Die Siedlung – Sicher bist du nie - Su Turhan - E-Book

Die Siedlung – Sicher bist du nie E-Book

Su Turhan

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Beschreibung

Die Zukunft ist smart – sicher ist sie nicht. Hightech, der Traum vom ewigen Leben, eine Frau allein gegen die Konzerne – der bekannte Drehbuch- und Romanautor Su Turhan präsentiert sich mit »Die Siedlung« von einer völlig anderen Seite. Nach der bei Presse wie Lesern sehr beliebten »Kommissar Pascha«-Reihe (u. a. »Bierleichen«, »Kruzitürken« und »Mordslust pur«) entwirft Turhan einen Near-Future- und Verschwörungsthriller um die Zukunft des Wohnens und Zusammenlebens, um Gier und Liebe, Hybris und Mord.   »Himmelhof« ist das Paradies auf Erden. Die Mustersiedlung liegt idyllisch an einem See, künstliche Intelligenz durchdringt den Alltag der Bewohner. Vordenker und Start ups sorgen für Drohnen, autonom fahrende Fahrzeuge, selbstlernende Recylingsysteme. In der medizinischen Forschung wird zum Wohle der Menschen neuartiges erdacht. Als es ausgerechnet hier zu einer dramatischen Geiselnahme mit tödlichem Ausgang kommt, ist das ein Schock. Wenig später zieht Helen Jagdt in eines der Smarthomes ein, angeblich eine Yogalehrerin. Sie gewinnt das Vertrauen des ehemaligen Biochemikers Adam Heise, der nicht ahnt, dass sie gegen ihn ermittelt. Als er hinter ihr Geheimnis kommt, nutzt er alle technischen Möglichkeiten »Himmelhofs«, um zu verhindern, dass sie die Abgründe hinter der schönen Fassade ans Licht bringt. Schon bald muss Helen um ihr Leben fürchten – das Paradies der Zukunft wird zur Hölle im Hier und Jetzt.

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© Piper Verlag GmbH, München 2019Redaktion: Kerstin von DobschützCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Inhalt

Cover & Impressum

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Wer die Hand in Blut wäscht, muss sie in Tränen baden.

Deutsches Sprichwort

Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.

Alfred Hitchcock

1

»Gebt uns das Baby zurück! Heise, du Schwein!«, schwingt Josef Stielers Stimme durch die nasskalte Luft.

Eisiger Wind weht am Siedlungszaun entlang. Undefinierbare Geräusche zischen durch die Nacht und vermischen sich mit dem verzweifelten Rufen des Mannes in strahlend weißer Uniform. Stieler ist am Ende seiner Geduld, seine Verzweiflung ist grenzenlos. Wegen seiner Frau Marion, die in der Siedlungsklinik behandelt wird. Stieler hat den Haarschopf von Doktor Frieda Drechsler in seinen von Schwielen übersäten Händen. Sie unterdrückt das Wimmern. Er zerrt sie mit sich. Er will zum Leiter der Siedlung. Zu Adam Heise, zu dessen Anwesen am anderen Ende der Anlage.

Der Bauch seiner Frau sei leer, kein Embryo auf dem Ultraschall zu sehen, hat Drechsler, die Klinikchefin, behauptet. Mit medizinischem Kauderwelsch hat sie ihm weismachen wollen, dass er und seine Frau sich getäuscht haben. Marion sei nie schwanger gewesen. Er weiß, dass sie ihn und seine Frau anlügt.

Mit der jammernden Ärztin erreicht er den Eingang des Grüncenters. Er hält die Hand an den Scanner. Beim Betreten des Baus setzt sich ein Roboter der ersten Generation in Bewegung. Der Kopf ist rund und groß wie ein Medizinball. Ein Auslaufmodell, das seinen Gnadenstrom bei Stieler, dem Siedlungsgärtner, erhält. Mit elektronischer Stimme begrüßt die Maschine ihn und fragt, was er zu später Stunde wünsche.

»Halt’s Maul!«, schreit er den mechanischen Kollegen an, mit dem er normalerweise über schmutzige Männerwitze lacht. Er kramt einen Kanister mit Benzin hervor, den er seit Jahren für Notfälle versteckt hält.

 

Der Leiter des Objektschutzes von Himmelhof, Axel Macke, steht am Schwebedisplay in der Empfangszentrale. Hastig erklärt er dem eingetroffenen Einsatzleiter Kommissar Steffen Vogt, dass jeder Winkel, jeder Quadratzentimeter des Außengeländes von Kameraaugen abgedeckt ist. An den Einheiten, den Wohnhäusern, sind zudem Außenmikrofone installiert. Unter bestimmten Umständen, Notfall und dergleichen, können die Mikrofone hinzugeschaltet werden.

»Worauf warten Sie?«, fordert der Kommissar in Lederjacke und heraushängendem Hemd Macke auf. Wegen des Notrufs hat er nicht einmal das Bier in der Kneipe austrinken können. »Schalten Sie die verdammten Mikros ein!«

Macke gibt dem diensthabenden Sicherheitsmann, der die Polizei verständigt hat, ein Zeichen. Die Lautsprecher erwachen. Stielers Keuchen und Drechslers Stöhnen erfüllen die Zentrale.

»Wo will er hin?«, fragt Vogt.

Macke deutet auf eine Villa am Ende des Hauptweges. »Zu Adam Heise, dem Leiter der Siedlung.«

Gegenüber der Villa entdeckt der Kommissar ein Einfamilienhaus mit Flachdach. Es ist dunkel. »Wer wohnt dort?«

»In Einheit 11? Niemand, ist gerade fertiggestellt worden. Wir haben Zugriff auf Fenster und Türen«, entgegnet Macke. Er schaltet auf die Softwarekonsole um. Mit einigen Klicks entriegelt er die elektrischen Schlösser des Hauses, dem Standardmodell der Siedlung.

»Wir marschieren los, Dreierformation«, informiert Vogt die Einsatzkräfte über das Funkgerät. »Schaltet die Bodycams ein. Beim Einsatz, nicht beim Pinkeln!«

»Warten Sie«, hält Macke ihn auf. Er reicht ihm eine Handvoll weißer Gummibänder mit rotem Logo. »Pflicht«, erklärt er. »Muss jeder Gast hier tragen. Am besten am Handgelenk. Ohne Himmel-Band lösen Sie Alarm aus.«

»Himmel-Band?«, fragt Vogt. »Ein Tracker oder was?«

»Mehr als das«, erwidert Macke.

