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Sie ist die Nummer eins in der glamourösen Welt der Mode und Models. Sie ist schön;sie ist reich und begründete einst ihre Karriere auf einem heimtückischen Mord. Doch dann wird ihr selbst auf grausame Weise das Liebste genommen - Mann und Tochter. Anna-Sophia Barlow bittet den Mörder zum Tanz der Skorpione. Im ersten Band der Thriller-Reihe um den illustren Mannheimer Strafverteidiger Stephan Glimm spannt Manfred H. Krämer den Handlungsbogen von einer muffigen Essener Hinterhofagentur zur hitzeflirrenden Shooting-Location in Marokko, vom pittoresken Herrensitz im Odenwald zum Edel-Weingut im kalifornischen Napa Valley. Er nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Abgründe der menschlichen Psyche: verstörend böse;liebevoll- zärtlich;mörderisch gut - ein unvergessliches Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 343
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Manfred H. KrämerDie SkorpioninOdenwald-Thriller
Gesamtherstellung:WAP Waldkirch Produktion GmbH, MannheimTitelidee: Manfred H. KrämerSatz & Gestaltung: Verena Kessel
ISBN Taschenbuch 978-3-927455-84-9
ISBN E-Book EPUB 978-3-86476-504-9
ISBN E-Book PDF 978-3-86476-505-6
Verlag Waldkirch KGSchützenstraße 1868259 MannheimTelefon 0621-79 70 65Fax 0621-79 50 25E-Mail: [email protected]
© Verlag Waldkirch Mannheim, 2012Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.
Manfred H. Krämer
Odenwald-Thriller
Verlag Waldkirch
Für Monika
Key-West im September 2009Danke für diesen Traum!
Die Frau liebt oder hasst – sie kennt kein Mittelding.Gute Frauen sind daher besser als die besten Männer,schlechte Frauen aber schlechter als die schlechtesten.
Pedro Calderón de la Barca (1600 - 1681)
Dies ist ein Roman, die Handlung ist frei erfunden. Alle Figuren sind sämtlich meinem Geiste entsprungen. Nun ja, fast alle … Der Strafverteidiger Stephan Glimm hat ein reales Vorbild. Sollten Sie einmal selbst in die Verlegenheit kommen, einer Straftat beschuldigt zu werden, so wenden Sie sich vertrauensvoll an ihn. Er ist der Beste. Sie finden seinen richtigen Namen in der Danksagung am Schluss dieses Buches.
Das Buch wurde sorgfältig lektoriert, von Menschen. Sollten Sie dennoch Druckfehler finden, so dürfen Sie sie behalten. Wenn ich manche Straßennamen oder Orte verändert oder verlagert oder gar erfunden habe, so denken Sie an eines meiner Lieblingszitate: „Lass dir eine gute Story nicht durch Fakten verderben“ (Mark Twain).
Allerdings freue ich mich nach wie vor über Kontakt zu meinen Leserinnen und Lesern. Nutzen Sie hierzu die Kontaktadresse auf meiner Autorenhomepage:
www.kraemer-krimi.de
Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung.
Ihr Manfred H. Krämer
05:28 Uhr. Der Mann war glücklich. Er umarmte und küsste seine Frau zum Abschied und eilte nach draußen. Als er den Motor seines Wagens startete, war es genau 05:30 Uhr. Der Mann in der Pilotenuniform winkte seiner Frau noch einmal kurz zu und wartete ungeduldig, bis das schmiedeeiserne Einfahrtstor sich geöffnet hatte. Lächelnd gab er Gas. Der Porsche 911 rollte mit heiser brabbelndem Boxermotor auf die schmale Straße. Der Mann hatte noch genau sechsundzwanzig Minuten zu leben.
05:31 Uhr. Das Beste an dem alten Land-Rover war die Standheizung. Der Mann in der schäbigen Armeejacke trank einen Schluck Tee und lauschte dem gleichmäßigen Summen des Luftheizers. Hinter ihm knackten und knisterten die leeren Wasserkanister, als sie sich erwärmten. Zweiundzwanzig Dreißigliter-Behälter. Der asthmatische Diesel hatte die fast siebenhundert Kilogramm schwere Fracht qualmend bis hier herauf gefahren. Jetzt waren sie leer. Die Arbeit war getan. Der Mann schraubte den lederbezogenen Flachmann auf, roch das scharfe Aroma und gab einen Schuss davon in den Thermobecher mit dem Tee. Das hatte er sich verdient. Es war eine mühsame Plackerei gewesen die schweren Kanister vom Versteck des Land-Rovers bis zur Straße schleppen. Zweiundzwanzig mal! Er konnte den Wagen ja schlecht am Straßenrand parken. Seit Tagen hatte er das Gelände observiert, aber man wusste ja nie, ob nicht doch noch irgend so ein dussliger Jäger hier auftauchte. Der Mann schaute auf die Uhr: 05:32. Er stürzte den mit Scotch veredelten Tee hinunter, griff nach den alten Bundeswehrhandschuhen und öffnete die Fahrertür. Es war Zeit. Zeit, seinen Posten einzunehmen.
05:35 Uhr. Der Öltemperaturanzeiger des Porsche näherte sich dem grünen Bereich. Der Fahrer fuhr den 911er in den unteren Gängen warm. Was für ein Auto. Geballte Technik, kompromisslos auf Leistung getrimmt. Spielerisch fuhr der Mann ein paar hektische Schlangenlinien, um die breiten Reifen schneller auf Betriebstemperatur zu bringen. Was für ein Spaß! Die Straße war trocken. Seit Tagen schon. Ein umfangreiches Hochdruckgebiet schaufelte kristallklare sibirische Kaltluft in den Odenwald. Minus 15° C in den Nächten, maximal 0° C am Tag. Im Osten zeigte sich eine erste Ahnung der nahenden Morgendämmerung. Der Mann schaltete das Fernlicht ein. Der grelle Lichtkegel riss die Begrenzungssteine und die reflektierenden Leitpfosten aus der Dunkelheit. Jetzt kam die „Grüne Hölle“. Der Mann hatte jedem Abschnitt der Straße einen Namen vom Nürburgring gegeben. Der Boxermotor brüllte heiser auf, als der Fahrer einen Gang tiefer schaltete und die Doppelkurve auf der Ideallinie passierte, schwarze Streifen auf dem rauen Belag hinterlassend. Er schaltete das Radio an, schob die Kassette in den Schacht. Led Zeppelin, Stairway To Heaven. Sein Lied. Seine Hymne!
