Die Silbermeer-Saga (Band 3) - Das Schwebende Schiff - Katharina Hartwell - E-Book

Die Silbermeer-Saga (Band 3) - Das Schwebende Schiff E-Book

Katharina Hartwell

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Beschreibung

Für alle, die ankommen! Über die Macht von Worten und Geschichten und den Zauber der Sprache. Talin Brand hat Edda durch das ganze Inselreich verfolgt. Und er hat sie gefunden. Kurz bevor sie mit ihrem Schwebenden Schiff zu den Letzten Inseln aufbrechen will, versetzt Brand ihr einen tödlichen Messerstich und stößt sie in die grauen Fluten des Teermeers. Aber Edda ist eine Tochter der Silbersee, die Geschöpfe des Meeres lassen nicht zu, dass sie stirbt. Denn noch immer steht ihr eine große Aufgabe bevor. Und auf der Hoch-Insel Astador wartet der Schwanenthron. Man möchte ein- und nie wieder auftauchen aus Katharina Hartwells wundervoller Fantasywelt. Das Schwebende Schiff ist der dritte und letzte Teil der Silbermeer-Saga. Ein sagenhaftes Inselreich hoch im Norden, eine Welt voller fantastischer Wesen und eine starke Heldin bilden den Mittelpunkt von Katharina Hartwells hinreißender und sprachgewaltigerNordic-Fantasy-Trilogie.

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Seitenzahl: 829

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INHALT

Prolog – Die See

Dunkler Reiter

Einer bleibt, einer geht

Eine Krähe erkennt die andere

Insel der tausend Vögel

Der Brunnen

Hansun und Bjanne

Fünfzehn Fuß

Das Schuppenkleid

Zwei Jungen

Botschaften aus dem Reich der Toten

Kommt ein Reisender an einem heißen Sommertag

Moianisches Gift

Zu Hause

Nimm, was du brauchst

Die Pfeile

Ein steinerner Gott

Heldead

Hell, dunkel, scharf

Leratorium

Ins Moor

Ungeziefer

Eine seltsame Frucht

Das Schwarz im Auge des Vogels

Die Große Demütigung

Tobin

Schwarze Sonne

Die verlorenen Jahre

Dunkelkind

Die Sonne und der Schatten

Kerenshar

Die Reisenden: Das Festland

Der Neue Bellen

Einar und die Einsamen

Für alle, die ankommen

Die See wusste nichts von Zeit. Stunden, Tage, Wochen, Jahre, Jahrhunderte – alles Worte ohne jede Bedeutung für die See. Wie lange sie auf ihre verlorene Tochter gewartet hatte, zwei lange Ewigkeiten oder einen halben Wimpernschlag, ließ sich also nicht sagen, doch als Edda Valt zu ihr zurückkehrte, da schloss die See sie in eine stumme Umarmung, zog sie hinab bis ins Herz der Stille, bis in die reglose Ruhe tiefer Gewässer.

Meine Tochter, raunte die See. Sie hatte nie vergessen, was den Nachkommen Inkengards längst entfallen war: So wie die Carpaunen und Schlucker im Teermeer, so wie die Königskraken und Colmin-Fische im mittleren Inselreich, so wie die Wassermänner im Schönen Süden waren auch die Kinder Inkengards Kinder der See gewesen. In ihren Köpfen hatten sie es schon vor einer Ewigkeit vergessen, aber in ihren Lungen und Herzen, im Blut, da wussten sie es noch.

Atme!, befahl die See ihrer Tochter.

Und Edda atmete. Atmete mit Schrecken und Wunder, riss die Augen auf, den Mund, die Lungen, öffnete sich für die See, und der erste Atemzug unter Wasser schien waghalsig wie ein Sprung. Gierig sogen ihre Lungen das Wasser ein, schwarz pulste es durch ihren Körper, brachte das Leben zurück, das gerade noch aus ihr herausgeronnen war.

Sie schwebte nun, über ihr und unter ihr und überhaupt in alle Richtungen rauschende Felder meilenweiter Finsternis. Edda blinzelte, atmete, hing, gehalten vom Wasser, und die See rief all ihre Kinder zu sich, die nahen und die fernen, die gewaltigen und die winzigen. Zumindest die folgsamen kamen: die Drachenrochen, die Colmin-Fische, die Wittlinge und Dorsche, die Königskraken, die Schattenwale, die Schwarz-Aale, die Muränen, die Acht- und die Neunarmer, die Fünf- und die Siebenäuger, die Grundeln, die Schuppendrachenfische, die Feuerquallen, die Weißknochenfische, die Schnepfenaale, die Spinnen- und die Laternenfische, die Wrack- und die Zackenbarsche, die Tintenbäusche und die Schattenkugeln, die Seeigel und die Silberechsen. Sie kamen, aus dem Norden, dem Süden, dem Westen, dem Osten, in Schwärmen und Familien, in Dreiergeschwadern, in Heeren und ganz allein.

Bald streiften die Ersten Edda mit Flossen, peitschenden Schwänzen und neugierig zuckenden Tentakeln. Um den innersten Kreis legte sich ein weiterer und noch einer und so weiter, ein Kreis schloss sich um den nächsten, einer größer als der andere.

Schwimm!, raunte die See und als Edda sich nicht rührte, da zog die geduldige Mutter ihr sacht an Armen und Beinen, zeigte, ohne die Bewegung in umständliche Worte zu kleiden: strecken und lang ziehen und öffnen und zurück. Es kam zu Edda, dieses alte Wissen, diese vertraute Bewegung, so selbstverständlich, als würde sie laufen. Ihre Arme und Beine, genau wie ihre Lungen, waren gemacht für die See. Und die See wies ihr die Richtung, zog Edda fort von Bal Okren, von Brand, von der Meeresstürmer und der Staubsprenkel, von Pantemin und Teofin, fort von allem, was Edda kannte, und allem, was sie einst gewesen war. Edda ließ die alten Geschichten zurück, und die Worte im schwarzen Wasser des Teermeers schrieben bereits eine neue.

Sechs Tage lang hatte es ununterbrochen geregnet, gehagelt oder geschneit, doch an diesem Morgen war der Himmel blau und klar, eine erste Ahnung des Frühlings, der selbst den hohen Norden früher oder später aufsuchte. Nur dort, wo die Sonne das Holz der Stege noch nicht berührt hatte, waren diese von einer dünn glitzernden Frostschicht bedeckt. Behutsam setzte Teofin einen Fuß vor den anderen. Sein Bein hatte sich gerade erst wieder erholt, und das Letzte, was er brauchte, war es, auf dem glatten Holz auszurutschen.

»Ist es nicht noch zu kalt, um so nah am Wasser zu sitzen?«, fragte er, als er Pantemin endlich erreicht und sich umständlich neben ihm auf dem Steg niedergelassen hatte. »Solltest du nicht eigentlich im Bett liegen?«

»Ich habe lang genug im Bett gelegen. Außerdem ging es mir schon schlechter.«

Es stimmte. Es ging Pantemin besser als in den Tagen nach Brigor, als ein rot gepunkteter Ausschlag seinen Körper überzogen, ihm Hals und Augen hatte zuschwellen lassen. Es ging ihm womöglich sogar besser als in den Tagen, da die Meeresstürmer im Hafen Bal Okrens gelegen hatte, bevor Talin Brand mit ihr über alle sieben Meere davongesegelt war. Aber nur weil Pantemin nicht mehr am Brigor-Holz krankte, wirkte er nicht sonderlich gesund. Sein Husten klang nicht länger bloß wie ein gereiztes Räuspern, sondern kam geröllig aus den Tiefen seines Brustkorbs.

»Hast du keine Angst, dir einen Kaltkopf einzufangen?«

Pantemin zuckte die Achseln. »Kann nicht mehr lange dauern, bis sie zurückkommen.«

Teofin wollte gerade widersprechen, als ein kleines Boot westlich von Smal Okren am Horizont auftauchte. Seit Tagen bezahlte Pantemin Agnoshs Söhne Aljosch und Ogvik dafür, einmal am Tag hinauszufahren, um nach Edda zu suchen. Was auch immer sich Pantemin unter suchen vorstellte. Was gab es für die beiden Männer schon groß zu tun, außer auf dem schwarzen Spiegel des Teermeers nach einem leblos dahintreibenden Körper Ausschau zu halten?

»Wenn du ihnen jeden Tag Gold zahlst, hast du bald keines mehr übrig«, sagte Teofin.

Statt zu antworten, nieste Pantemin in den Ärmel seines Wollpullovers.

»Hör mal«, Teofin kratzte an einem rostigen Nagel in den Brettern des Steges. »Wir sollten darüber reden, wie wir jetzt weiter …«

»Bull will zurück nach Vin-Lu fahren.«

»Ja. Um genau zu sein, morgen schon.«

Die Worte schienen an Pantemin vorbeizugehen wie das Kreischen der Möwen über ihren Köpfen.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Er …«

»Ich habe Ohrschmerzen, ich bin nicht taub. Ihr fahrt morgen. Gute Reise.«

Teofins Schultern spannten sich. Ärger, Angst, Wut gingen ihm immer gleich in die Muskeln. Als hätte er nicht die ganze Zeit über schon gewusst, dass diese Unterhaltung so anstrengend wie unangenehm werden würde. »Gibt es irgendetwas, das ich sagen kann, um dich davon zu überzeugen, dass es ein Schnapsgedanke ist hierzubleiben?«

»Ich bedaure.« Pantemin machte nicht den Eindruck, als würde er etwas bedauern, im Gegenteil, die alte Höflichkeit war einem neuen Klang gewichen, der die Worte schliff, bis sie scharfe Kanten hatten.