 

Vor Josef Stieler und der Geisel taucht Adam Heises Anwesen auf. Ein frei stehendes Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert. In all den Jahren, seit er hier als Gärtner arbeitet, hat Stieler es nicht betreten. Wie ein Gutsbesitzer befindet Adam Heise über das Wohl seiner Untertanen, meinen einige wenige der Bewohner. Die meisten jedoch sehen in ihm einen Weltverbesserer und Visionär. Himmelhof ist Heises Werk.

In der Zwischenzeit hat Kommissar Steffen Vogt die Einsatzkräfte instruiert. Sie schwärmen aus und postieren sich um das Anwesen. Er selbst stellt sich unter eine Laterne am Hauptweg. Gut sichtbar für den Geiselnehmer, der sich ihm mit schweren Schritten nähert. Er nimmt Kontakt zu ihm auf. »Herr Stieler! Ich bin Einsatzleiter Steffen Vogt …«

»Verhaften Sie Heise! Er ist schuld. Er hat unser Baby gestohlen!«, schreit der Geiselnehmer zurück.

Vogt lässt sich von dem konfusen Gerede nicht beirren. »Bitte, Herr Stieler, lassen Sie Doktor Drechsler frei. Wir klären …«

Ohne Vorwarnung stößt Stieler die Ärztin zu Boden und dreht den Benzinkanister auf. Beißender Geruch wirbelt durch die Nachtluft. Doktor Drechsler bekommt Spritzer in die Augen. Das Benzin brennt wie Feuer auf ihrer Netzhaut. Sie schreit und reißt die Hände hoch. Die Flüssigkeit benetzt Haare und Kittel. Bevor der Kanister zur Neige geht, schüttet sich Stieler den Rest über seinen Kopf.

»Ich will Heise sprechen, verschwinden Sie!«, schreit er und hält ein Feuerzeug in die Luft. Es glänzt grünlich im Laternenschein.

Die Scharfschützen in den verdunkelten Hauseingängen stehen bereit. Die Lage ist angespannt. Jeden Moment erwarten sie die Freigabe für den Schuss. Doch der Einsatzleiter hält das Schießkommando zurück.

»Einverstanden, Herr Stieler«, lenkt er ein. »Unter einer Bedingung. Wir gehen zusammen zur Villa. Sie reden mit Herrn Heise. Dafür lassen Sie Doktor Drechsler frei. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Ja, in Ordnung!«, krächzt Stieler, ohne zu zögern. »Ich will mit ihm reden. Das ist alles!«

»Ihr habt ihn gehört«, spricht Vogt ins Mikrofon und geht voraus.

Stieler zieht die Geisel hoch, packt sie erneut und folgt ihm.

Der Scharfschütze auf dem Dach von Einheit 11 bekommt Sichtkontakt mit Vogt. Beim Vorbeigehen schielt der Einsatzleiter zu ihm hoch.

»Keine Dummheiten!«, mahnt er ihn und die anderen Einsatzkräfte über das Funkmikro. »Wir warten ab. Vielleicht schafft es Adam Heise, ihn zu beruhigen. Kein Blutbad, ja! Abzugsfinger schön ruhig halten. Kein Schuss, bevor ich das Kommando gebe. Bestätigen.«

Mit Tastendrücken quittieren die Beamten den Befehl.

 

Adam Heise sitzt am Küchentisch bei einem ungeplanten Nachtmahl. Wie immer hat er mit ureigener Besonnenheit reagiert, als der Sicherheitsmann ihn vorhin über die Geiselnahme informierte. Die Polizeieinheiten auf dem Gelände stören ihn nicht. Er denkt über Josef Stieler nach. Der Angestellte der ersten Stunde ist zu einem Problem geworden, das er nicht hat kommen sehen. Der Gärtner ist verzweifelt. Einem werdenden Vater, der erfahren hat, doch keine Familie gegründet zu haben, nimmt er den Wutausbruch nicht übel. Das Problem ist die Geisel in seiner Gewalt. Auf Doktor Drechsler kann er nicht verzichten.

Der Leiter von Himmelhof öffnet die Auster, beträufelt das Fleisch mit einem Spritzer Zitrone und schlürft. Er kaut genüsslich. Der Geschmack nach tosendem Meer lässt ihn schmunzeln.

»Amma«, befiehlt er. »Außenkameras in den Salon.«

Mit der Serviette tupft er den Mund sauber und geht in den Salon der Villa.

Eine hauchdünne Folie rollt aus der Deckenverschalung. Sie schwingt leicht, bis sie über den Magneten ausgerichtet ist, die im Boden eingelassen sind. Die Projektionsfläche erstreckt sich über die gesamte Breite des zwanzig Schritt großen Raumes mit Sofalandschaft und Kamin. Nach und nach erscheinen Bilder der Außenkameras. Adam Heise setzt sich auf das Sofa. Aus unterschiedlichen Perspektiven sieht er Josef Stieler, den er seit Jahren kennt, und Frieda Drechsler, die er noch sehr viel länger kennt.

»Amma. Außenmikrofon.«

Stielers wütende Stimme tönt aus den Lautsprechern: »Kommen Sie raus! Zeigen Sie sich.«

»Amma. Zoom auf Stielers rechte Hand.«

Amma fokussiert ihn mit der Kamera über der Eingangstür. Das grüne Einwegfeuerzeug in der Hand des Geiselnehmers füllt den mittleren Bereich der Leinwand.

»Bist du aufgeregt, Adam?«, fragt die Stimme namens Amma. »Dein Puls ist erhöht.«

»Mir geht es gut«, antwortet er. »Ich werde nicht gerne aus dem Schlaf gerissen, das ist alles.« Er pausiert. »Amma. Jalousien im Salon hoch.«

Die einbruchssichere Jalousienfront setzt sich in Bewegung. Heise stellt sich an das Fenster und blickt auf den Eingangsbereich seines Zuhauses.

 

Der Scharfschütze auf dem Flachdach von Einheit 11 ist hoch konzentriert. Im Display des Gewehres zappelt die Zielperson von einem Bein auf das andere. Er flüstert dem Gewehr einen Befehl zu. Die Zielerfassung schaltet von realistischer Abbildung auf Konturmodus. Geiselnehmer und Geisel verlieren ihre menschlichen Züge. Striche und Flächen zeigen sich ihm auf dem Zielmonitor. Der Gewehrlauf folgt Stielers Bewegungen, als die vertraute Stimme des Einsatzleiters in seinem Ohr erklingt. Er wechselt zurück in den Realmodus. Im Display hebt Stieler den Arm. Gleichzeitig drückt der Schütze ab.