05:36 Uhr. Saukalt! Der Mann zog sich die schwarze Wollmütze tief über die Ohren und drückte die Tür des Land-Rovers behutsam ins Schloss. Für heute hatten sie sogar bis zu minus 18° C in freien Lagen vorhergesagt. Gut. Sehr gut. Er hätte die Heizung nicht so aufdrehen sollen. Nun fror er umso mehr, trotz des dicken Pullovers und des gefütterten US-Parkas. Doch die Kälte war sein Freund. In dieser Nacht zumindest. Die Kälte und das Wasser. Seit Wochen hatte er auf das passende Wetter gewartet. Trocken musste es sein. Trocken und kalt. Saukalt. Er hatte den Geländewagen tief in einen alten Holzabfuhrweg gefahren, so dass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Nun erreichte der Mann die schmale Straße. Zufrieden musterte er sein Werk: Genau im Scheitelpunkt der weiten Rechtskurve schimmerte tückisch eine glitzernde Eisfläche. Die Kurve war nichts Besonderes. Keine Serpentine, wie weiter oben, und auch keine Doppelkurve, wie die meisten anderen auf der acht Kilometer langen Stichstraße. Sie umrundete in einem eleganten Bogen einen Ausläufer des Katzenbuckels und bot an ihrer Außenseite eine herrliche Aussicht über die bewaldeten Berge des Odenwaldes. Leitplanken gab es nicht. Niedrige, weiß angemalte Steinquader trennten die Straße vom Abgrund dahinter. Das Gelände fiel in steilem Winkel ab. Einzelne Felsbrocken ragten aus dem schütteren Gras und struppigen Gebüsch. In einer Entfernung von etwa zweihundertfünfzig Metern begann ein vom letzten Orkan ausgedünnter Fichtenwald. Wer hier aus der Kurve flog, endete entweder an einem der hausgroßen schartigen Felsblöcke oder zwischen den Stämmen der mächtigen Fichten. Der Mann testete die Eisfläche. Glatt wie Schmierseife. Er atmete tief ein. Was für eine Idee! Eine Mordwaffe, die sich im Licht der Morgensonne von selbst auflöst.
05:38 Uhr. Die Außentemperaturanzeige vermeldete minus 13° C. Der Porschefahrer trat das Gaspedal durch. Ein langes gerades Stück, dann das „Karussell“: anbremsen, zweimal zurückschalten, das Heck kurz ausbrechen lassen und wieder vollen Schub geben. Ein Auto für Piloten. War Fliegen wirklich schöner?
05:39 Uhr. Der Mann am Straßenrand rollte die Mütze ein Stück höher und lauschte. Ein fernes Röhren näherte sich. Wurde rasch lauter. Dann knallendes Ballern, als der Fahrer kurz vom Gas ging. Der Mann trat ein Stück in den Hohlweg zurück. Der Wagen war nur noch ein paar hundert Meter entfernt. Gleißendes Licht strich durch den Wald, als der Sportwagen um die letzte Biegung schoss. Die Bäume warfen schwarze Schlagschatten, schienen sich zu bewegen. Der Mann hielt den Atem an, als er das Auto wie ein Gespenst heranhuschen sah.
05:39:20 Uhr. Der Madison Square Garden kochte. Dumpf wummerten die Bässe im Takt zum Herzschlag des Fahrers. Er genoss das Zerren der Fliehkraft, das Brüllen des Motors, das Vibrieren des Lenkrads in seinen Händen. Die „Fuchsröhre“, die schnellste Kurve auf der ganzen Strecke. Seiner Strecke. Sein eigener kleiner Nürburgring. Eine Zehntelsekunde vor der Katastrophe registrierte er die Spiegelung der dünnen Mondsichel mitten auf der Straße. Als sein Verstand noch nach einer Erklärung suchte, verspürte er ein vertrautes Gefühl in seinem Magen. Es war das typische Kribbeln im Augenblick des Abhebens, wenn man glaubt, das Flugzeug würde durchsacken. Doch dies hier war kein Flugzeug …
05:39:40 Der Mann sah mit weit aufgerissenen Augen, wie der weiße Porsche die Kurve auf der physikalisch korrekten Linie verließ, zwei Begrenzungssteine mit dumpfem Knall förmlich wegsprengte um dann mit aufheulendem Triebwerk, sich seitlich überschlagend, aus dem Blickfeld zu verschwinden. Der Mann wartete, bis das Krachen, Reißen und Splittern verstummte. Stille. Selbst der Nachtwind schien den Atem anzuhalten. Kein Ast knarrte, kein Nachtvogel rief, kein Tier raschelte im Unterholz. Nichts. Nur sein Herz schlug laut und hart bis in die Halsadern. Wie ein Gefangener trommelte es gegen den Käfig seiner Rippen. Er hatte gerade einen Menschen getötet. Hatte er wirklich? Der Mann erwachte aus seiner Starre, überquerte mit vorsichtigen, schlurfenden Schritten das blanke Eis, verhielt an der Stelle, wo der Wagen die zwei Steinquader weggefetzt hatte. Tief unten erkannte er einen verformten, weißen Umriss. Der Porsche hatte sich zwischen den mächtigen Baumstämmen verfangen, war kaum mehr als Auto zu erkennen.
Der Mann holte eine Handlampe aus der Tasche seiner Armeejacke. Im weißen Lichtstrahl sah er die Stelle, wo der Wagen zum ersten Mal aufgeschlagen war. Frisch auf-gewühlte Erde zwischen dem froststarren, reifbedeckten Gras, frische Bruchstellen an einem Sandsteinfelsen, weiße Kratzspuren. Der Lichtkegel reichte nicht bis hinunter. Der Mann knipste die Lampe aus, steckte sie ein und machte sich vorsichtig an den Abstieg.
05:42 Uhr. Schmerzen. Jeder Atemzug schien flüssiges Feuer durch seine Lungen zu pressen. Sein rechter Arm war taub. Er konnte seine Beine nicht bewegen, ja er spürte noch nicht einmal, dass er welche besaß. Etwas lief ihm aus den Ohren, durchnässte sein Uniformhemd. Scheiße, wie sah er bloß aus? Er würde sich blamieren. Er wollte etwas sagen, doch in seinem Mund befand sich ein pelziger Klumpen. Er schmeckte Blut, sah rote Nebel, schluckte, musste husten und verlor kurz das Bewusstsein. Als er nach einer halben Minute wieder die Augen öffnete, blendete ihn ein gleißendes Licht.
05:42:30 Uhr. Der Mann hatte endlich das Wrack erreicht. Zweimal war er ausgerutscht und auf dem Hosenboden gelandet. Dann stand er vor dem zerstörten Porsche. Der Wagen lag auf der linken Seite, gekrümmt wie eine Banane. Die Frontscheibe war weg. Sie lag zwanzig Meter weiter oben. Der Mann leuchtete ins Innere. Schlaff, zerknittert und voller Blut hing der Fahrerairbag aus dem Lenkrad. Dahinter lag der verrenkte Körper eines Mannes, das Gesicht eine einzige blutige Masse. Die ungeheuren Kräfte hatten den kompletten Sitz gegen das Lenkrad geschoben, die A-Säule mitsamt dem Dach auf das Armaturenbrett gepresst und dem Fahrer wohl das Genick gebrochen.