Teofin schnippte mit dem Zeigefinger gegen den rostigen Nagelkopf. Was machte er überhaupt hier draußen? Aber er kannte die Antwort ja. Er war wegen Edda hier. Weil er es Edda schuldig war, Pantemin nicht einfach seinem Schicksal zu überlassen. Aber er musste Pantemin nur ansehen, den starren Zug um seinen Mund, um sicher zu wissen, dass er niemals mit ihnen zurück nach Vin-Lu kommen würde. Edda würde ihm kaum vorwerfen können, er hätte es nicht versucht. Alles Reden hatte nun einmal wenig Sinn, wenn der andere nicht zuhören wollte.

»Gut, dann sehen wir uns also später auf der Staubsprenkel«, murmelte er und kam auf die Füße. Er hatte gerade behutsam das linke Bein gestreckt, als Pantemin sprach, den Blick weiter geradeaus gerichtet, als wolle er die Worte eigentlich an die See richten.

»Wie du dir deiner Sache so sicher sein kannst, das würde ich gerne verstehen.«

Teofins Hände öffneten und schlossen sich, bekamen aber nur Luft zu fassen. Er überlegte, so zu tun, als hätte er Pantemin nicht verstanden. Aber was wäre damit gewonnen? Pantemin würde nicht einfach lockerlassen.

»Nun, zum einen war ich da«, sagte er.

»Alles, was du gesehen hast, ist, wie er Edda ins Wasser gestoßen hat.«

»Das ist nicht alles, was ich gesehen habe.« So langsam und bedächtig, wie er auf dem glatten Steg einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte, setzte er nun ein Wort hinter das nächste. »Ich habe gesehen, wie er Edda ein Messer in die Rippen gerammt hat. Ich habe gesehen, wie er sie an den Haaren über den Steg geschleift und ihr einen Tritt verpasst hat und wie sie über den Rand in die See gegangen ist; und Pantemin, sie kann nicht schwimmen.«

»Niemand hat ihren … niemand hat ihre … man hat sie nicht gefunden. Sie ist verschwunden. Und solange man sie nicht findet, kannst du nicht wissen …«

»Und ob ich das kann«, schoss Teofin zurück. Trotz der Kälte in der Luft spürte er Hitze feurig in seinem Hals pulsen. Im großen Kreis zog er den Arm durch die Luft, schloss das Meer in seiner ganzen unvorstellbaren Weite ein. »Wir reden vom Meer, nicht von einem Bach oder einem Tümpel. Natürlich finden sie nichts. Aber das heißt nicht, dass Edda auf irgendeiner Insel sitzt und darauf wartet, dass wir sie retten.« Er grub die Faust in seinen linken Oberschenkel, eher aus Gewohnheit als, weil er dort schon Schmerz fühlte. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du … du glaubst nicht tatsächlich daran, dass sie noch lebt.«

Pantemin verschränkte die Arme, hustete, schwieg.

»Meinetwegen bleib hier, aber nur weil du dein eigenes Leben auf den Misthaufen wirfst, heißt das nicht, dass du sie je wiedersehen wirst. Du hast es selbst gesagt: Bal Okren ist der schrecklichste Ort, den du je gesehen hast. Der schrecklichste Ort, an dem du je gewesen bist, und hier willst du auf sie warten, obwohl auch du wissen musst, dass sie nie zurückkommen wird? Das ist kopfkrank. Oder dumm. Oder beides.«

Endlich drehte Pantemin sich zu ihm um, und die Kälte in seinen Augen konnte es aufnehmen mit dem Wind, mit der See, dem Frost auf den Stegen.

»Als ob es dir nicht einerlei wäre, ob ich nun mein Leben auf den Misthaufen werfe oder nicht. Du kannst es bloß nicht aushalten, dass ich bleibe, während du gehst.«

Die pure Anstrengung, Pantemin nicht einen kräftigen Schubs zu verpassen, der ihn in die schwarze See schicken würde, ließ Teofin zittern. »Mach, was du willst, meine Sorge ist es nicht.« Er fuhr herum, um davonzustürmen, hatte aber kaum zwei Schritte gemacht, bevor er ins Rutschen geriet. Er ruderte mit den Armen wie eine betrunkene Gans, nur um sich nicht der Länge nach hinzulegen. Den Rest des Weges legte er gemächlich schlurfend zurück wie ein alter Mann, ein stummes Gebet auf den Lippen, dass Pantemin ihm bereits den Rücken gekehrt haben möge und das Spektakel nicht voller Hohn beobachtete.

Das Klügste würde es sein, gleich auf die Staubsprenkel zurückzukehren. Sich auf der Insel herumzutreiben war schon keine gute Idee gewesen, bevor Talin Brand Edda in die See gestoßen und ihr Schiff gestohlen hatte, und dieser Tage standen sich Agnoshs Söhne und Bulls Männer wie Soldaten verfeindeter Heere gegenüber. Teofin wusste, dass Bull, Malt und Nort in der langen, langen Nacht nach Eddas Tod – nach Eddas Verschwinden – darüber gesprochen hatten, Agnoshs Haus zu stürmen, um ihn zur Verantwortung zu ziehen. Aber selbst im größten Zorn musste ihnen bewusst gewesen sein, wie sehr sie den Naan zahlenmäßig unterlegen waren, selbst im größten Zorn musste ihnen bewusst gewesen sein, dass sie Agnosh zwar dafür bestrafen konnten, dass er Talin Brand mit der Meeresstürmer hatte ziehen lassen, aber dass keine Strafe der Welt Edda oder ihr Schiff wieder zurückbringen würde.

Obwohl Teofin nicht den geringsten Wert darauf legte, Agnosh oder einem seiner Söhne zu begegnen, ließ er sich im Sand nieder. Von dort aus beobachtete er Pantemin drüben auf dem Steg und fluchte auf dessen Starrsinn. Wie befürchtet verstrich nicht viel Zeit, bevor die ersten feixenden Weißschöpfe zwischen den Sanddünen auftauchten – gleich zwei von ihnen, Teofin wäre nicht in der Lage gewesen, ihre Namen zu nennen, selbst wenn man ihn mit Rundlingen und Colmin dafür entlohnt hätte. Sie waren wohl auf dem Weg zu dem von Hütten gesäumten Platz hinter den Stegen. Während sie sich ihm näherten, zog Teofin die Schultern hoch und die Knie an, auch wenn ihn seine Kindheit in Colm gelehrt hatte, dass man sich nicht durch reine Willenskraft unsichtbar machen konnte. Er starrte so angestrengt auf die See hinaus, dass ihm die Augen tränten. Als die beiden auf seiner Höhe angelangt waren, murmelte der eine etwas, während der andere in den Sand spuckte. Dann gingen sie weiter. Teofin atmete zittrig aus. Wie sehr er sich für seine Angst schämte. Aber Scham half ihm nicht im Geringsten dabei, sie loszuwerden. Agnoshs Söhne, jeder Polveg, Golveg, Schmolveg und wie sie alle hießen, erinnerten ihn mit ihrem vergilbt weißem Haar, ihren fuchsigen Gesichtern und ihren farblosen Brauen und Wimpern an Talin Brand. Noch immer träumte er jede Nacht von dem Nachmittag, an dem Brand auf Bal Okren aufgetaucht war, und in seinen Träumen wurde er noch immer durch die Luft gewirbelt wie eine Puppe, ein Ding; in seinen Träumen wühlte Brand sich auf der Suche nach Wissen über die Fließende Karte noch immer durch sein Inneres, kramte achtlos in Teofins teuersten Erinnerungen, seinen schamvollsten Geheimnissen herum, in Gedanken, die Teofin nie einem anderen Menschen anvertraut hatte, nicht einmal Edda, kramte darin herum, als seien sie bloß wertloses Gerümpel, Unrat. Und genauso fühlte Teofin sich seitdem. Wie Unrat. Er war nackt gewesen vor Brand, und es machte keinen Unterschied, dass der andere Mann ihn nicht tatsächlich ausgezogen, seinen Körper nicht tatsächlich mit kaltschlierigen Fingern abgetastet hatte. Nachdem Bulls Männer Teofins bleischweren und wie leblosen Körper an jenem Nachmittag zurück zur Staubsprenkel getragen hatten, bürstete er seinen ganzen Körper mit kaltem Wasser und einem groben Schwamm so heftig und so lange, dass seine Ellbogen, Knie und Fingerknöchel zu bluten begannen. Aber gleich wie heftig er sich schrubbte, er konnte Brand nicht von sich waschen, ein Teil von ihm saß noch immer in Teofins Brust wie ein kalter Splitter.

