleib jedenfalls am Ball!“
Der Fotograf nickte flüchtig und machte sich mit seinen Koffern auf den Weg.
Allmählich wurde die Szenerie übersichtlicher. Die Menschenansammlung löste sich nach und nach auf.
Artis sah sich um und ging dann auf Verkooyen zu, der einige Schritte entfernt stand und ihn zu beobachten schien.
„Und, Karl?“, fragte Artis.
„Ja“, sagte Verkooyen und es wirkte etwas zusammenhanglos. „Ja. Wird allmählich Zeit, dass wir ins Bett kommen, oder?“
Er rieb sich in der Morgenkühle fröstelnd die kalkweißen Hände, die farblich in krassem Gegensatz zu seinem grünlich schimmernden Teint standen.
Tatsächlich grün, froschgrün. Und dann noch die verkümmerten Ohren. Ein Froschkopf. Sein Spitzname traf es ziemlich genau,dachte Artis.
Er sagte:„Mit Schlafen wird das jetzt bei mir nichts mehr. Selbst wenn ich wollte. Das funktioniert nicht. Gibt zu viel zu tun!“
„Ja klar“, sagte Verkooyen.
„Hier“, der Kommissar tippte auf seine Stirn. „Hier oben, da geht es im Moment zu, wie auf einer Achterbahn, da ist nichts mit Schlafen, das ist bei mir nun mal so!“
„Ja“, sagte Verkooyen und unterdrückte mühsam ein weiteres Gähnen. „Das kenne ich, so ein ähnliches Problem habe ich auch.“
„Verstehe“, sagte Artis.
Er wandte sich schon ab, dann schien ihm noch etwas einzufallen, denn er hielt urplötzlich in seiner schwungvollen Bewegung inne.
Artis zielte mit dem Zeigefinger seiner Rechten in Richtung Verkooyen, als wäre er ein Fechter, der zum entscheidenden Stoß ansetzt: „Ach, Karl, soll ich dir sagen, was mich beschäftigt?“
Verkooyen sagte nichts, starrte ihn nur stumm an.
„Ich dachte, ich wäre schnell am Einsatzort gewesen, diese Nacht. Aber du warst ja noch schneller. Wieso eigentlich?“
„Ja … äh … wieso?“, sagte Verkooyen gedehnt.
„Hör zu, Karl. Eigentlich hast du doch frei, oder?“
Verkooyen nickte.
„Und wie kommt es dann, dass du mitten in der Nacht schneller am Tatort bist als ich, der ich ja immerhin Bereitschaft habe und du nicht? Gib mir doch mal ´nen Tipp!“
„´nen Tipp?“, wiederholte Verkooyen langsam.
Umständlich fingerte er in seiner Jackentasche herum, bis er endlich eine Zigarettenschachtel unter Artis´ Nase hielt.
„En Zerrett?“, verfiel er unversehens in sein urtümlich-breites Gladbacher Platt.
„Danke, nein“, sagte Artis. „Ich habe zwar mit 13 angefangen zu rauchen, aber auch ein paar Wochen später wieder aufgehört.“
„Ist auch besser so, viel besser“, sagte Verkooyen, ließ das Feuerzeug aufflammen, dass die zerklüftete Faltenlandschaft seiner Physiognomie mit all ihren Abgründen für einen Moment grell erleuchtet wurde und sog gierig an der Zigarette.
„Also, Karl“, beharrte Artis. „Wieso bist du mitten in der Nacht schneller am Tatort als ich, der ich Bereitschaft habe?“
„Is janz simpel, em Prenzeep“, sagte Verkooyen.
„Im Prinzip? Na, dann erkläre es mir doch mal. Lass mich doch nicht dumm sterben!“
„Ja, also … ich weiß auch nicht genau, woran es liegt, aber ich schlafe wenig … extrem wenig … geht schon eine ganze Zeit so. Ich weiß auch nicht warum, jedenfalls ich kann nachts nicht schlafen und da gehe ich eben so ´rum …“
„Ja?“
„Also, was heißt ´rumgehen. Ich mach Spaziergänge, eben.“
„Spaziergänge?“
„Ja. Weil ich nicht schlafen kann. Was soll ich denn sonst machen, mitten in der Nacht?“
„Weiß ich ja nicht!“, sagte Artis. „Jeder hat da so seine eigene Technik, denke ich. Also, und du machst Spaziergänge?“
„Ja, Spaziergänge, was ist schon dabei?“, fragte Verkooyen und es hörte sich etwas verkniffen an, fand Artis.