Doch dann durchlief den Körper ein Zucken und aus dem entstellten Gesicht blickten ihn zwei Augen an, die sich im Licht gleich wieder schlossen. Der Kerl lebte noch! Panik erfasste den Mann mit der Taschenlampe. Ruhig! Befahl er sich. Kerl, bleib ruhig. Vielleicht hatte er sich ja auch getäuscht. Er lenkte das grelle Licht zur Seite. Zwei hellblaue Augen starrten ihn an. Lebendige Augen. Glasig vor Schmerzen und doch voller Hoffnung. Er hatte sich nicht getäuscht! Die Lider flatterten. Die Pupillen waren unnatürlich weit. Etwas blubberte. Voller Entsetzen sah der Mann, wie ein Schwall Blut aus dem zerrissenen Mund quoll. Die Augen starrten immer noch. Der Mann knipste das Licht aus, wandte sich ab, hielt sich an der zerfetzten Karosserie fest. Stirb. Dachte er voller Angst. Stirb! Verreck endlich!
Dann mischte sich Hass unter die eisige Furcht. Der würde ihm das nicht versauen! Der nicht! Die ganze Arbeit, das entnervende Warten auf passendes Wetter. Das Ausspähen der Gewohnheiten, die langen Nächte im Wald hinter dem Schloss, die Recherchen bei der Fluggesellschaft. Die ganze verdammte Kacke eben. Und dann hing der da drin in seiner dämlichen Kiste und glotzt ihn auch noch an. Das Schwein. Das arrogante, Porsche fahrende Pilotenschwein. Der Zorn wurde übermächtig. Der Mann schlug mit der Faust auf den Wagen, ein stechender Schmerz fuhr ihm bis in den Ellbogen, was seine Wut nur noch vergrößerte.
„Du Schwein!“, kreischte er wie von Sinnen, „du Dreckschwein! Du wirst sie nicht mehr ficken! Du wirst überhaupt nie mehr ficken! Sie gehört mir! Sie liebt nur mich! Schon immer! Sie braucht keinen Affen in Uniform, sie braucht einen Mann!“ Seine Stimme versagte, im Wald krächzte empört ein Eichelhäher. Der Mann rieb sich schwer atmend die geprellte Hand. Speichelfäden hingen ihm aus den Mundwinkeln, seine Kehle schmerzte. Der intensive Benzingeruch verursachte ihm Übelkeit. Er spuckte aus, ging in die Hocke und musterte den Schwerverletzten mit einer plötzlichen Ruhe und Zufriedenheit, die warm in ihm aufstieg.
„Nein“, flüsterte er zu den Augen, „du wirst sie nicht mehr ficken. Ich werde das tun. Vielleicht werde ich dabei sogar an dich denken. Vielleicht werde ich mir für dich sogar einen blasen lassen. Wenn du brav stirbst, mein Freund.“ Ein irres Kichern hallte durch den Wald. Die Augen in dem verwüsteten Gesicht seines Opfers zuckten wild hin und her, wieder quoll Blut aus dem grässlichen Mund. Ein Gurgeln folgte und etwas, das sich wie ein verstümmeltes „Hilfe“ anhörte. Wieder kicherte der Mann vor dem Wrack. Ungelenk erhob er sich aus der Hocke und umrundete den demolierten Porsche. Der Lichtfinger seiner Taschenlampe glitt über das zerschmetterte Heck, verfing sich in dem Durcheinander aus zerrissenen Schläuchen, losen Kabelenden und geborstenem Leichtmetall. Schließlich blieb der helle Kreis an einem knapp fingerdicken Schlauch hängen. Ein dünnes Rinnsal lief heraus, bahnte sich seinen Weg über Plastikdeckel, Alugehäuse und Luftschläuche ins Innere des Fahrzeugs. Der Mann hielt einen Finger in den dünnen Strahl und schnupperte daran.
Unter dem Auto hatte sich bereits eine Pfütze gebildet. Ein Bächlein floss bergab und versickerte zwischen dem dürren Gras. Der Mann griff in die Brusttasche seiner Jacke, fingerte eine Zigarette aus der zerknautschten Packung und zündete sie an. Tief inhalierte er den würzigen Rauch.
Dann hockte er sich vor die fehlende Frontscheibe. „Auch eine?“, fragte er die Augen. Er wich dem Blick aus. Das war ja furchtbar. „Ne, lass Mann“, sagte er jovial, „Rauchen kann tödlich sein.“ Ohne ihn direkt anzusehen, blies er dem Mann Rauch ins Gesicht.
„Kalt heute“, sagte er mit vor Erregung zitternder Stimme. „Zeit für ein wärmendes Feuerchen.“ Der Mann stand auf, ging um das Wrack herum und nahm einen letzten Zug. Er prüfte die Windrichtung, trat ein paar Schritte zurück und schnippte die glühende Kippe in Richtung der Benzinpfütze.
Die Verpuffung der Dämpfe holte ihn von den Füßen, so dass er sich mit versengten Augenbrauen und Haaren einige Meter weiter am Boden wiederfand.
„Scheiße“, zischte er erschrocken und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er blutete! Er war verletzt! Die Hitze war fürchterlich. Unmittelbar vor ihm fraßen sich die Flammen gierig durch das Auto. Es zischte gefährlich, einer der dicken Reifen platzte mit einem dumpfen Schlag. Voller Entsetzen kroch der Mann auf allen Vieren von dem Brand weg, bergauf. Hinter ihm heulte, orgelte, pfiff und rauschte das Höllenfeuer. Dazwischen vernahm er noch ein Geräusch: Ein durchdringendes, helles Kreischen, auf und abschwellend, unterbrochen von kurzen Pausen, in denen sich Brandgase und Ruß in die Lungen des Fahrers fraßen. Der Mann drückte sein Gesicht ins kalte Gras, presste beide Hände gegen die Ohren und schüttelte sich vor Grauen.
„Hör auf, hör auf! Sei ruhig, verdammt, sei endlich ruhig, stirb endlich!“, schrie er in den gefrorenen Boden, während er die Hitze selbst durch seine dicke Kleidung spürte. Endlich endete das grässliche Kreischen. Der Mann rappelte sich auf, stürmte stolpernd, mit den Händen Büsche und dornige Ranken als Kletterhilfe nutzend, zurück zur Straße. Hinter ihm waberte ein Glutpilz in die Höhe, als der Tank explodierte. Völlig ausgepumpt, mit blutigen Händen, keuchend und spuckend, stand er endlich wieder auf der Straße. Die Dämmerung schritt voran. Vor dem langsam heller werdenden Himmel wälzte sich eine rußige, weißgraue Brandwolke in die Höhe. Es stank nach verbranntem Gummi, nach geschmolzenem Plastik, nach Öl und Benzin und etwas Unaussprechlichem. Es war diese feine, kaum wahrnehmbare Spur in dem olfaktorischen Inferno, welche dem Mann den Magen umdrehte.
Als nur noch Galle kam, erhob er sich von den schmerzenden Knien und warf einen letzten Blick auf sein Werk. Die erste Wucht des Feuers war gebrochen. Zwischen den hohen Fichten leuchtete hellrot das glühende Gerippe des ehemals schnittigen Sportwagens. Ab und zu flackerten noch einmal helle Flammen auf, wenn das glusende Feuer noch etwas entzündete. Ringsum glimmten einige Glutnester und die angesengten unteren Äste der Fichten ragten wie dürre Spinnenfinger hervor.