Nichts davon hatte er zu Pantemin gesagt. Wozu auch? Sicher, er hätte ihm erzählen können, dass er sich von der Schädeldecke bis zu den Zehenspitzen besudelt gefühlt hatte, dass es ihm gewesen war, als sei ihm kein Blut mehr durch die Adern geflossen, sondern teeriger Schlick. Aber um es tatsächlich zu verstehen, musste man Altsprech schon auf den eigenen Körper wirken spüren. Er tastete nach dem Messer in seiner Hosentasche, fühlte den Griff, die Form, das Gewicht beruhigend vertraut in seiner Hand und sah zu dem Steg hinüber. Das Boot hatte in der Zwischenzeit angelegt. Er hätte sein eigenes Leben und Pantemins gleich dazu darauf verwettet, dass sie nichts gefunden hatten, und trotzdem knotete sich ihm der Magen, während er die beiden beobachtete. Er presste seine Faust fest in den linken Oberschenkel, während Aljosch auf den Steg sprang, atmete durch den Schmerz, während Ogvik ihm folgte.

Nichts. Natürlich nicht. Er griff sich einen Zweig, zeichnete Muster in den weißen Sand und rang mit sich. Ihm war ganz und gar nicht nach Pantemins kalt köchelnder Wut und seinen scharfkantigen Worten zumute, aber wenn er jetzt zur Staubsprenkel zurückging, würde er wahrscheinlich nicht noch einmal mit Pantemin sprechen, bevor sie am nächsten Morgen die Segel setzten. Er machte sich etwas vor, wenn er sich erzählte, dass er nur für Edda versucht hatte, Pantemin umzustimmen. Wenn man einen anderen erst eine lange Nacht durch Fieberträume und unruhigen Schlaf zurück ins Leben gepflegt hatte, konnte der einem nicht länger gleich sein. War Pantemin sein Freund? Mochte Teofin ihn? Und umgekehrt? Vielleicht, vielleicht nicht, aber eines wusste Teofin sicher: Ihre Wege durften sich nicht so trennen, nicht nach Vin-Lu, nicht nach Brigor, nicht nach dieser sturmverfluchten, schlammschabenzerfressenen, von allen Göttern und guten Geistern verlassenen Insel namens Bal Okren.

Aljosch und Ogvik kamen ihm auf dem kleinen Treppchen entgegen, das den Steg hinaufführte, und er rang sich ein Lächeln zur Begrüßung ab. Über Ogvik wusste er wenig, aber Aljosch war fraglos einer der wenigen anständigen Menschen auf Bal Okren. Mehr als einmal hatte er seinen eigenen guten Stand aufs Spiel gesetzt, um Edda zu helfen.

Mit dem Kinn nickte Teofin in Richtung der See. »Nichts?«

Aljosch machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu schütteln. »Wir haben ihm gesagt, dass er sein Gold in die See wirft, aber er besteht darauf, dass wir weiter nach ihr suchen, und wir können nicht unsere Tage draußen auf der See verbringen ohne jeden Lohn.«

Sie betrachteten Pantemins schmalschultrige Silhouette. Teofin hatte ihn während der letzten Tage oft genug von seiner Kammer auf der Staubsprenkel aus beobachtet, um zu wissen, dass Stunden verstreichen konnten, ohne dass er sich rührte.

»Die Sache ist, wir werden morgen abreisen, aber Pantemin meint …«

»Oh, er bleibt hier, ich weiß«, unterbrach ihn Aljosch finster. »Selca hat sich in den Kopf gesetzt, dass sie ihn bei sich aufnehmen will. Die Frau hat anscheinend nicht genug Probleme.«

Dass Aljoschs Schwägerin Selca auf Bal Okren kein gutes Ansehen genoss, war selbst Pantemin nicht entgangen. Fraglos tat sie sich keinen Gefallen, wenn sie nun auch noch einen unliebsamen Fremden unter ihrem Dach wohnen ließ. Während Aljosch und Teofin sprachen, war Selcas Junge, Sooti, am Ufer aufgetaucht. Er flog an ihnen vorbei den Steg hinunter bis zu Pantemin, vermutlich um ihm genau wie an den Tagen zuvor eine seiner zweifelhaften Gaben zu überreichen: Beeren, Zweige oder Steine. Pantemin nahm das ungebetene Geschenk achtlos entgegen und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden, bevor er sich wieder der See zuwandte. Sooti lungerte noch eine Weile draußen auf dem Steg herum, aber da Pantemin nicht sprechen wollte und der Junge es nicht konnte, gab er schließlich auf und schlich zurück zum Ufer.

»Er ist nicht für den Norden gemacht, euer gelehrter Freund«, sagte Aljosch knapp, während er Sooti zu sich herüberwinkte, und obwohl Teofin diese Einschätzung teilte, stimmte er ihm nicht zu. Er verabschiedete sich und schlitterte über die frostigen Planken zurück zu Pantemin.

Falls Pantemin überrascht war, dass Teofin noch einmal zu ihm zurückkehrte, ließ er es sich nicht anmerken. Eine Weile starrten sie stumm aufs schwarze Wasser.

»Wenn du dich irgendwann entscheiden solltest«, setzte Teofin an, »doch zurück nach Vin-Lu …«

»Ich bleibe hier, bis Edda zurückkommt.«

»Ja, aber was, wenn sie nie …«

»Bis sie zurückkommt.«

»Was, wenn es Monde dauert? Oder Jahre?«

Der Gleichmut, mit dem Pantemin die Achseln zuckte, trieb sich Teofin wie mit spitzen Nadeln unter die Finger. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln; er war nicht noch einmal raus auf den Steg gekommen, um sich ein zweites Mal zu streiten.

»Und wenn du für den Rest deines Lebens auf Bal Okren bleiben musst? Ist dein eigenes Leben nichts wert? Ich meine, willst du … willst du nichts für dich?«

Pantemin warf ihm einen abwägenden Seitenblick zu. »Natürlich. Deswegen bleibe ich hier.«

Teofin errötete. In den letzten Tagen war es leichter gewesen, nicht darüber nachzudenken, dass es etwas zwischen Edda und Pantemin gab, das ihn außen vor ließ, das er nicht recht verstand. Schließlich musste er die beiden nicht mehr zusammen sehen, die Blicke, die sie tauschten oder die flüchtigen Gesten, die weniger flüchtig waren, als sie es hätten sein sollen.

»Ich verstehe einfach nicht, wie du bleiben kannst«, murmelte er.

»Und ich verstehe nicht, wie du gehen kannst.«

»Alles, was ich im letzten Jahr getan habe, habe ich für Edda getan. Alles. Und daran hätte sich nichts geändert, ich wäre ihr weiter hinauf zu den Letzten Inseln gefolgt, auch wenn …«

Auch wenn mein eigener Weg gen Osten führt. Zu Edda hatte er die Worte nie gesagt, es schien falsch, sie nun so beiläufig vor Pantemin zu sprechen. Einmal abgesehen davon, dass der wahrscheinlich einen Möwenköttel auf Teofins Gründe gab, dies oder das zu tun. Doch Pantemins nächste Frage überraschte ihn.

»Du fährst nicht wieder an die Küste zurück?«

»Ich … nein … ich denke nicht«, räumte er ein.

»Habt ihr nicht genau darüber gestritten, Edda und du? Du wolltest unbedingt in eure Heimat zurück und sie nicht?«

»Ja, aber das war vor …«

Vor Vin-Lu. Vor Kip, der Flüsterin, die ihm den Kopf mit Altsprech vollgesäuselt hatte, vor Egin, der weißen Dame aus der weißen Festung, vor Talin Brand, der ihm vor Augen geführt hatte, dass er noch immer derselbe hilflose, humpelnde, ängstliche Junge war. Edda hatte der Archipel verändert, an ihm selbst war er scheinbar spurlos vorbeigegangen.

»Ich bin auf Vin-Lu jemandem begegnet«, sagte er zögernd. »Einer Frau. Sie hat mich eingeladen, nach Witte Kastiel zu kommen.«

Die Worte klangen ähnlich lächerlich, wie wenn er behauptet hätte, der Kraken Hager sei persönlich aus der See emporgestiegen, um Teofin zu seinem Nachfolger zu bestimmen. Pantemin aber nickte bloß.

»Also wirst du nach Witte Kastiel gehen?«

»Du kannst ruhig sagen, wie es sich anhört.«

»Wie hört es sich an?«

»Kopfkrank.«

»Ist es kopfkrank?«

»Ich bin nicht hochgeboren, ich komme vom Festland. Wahrscheinlich bin ich der letzte Mensch, dem man raten würde, sich auf den Weg nach Telomaar zu machen, um dort die Sprachgelehrten um Aufnahme zu bitten.«

Außer natürlich, wenn man wusste, dass ihm eine Hexe schon vor vielen Monden gesagt hatte, dass seine Zunge für die Alten Worte gemacht war, außer wenn man wusste, dass er schon auf Bela-Haven den Zug der Alten Worte in den Blockaden gespürt hatte; außer wenn man wusste, dass er eine eigene Primäre besaß, die er in einer Kiste voll altem Gerümpel gefunden hatte. Aber all das würde sich bloß wie eine Flunkergeschichte und Prahlerei dazu anhören.

»Aber jemand hat dir offenkundig geraten, dich auf den Weg nach Witte Kastiel zu machen«, wandte Pantemin ein. »Und außerdem klingt es für mich überhaupt nicht kopfkrank.«

»Nein?« Teofins Stimme war rau.