In dem Moment dreht die Zielperson den Körper ein. Das Projektil schlägt unter dem Brustbein ein statt in der Schulter. Das Stahlmantelgeschoss durchbohrt Hautgewebe und Knochen, zerstört im Bruchteil einer Sekunde Vorhöfe und Herzkammern. Stieler bricht zusammen und bleibt röchelnd auf dem Boden liegen. Adam Heises Name liegt auf seinen Lippen.

Der Siedlungsleiter tritt aus der Villa in den Schein der Solarleuchten. Der Schrecken auf seinem Gesicht bleibt nicht unbemerkt. Wie versteinert verharrt er in der Eingangspforte.

Die mit dem Leben davongekommene Geisel entdeckt ihn. Sie läuft auf ihn zu und drückt ihren Kopf an seine Brust. Heise schielt auf den Gärtner, der ihn eben noch beschuldigt hat, sein Baby gestohlen zu haben. Stieler liegt leblos auf dem Boden.

Welch Glück, denkt er, welche Tragödie.

 

Welch Wahnsinn, denkt Kommissar Vogt. Die herbeieilenden Sanitäter erreichen das Opfer. Aus dem durchlöcherten Brustkorb pumpt Blut. Stielers Augen sind aufgerissen, sein Leben ausgelöscht.

Auf dem Dach richtet sich der Scharfschütze auf. In Montur und Helm, mit dem Präzisionsgewehr im Anschlag, wirkt er wie Gottes strafende Hand. Trotz der Entfernung und des Helmes hat Vogt das Gefühl, der Schütze strahle vor Selbstzufriedenheit.

»Du verdammtes Arschloch! Was war das?«, brüllt er ihn über Funk an. »Warum hast du geschossen?«

Der Schütze zuckt mit den Achseln. Er klappt den Sichtschutz hoch und schiebt das Mikrofon vor die Lippen. »Sie haben den Befehl erteilt. Klar und deutlich. Stimmt’s, Leute?«

Ein Quittungston nach dem anderen bestätigt seine Aussage.

»Das habe ich nicht!«, schreit Vogt zurück.

Im selben Augenblick wird ihm bewusst, welche Konsequenzen das Drama haben wird. Er ist der Einsatzleiter, er ist verantwortlich. Vollkommen einerlei, wer auf seinen angeblichen Befehl hin geschossen hat. Angstschweiß rinnt über seine Stirn. Er wischt ihn mit dem Ärmel ab.

2  

Die Morgendämmerung nach dem gewaltsamen Tod des Siedlungsgärtners ist nicht anders als die Tagesanbrüche zuvor. Die Sonne glitzert auf der Wasseroberfläche des umzäunten Sees, nördlich vom Siedlungsgelände. Die Boote am Steg wippen im Wind. Auf dem Areal ist Ruhe eingekehrt.

Auch in dem Gebäude in U-Form, das von der Ferne wie ein windschiefes Kartenhaus auf Stelzen wirkt, herrscht Stille. Zwei Bewohnerinnen beherbergt die Siedlungsklinik zu dieser Zeit. Doktor Drechsler, äußerst mitgenommen von der Geiselnahme, liegt im Venuszimmer mit Blick auf den See. Die zweite Patientin wälzt sich in einem anderen Heilraum, dem Mondzimmer, unruhig hin und her.

Die Nachtschwester, eine gutmütige, erfahrene Pflegerin, ist noch schockiert. Eine Katastrophe wie diese hat Himmelhof nicht verdient, seufzt sie innerlich. In der Siedlung leben gute Menschen. Feinsinnige, umsichtige Menschen, die sich das Wohl anderer zur Lebensaufgabe gemacht haben. In tiefer Trauer denkt sie an den verstorbenen Josef Stieler. Mit Häkelnadel und Garn in den Händen bemerkt sie nicht, wie die Patientin aus dem Mondzimmer das Klinikgebäude verlässt.

 

Marion Stieler spürt das Stechen und Ziehen im Bauch kaum. Das Schmerzmittel ist für eine liegende Patientin dosiert. Doch Marion Stieler rennt. Rennt, so schnell sie kann. Die Kälte an dem frühen Morgen kriecht durch das Klinikhemd. Sie läuft. Eingefangen von den Kameras, die jeden ihrer Schritte beobachten. Nicht aber die Schmerzen, die sie erduldet, getragen von einer unsagbar wohltuenden Euphorie. Sie hat den Entschluss gefasst, mit Josef die Siedlung zu verlassen. Mit ihrem Ehemann ein neues Leben anzufangen. Irgendwo in Augsburg. Egal, mit welchen Verlockungen Adam Heise versuchen würde, sie zurückzuhalten.

Ihr Zuhause, direkt am Siedlungszaun gelegen, gehört zur Bestandssubstanz. Das ehemalige Einfamilienhaus mit Giebeldach ist von Grund auf zu einem Smarthome modernisiert worden. Sie hält die Hand mit dem implantierten Himmel-Chip an den Scanner. Nichts passiert. Mit Zeigefinger und Daumen tippt sie eine Klopffolge auf das Türblatt. Wieder passiert nichts, obwohl sie sich sicher ist, den Notfallcode korrekt angewendet zu haben. Sie hämmert gegen die Tür. Josef öffnet nicht. Wo ist er? Um die Uhrzeit? Sie starrt auf das leere Handgelenk. Die Watch haben sie ihr in der Klinik abgenommen.

 

»Adam, steh auf.« Ammas Stimme ist nicht weich. Hohe Frequenzen dringen in Heises Schlaf.

»Adam, wach auf.«

Heise öffnet die Augen. Sein Schlafzimmer ist mit Antiquitäten und Bildern eingerichtet. Er hat geträumt. Von einer Drohne. Sie schwebte auf Schritt und Tritt neben ihm. Ein schwebendes Hündchen. »Amma. Was ist?«

»Marion Stieler hat die Klinik verlassen. Sie befindet sich in der Empfangszentrale.«

Panik ist dem ehemaligen Spitzenforscher in der Biochemie als Gefühlsregung fremd. Er legt die Hände unter den Kopf. Im nächsten Moment ist er hellwach. Weiß Frau Stieler überhaupt, was passiert ist?

Heise springt von seinem schmalen Holzbett auf und geht zum Fenster. Die Morgensonne erhebt den Anblick auf die Siedlung zu einem Erlebnis. Mit einer Spur Stolz schweift sein Blick über die schlafenden Einheiten. Vor zwölf Jahren hatte er das Brachland für seine Zwecke auserkoren. Der Lageplan erlaubt ihm die freie Sicht zum Eingang.