05:58 Uhr. Der Mörder schaute auf seine Uhr. Das Glas war zerkratzt. Er würde sich von ihr eine neue schenken lassen. Zur Verlobung. Jetzt gehörte sie ihm allein. Er spuckte in Richtung des Wracks und schlurfte zurück zu seinem Land-Rover. Es war alles getan. Eine elende Drecksarbeit, aber er hatte alles erledigt. Im Auto knipste er die Innenbeleuchtung an und reckte den Hals, um sein Gesicht im Rückspiegel zu begutachten. Er prallte entsetzt zurück, als ihn die Augen des Porschefahrers daraus anstarrten. In seinem Kopf schwoll das entsetzliche Kreischen wieder an, aus seinen Kleidern stieg ihm der fürchterliche Geruch in die Nase …
„Scheiße!“ Mit der Faust schlug er den Spiegel ab, zerschnitt sich dabei den Handballen und brach weinend über dem Lenkrad zusammen. Doch so sehr er auch die Augen zupresste, der Blick seines Opfers bohrte sich mitten in sein Hirn. Verankerte sich dort bis ans Ende seines Lebens.
Ihre Hand zitterte, ihr Herz klopfte spürbar, als sie mechanisch die verzogene Klappe des blechernen Briefkastens schloss. Die Telefonrechnung, ein Werbebrief und ein schmuckloses weißes Kuvert mit dem Logo der Orchid-Agency. Annika starrte die stilisierte Orchidee an. Die Absage. Es war sicher die Absage. Heiß und salzig stieg etwas in ihrer Kehle auf. Sie schluckte, stieg langsam und staksig die knarrenden, nach Bohnerwachs riechenden Stufen hinauf. An der Tür hing ein mit Klebeband befestigter Zettel mit sieben Namen. Sieben Namen in sieben verschiedenen Schriften. Annika Schmidt war der Einzige in Rot. Sie schloss die Tür, ging an der nach billigen Fertiggerichten riechenden chaotischen Küche vorbei, in der Robby zwischen Bergen von schmutzigem Geschirr hingebungsvoll seinen Bonsai schnitt, passierte die angelehnte Badezimmertür, hinter der zwei Föhns um die Wette heulten, wich einer der drei Katzen aus und betrat die winzige Kammer mit dem gesprungenen Fenster, die fast gänzlich von ihrem Bett ausgefüllt wurde. Ein Kleiderschrank aus Stoff, ein durchgebogener Kleiderständer, ein Schuhschrank, ein winziger Schreibtisch mit einem Mini-Fernseher und ein Drehstuhl auf Rollen, die nicht rollten, bildeten die ganze Einrichtung. Auf dem Boden stapelten sich Modezeitschriften, Versandhauskataloge und die Erzeugnisse der Yellow-Press. An den Wänden hingen ausschließlich großformatige Poster berühmter Mannequins der großen Modeschöpfer. Dazwischen Fotos von ihr selbst in rührend den Profis nachempfundenen Posen, die Richie, der „Fotograf“ der WG, von ihr gemacht hatte. Im Bett war er eine einfallslose Flasche, aber er konnte mit der Kamera umgehen, und nur das zählte. Er hatte auch die Bilder gemacht, mit denen sie ihre Bewerbungsmappe ausgestattet hatte. Die Orchid-Agency war der sechzehnte Versuch. Das Unternehmen war zweite Wahl, bediente die Firma doch zumeist die großen Versandhäuser und Kaufhausketten. Aber die internationalen Label hatten sie alle ignoriert. Eine einzige Absage war gekommen. Ein vorgefertigtes Schreiben ohne Unterschrift. Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen …
Und nun das. Orchid-Agency, Essen. Nicht Paris, Hamburg, New York, nein, Essen würde ihr nun einen Korb geben. Sie würde heute Abend wieder ins Labo’s gehen, zu schwitzenden Arschlöchern nett sein, lächelnd Drinks und Snacks servieren und Angebote von „Regisseuren“, „Agenten“ und „Produzenten“ zum Beischlaf mit Karrieregarantie lächelnd ablehnen. Richies harmloser, unbedarfter Sex war die Grenze. Mehr war nicht drin.
Sie öffnete das Kuvert mit einem Bleistift, nestelte den Brief heraus und las den Text, ohne ihn zu verstehen. Erst beim dritten Versuch beendeten die Buchstaben ihren Tanz, formierten sich zu Worten und Sätzen und schrien sie an. Es ist vorbei! Hau ab! Scheiß auf die Typen im Labo’s! Raus, raus aus dieser miefigen Bude voller bekiffter Spießer, die vorgaben, das Gegenteil zu sein und doch nur arme Schweine voller Illusionen waren! Geh, Annika, geh, die Welt wartet auf dich!
Die Welt, das war in diesem Fall Essen. Gewerbehofstraße 23 - 31. Orchid-Agency. Sie möge sich zu einem unverbindlichen Vorstellungstermin einfinden. Am 22. Mai. Um 10:30 Uhr. Herr Kaminski erwarte sie. Kaminski … ein Name wie ein Cordhut. Eine Wegbeschreibung war auch dabei. Zehn Gehminuten vom Hauptbahnhof, drei Minuten mit der U-Bahn.
Hallo Welt, ich komme!
Es regnete, als sie vorsichtig über das bucklige Straßenpflaster stöckelte. Der ramponierte Rollenkoffer schepperte hinter ihr her, über der Schulter hing ein Kleidersack mit ihren Schätzen, einem kleinen Schwarzen von Chanel, einer mondänen Robe aus dem Schicki-Micki-Second-Hand und einem Etui-Kleid, das ihr eine Freundin vor zwei Jahren als Gesellenstück geschneidert hatte. Unter ihrem hellen Trenchcoat trug sie ein Business-Kostüm, auch aus zweiter Hand. Nur die High-Heels von Manolo Blahnik waren nagelneu. Die Schuhe und die Fahrkarte nach Essen hatten sie fast ihre gesamten Ersparnisse gekostet. Sie würde sich heute höchstens noch einen Automatenkaffee leisten können. Im Koffer befand sich ihre komplette Habe, nachdem sie alles andere ihren Ex-Mitbewohnern für ein paar Mark überlassen hatte. Damit besaß sie wohl weniger als der Stadtstreicher, der sein mit prallen Plastiktüten behängtes Fahrrad über die Straße schob.
Doch das war ihr gleichgültig. Heute begann ihr neues Leben. Der „unverbindliche Vorstellungstermin“ würde die Leute von Orchid überzeugen. Sie war das Gesicht des neuen Jahrzehnts. Nach ihr würden sich die Modeschöpfer der Welt die Finger lecken. Sie war die Beste!