»Nein. Nachdem du mich von Brigor zurück auf die Staubsprenkel gebracht hattest, da sagtest du, dir sei klar geworden, dass mich die Bäume krank machten, weil sie aus demselben Holz seien wie eine Tür im Zimmer des Kartenmachers in Selma-Grande.«

»Ja.« Teofin runzelte die Stirn. »Und?«

»Weder Edda noch ich haben eine Tür dort gesehen – ich habe sie noch einmal danach gefragt. Wahrscheinlich war diese Tür durch einen Sprachzauber geschützt. Aber dann hättest auch du sie nicht sehen können. Dass du es trotzdem getan hast … Manche kommen schon von der Alten Sprache berührt zur Welt. Ich wusste nicht, dass dies auch für Landf… für solche gilt, die auf dem Festland geboren sind.«

Obwohl zur Abwechslung einmal kein Wind ging, fröstelte Teofin. Wie sonderbar, einen anderen die Worte sprechen zu hören, die ihm selbst so oft schon durch den Kopf gegangen waren und trotzdem nichts von ihrem Irrsinn verloren hatten. Von der Alten Sprache berührt zur Welt gekommen – er! Teofin Bornholm! Sohn des Apothekers, mit dem krummen Bein. Es ergab nicht den geringsten Sinn, wäre da nicht … Er räusperte sich. »Da ist noch etwas anderes.« Rasch, und bevor er es sich anders überlegen konnte, zog er das Messer aus seiner Tasche und legte es zwischen sie auf die Planken. Ein Teil von ihm sah das, was wohl alle anderen auch sahen: ein einfaches Messer, das Heft gesplittert, die Klinge rostig. Ein anderer Teil aber, nun, ein anderer Teil konnte den mächtigen Klang des Messers nicht bloß hören, er konnte ihn sehen, wie ein dunkles Pulsen, das in allmählich größer werdenden Kreisen von dem Messer in die Welt ging, Wasser, Luft und Erde durchwirkte.

»Ich weiß, du siehst bloß ein gewöhnliches Messer«, setzte er an.

Doch Pantemin neben ihm hatte sich kerzengerade aufgerichtet. Obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war, der Steg vollkommen verlassen hinter ihnen lag, senkte er die Stimme.

»Seit wann trägst du eine Primäre mit dir herum?«

»Seit Vin-Lu. Du kannst erkennen, dass …?«

Pantemin rückte unmerklich von dem Messer ab. »Ich habe schon einmal eine Primäre gesehen«, murmelte er. »Vor einigen Jahren.«

Ein Kribbeln zog von Teofins Nacken bis in den Hinterkopf hinauf. »Welche?«, fragte er ein wenig atemlos.

»Das Netz. Mein Vater, mein Onkel und ich waren auf Perendrin, als es an einen Mann namens Kurtz verkauft wurde.«

»Kurtz von den Fischern von Halv?«

Pantemin nickte fröstelnd. »Mein Vater war schon immer einer von jenen, die meinen, Primären sollten nicht einfach verkauft werden. Warum er in seiner Überzeugung so entschieden war, verstand ich erst, als ich Kurtz auf Perendrin sah. Eine Primäre hält mehr Macht, als ein gewöhnlicher Mensch besitzen sollte.«

Auch wenn Teofin daran zweifelte, dass Pantemin ihn in eine Reihe mit Kurtz stellen wollte, sagte er schnell: »Ich habe die Primäre nicht gekauft.« Er suchte nach den Worten, die Egin damals im Wirtshaus auf Vin-Lu zu ihm gesagt hatte. »Sie … sie ist zu mir gekommen.«

»Wie es gefällt, sicher. Das Messer ist keine der bereits bekannten Primären. Einfach kaufen kann man nur, was andere vor einem entdeckt haben. Ich nehme an, du weißt noch nicht, wie du damit umzugehen hast?«

Teofin ließ das Messer wieder in seiner Hosentasche verschwinden und schüttelte den Kopf. »Ich kann die Macht spüren, ich kann sie hören, sehen, aber ich habe keinen gesprenkelten Wasserdunst, wie ich sie mir zunutze machen könnte.«

»Wahrscheinlich gibt es keinen anderen Weg für dich, als nach Telomaar zu gehen. Nicht bloß wegen der Primäre, sondern auch damit du erfährst, wie du deine eigenen Kräfte in Schach halten kannst.«

Deine eigenen Kräfte in Schach halten. Teofin hätte beinahe gelacht. Unter den vielen Herausforderungen, die das Leben ihm bisher gestellt hatte, war die, seine eigenen Kräfte in Schach zu halten, nie eine gewesen.

»Ich weiß nicht, ob das der Grund ist, aus dem ich nach Telomaar will.«

»Sondern?«

Teofin sah auf die See hinaus. Wie zum Wassermann sollte er jemandem wie Pantemin erklären, wie es sich anfühlte, Teofin zu sein, mit seinem krummen Bein, seiner Angst, seinen Zweifeln?

»Hat Edda dir einmal erzählt, wie Hans Piel und die anderen Jungen auf Colm sie nannten?«

»Ich bedaure – nein. Ich glaube nicht.«

»Edda Knochenbrecher.« Obwohl Eddas Name einen aschigen Geschmack in seinem Mund hinterließ, musste er lächeln. »Einem von ihnen hat sie mal den Arm gebrochen – ich meine, es war ein Versehen, aber danach ließen Hans Piel und die anderen sie in Ruhe. Ich glaube, dass sie Angst vor ihr hatten. Ihren Bruder und mich aber jagten sie ungefähr jeden zweiten Tag durchs Dorf. Bewarfen uns mit Steinen, lauerten uns auf.« Er schluckte. »Ich musste mich immer verstecken und darauf hoffen, dass Edda mich beschützt. Und ich werde nie … ich werde nie stark sein oder so gut im Kämpfen wie Edda und du. Ich werde nie schnell sein oder geschickt mit Waffen umgehen können. So war es schon in Colm, so war es auf Bela-Haven, so war es, als Brand hier auftauchte.«

»Nun, zumindest warst du da.« Pantemin sprach zu den Planken, zu der See, seinen eigenen Händen im Schoß. Es war das erste und wohl einzige Eingeständnis, dass sein kalter Zorn eher gegen sich selbst als gegen Teofin gerichtet war. Schließlich hatte keiner von ihnen beiden Edda schützen können.

Teofins Augen flogen über den schwarzen Spiegel des Teermeers. Er glaubte nicht, dass Eddas roter Haarschopf sich plötzlich aus dem Wasser heben würde, und trotzdem konnte er nicht aufhören, Ausschau zu halten, zu warten.

»Falls – wenn Edda zurückkommt, kannst du ihr sagen … dann sag ihr …« Wieder schluckte er. Die Kehle war ihm eng. Aus gutem Grund verbat er sich, während der Tage über Edda zu sprechen oder auch nur an sie zu denken. Edda, tot im schwarzen Meer, gehörte den Nächten, wenn er allein in seiner Kammer war, den Kopf unterm Kissen versteckt, die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass ihm noch am nächsten Tag der Kiefer schmerzte.

»Behalte ihren Spiegel«, fuhr er rasch fort. »Wenn sie zurückkommt, dann kannst du jemandem in Vin-Lu Bescheid geben, der Kleinen Schwester oder dem Kartenmacher, und früher oder später werde ich davon erfahren.«

Wenn sie zurückkommt. Als wäre es nur eine Frage der Zeit. Aber falls Teofin sich irrte und Pantemin richtiglag, falls Edda tatsächlich zurückkam, dann würde sie auf Bal Okren eintreffen, nur um festzustellen, dass ihr bester, ihr ältester Freund sie aufgegeben hatte. Er zuckte, schüttelte sich, als würde er schaudern, schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf. Er durfte sich Eddas Rückkehr nicht weiter ausmalen. Denn wenn er sie für möglich hielt, glaubte, dass es noch Hoffnung gab, dann würde er Bal Okren nicht verlassen können, und wenn er blieb, dann würde er für immer Talin Brand spüren, den kalten Splitter, den der Mann ohne Farben in ihm hinterlassen hatte, dann würde er für immer Angst haben, sich für immer schwach fühlen, für immer ein Messer mit sich herumtragen, das er nicht zu benutzen wusste.

Es gab keinen anderen Weg für ihn.

Er musste nach Telomaar.

***

So wenig Teofin daran geglaubt hatte, dass Pantemin seine Meinung noch einmal ändern würde, so wenig hatte er es für möglich gehalten, dass er tatsächlich auf der Insel zurückbleiben würde. Noch während er oben auf dem Deck der Staubsprenkel stand, die Hände an der Reling, das dunkel summende Messer in seiner Hosentasche, konnte er nicht aufhören zu warten, zu hoffen. Wenn Pantemin schon nicht zur Einsicht kommen würde, dann würde eben irgendwer anderes eingreifen müssen, vielleicht der Kraken Hager, der aus den Tiefen der See aufstieg. Doch das Meer war verschwiegen wie eh und je, während sich der Abstand zwischen Schiff und Steg allmählich vergrößerte. Wie verloren Pantemin drüben auf dem Steg wirkte. Ein gutes halbes Jahr war verstrichen, seitdem Teofin ihn gegen Wassermänner hatte kämpfen sehen. Er hatte jene Nacht nie vergessen, hatte auch nicht vergessen, dass der unscheinbare Stab auf Pantemins Rücken in Wahrheit eine scharfklingige Waffe war. Doch wie schwer war es zu glauben, dass, nun da Talin Brand die Insel verlassen hatte, ausgerechnet Pantemin der wohl gefährlichste Mann auf Bal Okren war. Alles an ihm war fein, leise, edel, und alles auf Bal Okren war grob, rau, harsch. Die Insel, Teofin war sicher, würde ihn innerhalb weniger Tage brechen.