„Nichts, denke ich. Und wenn du wieder mal nicht schlafen kannst, dann spazierst du also einfach so in der Gegend herum? Mutterseelenallein?“
„Natürlich nicht einfach so und auch nicht allein. Meistens … also … mit dem Hund. Ja, mit dem Hund eben, das tun doch Millionen harmloser Bürger, oder? Und dann kann es eben sein, so wie heute Abend, dass man auch schon mal in komische Situationen gerät. Logisch oder?“
„Komische Situationen?“
„Na ja, komisch ist vielleicht nicht das richtige Wort.“
„Sollen wir sagen: Ungewöhnliche Situationen?“, fragte Artis.
„Ja, also wenn du meinst. Ungewöhnlich, dann eben.“
„Verstehe“, nickte Artis bedächtig. „Verstehe, verstehe durchaus. Also, denn mal Gute Nacht, Kollege!“
„Ja, auch so. Und … äh … mach nicht mehr so lange diese Nacht, hörst du?“
„Ja ja, natürlich“, sagte Artis.
Er wandte sich zum Gehen, dann jedoch drehte er sich um die eigene Achse, so dass er insgesamt eine 360-Grad-Drehung vollführte, und schon zuckte wieder der Zeigefinger wie ein Florett heraus: „Ach Karl, eine letzte Frage noch. Wo ist er denn hin?“
„Was? Wer denn?“, fragte Verkooyen und seine unbehaarten Augenlider flackerten verwirrt.
„Na, du weißt schon, dein Hund?“
Verkooyen sah sich zu allen Seiten um. „Der Hund. Ja … der Hund … seltsam … weiß ich jetzt auch nicht!“
„Na, hoffentlich hat er sich nicht verlaufen! Also denn mal Gute Nacht! Oder besser Guten Morgen!“, sagte Artis betont munter.
Verkooyen entfernte sich mit schleppenden Schritten.
Artis sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war.
Der Kommissar blieb einige Zeit stehen. Regungslos.
Dann setzte er sich langsam in Bewegung.
Dorthin, wo man Welters gefunden hatte.
Jetzt deutete nicht mehr viel darauf hin, welche bizarren Szenen sich hier in den letzten zwei Stunden abgespielt hatten.
Nichts, abgesehen von ein paar banalen Kreidestrichen auf dem Boden, die die Lage des aufgefundenen Körpers markierten.
Artis stand lange da, in der Morgendämmerung.
Einfach so.
Die Hände, zu Fäusten geballt, in den Jackett-Taschen vergraben.
Seine Fingernägel gruben sich so tief in das Fleisch seiner Handballen, dass seine Augen anfingen zu tränen, aber er achtete nicht darauf.
Er stand hier, aber seine Gedanken waren ganz woanders.
Der Adler, der mächtige Adler war müde.
Aber der Rückweg, der Weg nach oben, war wie ein stiller Triumphzug und er schien geradewegs in das aufkommende Morgenlicht hinein zu führen.
Er, der Pendler zwischen den Welten, den niemand wirklich kannte, nein niemand, er hatte seine Mission erfolgreich beendet.
Als er seinen Horst erreichte, kletterte die Sonne schon neugierig zum Fenster herein.
Rot war die Morgensonne.
Rot wie Blut.
Er genoss den faszinierenden Anblick für einen kurzen, atemlosen Augenblick, wobei sein Kopf unmerklich hin- und her ruckte.
Ohne den Kopf zu drehen, wanderte sein Blick vom Fenster zu dem Gemälde, seinem Gemälde, auf dem er in voller Größe zu bewundern war.
Es zeigte ihn so mächtig und gnadenlos, wie er wirklich war.
Er nahm das Bild in sich auf, als wäre es das erste Mal und er wurde augenblicklich hungrig.
Er musste fressen, wie auf dem Bild.
Fressen und trinken, er war lange unterwegs gewesen vergangene Nacht.
In fiebriger Hast öffnete er den Rucksack.
Er nestelte nervös den Plastikbeutel auf und hieb seine Zähne in das blutige, fast noch warme Fleisch. Gierig schlang er einige Bissen herunter, schlürfte das tropfende Blut aus seinen Händen.
Wohlige Schauer durchliefen ihn.
Darauf hatte er lange gewartet.
So lange.
Dann machte er sich los, das musste für den Moment reichen. Den Rest würde er später fressen, wenn er geschlafen hatte.
Auf dem Weg zur Dusche riss er sich achtlos die Kleider vom Leib.
Dann ließ er heißes Wasser auf sich niederprasseln. So heiß, wie er es gerade noch aushalten konnte.
Er wusch sich unter dem kochend heißen Wasser mit Kernseife ab, bis er am ganzen Körper tiefrot war.
So rot, als würde die Sonne in ihm leuchten.
Der Anfang war gemacht und jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er frottierte sich ab.
Jetzt erst mal schlafen.
Schlafen wie ein unschuldiger Säugling.
Und später?