Die Gewerbehofstraße entpuppte sich als ein ganzes Industriegebiet und sie hatte Blasen an den Füßen, als sie endlich die richtige Adresse gefunden hatte. Hausnummer 23-31 entpuppte sich als ehemalige Spedition. Eine Ansammlung trister Backsteinbauten mit Rolltoren, Rampen und zersplitterten Scheiben, die besser zu einem Schmuddel-Krimi passten, als zum Start einer Mannequin-Karriere. Sie ging zwischen verrosteten Anhängern, verbeulten Ölfässern und Stapeln von Paletten hindurch und erreichte einen Innenhof, in dem vor einem hässlichen Bürogebäude ein paar PKW standen. Ein schmutziger Ford Escort-Kombi trug die Aufschrift „Foto-Konen“, ein Opel-Kadett und ein VW-Bus in Kommunal-Orange standen neben einem silbernen Siebener BMW. Immerhin. Eine recht neu aussehende Messingtafel neben der Eingangstür trug die Aufschriften Belinda Marketing; Import-Export Kanoucchi und Orchid-Agency.
Sie betrat den tristen Flur mit den fleckigen Wänden. Irgendwo dudelte ein Radio, es roch nach kaltem Rauch und einer Mischung aus Heizöl und verdorbenem Obst. Ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift Orchid wies ihr den Weg über eine breite Steintreppe in den ersten Stock.
Annika Schmidt versenkte den Griff ihres Trolleys, nahm den Koffer seufzend hoch und schleppte ihn nach oben. Vor einer weiteren Milchglastür blieb sie kurz stehen, um wieder Luft zu holen. Schließlich wollte sie ihrem Entdecker nicht schnaufend und mit roten Wangen gegenüberstehen. Als sie dann durch die Tür trat, hielt sie für einen Augenblick überrascht inne. Das verwahrloste Gelände und das schmuddelige Treppenhaus hatte sie einen schmierigen, Zigarre rauchenden Kerl hinter einem chaotischen Schreibtisch erwarten lassen. Stattdessen fand sie sich in einem eleganten Foyer mit cremefarbenen Wänden, dunkelblauem Teppichboden und einem chromglänzenden Tresen wieder.
Hinter der Theke saß eine elegante Frau in den Fünfzigern und lächelte sie freundlich an. „Willkommen bei Orchid, Sie kommen sicher zum Vorstellungstermin?“ Annika nickte, stellte sich vor und erhielt einen Fragebogen.
„Wenn Sie das ausgefüllt haben, gehen Sie bitte den Gang rechts bis zum Ende. Hinter der Doppeltür können Sie sich umziehen und vorbereiten. Sie werden dann einzeln aufgerufen.“ Annika stutzte. Sie war anscheinend nicht die Einzige, die heute die Chance ihres Lebens erwartete. Diese Befürchtung wurde noch übertroffen, als sie die schwere Stahltür öffnete. Dahinter befand sich ein Raum von den Ausmaßen einer Turnhalle. Etwa ein Drittel davon diente wohl als Kantine. Billige Plastikstühle und Stahlrohrtische mit Resopalplatten, sowie eine Reihe von Snack- und Getränkeautomaten erinnerten nun wieder an die frühere Bestimmung des Gebäudes. An einer der Längsseiten standen Bänke mit Gestellen zum Aufhängen von Kleidern, wie sie normalerweise in Theatergarderoben zu finden waren. Zwei Türen mit der Aufschrift WC befanden sich dahinter. Der Raum war erfüllt von Stimmengewirr, zu lautem Lachen, Giggeln und zischelndem Geflüster von schätzungsweise drei Dutzend Frauen, die auf den Stühlen lümmelten, sich zwischen den Garderobenständern umzogen, Dehnübungen machten, Füße abklebten, sich kämmten und schminkten oder nervös Zeitschriften durchblätterten. Vereinzelt trafen taxierende Blicke die neu Angekommene. Mundwinkel verzogen sich verächtlich, Augen wurden gerollt und mit Gekicher auf gemurmelte Bemerkungen reagiert. Es roch nach Schweiß, Nagellack, teurem Parfüm und Deo.
Annika stellte ihre Tasche unter einen unbenutzten Garderobenhaken und befestigte ihren Kleidersack daran. Dabei streifte sie ein daneben hängendes Oberteil.
„Hey!“, ertönte eine kehlige Vorstadtstimme. Eine hübsche Rothaarige mit riesigen Brüsten funkelte sie böse an. „Schaff den Müllsack bloß weg, Schatzi, das ist von Dior!“
Annika schaute sich das angebliche Dior-Teil interessiert an, wandte sich dann betont langsam zu der aufgeplusterten Roten um und sagte mit bedauerndem Kopfschütteln: „Das würde ich an deiner Stelle aber nicht anziehen, der Ausschnitt … man sieht die Narben noch.“ Instinktiv wanderte der Blick der rothaarigen auf ihren Busen. Als sie Annika wieder in die Augen sah, zuckte sie zusammen. Etwas Eisiges schien sich in ihren Körper zu bohren. Unter der dicken Schicht Make-up wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.
„Sorry, war nicht so gemeint“, stammelte sie. „Ich bin Kelly. Willkommen im Club.“
„Nimm den Fetzen und verpiss dich. Dior würde niemals so tief sinken.“
Annika musterte den Kreis neugieriger Augen, die auf sie gerichtet waren. „Was ist? Soll ich’n Hut rumgehen lassen, oder was?“ Nach und nach senkten alle den Blick, wandten sich ab oder griffen wieder zur Lektüre. Das Gemurmel kam stockend wieder in Gang. Annika wollte sich schon ihrem Gepäck zuwenden, da spürte sie, dass nicht alle von ihrem Auftritt beeindruckt waren. Sie hob den Blick und spürte augenblicklich eine unheimliche Präsenz.
Sie stand am anderen Ende des Saales, lässig an die Reihe der metallenen Schließfächer gelehnt, die man dort wohl erst kürzlich eingebaut hatte. Dazwischen befanden sich die Sitzgruppen der „Kantine“ mitsamt dem blonden, brünetten, schwarzen und rothaarigen Gewusel.
Sie war schön. Nicht nur hübsch, nein, sie war eine natürliche Schönheit, etwa Mitte zwanzig, mit langen dunklen Haaren, einer Figur, an der noch niemand herumgeschnippelt hatte und einer fast greifbaren Aura, bestehend aus enormem Selbstbewusstsein, gepaart mit einer unverschämten Arroganz. Die junge Frau auf der anderen Seite der Halle war eine Feindin. Kein rotznäsiges, freches Kind wie die Rote mit ihren Plastiktitten oder all die anderen Gören, die sich hier ihre kleinen Revierscharmützel leisteten.
Annika wandte den Blick ab. Als sie wieder hinschaute war die Frau weg. So sehr sie auch ihre Augen wandern ließ, sie war einfach weg. Ihr war mulmig zumute. Wenn es hier jemanden gab, der ihr ebenbürtig war, dann war sie es.