Pantemin war sich sicher gewesen, dass sie gleich in der ersten Nacht kommen würden. Wenn er Glück hatte, dann um ihn zu warnen, ihn mit klaren Worten wissen zu lassen, dass er auf der Insel unerwünscht war, wenn er Pech hatte, dann um ihn in einem mit Steinen beschwerten Sack im Teermeer zu versenken. Er lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch, doch die Nacht verstrich, ohne dass die Tür zu Selcas Hütte plötzlich aufgestoßen worden wäre oder der Klang schwerer Stiefel das Geräusch von Selcas und Sootis regelmäßigem Atem durchschnitt, der aus dem Schlafalkoven in der Wand über ihm und zu ihm herunterdrang. Zum Frühstück servierte Selca den gleichen wässrigen Brei, den es schon am Abend zuvor gegeben hatte. Nicht, dass es für Pantemin einen Unterschied machte. Seitdem ihm das Meer Edda genommen hatte, war ihm jeder Hunger vergangen. Während er eine erste Anzahlung an Rundlingsmünzen für Selca abzählte, beäugte Sooti Pantemins halb volle Schüssel so lange erwartungsvoll, bis der sie ihm über den Tisch zuschob. Sooti löffelte den Brei, als handelte es sich um feinste Schokoladencreme, und Selca nahm seine Münzen mit gleichgültiger Geschäftigkeit entgegen, nicht ohne sie gleich noch einmal nachzuzählen. Pantemin hatte bereits ausgerechnet, dass sein rasch schwindender Vorrat an Münzen für etwa hundert Tage reichen würde. Hundert Tage auf Bal Okren. Es schien unvorstellbar, dass er mehr als drei auf der Insel überstehen würde.

Nachdem Selca die Münzen in einem verbeulten Metallkästchen hatte verschwinden lassen, holte sie sich ebenfalls eine Schüssel mit Brei. Sie setzte sich zurück an den Tisch, Pantemin gegenüber, und warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Und was hast du nun vor? Womit wirst du deine Zeit auf Bal Okren verbringen?«

»Nun, als Erstes werde ich mit Agnosh sprechen«, antwortete er mit größerer Bestimmtheit, als er fühlte.

»Ah«, sagte Selca. Aber genau wie Sooti hatte sie aufgehört zu essen, beide hielten ihre Löffel in der erhobenen Hand und sahen ihn an.

»Er muss das Schiff ersetzen. Es wurde mit acht Goldbarren bezahlt, nun steht er in der Bringschuld.«

»Und du brauchst ein Schwebendes Schiff?«

»Edda braucht eines. Wenn sie zurückkommt.« Er sah sie unverwandt an. Sollte sie nur sagen, was jeder hier dachte.

Aber Selca strich ihren Löffel bloß am Schalenrand ab und legte ihn auf den Tisch. »Er ist unten am Hafen. Aber ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, dort allein aufzukreuzen und nach einem Schiff zu verlangen.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, räumte er ein. »Aber ich habe keine Wahl.«

»Du könntest nicht gehen. Das ist deine Wahl.«

»Nein, du verstehst nicht, es …« Er stockte. War sich ja nicht einmal sicher, ob er es selbst verstand. »Ich muss Edda ein neues Schiff beschaffen. Deswegen bin ich nach Bal Okren gekommen.«

»Ich dachte, du bist nach Bal Okren gekommen, weil ihr von hier aus weiter hoch in den Norden fahren wolltet.«

»Ja, aber … Es ist nicht einfach zu erklären.«

In Wahrheit war es sehr einfach zu erklären, er wollte die Worte bloß nicht aussprechen, weder vor Selca noch vor sonst jemandem. Die einzige Möglichkeit, bis ganz zu den Letzten Inseln zu gelangen, war, auf einem Schwebenden Schiff dorthin zu reisen. Aber ein Schwebendes Schiff bestand aus Brigor-Holz und wäre Pantemin zum schwimmenden Grab geworden, lange bevor sie Makrabor erreicht hätten. Er konnte nicht mit Edda weiter hoch in den Norden reisen, aber er konnte ihr das Schiff beschaffen, das sie dort hinbringen würde, und bei Mutter Wasser, das würde er.

Selcas Stimme war unerwartet sanft, als sie ihn fragte: »Was glaubst du, wo sie jetzt ist?«

Er zuckte die Achseln. »Die Strömung hat sie auf eine andere Insel gebracht.«

Wo sie gefunden worden war, von einer weisen Frau, einer Hexe womöglich, die altes Wissen und nützliche Kräuter besaß und Edda nun wieder gesund pflegte. Sie würde zu ihm zurückkommen, sie würde, sie musste. Er erhob sich mit einem Ruck.

»Spätestens in einer Stunde bin ich wieder zurück«, behauptete er und erhob sich vom Tisch.

Er hatte gewusst, dass die Aussichten, mit Agnosh alleine zu sprechen, ohne dass seine feixenden Söhne oder sein gehässiges Mütterchen im Hintergrund lauerten, gering waren, trotzdem sank ihm das Herz, als er Agnoshs versammelte Nachkommenschaft unten am Hafen erspähte. Solange Agnoshs Söhne mit der Meeresstürmer beschäftigt gewesen waren, hatten sie die Arbeit an jenem imposanten Holzgerippe, an dem sie eigentlich zugange waren, ruhen lassen, sie nun aber offenkundig wieder aufgenommen. Er wäre nicht weiter überrascht gewesen, hätten sie zunächst vorgegeben, ihn nicht zu bemerken, doch kaum dass der Erste von ihnen ihn zwischen den Hütten hindurchtreten sah, hielt er inne, stand reglos mit seinem Hammer in der Hand. Auch die übrigen Naan ließen ihre Arbeit ruhen. Einer nach dem anderen drehten sie sich zu ihm um oder richteten sich auf, um ihn abweisend zu mustern. Mit ihren Hämmern, Sägen, Äxten wirkten sie bewaffnet, ein Trupp von Wegelagerern, und wie er sie so breitbeinig zwischen den gewaltigen Streben des Schiffs stehen sah, da geschah es von selbst, dass seine Schritte langsamer wurden. Er zwang sich weiterzugehen. Durfte nicht stehen bleiben, durfte sich nicht umdrehen oder rasch in eine andere Richtung weiterlaufen, durfte überhaupt nichts tun, das ihnen bestätigen würde, wie sehr er sich fürchtete. Er straffte die Schultern, aber die Brust blieb ihm eng, der Atem ging ihm flach. Sein Blick flog über die weißen Haarschöpfe hinweg, vergeblich hielt er Ausschau nach Aljosch oder seinem Bruder Ogvik – neben Selca und Sooti die beiden Einzigen auf Bal Okren, denen er traute.

»Unser geschätzter Gast«, rief Agnosh ihm entgegen. »Was verschafft uns einfachem Volk die Ehre, einen noblen Südinsler hier begrüßen zu dürfen?«

Pantemin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er hätte sich vorher überlegen sollen, was er eigentlich zu Agnosh sagen wollte. Eines wusste er sicher: Höflichkeit brachte einen im Norden nicht weiter. Wenn er von Agnosh gehört werden und sich nicht vor ihm und seinen versammelten Söhnen zum Baumaffen machen wollte, tat er gut daran, nicht mit seiner eigenen, sondern mit Eddas oder Teofins Stimme zu Agnosh zu sprechen.

»Meister Agnosh, ich komme, um Euch daran zu erinnern, dass Ihr uns noch ein Schiff schuldet.«

Agnosh warf Olveg zu seiner Rechten einen Blick voll gespieltem Erstaunen zu. »Wovon mag unser gelehrter Freund sprechen? Ein Schiff wurde bezahlt und eines übergeben. Es ist kaum unsere Schuld, wenn es nach Abschluss des Handels gestohlen wurde.«

»Sicher ist es Eure Schuld, wenn es einer der Euren stahl! Talin Brand ist von Eurem Blut, und Ihr habt nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten.«

Agnosh zuckte mit den Achseln. »Geschäft ist Geschäft, und Blut ist Blut.«

»Und Diebstahl ist Diebstahl.« Die Worte schossen Pantemin über die Lippen, bevor er hatte abwägen können, ob es klug war, sie zu sprechen.

Agnosh seufzte. »Seht, ich kann Euch gleich zwei Gründe nennen, aus denen es wohl wenig Wert hätte, Euch einen neuen Käfig zu bauen: Erstens habt Ihr keinen Schattenwal. Und zweitens ist Eure junge Freundin nicht einmal hier, um Anspruch auf ein Schwebendes Schiff zu erheben.«

»Ich habe die acht Goldbarren gezahlt. Und ich erhebe Anspruch.«

»Und habt Ihr auch vor, nach Brigor zu fahren? Ich hörte von einem gewissen Leiden, das Euch hierbei womöglich im Weg stehen könnte.«

Seine Worte trafen Pantemin unerwartet wie ein Rippenhieb. Er hatte nicht geahnt, dass Agnosh und vermutlich jeder andere auf Bal Okren auch wusste, dass er sich Brigor-Holz bis auf keine zehn Fuß nähern konnte.