»Amma. Wie ist Frau Stieler aus der Klinik gekommen?«

»Darüber hat Amma keine Information«, antwortet die Stimme. »Marion Stieler hat um 5:56 Uhr die Klinik verlassen. Vor fünf Minuten.«

»Was macht sie jetzt?«

Amma überträgt die Bilder aus der Empfangszentrale auf ein Display im Schlafzimmer. Der Ton ist klar und deutlich, als würde die Witwe neben ihm am Fenster stehen.

 

Der Sicherheitsmann in der Empfangszentrale ist ein Nervenbündel. In Kürze soll er abgelöst werden. Die schlimmste Schicht seines Lebens soll endlich ein Ende haben, fleht er in sich hinein. Er holt Marion Stieler einen Stuhl. Sie setzt sich dankbar.

»Wo ist Josef?«, fragt sie. »Zu Hause ist er nicht. Sieh im System nach.«

Sie krümmt sich. Der Schmerz wandert vom Bauch in den Schambereich. Das Klinikhemd färbt sich dunkel.

»Du blutest«, sagt der Pförtner erschrocken.

Sie hebt das Klinikhemd an. Spreizt die Beine. Dunkle, zähe Flüssigkeit gleitet an den Oberschenkeln herab. Sie starrt auf das Blut, spürt, wie ihr schlecht wird. Sie versucht aufzustehen, unter Stöhnen, in Gedanken bei der Untersuchung in der Klinik. »Sag Josef, ich gehe in die Stadt. Ich warte in der Eisdiele auf ihn. Er weiß, wo. Grüß deine Frau.«

Marion Stieler nimmt die stützende Hand des Sicherheitsmannes.

»Es ist sechs Uhr morgens, Marion. Wovon sprichst du? Was für eine Eisdiele?«, redet er besorgt auf sie ein. »Darfst du überhaupt gehen? Bist du entlassen worden? Du hast kaum etwas an. Und du blutest.«

»Josef sucht bestimmt das Baby. Sie haben unser Kind gestohlen.«

»Bist du denn sicher wegen dem Baby?«

Marion Stieler fehlt die Kraft, um überzeugend zu klingen. »Ich war schwanger, als ich in die Klinik kam. Josef hat meine Hand gehalten, bis ich eingeschlafen bin«, sagt sie. »Der Mond hat geschienen.«

»Der Mond?«, fragt er erstaunt. »Dass euer Baby verschwunden ist, hat Josef Herrn Heise gesagt.«

Eine Bewegung im schwebenden Display zieht beider Aufmerksamkeit auf sich. Auf einem Segway fährt Adam Heise den Hauptweg entlang. Direkt auf die Empfangszentrale zu.

Marion Stieler erschrickt. »Drück den Knopf! Lass mich raus!«, kreischt sie. »Mach auf! Schnell!«

Der Pförtner drückt keinen Knopf. Er klickt mit der Maus. »In die Stadt schaffst du es in deinem Zustand nicht.«

»Mach auf!«

 

Adam Heise beugt den Oberkörper vor. Das Segway aus Nordkorea beschleunigt. Ein Sondermodell des Militärs, entwickelt für den Einsatz von Spähtruppen. Optimiert für leichtes Gelände. Auf einigermaßen ebenem Boden, wie dem Kies des Hauptweges, erreicht es dreißig Stundenkilometer. Vor der Kurve lehnt er sich zurück. Das Gefährt drosselt den Elektromotor herunter. Heise entdeckt Marion Stieler. Das Klinikhemd berührt das Eisengestänge, als sie durch das Tor nach draußen gelangt. Er bremst ab. Mit durchgestrecktem Oberkörper hält er das Gleichgewicht auf dem Segway. Er wägt ab, überlegt, was zu unternehmen sinnvoll ist. Den unfähigen Pförtner zur Rede zu stellen, hält er für nicht aussichtsreich. Er wird ihm wohl oder übel kündigen. Der Nachtschwester den Kopf zu waschen, hat genauso wenig Sinn. Wahrscheinlich hat sie nicht einmal bemerkt, dass Stielers Witwe nicht mehr im Mondzimmer liegt.

Heise kehrt zu seinem Anwesen zurück. Er parkt das Segway an der Ladestation und tritt durch die sich automatisch öffnende Tür. Das Signal eines biometrischen IDs im Gaumen weist ihn aus. Die Gaumenerweiterung befindet sich in der Testphase. Der Himmel-Chip übernimmt bei Fehlfunktionen dieser Neuentwicklung, die Heise nicht erwartet.

In der Küche streckt er die langen Arme aus und bewegt die feinen Finger in der Luft. Er vergewissert sich auf der Watch der Uhrzeit. Jeder in der Siedlung trägt sie. Neben den gängigen Funktionen, Uhrzeit, internes und externes Messaging und Vitalwerte, zeigt die Spezialanfertigung Emotionen, die vom Himmel-Chip erfasst werden. Anspannung, Entsetzen, Angst, Freude. Der Schlafzeitmesser blinkt: zu wenig Ruhezeit.

»Amma«, sagt er. »Mix mir etwas in den Tee. Was Leichtes gegen die Müdigkeit. Wann kommen die Beamten von der Baubehörde?«

»Acht Uhr Abnahme Einheit 11«, antwortet die Stimme. »Zehn Uhr Besprechung Baustelle, mit Architekten.«

»Sag den Architekten ab. Wir haben einen Trauerfall.«

Heise nimmt die Treppe in das obere Stockwerk. Im Schlafzimmer zieht er das Oberteil aus und entledigt sich der Hose. Die Boxershorts behält er an.

»Adam, du bist müde und abgespannt.«

Heise vergewissert sich auf der Watch. Wie unnötig, denkt er. Amma hat Zugriff auf seine Vitalwerte, auf alle erfassbaren Daten seines Körpers.

»Adam«, hört er erneut Ammas Stimme. »Marion Stieler ist von einem Logistiktransporter angefahren worden. Eine Lieferung Labormittel für Einheit 42.«

Heise schluckt. »Wo ist das passiert?«

»Auf der Landstraße. Einhundertzwölf Meter von der Empfangszentrale entfernt. Marion Stielers Himmel-Chip sendet keinen Herzschlag mehr. Sie ist tot.«

»Ist sie das?«, fragt der Leiter der Siedlung verwundert.

3  

Zwei Tage nach den Ereignissen in der unheilvollen Nacht scheint der sonnige Morgen wie ein Gruß der Toten aus dem Jenseits. Josef Stieler hat ein Geheimnis daraus gemacht, welches Prachtkleid aus Blumen und Pflanzen Himmelhof tragen soll, und manche Arbeiten über Nacht erledigt. Es sprießt in Ecken und Winkeln, wo niemand etwas vermutet.