Egal, nun stand sie hier, am Wendepunkt ihres Lebens, hatte sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen, ihr letztes Geld ausgegeben und pokerte um alles oder nichts.
Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, registrierte befriedigt die neidischen Blicke der bösen kleinen Mädchen und öffnete den Kleidersack. Ihre Wahl fiel auf das schwarze Chanel. Sie holte den Kosmetikkoffer aus dem Trolley, stellte den Spiegel auf den Kofferdeckel und begann mit raschen geübten Bewegungen ihr Make-up zu vervollständigen. Mittlerweile wurden in unregelmäßigen Abständen Nummern aufgerufen. Aus kühlen, arrogant blickenden Stars wurden nervöse, unsichere Probandinnen, die mit wackligen Knien durch die Tür mit der Aufschrift „Betreten nur nach Aufforderung“ stöckelten. Begleitet von heuchlerischen guten Wünschen, falschem Lächeln und aufgeregtem Getuschel blieben sie meist nur wenige Minuten. Zurück kamen sie ausnahmslos alle mit mühsam aufrechterhaltenem Lächeln, trotzig erhobenem Kopf und verächtlichen Blicken für den armseligen Rest der Welt.
Annika, die von ihrem Platz aus durch eines der schmutzigen Fenster den Hof übersehen konnte, sah sie dann mit eingefallenen Schultern, gesenktem Kopf und müden Schritten zwischen den Palettenstapeln auf das verrostete Eingangstor zutrotten.
Aus der Traum. Sie können gehen Nummer 23, danke. Das war alles, viel Erfolg bei Ihren weiteren Bewerbungen. Danke, einen schönen Tag noch … Worte wie Messer, Sätze wie Urteile.
Langsam lichteten sich die Reihen der Mitbewerberinnen. Längst war das Kichern und übertriebene Lachen verstummt. Auch die taxierenden Blicke waren seltener geworden. Annika roch die Angst unter den Wolken aus ätherischen Ölen und aromatischen Verbindungen, witterte den Stress und die Unsicherheit, sah das Zittern der manikürten Hände, das Flackern dramatisch geschminkter Augen, das Beben wohlmodellierter Brüste.
Plötzlich war sie wieder da. Die Andere … Der Himmel, oder in ihrem Fall wohl die Hölle, mochte gewusst haben, wo sie sich versteckt gehalten hatte. Doch nun war sie wieder hier, schwebte mit einer Siegesgewissheit durch den Raum, die niemand auf dieser Welt spielen konnte. Die anderen jungen Frauen entlang ihres Weges schienen hinter ihr zu verwelken und zu verkümmern wie verdorrte Pflanzen. Sie zog sich eine Flasche Wasser aus einem der Automaten, nahm auf einem der Plastikstühle Platz, als sei es der Thron der Kleopatra und fixierte Annika hochmütig.
„Nummer 34. Nummer 34, bitte!“ Annika schrak zusammen. Die Lautsprecherstimme plärrte wohl schon eine ganze Weile, das Bitte klang bereits bedrohlich genervt. Nummer 34. Ihre Nummer! Das war sie! Hastig strich sie ihr Haar zurück, hob den Kopf und ging mit energischen Schritten zur Tür. Ihr könnt jetzt gehen. Alle. Annika Schmidt hat den Job. Tschüss und einen schönen Tag noch. Alles Gute.
„Bitte ganz nach rechts gehen und bei der Markierung stehen bleiben.“ Ihnen auch einen guten Tag, dachte Annika verbittert. Wer war sie denn? Eine Sklavin? Doch sie tat wie ihr geheißen, stellte sich vor eine blaue Leinwand und versuchte zu lächeln.
„Nicht lächeln, das Foto ist für die Kartei, danke.“ Immerhin, danke hat er gesagt. Sie entspannte sich etwas und registrierte das Auditorium. Der Sprecher war ein südländisch aussehender Mann in Anzug und Krawatte, der wie ein Hafenlude wirkte und leichten Kölner Singsang sprach. Er saß hinter einer Reihe von drei Kantinentischen. Rechts von ihm kritzelte eine dürre, etwa fünfzigjährige Frau mit strassbesetzter Lesebrille und arrogantem Gouvernantenblick etwas auf einen Block. Links vom Hafenluden saß eine dralle Blondine mit gewaltig auftoupierter Mähne, die in ein schreiend buntes Gewand gekleidet, geballten Mutti-Charme versprühte. Zwei Meter vor Annika hockte Don Quichotte auf einem Stuhl, die Beine weit von sich gestreckt und das Gesicht hinter einer gewaltigen Mittelformatkamera versteckt. Der Mann von La Mancha trug eine armeegrüne Pudelmütze, ein Holzfällerhemd und Lederhosen, die in martialisch aussehenden Motorradstiefeln steckten. Nachdem er ein halbes Dutzend Aufnahmen gemacht hatte, ließ er die Kamera sinken und grinste Annika anzüglich an.
„Danke, Schätzchen.“
„Haben Sie Erfahrung auf dem Laufsteg?“ Der Hafenlude beobachtete sie lauernd, als sie auf seinen Wink hin den Platz vor der Leinwand verließ und nun vor den drei Tischen stand.
„Ich bin vor drei Jahren einen Monat für Seeger gelaufen, habe Aufnahmen mit Pete Ferris gemacht und verfüge über ein Angebot von C&A.“
Seeger war eine südbadische Textilfabrik, die hauptsächlich Kittelschürzen, Umstandsmode und Arbeitskleidung für medizinische Berufe herstellte, Pete Ferris war ein international angesehener Modefotograf, der an der Berufsfachschule für Mode sämtliche Abschlussklassen fotografiert hatte und C&A hatte ihr einen Job als Aushilfsdekorateurin angeboten.
„Gehen Sie bitte bis zur Wand, drehen Sie um und gehen Sie bis zum Ende des Raumes.“ Die Dürre. Ihre Stimme kratzte mit Fingernägeln auf einer Schiefertafel. Annika spürte, wie die Blicke des Luden an ihrem Rocksaum hingen, darunter krochen und ihren Arsch befleckten. Sollte er es haben. Während der Drehung brachte sie den Rock dazu, noch ein Stück höher zu rutschen. Die dralle Mutti zog eine Schnute, der Lude begann zu schwitzen. Recht so. Sie spürte förmlich seine feisten Finger auf ihren Schenkeln.
„Danke.“ Das Fallbeil. Die Dürre kritzelte wieder, der dicke Lude beugte sich zu ihr hinüber, als wolle er ihr etwas zuflüstern, doch sie hob ihren Vogelkopf und schnarrte: „Schönen Tag noch.“
Wie in Watte gepackt wandelte Annika durch den Raum, in dem die anderen warteten. Das Siegerlächeln, ermahnte sie sich. Du wurdest soeben für die Herbstsaison verpflichtet! Lass diese Weiber das spüren! Armani, Dolce, Dior! Du bist das Gesicht des Jahres! Es wurde eine klägliche Vorstellung. Beim Umziehen verhedderte sie sich und hätte das kostbare Schwarze beinahe zerrissen.
