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Die Spur der Milch - Kindheit, Kühe, Krieg Eine spannende Biografie! Roman von Franz Volz Vaters Lebensmotto rettete mich vor der Erschießung. In seinem Buch Die Spur der Milch erzählt Franz Volz auf heitere, kurzweilige Weise von den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und der frühen Nachkriegsjahre. Lustige Erlebnisse und heitere Episoden vom Josephshof in Graach an der Mosel leben ebenso wieder auf wie die entbehrungsreiche, von harter Arbeit geprägte Kindheit und Jugend des Autors. Franz Volz versteht es, dem Leser diese längst vergangenen Zeiten näherzubringen und lässt uns erahnen, wie man damals lebte, liebte und lachte.
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Seitenzahl: 419
Gestaltung Buchumschlag: Stephan Moll
ISBN 978-3-940760-86-9
© 2014 Stephan Moll Verlag, Burg Ramstein, 54306 Kordel
www.verlag-smo.de
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Franz Volz
Die Spur der Milch
Kindheit, Kühe, Krieg
Cover
Impressum
Titel
Vorwort
Wie’s daheim war
Der Gutsverwalter Alfons Volz
Die Weinbauschule in Weinsberg
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Als Arbeiter auf dem Ernsteiner Hof
Graach an der Mosel
Die Mosel als Spielgelände
De Lore treift fat (Die Lore treibt fort)
Die Melker August und Jupp
Der Herr Watmann
Die Lehmrutsche
Nachtjagd auf Augustmücken
Der Aalkutter
Paddelboote
Die KdF-Ausflugsdampfer
Das Motorschiff Mosella
Spiele mit der Moseltalbahn
Der Werth
Hochwasser
Winterzeit
Die Flutwelle
Gletscherwelt
Ins Eis eingebrochen
Das Gewitter
Der Josephshof, ein kleines Universum
Die Ländereien
Vorbereitungen zur Traubenlese
Die Gutsgebäude
Die Tierhaltung
Nutztiere mit und ohne Namen
Unsere Pferde
Der Weinkeller
Blumen aus dem Klostergarten
Frisches Tafelobst deutscher Herkunft
Süße Kirschen
Gesundes Obst?
Die alte Eibe
Die Obstkammer
Die technische Ausstattung
Brennholztransporte
Der Feuerlöscher
Wasser, Strom und Telefon
Die Hauswirtschaft auf dem Josephshof
Betriebliche Selbstversorgung
Kochen, Backen und Konservieren von Lebensmitteln
Die Gutsküche
Ausflugsgäste
Über Brotbacken und Hinkel
Maikäfer
Ein Waschtag 1932
Wenn Windeln winken
Unsere Mutter Agathe
Agathe und Alfons
Tante Anna
Tante Anna und die Hähnchen
Schiffe und Kinder steuert man von hinten!
Lore besucht Tante Anna
Tünns Kusstrauma
Tante Annas Veilchenstrauß
Reisen bildet
Tante Anna und der Bahnsteig
Tante Anna und die Pauschalbeichte
Tante Anna nimmt Abschied
Kindheit in der Vorkriegszeit – Wie der Glaube uns prägte
Erste Erinnerungen
Das Nachtgebet
Der kleine Lokführer
Das wundertätige Jesuskind
Auf dem Weg der Genesung
Die Sache mit dem Opferweizen
Hans soll Pastor werden
Dominus vobiscum!
Der Osterhase
Dä Pastor kemmt!