Adam Heise ist kein Freund von Überraschungen. Jede Pflanze, jede Blüte auf dem Gelände ist ihm wie ein Faustschlag in den Unterleib. Einen ebensolchen fühlt er beim Anblick der Journalisten, die sich in der Siedlung eingefunden haben. Jeden von ihnen hat er durchleuchten lassen, bevor er eine persönliche Einladung zur Besichtigung verschickt hat. Presseanfragen für Interviews oder Reportagen über Himmelhof hat er bislang grundsätzlich abgelehnt. Nach den dramatischen Ereignissen hat er auf Drängen seines Finanzgebers die Regel aufheben müssen.

Vor zwölf Jahren gewann Adam Heise Bauunternehmer Ferdinand Kreuzer als Investor, überzeugte ihn, in die Finanzierung seines Lebenstraumes einzusteigen. Mit den Millionen der Kreuzer Holding im Rücken konnte der Augsburger Stadtrat die Baugenehmigungen für seine Vision einer gelebten Zukunft nicht verweigern. Obendrein ließ Adam Heise bei der Präsentation fallen, die Mustersiedlung vor den Toren Münchens zu erbauen. Die Aussicht, das Prestigeprojekt zu verlieren, brachte die Skeptiker zum Schweigen.

Heise weiß genau, was für Kreuzer auf dem Spiel steht. Nichts weniger als die Zukunft seines Konzerns hängt von der Siedlung ab. Er ist gerade im Begriff, das Konzept »Himmelhof« zu verkaufen, verschiedene Firmen aus dem Fernen Osten sind daran interessiert. Mit dem Vorschlag, für mehr Transparenz zu sorgen, hat er seinen Finanzgeber beruhigen können. Öffentlichkeitsarbeit soll Abhilfe schaffen. Aus dem Grund arbeitet Astride Funke wieder. Fünfzehn Jahre lang hat die agile Vierzigjährige die Pressearbeit für eine Privatklinik gemacht. Als Heise sie nach der Tragödie um Unterstützung gebeten hat, hat sie keine Sekunde gezögert. Himmelhofs Image, das ihres Zuhauses, ist in Verruf geraten.

Sie schießt mit einer geballten Ladung Gegeninformation auf die Journalisten. Astride wird nicht müde, von den Vorzügen der Siedlung zu berichten. Sie spricht aus Überzeugung, als Bewohnerin, die mit ihrer Tochter Esther in Einheit 3 lebt. Das Elektromobil mit ihr und einem Dutzend Journalisten passiert gerade das Einfamilienhaus mit Garten. Sie berichtet vom Standardbau, der mit zwei Leichtkränen und acht Hilfsarbeitern in vier Wochen errichtet wurde. Die Gebäudeteile, inklusive Leitungen und Sensoren in Wänden und Böden, stammen aus einer ehemaligen Ziegelfabrik. Ein patentierter Steckmechanismus gewährleistet die schnelle und unkomplizierte Verbindung der Fertigbauteile. Das integrierte, hausinterne Steuersystem ist mit dem zentralen Himmelhof-Server gekoppelt. Der Innenausbau der Einheiten entsteht in derselben modularen Bauweise. Die Raumaufteilung der zweistöckigen Einheiten ist festgelegt. Die Journalisten werden hellhörig, als sie einräumt, dass den Mietern keine Mitsprache zugestanden wird.

»Friss oder stirb«, höhnt ein Journalist.

»Keineswegs«, korrigiert Astride ihn. »Adam Heise hat auf die Vorgabe bestanden, um sich Immobilienspekulanten vom Leib zu halten. In Himmelhof wohnen Arm und Reich zusammen. Vom Millionenunternehmer bis zum Laborangestellten sowie Menschen mit weniger Einkommen, die in den Siedlungsblöcken leben. Alle sind Mieter.«

Von den zähen Verhandlungen zwischen Heise und Kreuzer hat Astride keine Kenntnis. Damals stand es Spitz auf Knopf, als Heise Kreuzer drohte, mit seiner Vision woanders hinzugehen. Zu den Chinesen, die viel offener für Neues waren. Als der Bauunternehmer Heises Ideen in Fertigungstechnik und Gebäude-IT durchdacht hatte, erkannte er den zukunftsweisenden Gedanken hinter der Mustersiedlung. Alles ist mit allem verbunden. Die durchdringende Synergie von Menschen und Dingen leuchtete ihm ein. Mit der millionenschweren Entscheidung in die Zukunft setzte der Vorstandschef alles auf eine Karte, sein persönliches Schicksal und das seines Unternehmens.

Auf dem Elektromobil winkt Astride ihrer Tochter Esther zu. Die nimmt gerade ihren E-Roller von der Ladestation. Sie trägt die verbindliche Schuluniform der Siedlung. Weiß mit rotem Logo.

»Liebes!«, ruft sie ihr zu. »Um elf ist dein Mathetutor online!«

Esther bleibt stehen, hebt den ultraleichten Roller über den Kopf und ruft entnervt zurück: »Mama! Was glaubst du, wohin ich gerade fahre!«

Die Journalisten lachen über die Reaktion des Mädchens. Die Mutter winkt stoisch weiter.

»Hat sie einen eigenen Mathelehrer?«, fragt ein Blogger für Zukunftstechnologien.

Astride dreht sich nach hinten. »Wir buchen Zusatzstunden für Esther bei einem Harvard-Studenten. Sie hat Fragen zur Quantengeometrie auf dem Herzen.«

»Quantengeometrie?«, staunt der Blogger. »Wie alt ist Ihre Tochter denn?«

»Dreizehn«, antwortet sie stolz. »Esther ist aufgeweckt und wissbegierig, aber kein Wunderkind oder eine Little Miss Einstein. Sie ist kein Genie! Schreiben Sie das. Das dürfen Ihre Leser ruhig erfahren. Sie ist ein ganz normal entwickeltes Kind. Das Talent für komplexes Denken wurde bei Tests festgestellt, als wir nach Himmelhof gezogen sind. Esther erhält individuelle Förderung zu Themen, die ihr Spaß machen.« Sie räuspert sich und legt pastorale Überzeugung in ihre Stimme: »Der Kreuzer Konzern sorgt nicht nur für ein Dach über den Kopf und ein sicheres Zuhause. Pädagogische Unterstützung der Eltern bei der Ausbildung der Kinder ist Teil des Himmelhof-Modells. Ein Netzwerk von Lehrkräften aus der ganzen Welt bilden die Schülerinnen und Schüler aus. Später zeige ich Ihnen das Schulgebäude, die Sporthalle sowie Serverzentrum, Supermarkt und Gemeindehaus. Sie werden sich wundern, wie alles mit allem vernetzt ist.«

»Dann stimmt es also, was man draußen hört?«, fragt eine Journalistin um die fünfzig. Sie hält ein altmodisches Diktiergerät in Richtung Astride.