Die nächste Nummer wurde aufgerufen. Die 2. Jemand ging an ihr vorbei. Sie spürte einen kalten Hauch. Trotz des warmen, pochenden Blutes in ihrem Kopf. Die Tür ging auf und wieder zu. Sie war jetzt da drin. Die Andere. Die Feindin …
Annika stürzte durch die Tür mit der Aufschrift WC, erreichte gerade noch die Kabine, bevor es heiß und brennend aus ihrem Magen aufstieg.
Ihr Schädel brummte, als sie endlich ihren Trolley über den Hof zog. „Schönen Tag noch“, hatte der Drachen gesagt. Die bunte Mutti war wohl beleidigt wegen der Ludenshow und der Lude selbst war wohl gar nicht der Cheffe. Sie lehnte sich an den klapprigen Escort von Foto-Konen und nestelte eine Zigarette aus der Packung. Scheiße. Die Letzte. Geld alle, keine Kippen, keine Stretch-Limo, die sie nach Florenz oder wenigstens nach Berlin brachte, nix. Das Feuerzeug fiel ihr aus den zitternden Fingern und landete in einer Öl schillernden Pfütze.
Sie hätte beinahe aufgeschrien, als neben ihr plötzlich ein haariger Arm mit einem Zippo auftauchte und der Geruch von verbranntem Benzin in ihre Nase stieg. Don Quichotte. Der Typ, der mit Motorradstiefeln Auto fuhr.
„Danke“. Schniefen. Es war kalt. Kalt und nass. Ein Schnupfen. Sonst nichts. Die Menthols waren gut gegen so was.
Der Fotograf drehte sich mit unglaublicher Geschicklichkeit eine zerknitterte, lächerlich dünne Zigarette und schaute Annika hinter dem Qualm prüfend an.
„Wenn wir die geraucht haben, gehen wir wieder rauf.“ Annika vermutete plumpe Anmache und blies verächtlich Rauch aus der Nase.
„Danke, ich geh zu C&A“
„Mach das mal. Aber in Marokko is wärmer.“ Irritiert schaute sie den Mann an. Das Grinsen hatte nichts Anzügliches mehr, so wie vorhin. Der unrasierte Typ sah aus wie ein Schuljunge, dem ein richtig guter Streich gelungen war.
„Marokko?“
„Marokko. Ich nehm’ mein Moped mit. Ne GS. Richtig was für im Sandkasten zu spielen. Eine Woche Arbeit, eine Woche Klapperschlangen platt fahr’n.“
„Die gibt’s da gar nicht.“
„Oh, wir sind gebildet? Macht ja nix. Aber wenn du lieber zu C&A gehst. Deine Sache. Wir arbeiten bei dieser Session übrigens mit Charles Kessler zusammen. Er bringt Katy mit. Gut möglich, dass was von ihr bei euch Mädels hängen bleibt. Also dann, mach’s gut.“
Charles Kessler! Katy … niemand anders als die göttliche Katy Rowland war damit gemeint. Die Rowland war das zurzeit angesagteste Mannequin1, Kessler ihr Entdecker und Manager. Misstrauisch beäugte Annika ihre Zigarette. Was zog sie sich da eigentlich rein?
„Die haben mich weggeschickt“, murmelte sie trotzig und trat ihre Kippe aus.
„Und mich haben sie losgejagt, damit ich dich wieder einfange.“
„Warum?“
„Komm mit und schau’s dir an. Du wirst staunen. Ich heiße übrigens Al.“
„Albert?“
„Alfred.“
„Okay, dann doch lieber Al.“
Im Treppenhaus begegneten sie einer Reihe von finster und enttäuscht blickenden jungen Frauen. Manche weinten sich dunkle Streifen auf die Wangen, andere schnieften, eine spuckte vor Annika aus.
Sie betraten das Auditorium durch eine separate Tür. Der Fotograf winkte dem Trio hinter den Tischen fröhlich zu und knarzte in den klobigen Stiefeln zu seinem Platz, wo er damit anfing, Objektive zu sortieren und seine Kamera zu überprüfen. Annika blieb hinter der Tür stehen, als sei sie gegen eine Wand gelaufen.
Die Atmosphäre hatte sich spürbar verändert. Der Ludentyp hatte sein Jackett ausgezogen, präsentierte knallrote Hosenträger zum zerknitterten Hemd, die dürre Gouvernante paffte genüsslich ein Zigarillo und die „Mutti“ griente Annika zu wie ein sattes Baby. Man hatte noch zwei Stühle geholt. Einer war unbesetzt, auf dem anderen saß sie.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, Annika.“ Sieh an, die Nummer hatte plötzlich einen Namen. Die Stimme der hageren Gouvernante klang jetzt nur noch nach knisternder Seide.
Unter den taxierenden Blicken der Anderen stakste Annika zu dem freien Stuhl, rückte ihn ein Stück zur Seite und versuchte, möglichst viel Verachtung auszustrahlen. Es misslang ihr. Zu groß war die ängstliche Erwartung, die wiederauferstandene Hoffnung, die pure Neugier. Was sollte dieses Theater? Was tat diese arrogante Kuh hier?
„Das ist Sophia“, die Stimme der „Mutti“ troff vor Stolz. „Ich …“, sie stockte kurz und warf den anderen vielsagende Blicke zu, „wir haben eine Idee, die wir gern mit Ihnen beiden besprechen wollen. Sophia, würden Sie bitte diese Perücke aufsetzen?“ Al, der Fotograf, der wohl auf dieses Stichwort gewartet hatte, reichte Sophia eine blonde Perücke.
Ungläubig verfolgte Annika, wie sich Sophia die Perücke aufzog, die Haare zurecht zupfte und ihr mit triumphierendem Grinsen das Gesicht zuwandte.
„Perfekt, nicht wahr?“ der „Lude“ fletschte die Zähne und sah nun aus wie ein mexikanischer Pistolero in einem Sechziger-Jahre-Western. Annika reagierte nicht. Sie starrte immer noch diese Sophia an, als wäre sie ein Wesen aus einer anderen Welt. Doch das war sie nicht. Sie war ein Mensch wie du und ich. Sie war … Annika. Ein Spiegelbild ihrer selbst, ein Klon, eine Zwillingsschwester. Annika erkannte, dass es diese frappante Ähnlichkeit war, die vorhin ihre Aufmerksamkeit auf Sophia gelenkt hatte. Das dunkle Haar hatte sie getäuscht. Nun, mit dieser grässlichen Nuttenperücke, war es, als sei ein Vorhang gelüftet worden. Sophia sah ihr nicht nur ähnlich. Sie war eine perfekte Kopie. Das durfte, das konnte nicht sein!
„Was soll das Theater?“ Annika war aufgesprungen, ihre Brüste hoben und senkten sich, sie schnappte nach Luft. „Sie schicken mich fort wie einen lästigen Straßenköter, lassen mich von diesem Menschen zurückholen, damit ich mir solche Kindereien anschaue? Danke, schönen Tag noch!“ Als sie die Tür hinter sich zuschlagen wollte, wurde sie daran gehindert. Der „Lude“ war aufgesprungen und ihr gefolgt.