»Es gibt andere Wege, an einen Schattenwal zu kommen«, murmelte er.

»Oh, verzeiht – Ihr habt vor, nach Kron-Bar-Holm zu reisen? Aber dann werdet Ihr wohl erst im Sommer zurückkehren, und Ihr müsst zugeben, dass es etwas verfrüht wäre, meine Söhne schon jetzt an die Arbeit zu schicken.«

»Lasst den Schattenwal meine Sorge sein. Ihr kümmert Euch um das Schiff, ich kümmere mich um den Rest.«

Aber natürlich konnte man einen wie Agnosh mit barschen Worten nicht tatsächlich beeindrucken, und er ließ die aufgesetzte Höflichkeit, mit der er zuvor gesprochen hatte, fallen wie ein Stück heißer Kohle.

»Wir fangen mit der Arbeit an, sobald Ihr uns einen Schattenwal bringt, keinen Tag früher. Wenn mich der verehrte Gast nun entschuldigt. Während Ihr die Sonne unten bei den Stegen genießt, müssen einfache Leute, wie wir es sind, weiter unsere Arbeit verrichten.«

Pantemin war nicht vertraut mit Wut – zumindest nicht mit der Art Wut, die ihn überfiel, während er sich mit raschen Schritten vom Hafen, Agnosh und seinen Söhnen entfernte. Sie kam wie ein Fieber, eine Art Hitze, ein Wahn. Er warf einen raschen Blick über die Schulter zurück, vergewisserte sich, dass er weit genug gegangen war, um vor den Blicken der Naan geschützt zu sein, dann packte er sich einen der elenden Sträucher am Wegrand und riss ihn aus dem sandigen Grund. Einzelne Wurzeln wollten sich nicht lösen, und er zog und zerrte mit aller Kraft. Keuchte, während ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Fluchte, zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben fluchte er laut, auf den möwenverschissenen Strauch, die möwenverschissene Insel, den möwenverschissenen Agnosh. Endlich gab der Strauch nach, so plötzlich, dass Pantemin rücklings in den Sand fiel, dort saß mit dem Gestrüpp in den Händen. Das Gesicht war ihm nicht mehr heiß vor Wut, sondern vor Scham. Edda brauchte keinen Strauch. Sie brauchte einen Schattenwal. Und er konnte ihr keinen beschaffen. Er konnte nicht nach Brigor, weil ihn die Bäume töten würden, lange bevor er Svarte Kastiel erreicht hätte. Er konnte nicht nach Kron-Bar-Holm, denn wenn er Bal Okren erst verließ, der sandigen Kargheit, der Kälte, den maulfaulen Menschen den Rücken kehrte, um wieder einzutauchen in die Welt der Farben, der warmen Sommer und grünen, blauen, silbernen Wasser, dann würde er sich nie wieder überwinden können, auf die Insel zurückzukommen.

Bei seiner Rückkehr wartete Selca bereits vor der Hütte. Sie hatte ihren großen Zuber nach draußen geschleppt, kniete dort im braunen Gras und schrubbte Wäsche. Als sie ihn kommen hörte, hob sie den Kopf und musterte ihn stirnrunzelnd, wie um zu überprüfen, ob ihm ein Ohr, ein Finger, ein Zahn fehlte. »Sieht aus, als hätten sie doch mehr Angst vor dir, als ich dachte«, stellte sie dann fest.

»Angst? Unten am Hafen waren ungefähr ein Dutzend von ihnen. Ich bin einer.«

Selca warf ihm einen langen, harten Blick zu und deutete auf seinen Stab.

»Agnosh und seine Söhne mögen dir wie tumbes Volk vorkommen, aber sie erkennen einen Kämpfer, wenn sie einen sehen.«

Einen Kämpfer. Das Wort klang nach irgendwem, aber nicht nach ihm. Nicht mehr. Ein Kämpfer – das war er irgendwann einmal gewesen, vor einer halben Ewigkeit im Dakon. Das war er irgendwo einmal gewesen, auf der wohl schönsten Insel des Archipels, am anderen Ende der Welt. Er war kein Kämpfer mehr, sondern ein Nichtsnutz, der Edda kein Schiff beschaffen konnte und ganz sicher keinen Schattenwal.

»Ich muss mich hinlegen«, murmelte er und verschwand in der Hütte, um an den einzigen Ort zu fliehen, der ihm hier auf Bal Okren Zuflucht bot: den Schlaf.

***

Während der nächsten drei Tage verließ er seine Schlafkammer kaum. Mit jedem Tag, den er länger auf Bal Okren blieb, rieb die Insel ihn ab, schmirgelte ihn glatt wie eine Glasscherbe. Er war immer noch krank. Oder erneut krank. Unmöglich zu sagen. Bulls Männer hatten ihm einen beträchtlichen Vorrat an Ingwerknollen dagelassen, und er trank gewissenhaft heißes Ingwerwasser, schluckte mit angeschwollenem Hals, gurgelte mit wunder Kehle. Selca beschwerte sich über den Geruch des Ingwerwassers, von dem sie behauptete, dass er Tag und Nacht in ihrer Hütte hing. Wie war es möglich, dass jemand klaglos Schluckereintopf essen und gleichzeitig über den beißenden Gestank des Ingwerwassers klagen konnte? Aber wahrscheinlich ging es ihr weniger um das Ingwerwasser und mehr um ihn selbst. Wenn er hustete, rollte sie die Augen, wenn er sich höflich erkundigte, ob man noch etwas Holz nachlegen könne, da es in der Hütte kaum wärmer als draußen sei, schnaubte sie gereizt. Sooti auf der anderen Seite umschwirrte ihn wie eine besorgte Motte. Früh am Morgen und während Pantemin noch schlief, bereitete er ihm Ingwerwasser zu und stellte die dampfende Tasse vor seiner Schlafkammer ab. Er wusste genau, wie viele dünn geschnittene Scheiben er in das kochende Wasser geben musste (sechs), weil er Pantemin unermüdlich beobachtete. Jeder seiner Handgriffe, und war er auch noch so belanglos, schien für den Jungen interessant, und weil Pantemin die unerbetene Aufmerksamkeit bald leid war, hielt er die Türen zu seiner Schlafkammer immer öfter geschlossen. Dort lag er dann in stickiger Dunkelheit wie in einem Sarg. Die Welt ließ ihn in Frieden, solange er sich tot stellte. Die Welt ließ ihn in Frieden, während er von Edda träumte, Edda, die im dunklen, stillen Meer tiefer und tiefer sank, während ihr rotes Haar in der Strömung wie Algengewächs driftete, während unzählige Fische sie schwimmend umkreisten, und es war, als würde er selbst im tiefen Wasser schweben. In absoluter Stille, absoluter Ruhe – zumindest bis eines Nachmittags die Türen von seinem Schlafalkoven ohne jede Warnung aufgerissen wurden. Er blinzelte ins Licht der Hütte, das fahl und grau war, ihm aber in den Augen stach wie die gleißenden Strahlen der Sonne. Selca sah mit verschränkten Armen auf ihn herab.

»Soll das jetzt immer so weitergehen? Hast du vor, den Rest deines Lebens im Bett zu verbringen?«

Den Rest seines Lebens? Hundert Tage! Bis Edda zu ihm zurückkam. So lange hielt er nun schon an dieser Zahl fest, bisweilen vergaß er, dass er sie sich selbst ausgedacht hatte.

Notgedrungen setzte er sich auf. Es gefiel ihm nicht, dass Selca wie eine strenge Mutter auf ihn herabsah, es gefiel ihm nicht, dass er sich selbst wie ein ungezogenes Kind fühlte.

»Es gibt nichts für mich zu tun«, erklärte er.

»Nichts zu tun.« Selca schnaubte. »Es ist schwer genug, Sooti und mich selbst durch den Winter zu bringen. Wenn ich nun noch für einen Dritten sorgen muss … Es ist ohnehin längst an der Zeit, dass du dich einbringst und im Haus hilfst.«

Im Haus helfen. »Nun, ich bezahle dafür, hier zu sein«, gab er zu bedenken.

Selca schnaubte. »Deine Rundlinge sind nett, und bestimmt werden sie mir eines Tages, wenn Aljosch zum Handeln nach Borghelm oder Kargen-auf-dem-Meer fährt, von Nutzen sein, im Moment aber sind sie bloß schön anzusehen und nichts weiter. Ich kann sie nicht essen, ich kann sie nicht trinken, und ich kann mir auch kein Feuer mit ihnen machen.«

Pantemin schielte zum Esstisch, zum Waschzuber, zum Kehrbesen. »Und was genau soll ich … tun?«

»Du kannst mit Sooti Winterbeeren pflücken oder Sandwürmer ziehen. Außerdem hat Aljosch mir heute Morgen einen halben Schlucker gebracht. Der muss zerlegt und das Fleisch gepökelt oder geräuchert werden.«

Pantemins Mund zuckte.