Astride hat mit der Frage gerechnet. »Sie meinen den Himmel-Server?«

»Die künstliche Intelligenz, die hinter allem steckt, ja«, bestätigt sie. »Der Computer, der über alles wacht und zusammenhält und bestimmt über …«

Mit einem amüsierten Lachen unterbricht Astride die elegante Frau. »Himmelhof hat nur einen Chef! Und der heißt Adam Heise.«

Das E-Mobil hält am Holztor, das zum Siedlungssee führt. Der drei Meter hohe Zugang zum Wasser ist ein Augenfang. Ein pulsierendes, fließendes Türblatt, geschaffen von einem lokalen Künstler in Heises Auftrag. Unzählige Bahnen sind in das Holz eingelassen, den Venen des menschlichen Körpers nachgeahmt. Es hat die Form eines Ahornblattes wie das Gelände selbst. In den Bahnen, angelehnt an die geschwungenen Wege der Siedlung, fließt eine leuchtend rote Flüssigkeit.

Astride klatscht in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Journalisten zu bekommen. »Wären Sie so freundlich, einen Halbkreis zu bilden? Sodass jeder etwas sieht?«, bittet sie.

Die Männer und Frauen von der Presse steigen ab. Eine Journalistin schießt ein Foto des Tores und zoomt die Aufnahme heran. Irritiert nähert sie sich dem Kunstwerk. »Das ist doch kein echtes Blut, was da fließt?«

Astride lacht herzhaft. »Aber nein!«, sagt sie. »Wäre aber im Sinne des Künstlers«, schiebt sie hinterher. »Ich glaube, ich liege mit meiner Interpretation nicht ganz falsch. Das Werk symbolisiert das Zusammenleben in Himmelhof. Wir sind eine Gemeinschaft im Fluss. Alle und alles hängt zusammen. Ein in sich geschlossenes, sich gegenseitig nutzendes System.«

 

Während Astride Funke am See Imagepflege betreibt, erwacht in der Siedlungsklinik Doktor Frieda Drechsler. Ihr erster Gedanke gilt der Schönheit des Blumenstraußes auf dem Nachtkästchen. Herber Duft hängt im Heilraum. Das helle, freundliche Mobiliar orientiert sich an den Planeten, die die Sonne umkreisen. Sie liegt im Venuszimmer. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ihr fehlt nichts. Nicht körperlich. Der Schock über Stielers Brutalität jedoch hat sie angeschlagen. Sie richtet sich auf. Zwei Tage Ruhe haben nicht die erhoffte Erholung gebracht. Der Kopf schmerzt. Ein pulsierender Druck an den Schläfen. Vorsichtig beugt sie sich zum Strauß und überzeugt sich. Kein Gruß des Schenkers liegt bei. Warum sollte er seinen Namen darunter setzen? Er ist der Nabel der Siedlung. Kopf und Herz. Vater und Mutter. Fürsorglich und fordernd. Nicht nur von ihr verlangt er alles ab. Jeder Einzelne, jedes Team, das an der großen Aufgabe beteiligt ist, leistet viel. Auf ihr aber lastet die größte Verantwortung.

Drechsler steht auf. Etwas wacklig auf den Beinen geht sie vorsichtig zur Toilette. Danach kontrolliert sie ihre Vitalwerte und verabreicht sich etwas gegen die Kopfschmerzen. Es ist Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Der Sanitäter, der bei Marion Stielers Unfall im Einsatz war, hat ihr einen halben Liter Blut für das Labor abgezweigt. Nun kann sie das Experiment, das sie vor der Geiselnahme begonnen hat, doch noch abschließen. Sie ist gespannt, wie die weißen Blutkörperchen des australischen Mutterschafes auf Stielers Leukozyten reagieren. Ammas Hochrechnungen und Analysen nach besteht kaum Aussicht auf Erfolg. Ein Sechser im Lotto ist wahrscheinlicher. Dennoch rafft sie sich auf und zieht ihren Arztkittel an.

4  

Mit einer Reisetasche über der Schulter schlendert Helen Jagdt neben Edgar Pfeiffer, der einen Rollkoffer auf dem Hauptweg von Himmelhof hinter sich herzieht. Sie ist schlank, blondhaarig mit hell glänzender Haut. Er wird in der Regel auf fünfzig Jahre geschätzt, ein eleganter Geschäftsmann mit Kurzhaarschnitt.

Die beiden bewundern das mit Architekturpreisen überhäufte Grüncenter. Das kristallene, wabenartige Gebäude besteht aus drei Teilen mit je drei Stockwerken. Aufzüge und Rolltreppen sind durch die Glasfronten zu erkennen. Menschen und Maschinen arbeiten gemeinsam. Was an Obst und Gemüse für den Eigenbedarf der Siedlung nicht gebraucht wird, verkaufen Marktfrauen im Umland. Helen Jagdt hat achtundvierzig Stunden Zeit gehabt, sich auf diesen Einsatz vorzubereiten. Sie hat an Fakten und Daten aufgesogen, was an wenigem überhaupt öffentlich zugänglich ist. Unterlagen und Dokumente in den Archiven ihres Arbeitgebers bestehen überwiegend nur aus Bauplänen und Verträgen. Was sie nach der kurzen Vorbereitungszeit erwartet, ist ein Dorf mit einem Zaun drum herum. Dazu ein Dorfvorsteher, alt und weise, der mit Hightech das Leben in der Gemeinde besser und schöner gestaltet. Doch jetzt, da sie sich inmitten des Geländes befindet, überkommt sie das Gefühl, in der Zeit gereist zu sein. In der Zukunft angekommen zu sein. Sie weiß, dass Himmelhof für Fußgänger, autonome Maschinen und selbstfahrende Fahrzeuge konzipiert und optimiert ist. Auf Satellitenbildern ist zu erkennen, dass das Siedlungsgelände in Form eines Ahornblattes angelegt ist. Eine merkwürdig nostalgische Anmutung.

Tatsächlich empfindet Helen Wärme und Vertrauen, als habe die Siedlung auf sie gewartet. Weitläufig ist das Areal, luftig, von Enge und Abgeschlossenheit ist nichts zu merken. Pflanzen und Blumen finden sich überall. Die Wege sind breit, die Bauten alt wie neu. Eine Mischung, die Lust macht, den Schlüssel in eines der Türschlösser zu stecken und heimzukommen.