„Annika, hören Sie mir zwei Minuten zu. Zwei Minuten, dann können Sie von mir aus beleidigt abrauschen. Zwei Minuten! Bitte!“ Seine Stimme klang beschwörend, das Grinsen war einem besorgten Bernhardinerausdruck gewichen. Der Mann schloss die Tür. Sie waren alleine auf dem Flur. Er deutete auf zwei Stapelstühle vor dem schmutzigen Fenster.
„Kommen Sie, Annika, setzen Sie sich. Zigarette?“ Dankbar griff sie zu.
„Ich bin Theo, Theo Kaminski, ich arbeite als freier Agent für verschiedene Häuser. Vergessen Sie die Sache mit den Versandhauskatalogen. GEtTO sucht ein Zwillingspärchen…“
„GEtTO?“
Theo nickte. Die braunen Augen glänzten. Der Mann witterte das große Geschäft und sie sollte eine Rolle darin spielen.
„Mit dieser … Sophia?“
„Ihr beide oder keine von euch. GEtTO hat da glasklare Vorgaben.“
GEtTO war Annika ein Begriff. Das kleine ehemalige Underground-Label aus Köln-Porz hatte sich in den letzten zwei Jahren zum neuen Stern am Modehimmel gemausert. Zwei junge Kerlchen, deren Eltern noch mit Pappkoffern per Bus aus Anatolien gekommen waren, ließen sich von ihren Schwestern und Cousinen extravagante Klamotten schneidern, die durch den anarchischen Mix aus Hippie-Stil und Eleganz die Jugend und die, welche ihr atemlos hinterher hechelten, in Ekstase versetzten.
Mittlerweile beschäftigten die smarten Buben über sechshundert Mitarbeiter, besaßen eine europaweite Vertriebsstruktur und planten in naher Zukunft den Weltmarkt aufzurollen. Eine rotzfreche Werbekampagne, prominente Kundschaft und juristisches Gezoffe mit den etablierten Platzhirschen sorgten dafür, dass aus dem blinkenden Sternchen eine Supernova wurde.
„Wenn Sie zusagen, arrangiere ich noch heute ein Treffen mit Gencer und Tolga.“
„Sie sind hier?“ Annika schaute Theo ungläubig an. Ein belustigter Ausdruck erschien auf seinem breiten Gesicht. „Sie sind in Mailand, Mädchen. Sie verhandeln dort mit Silvio Delaggio. Wir fliegen mit der Abendmaschine ab Düsseldorf. Sie haben“, er schaute auf seine protzige Armbanduhr, „noch eine Stunde. Dann können sie ihren Termin bei C&A machen.“ Es war der Blick aus seinen Mexikaneraugen, der ihr die Entscheidung abnahm: Mitleid, Herablassung und eine Prise Bedauern spiegelten sich darin. Bedauern darüber, wie eine junge Frau so sensationell dumm sein konnte, über dieses Angebot auch nur eine Sekunde nachzudenken.
„Ich bin dabei.“ Fast erschrak sie über den Klang der eigenen Stimme, lauschte einen Wimpernschlag lang dem Klang der Worte nach und schaute dann Kaminski an. „Was soll ich tun?“
Theos weiße Zähne blitzten triumphierend. „Was Sie tun sollen? Sie sollen sich freuen, dass Sie eine Zwillingsschwester haben und ein gottverdammter Star werden. Das ist es, was Sie tun sollen.“
Die Maschine der Alitalia war nur zur Hälfte besetzt. Annika saß so weit wie möglich entfernt von Sophia. Sophia … Der Name war garantiert so echt wie das Lächeln, das sie gezeigt hatte, als Theo die „Zwillinge“ miteinander bekannt gemacht hatte. Auch Annika hatte gelächelt. Auch Krokodile lächeln.
Von allen Tussen, Gören, und vor Selbstüberschätzung schier platzenden Möchtegernstars, denen sie an diesem Tag begegnet war, musste ausgerechnet dieses arrogante Miststück der Schlüssel zu ihrem Durchbruch sein. Das Leben war ein Arschloch. Aber Annika würde tun, was Theo ihr geraten hatte. Sie würde ein Star werden. Wenn sie dazu Sophia brauchte, na schön. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, würde sie die aufgeblasene Schnecke in den Staub treten.
Gencer war verhindert, aber Tolga besaß Selbstbewusstsein für eine ganze Armee türkischer Herzensbrecher und barst fast vor Freude, als man ihm die beiden „Schwestern“ vorführte wie Vieh auf einer Schlachtauktion.
Tolga war, wie sein älterer Bruder, ein typischer Vertreter ehrgeiziger Einwandererkinder, der es mit Fleiß und unbändiger Willenskraft zum erfolgreichen Unternehmer geschafft hatte. Dabei verleugnete er niemals seine Herkunft, verehrte seine Eltern und war strenggläubiger Muslim, ohne jedoch das Klischee des intoleranten Fanatikers zu bedienen. Die Familie war von jeher als weltoffen und kontaktfreudig bekannt, was 1962 Yakup Akbulut bewogen hatte, seine Frau zu überreden, ihm in den „goldenen Westen“ zu folgen.
Tolga versprühte seinen John-Travolta-Charme mit dem Feuerwehrschlauch, ließ pausenlos Leckereien und erlesene Getränke auffahren und stellte seine Pläne für die neue Kampagne mit leuchtenden Augen und dem Redeschwall eines Rheumadeckenverkäufers vor.
Annika konnte nicht anders, sie wurde einfach mitgerissen, trank zu viel und fand sich zu später Stunde Arm in Arm mit Sophia, blöde grinsend und ein leeres Champagnerglas schwenkend, wieder. „Al“ Alfred knipste sich die Finger wund, Theo quatschte eine üppige Visagistin bewusstlos und Tolga zog sich lächelnd zurück. Die Sache war im Kasten, morgen ging es nach Marrakesch.
Annika erwachte mit brummendem Schädel mitten in einem Straßenbahndepot, durch das ein wahnsinniger Verkehrsplaner eine sechsspurige Autobahn gebaut hatte. Benommen tastete sie sich aus dem Bett und schleppte sich zum Fenster.
„A star is born“, murmelte sie vor sich hin und lugte durch die vergilbten, nach Staub und Nikotin riechenden Vorhänge auf die Straßenkreuzung direkt vor dem Hotel.
Gleich fünf mehrspurige Straßenzüge mündeten in einen riesigen Kreisverkehr, dessen Markierungen längst von den ständig quietschenden Reifen der italienischen Kamikaze-Fahrer wegradiert worden waren. Wie gestrandete Wale standen eingekeilte Busse dazwischen, während Motorroller und Mopeds wie Fliegen alles umschwärmten. Straßenbahnen untermalten das Schlachtengemälde kreischend, bimmelnd und ihre absolute Herrschaft rigoros ausnutzend.