»Ja, das dachte ich mir bereits«, sagte Selca knapp. »Wahrscheinlich ist es ohnehin besser, wenn du aus dem Haus kommst. Ich werde Aljosch fragen, ob er dich zum Holzfällen mitnimmt.«

»Es gibt hier nicht einmal Bäume«, sagte Pantemin schwach.

»Nein. Deswegen werdet ihr auch nach Agroth fahren – die Insel liegt südlich von Bal Okren.«

Pantemin hustete verhalten. »Ich glaube nicht, dass es mir gut genug geht, um …«

»Auf dieser Insel hat sich noch kein Mensch zu Tode geniest«, schnappte Selca, »aber ich weiß nicht, wie es bei euch im Süden zugeht.«

Ohne die Türen zu seiner Schlafkammer wieder zu schließen, drehte sie sich um und marschierte davon. Pantemin lehnte seinen dumpf pochenden Kopf gegen die Wand. Eines stand fest: Er würde Holz fällen gehen, ob er sich nun gesund genug dafür fühlte oder nicht.

***

Aljosch kam früh am nächsten Morgen, um Pantemin abzuholen. Agroth lag dicht genug an Smal Okren, um als eine der Inseln der Naan zu gelten, doch weder die Naan noch sonst ein Mensch hatte sich darauf niedergelassen, und laut Aljosch betrachtete Agnosh sie eher als eine Art Holzlager. Ein Wald aus Fichten und anderen Nadelbäumen erstreckte sich von einer Küste zur anderen, und Agnoshs Söhne hatten bereits auf der ganzen Insel ihre Spuren hinterlassen. Außer zwei Anlegestegen am Ufer fanden sich kleinere Hütten tiefer im Inneren und eine breite Schneise, welche die Männer über die Jahre ins tiefgrüne Waldmeer geschlagen hatten. Aus einer der Hütten holte Aljosch einen Handwagen hervor, zwei Äxte und eine Säge.

»Schon einmal einen Baum gefällt?«, fragte er und reichte Pantemin eine der beiden Äxte.

Pantemin schüttelte den Kopf. Natürlich hatte es auch auf Bela-Haven Holzfäller gegeben, diese Aufgabe aber war den Irsu niedrigeren Standes vorbehalten. Mit einer Axt wusste Pantemin ähnlich viel anzufangen wie mit einem Webstuhl. Damit der ausgewählte Baum auch dahin fiel, wo er hinfallen sollte, und nicht irgendwo anders hin, auf Pantemin und Aljosch etwa, sicherte Aljosch ihn zunächst mit einem Seil. Anschließend markierte er mit Kreide die Stellen, an der sie eine hohe Kerbe in die eine Seite des Stamms schlagen und auf der anderen einen schmalen Spalt sägen würden. Die eigentliche Arbeit dann verrichteten sie schweigend, schwitzend, während der Atem ihnen in weißen Gespinsten aufstieg. An ihrem ersten Tag blieben sie nicht länger als fünf Stunden auf Agroth, und trotzdem war Pantemin nach der getanen Arbeit so erschöpft, dass er sich am nächsten Morgen nicht einmal mehr erinnern konnte, ob und was er zu Abend gegessen hatte, wie er vom Esstisch ins Bett gekommen war. Nachdem er sich umständlich aus seinem Schlafalkoven hervorgequält hatte, versuchte er, die Arme zu heben, und stöhnte. Bei der Vorstellung, schon in weniger als zwei Stunden wieder eine Axt in den Händen zu halten, wurde ihm speiübel, doch als er Selca gegenüber den Verdacht äußerte, dass es womöglich klug sei, einen Tag auszuruhen, bevor er erneut mit Aljosch hinausfuhr, warf die ihm einen Blick zu, der ihm die Hitze in die Wangen trieb. »Du musst dich ausruhen nach einem Tag Arbeit?«

»Ich bedaure«, murmelte Pantemin. Und meinte es.

Noch unterwegs im Boot nach Agroth war er sicher, dass er müde genug war, um während der Arbeit und mit der Axt in der Hand im Stehen einzuschlafen, doch als sie dann tatsächlich draußen im Wald waren, hielten ihn die Anstrengung, die Kälte und Aljosch wach, der ihm scharf Anweisungen zurief, wann immer er das Gefühl hatte, Pantemins Aufmerksamkeit ließe nach. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis endlich die Zeit für ihre Mittagspause gekommen war. Genau wie am Vortag ließen sie sich auf einem der gefällten Baumstämme nieder. Nachdem sie ihren kargen Proviant verzehrt hatten, reichte Aljosch Pantemin eine Metallflasche, und weil Pantemin mit nichts anderem als Wasser rechnete, nahm er einen großen Schluck – prustend verschluckte er sich, als ihm der Flascheninhalt wie Flüssigfeuer den Hals herunterlief.

»Weißbrand«, sagte Aljosch. »Du scheinst mir keiner zu sein, der so schnell zum Saufkopf wird, und ein Schluck hier und da kann helfen.«

Pantemin rieb sich über den Mund. »Wobei?«

»Bei allem.«

Es dauerte nicht lange, bis sich Schwielen auf seinen Händen bildeten und der Schmerz in seinen Armen, Schultern und Rippen zu einem fernen Summen abklang, das er kaum noch wahrnahm. Seine Tage folgten dem immer gleichen Ablauf, und er fand Trost in der verlässlichen Eintönigkeit der Stunden. Als Selca eines Abends feststellte, dass sie ihn seit Tagen nicht mehr hatte niesen oder husten hören, öffnete er den Mund, um zu widersprechen, nur um dann festzustellen, dass sie recht hatte. Die Hitze, die er draußen beim Baumfällen fühlte, hielt sich ihm noch länger im Blut als die brennende Schärfe des Ingwerwassers.

Aljosch tauchte jeden Morgen zuverlässig bei Selcas Hütte auf, um ihn abzuholen, und obwohl Pantemin wusste, dass er sich beim Holzfällen alles andere als ungeschickt anstellte, war er sich nie ganz sicher, wer hier eigentlich wem einen Gefallen tat. War er Aljosch draußen im Wald tatsächlich eine Hilfe, oder nahm der andere Mann ihn nur mit, weil Selca ihn darum gebeten hatte, es zu tun? Das meiste, was Aljosch tat, schien ja für Selca und Sooti zu sein. Je mehr Zeit Pantemin mit ihm verbrachte, umso weniger zweifelte ihm daran, dass Aljosch ein Mann war, dem das Herz im rechten Takt schlug. Von Höflichkeit allerdings verstand er so wenig wie anscheinend alle Menschen nördlich von Perendrin und Perendra. Er war barsch, maulfaul, gab keine geistreichen Geschichten von sich, machte keine Scherze, stellte keine Fragen zu der Welt jenseits des Teermeers. Pantemin hingegen lagen gleich Dutzende Fragen auf der Zunge: Wo war Aljoschs Mutter, Agnoshs Frau, die ihm etwa zwei Dutzend Söhne geboren hatte? Warum lebten die Naan nicht alle zusammen in einem Dorf, sondern auf einzelnen Gehöften, die sich mit möglichst großem Abstand über die Insel verteilten? Warum behandelte man Selca, als habe sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht und sei eine Schlammschabe dazu? Aber keine dieser Fragen trieb ihn so sehr um wie die eine, die ihn auch während der Nächte wach hielt, die ihm von der Staubsprenkel bis in Selcas Hütte gefolgt war: Wer war Talin Brand? Was wusste Aljosch über den Mann, der Edda ihr Schiff gestohlen, ihr ein Messer in die Rippen gerammt und sie ins Meer gestoßen hatte? Für Pantemin war Brand noch immer mehr Geist als Mann, seinen Namen hatte er zwar hundertmal gehört, aber mit eigenen Augen gesehen hatte er ihn nie. Brand war längst über alle Meere davon gewesen, bevor Pantemin benommen aus den dämmrigen Tiefen der Staubsprenkel emporgestiegen war, um eine Welt vorzufinden, die sich grundlegend unterschied von jener, in der er zuvor gelebt hatte: eine Welt ohne Edda. Seine Versuche, von Selca mehr über Talin Brand zu erfahren, waren gescheitert – entweder sie wusste tatsächlich nichts über Bal Okrens verlorenen Sohn oder die Angst vor Agnosh lähmte ihr die Zunge. Wollte er sein Glück nun mit Aljosch versuchen, würde er den Moment gut wählen müssen. Auf der Bootsfahrt am Morgen waren sie noch zu müde, auf der Bootsfahrt am Nachmittag schon zu erschöpft für Unterhaltungen, und während sie mit der Axt zugange waren, galt striktes Sprechverbot für Pantemin. Es blieb also nur die Mittagspause. Während sie ihren Proviant verzehrten, hielt Pantemin sich zurück, brach das einträchtige Schweigen erst, als Aljosch bereits einen kräftigen Schluck Weißbrand genommen hatte, und schlug dann einen möglichst beiläufigen Ton an.

»Sag, Aljosch, kann ich dich etwas zu dem Mann fragen, der Edda … dem Mann, den du als Groul kennst?«

Aljosch warf ihm einen wachsamen Seitenblick zu. »Ich war nicht auf den Stegen«, sagte er knapp und in einem Ton, der Pantemin zur Vorsicht mahnte.