Helen zerrt an ihrer Reisetasche aus Krokodilleder. Teuer und neu. Das Letzte, wofür sie sich entschieden hätte. Genauso wenig kann sie sich mit Cardigan und Joggpants anfreunden. Sie liebt Kleider und Röcke, einen femininen Look. Anders als ihre Schwester Julia. Ihr würden die Sachen, die Edgar Pfeiffer ihr aufgezwungen hat, wunderbar passen.

»Dafür hasse ich dich!«, meint sie halb ernst, halb im Scherz. »Ich kann anziehen, was ich will. Ich bin und bleibe eine Yogalehrerin! Du hast mich ausstaffiert, als wäre ich ein Mannequin für einen Werbeprospekt.«

Edgar schmunzelt. Er findet sie hübsch, wie sie ist. Die weißblonden Haare, die helle Haut, das offene Gesicht. Seit dem Tag, als er ihr begegnet ist, fühlt er ein Band zu ihr. Dass sie ihm wie eine unartige Tochter auf dem Kopf tanzt, wurmt ihn nur, wenn sie sich dadurch in Gefahr begibt. Wie unberechenbar Helen sein kann, hat er in der Zusammenarbeit mit ihr mehr als einmal erfahren müssen.

Ein Mann in Morgenmantel und Schlappen trottet ihnen entgegen. Narbenpflaster bedecken seine Wangen. Sein Kopf ist gesenkt. Dem Anschein nach führt er ein Selbstgespräch. Unvermittelt bleibt er stehen. Der selbstfahrende Einkaufswagen neben ihm stoppt ebenfalls. Er greift nach einer Banane und beißt, ohne sie zu schälen, davon ab. Edgar und Helen stehen keine drei Meter von ihm entfernt und grinsen. Ohne sie wahrzunehmen, setzt er in Gedanken den Weg mit dem Einkaufswagen fort.

»Der Typ ist Gehirnforscher. Implantate, Brain-to-Brain Communication«, erklärt Helen. »Komischer Kauz. Habe irres Zeug über ihn im Netz gefunden.«

Dann entdeckt sie eine junge Frau mit wehendem Mantel auf einem E-Roller auf sie zurasen. »Geh du vor. Das erledige ich von Frau zu Frau.«

Schicksalsergeben schüttelt Edgar den Kopf und geht weiter. Unberechenbar wie Helen ist, stellt sie sich der Raserin in den Weg. Die bremst und hüpft herab. Das Gestell des Rollers ist rot, ebenso das Logo der Siedlung auf dem Lenkrad. Trittbrett, Reifen und Griffe glänzen weiß.

»Was ist?«, fragt die Frau, die Helen als Marnie Renner erkennt. Bei der Vorbereitung hat sie versucht, mehr über sie zu erfahren. Doch das Netz gibt nicht viel her, außer ein paar biografische Angaben über die hochbegabte Ausnahmestudentin.

»Marnie, oder?«, fragt sie.

»Seit meiner Geburt, ja, und komm mir nicht mit Hitchcock!«, erwidert sie. »Also, was ist, ich hab’s eilig. Du hast fünf Sekunden.«

»Ich bin Helen«, stellt sie sich vor. »Wo finde ich Einheit 11?«

Marnie Renner greift zwischen die Knopflöcher des Mantels, kratzt sich darunter, schüttelt den Kopf und fährt weiter, ohne ihr eine Antwort zu geben. Nach einigen Metern hält sie an und bleibt freihändig auf dem Roller stehen. Er wippt hin und her und hält das Gleichgewicht. »Du bist wohl die Tante, die mit dem Kreuzer Manager ins Elfer zieht!«

Helen geht auf sie zu. »Woher weißt du das?«

»Du bist ganz schön gut darin, dumme Fragen zu stellen«, sagt sie. »An jeder Ecke sind Wegweiser, die sich mit deinem Band koppeln. Frag sie. Bist nie allein, glaub mir. Verlaufen ist nicht.«

Renner fährt freihändig weiter, während Helen auf das Himmel-Band sieht, das ihr und Edgar an der Empfangszentrale angelegt wurde.

5  

Enttäuscht über die belanglose Begegnung geht Helen den Hauptweg weiter und entdeckt einen der elektronischen Wegweiser. Auf dem Display taucht ihr Name auf, als sie sich nähert. Unentschlossen, was sie tun soll, ist sie froh, als ein Mädchen in schneeweißer Schuluniform auf demselben Rollermodell wie Marnie bei ihr hält.

»Sagen Sie einfach, was Sie brauchen, oder fragen Sie nach Einheit 11, Frau Jagdt«, empfiehlt sie höflich. »Ich bin Esther Funke.«

Helen zaubert ein Runzeln auf die Stirn. »Woher weiß hier jeder, wer ich bin und wohin ich will?«

»Aus der täglichen Infomail. Kriegt jeder seit der Tragödie. Idee von Mama. Sie ist die erste PR-Frau der Siedlungsgeschichte. Die Menschen sollen nicht glauben, dass es bei uns gefährlich ist«, erklärt sie.

»Verstehe«, entgegnet Helen. »Eine furchtbare Tragödie. Du hast sicher geschlafen, als die Polizei den Mann …«

»Herr Stieler«, fällt sie ihr ins Wort. »Er war der klügste und lustigste Gärtner der Welt. Alle mochten ihn und Frau Stieler. Deswegen sind so viele zur Trauerfeier ins Gemeindehaus gekommen. In der Mail stand, dass Doktor Franzen extra früher von Buenos Aires zurückgereist ist, um dabei zu sein.«

»Selbst Doktor Franzen?«, tut Helen überrascht. »Er hat sich bestimmt erkundigt, wie es zu der Tragödie kommen konnte.«

»Auf solche Fragen darf ich nicht antworten. Anweisung von ganz oben und von Mama«, sagt Esther schnell. »Herzlich willkommen jedenfalls.« Sie steigt auf den Roller. »Zur 11 die nächste Abzweigung links. Mit Blick auf den See und der Villa von Heise.«

»Wie ist er so, mein Nachbar? Kennst du ihn?«

»Klar, ihn kennt jeder«, erwidert sie erstaunt. »Adam Heise hat Himmelhof erfunden. Er kümmert sich um alles und …« Sie unterbricht sich. »Komisch, dass Sie ihn nicht kennen. Als wir eingezogen sind, haben wir uns persönlich vorgestellt. Mama war total nervös. Er allein entscheidet, wer in Himmelhof wohnen darf und wer nicht. Es gibt Leute, die würden töten, um hier sein zu dürfen. Hat Mama mal gesagt. Ich finde das übertrieben. In der Stadt ist es auch schön. Und Hochhäuser sind eh besser als Einfamilienhäuser. Der Baugrund wird nicht optimal genutzt. Ich werde nämlich mal Architektin. Das steht fest. Dann entwerfe ich kuschelige Hochhäuser, die denken können.«

Helen lächelt über das selbstbewusste Persönchen. »Ich erzähle dir, warum ich Herrn Heise nicht kenne. Aber nur, wenn du mich Helen nennst, ja?«

Esther nickt lächelnd.

»Gut«, lächelt Helen zurück. »Das behältst du aber für dich, kein Wort zu deiner Mama. Versprichst du mir das?«

Esther balanciert auf dem Roller. »Versprochen.«

»Mein Freund ist ein hohes Tier beim Kreuzer Konzern. Wir wohnen nur ein paar Tage hier, er hat einen wichtigen Auftrag in Augsburg.«

»Und was machst du? Urlaub?«

»Urlaub?«, überlegt sie. »Mich etwas ausruhen wäre nicht schlecht, da hast du recht. Viel Yoga und viel schwimmen.«

»Yoga?«, ruft Esther begeistert aus. »Wie geil! Kann ich mitmachen?«

 

Adam Heise beobachtet seit einigen Minuten durch das Salonfenster den neuen Nachbarn vor dem Eingang zu Einheit 11. Der Manager, der ihm vom Vorstandschef des Kreuzer Konzerns avisiert wurde, hat den Auftrag, eine Tochterfirma in Augsburg aufzupäppeln. Aus dem Personalbogen geht hervor, dass Walter Fromm in München geboren und achtundvierzig Jahre alt ist. Geschieden, in zweiter Ehe.

»Amma. Was spricht er?«, flüstert er.

Walter Fromms Stimme erfüllt den Salon. Er telefoniert. Heise lauscht, wie er mit seinem Gesprächspartner den ersten Arbeitstag in der Firma durchgeht. Begrüßung, Kennenlernen der Führungsriege. Belanglosigkeiten, die ihn nicht interessieren.

»Amma. Schalt ab. Das Geschwätz vertrage ich nicht.«

Fromms Stimme verstummt.

Heise hat keinen Widerstand geleistet, als Ferdinand Kreuzer ihm den verdienten Mitarbeiter aufs Auge gedrückt hat. Eine Woche hat er ihm für die Augsburger Firma gegeben. Angestellte durchleuchten, kündigen und austauschen. Je nachdem, welche Strukturen er vorfinden würde. Zahlen wälzen, durch Analysetools jagen. Schlüsse ziehen und Maßnahmen ergreifen. Heise hasst Menschen wie Fromm. Mit einem Lächeln und einer Machete in der Hand köpfen sie Menschen, die nicht das leisten, was sie sollen.

»Wer ist das?«, fragt er unvermittelt sich selbst, als er eine sehr blonde, schlanke Frau den Weg entlanglaufen sieht.

»Amma. Außenkameras.«

 

Es ist Helen Jagdt, die Adam Heises Aufmerksamkeit gewonnen hat. Mit wehenden Haaren läuft sie auf Edgar zu und fällt ihm in die Arme. »Heise steht am Fenster«, flüstert sie. »Drück mich.«

Edgar ist die Umarmung unangenehm. Helen hingegen hat Gefallen an seiner schamhaften Reaktion. Sie schmiegt sich fester an ihn und flüstert: »Das war doch deine Idee! Du wolltest mich als Lockvogel dabeihaben.«

»Ja, schon gut, Helen. Aber wir müssen das nicht übertreiben. Hier wird alles aufgezeichnet.«

»Sprich leise«, zischt Helen. »Mikrofone sind in der Dachrinne integriert. Angeblich werden sie nur im Notfall eingeschaltet.«

Unverfroren bleibt sie in ihrer Rolle und küsst ihren Vorgesetzten, den Chef der Sicherheitsabteilung des Kreuzer Konzerns, auf den Mund. Dabei bewegt sie die Lippen und redet, was Edgar mehr gefällt, als ihm lieb ist. »Auffallen ist interessanter als Mauerblümchen vortäuschen.«

Sie dreht sich um, hin zu dem herrschaftlichen Anwesen, um sich Adam Heise als Beute aus Fleisch und Blut zu präsentieren. Er steht nicht mehr am Fenster.

»Eben war er noch da«, wundert sie sich und lächelt. »Ich kann dir genau sagen, was er jetzt tut. Er fragt sich, wer die gut aussehende Frau mit den lächerlichen Joggpants an deiner Seite ist.«

»Das muss er sich nicht fragen«, widerspricht Edgar. Er hält ihr das Handgelenk mit dem weißen Gästeband hin. »Wir befinden uns innerhalb des Zauns. Das System weiß, wer und wo wir sind. Der Himmel-Server ist eine Datenkrake.«

»Dasselbe hat Marnie Renner mehr oder weniger auch gesagt«, bestätigt sie.

»Was meinst du?«

»Später«, vertröstet sie ihn. »Hier draußen möchte ich nicht reden.«

 

Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen verfolgt Heise auf dem Sofa den Fortschritt der Personenüberprüfung. Anhand Registrierung und Porträtaufnahme von der Anmeldung zeigt das System die Ergebnisse des Durchleuchtungsprozesses auf der Leinwand.

»Helen Jagdt, geboren in Frankfurt am Main, dreiunddreißig Jahre alt …«

»Amma. Stopp«, unterbricht Heise das System. Die Frau ist halb so alt wie er, stellt er mit betroffenem Lächeln fest.

»Adam, dein Puls ist erhöht. Soll Amma etwas zur Beruhigung vorbereiten?«

»Amma. Schlafen«, befiehlt Heise.

Auf den Befehl hin schaltet sich das System aus. Im Hintergrund halten Standardroutinen wichtige Funktionen der Villa aufrecht. Bis zur Anweisung, sich einzuschalten, befindet sich Amma im Ruhemodus, ist Adam Heise der festen Überzeugung.

Er scrollt über die erste Seite der Suchergebnisse. Er schließt die Augen. Ein Link zum Frankfurter Stadtportal wird angezeigt. Er neigt den Kopf. Das Foto zoomt heran. Die wild und fröhlich wirkende Frau namens Helen Jagdt zeigt einer Gruppe Jugendlichen eine Übung. Heise bewegt den Kopf zur Seite. Mit dem Befehl kehrt er zurück zu den Sucheinträgen. Er scrollt zum ersten Eintrag zurück, öffnet die Seite und schmunzelt leise. »Topmanager Walter Fromm hält sich eine Yogalehrerin als Geliebte – wer hätte das gedacht.«