»Ich bedaure – ich meine: Ich weiß. Teofin hat mir erzählt …«

Teofin hatte ihm erzählt, dass die teerige See Edda längst geschluckt hatte, bevor Agnosh oder einer seiner Söhne unten am Hafen aufgetaucht war. Weder Agnosh noch Aljosch noch sonst ein Naan hätte sie retten können.

»Es geht mir nicht um das, was an diesem Tag geschah. Ich will bloß mehr über ihn erfahren.«

Wenn Aljosch genug von Pantemins Fragen hatte, erhob er sich oft einfach von seinem Baumstamm, um stumm die Arbeit fortzusetzen, doch dieses Mal hatte Pantemin Glück und er nippte bloß bedächtig an seiner Flasche. »Und zwar?«

»Laut Edda ist es wahrscheinlich, dass sie einander von den Hoch-Inseln kannten. Aber wenn Brand von Agnoshs Blut ist, warum ist er dann nicht hier auf Bal Okren aufgewachsen?«

Zu Pantemins Überraschung und obwohl Aljosch mit dem Weißbrand so sparsam umging, als handelte es sich um Flüssiggold, nahm er noch einen weiteren großen Schluck. »Grouls Vater war Gohan, der Sohn meines Onkels Olgin. Grouls Eltern – Gohan und Notje – sind beide längst tot, aber Olgin lebt noch drüben auf Okren. Allerdings wird er nicht mit dir sprechen wollen, und ich kann dir versichern: Du willst ganz sicher nicht mit ihm sprechen.«

Pantemin glaubte ihm aufs Wort.

»Grouls Familie lebte im Winter auf Bal Okren und im Sommer hier draußen auf Agroth. Gohan arbeitete das ganze Jahr als Holzfäller, aber im Winter allein hier draußen auf Agroth zu leben …«

Von Selca wusste Pantemin, dass das Holzfällen die am wenigsten angesehenste Tätigkeit unter den Naan war. Agnosh schickte überhaupt nur jene Männer nach Agroth, die er bestrafen wollte. Aus eben diesem Grund schwang Aljosch wohl dieser Tage mit Pantemin die Axt, statt unten am Hafen mit seinen Brüdern zu arbeiten.

»Ich dachte, alle müssten ab und an zum Holzfällen hierherkommen? Es gibt auch solche, die nie an den Schiffen arbeiten?«

»So ist es nicht vorgesehen, aber Gohan war einer der schlimmsten Saufköpfe, den unsere Inseln je gesehen haben, und für keine andere Arbeit als fürs Holzhacken zu gebrauchen. Konnte dem Weißbrand keinen Tag fernbleiben, Notje und den Jungen prügelte er oft grün und blau. Alle wussten davon. Es war das Gleiche mit Daksim und …« Er brach ab. Daksim war Selcas Mann, und wenn Pantemin richtig verstanden hatte, ebenfalls ein Saufkopf, der einst berauscht vom Weißbrand von den Stegen gefallen und für immer im Teermeer verschwunden war.

»Und Gohan … ist er auch … ertrunken?«

»Nein, nein, er ist hier auf Agroth gestorben – ein Unfall mit der Axt. Nach Gohans Tod gingen Notje und der Junge in den Osten. Es hieß damals, Notjes Schwester lebe auf Kron-Bar-Holm und wolle Notje helfen, als Köchin oder Kinderfrau unterzukommen. Wie sie und Groul dann auf den Hoch-Inseln landeten, weiß ich nicht. Sie kamen einige Jahre später wieder – nach dem großen Feuer. Aber der Junge konnte es hier nicht aushalten, es zog ihn raus in den Archipel. Notje starb kurze Zeit später. Olgin gönnte ihr keinen hellen Tag. Bal Okren ist kein guter Ort für Frauen und Kinder. Und es ist ganz sicher kein guter Ort für Witwen. Ich habe Selca oft genug gesagt …« Er verstummte, seine groben Hände schlossen sich fester um die Metallflasche, dann stellte er sie ab und erhob sich mit einem Seufzen. Welche Worte auch immer er oft genug an Selca gerichtet hatte, für Pantemins Ohren waren sie nicht bestimmt.

***

Während Pantemin die vom Abendbrot noch schmutzigen Schüsseln im Zuber wusch, lauschte er Selca, die Sooti in der Schlafkammer ein Lied sang. Sie sang es ihm jeden Abend und obwohl er nie die Worte verstand, konnte er die Melodie inzwischen mitsummen – oft genug ertappte er sich draußen im Wald von Agroth dabei, dass er es tatsächlich tat. Kurze Zeit später kam Selca aus der Schlafkammer geklettert, sie nahm am Esstisch Platz und begann, Salz in ein Stück Fleisch zu reiben, das grau und trocken wie ein alter Holzscheit war. Pantemin presste die Lippen zusammen. Nur zu gut erinnerte er sich an jenen Tag vor mittlerweile zwei Monden, als er zusammen mit Edda und Teofin am Tisch gesessen und angesichts des Schluckereintopfs angewidert das Gesicht verzogen hatte. Schluckereintopf, wusste er inzwischen, gab es nur zu besonderen Anlässen. Besonders im Winter, wenn die ohnehin schon karge Insel sich noch geiziger zeigte, brachten die kümmerlichen Essensvorräte Selca und ihren Sohn gerade so durch den Tag. An den meisten Abenden briet Selca Sandwürmer, die Sooti nachmittags über Stunden aus dem Sand zog. Pantemin warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Ihre Schlüsselbeine zeichneten sich deutlich unter ihrer Haut ab, ihre Schultern waren schmal, aber zerbrechlich wirkte nichts an ihr. Sie war eine Tochter des Teermeers, wie Edda ein Kind der harschen, kalten Nordwinde. Rasch senkte er den Blick, als sie aufsah und auf eine Schale Beeren deutete, die auf dem Tisch stand. »Die hat Sooti für dich gepflückt. Ich weiß, sie sind dir zu bitter, aber behalt’s für dich. Er glaubte, er hätte dir einen guten Dienst erwiesen, und so soll es bleiben.«

Pantemin errötete. »Ich weiß nicht, warum er … Ich meine nicht bloß die Beeren, sondern …« Selcas Blick ging durch ihn hindurch, eisig wie der Nordwind, und ermahnte ihn, seine nächsten Worte mit größtem Bedacht zu wählen.

»Ich bin nicht sicher, warum er sich mir so verbunden fühlt.«

Selca widmete sich wieder dem eingesalzenen Fleisch. Schlug es geschäftig in Tücher ein, während sie antwortete. »Nur weil er nicht spricht, heißt das nicht, dass er tumb im Kopf ist. Er sieht und versteht so viel wie alle anderen. Wahrscheinlich sogar mehr. Mit den meisten hier auf Bal Okren hat er nicht viel gemein. Und hier im Teermeer sagen wir: Eine Krähe erkennt die andere.«

Ratlos schob Pantemin seinen Löffel über den Tisch. Sollten Sooti und er die beiden Krähen sein? Aber was gab es zu erkennen? Sie hatten nichts gemein. Pantemin war auf der schönsten Insel des Schönen Südens aufgewachsen, als Sohn der einflussreichsten Familie Bela-Havens, Sooti im elendigsten Elend des Teermeers, als Sohn einer geächteten Witwe. Die Verwirrung musste sich auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Selca fügte wie beiläufig hinzu:

»Ich meine bloß, dass er noch nie vorher jemandem begegnet ist, der genauso einsam ist wie er selbst.«

Edda schwamm eine lange Zeit. Wie lange genau, hätte sie nicht sagen können, denn in der See dehnte sich die Zeit in einen Raum jenseits der Stunden, der Wochen oder Jahre aus. Am Anfang waren ihr die Fische, die Rochen, die Krebse, die Quallen und anderen Meeresgeschöpfe ein treues Geleit, aber einer nach dem anderen fielen sie zurück, drifteten davon, und irgendwann war Edda wieder allein mit der See. Um ihr die langen, kurzen Stunden zu vertreiben, erzählte die See ihr die Geschichte einer jeden Muschel und eines jeden Krebses, sie erzählte ihr noch von den winzigsten Sandkörnern und den gewaltigsten Schattenwalen.

Über ihre geraunten Geschichten vergaß Edda ihre eigene. Gerade noch hatte sie gewusst, dass sie in den letzten Monden alles getan hatte, um an ein Schwebendes Schiff zu gelangen, nur um es ausgerechnet an Talin Brand zu verlieren. Und nun war es vergessen.

Gerade noch hatte sie gewusst, dass sie unbedingt nach Makrabor musste. Und nun war es vergessen.

Gerade noch hatte sie gewusst, dass sie sich selbst im Gesicht der Brigor-Hexe gefunden hatte und ihr Bruder nicht ihr Bruder war. Und nun war es vergessen.

Bald war Edda nicht mehr Edda; sie wurde zu einem anderen, fremden Geschöpf, mehr Fisch als Mädchen. Brauchte keine Rast oder Ruhe, brauchte Schlaf so wenig wie Luft oder Trank oder Speise. Alles, was sie benötigte, fand sie in dem schwarzen Wasser, das sie einsog, in ihre Lungen und ins Blut aufnahm.