Kniend lernen wir Demut
Tanzkleider
Die Wallfahrt nach Klausen
Tünn in Seelennot
Sechs Eckstein für die Zigeunerin
Hier ist die Milch
Das Gelübde: Bettnässen oder Zölibat
Unsere Spiele auf dem Josephshof
Barfuß ist der beste Schuh
Der Heuspeicher
Das Feuerrohr
Wie Katzen auf dem Dach
Verkehrsgefährdung
Der Hausspeicher
Wie Kain und Abel
Reifenspiel, Steckenpferd und Dilldopp
Tomatenschlachten
Doppeltes Spiel: Der Anstifter wird zum Erpresser
Trauben zum Dessert
Hans gibt ein Konzert
Erste Schritte auf dem Akkordeon
Der erste Schultag
Religionsunterricht
Die Unkeuschheit
Der Gottesraub
Kunsterziehung
Prügelstrafen
Die Opferung meines Kaninchens
Wie sich die Zeiten ändern
Der Kreuzweg der Frösche
Atemnot
Der große Krieg und seine Vorboten
Das Mutterkreuz
Den Freitag essen wir nicht mit
Juden sind hier unerwünscht
Die Reichspogromnacht
Das Schicksal der Familie Levi
Der Textilhändler Hans Schwan und andere Schicksale
Die Fahndung betreffs Fischwilderei
Heilkräuter, Kartoffelkäfer und Kaninchenfelle
Die Orgelhelfer
Bomben
Die Hitlerjugend
Nationalsozialistische Erbschaftsträume
Tünn und der Krieg
Advent 1943 im Josephshof
Kriegsgefangene
Die blaue Division
Im Landdienst der Hitlerjugend
Landdienst-Ausleselager in Wittlich
Ausbildung zum Wehrbauern
Der Selbstmörder
Freizeitvergnügen
Volkstänze
Kriegsfreiwillige
Tiefflieger
Rückzug
Dienst in der Kriegsküche
Die V2
Fahnenflucht
Vaters Lebensmotto rettet mich vor der Erschießung
1944/45 – Die Wirren der letzten Kriegstage
Im Kuhstall
Der Freundschaftsring
Der Schießbefehl
Vorbereitung auf die nahende Front: Der Volkssturm
Die Hinrichtung
Die Front kommt und unsere Kühe müssen leiden
Frau Dolly und die Möbel – Teil 1
Gefahr beim Fischen
Das Waffendepot
Zwischen den Linien
Frau Dolly und die Möbel – Teil 2
Da fuhr ein Jeep in den Hof …
Schutz durch das Fürstentum Liechtenstein
Tauschgeschäfte und Fährdienste
Erste Englisch-Übung
Herr Leschner
Was ist Friede? Der Neuanfang 1945
Hunger und Mist
Der Weidezaun
Lores Geheimrezept
Der Graf von Hattenstein
Die Sängerin
Das Trauerkleid
Forstausbildung in der Nachkriegszeit
Vaters Motorrad
Nächtliche Motorradfahrt mit Vater
Waldarbeiterlehrling im Forstrevier
Arbeitsunfälle bei der Waldarbeit
Der Nummernhammer
Im Kampf gegen Waldfrevler und Wilddiebe
Explosion im Arsenal
Die Pirsch im Mondenschein
Das Hochwasser 1947/48
Der Feuerstein
Mein Quartier während der Krankheitsvertretung
Der Reparationshieb
Dreister Betrug im Trierer Dom
Schmuggel an der Sauer
Die Währungsreform
Höflichkeit und das Gleichgewicht
Minen, eine mörderische Kriegshinterlassenschaft
Das Wunder
Unsere Goldfische
Der Ladenhüter
Schlusswort und Dank
Fotos aus dem Familienarchiv der Familie Volz
Fußnoten
Lieber Leser, herzlich willkommen in meiner Welt und danke für das Interesse daran, was es mit der „Spur der Milch“ auf sich hat!
Nun, die Milch hat mein frühes Leben geprägt. Sie war so etwas wie der Mittelpunkt meines kleinen Universums als Kind und als junger Erwachsener. Damals ist mir das nicht aufgefallen, es war für mich ganz normal, ich kannte es nicht anders. Erst jetzt, in der Rückschau, beim Schreiben und Ordnen der Geschichten wurde es deutlich: Die Milch zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Als Kind schon habe ich im Milchbetrieb mitgeholfen, die Milch in Kannen ausgetragen und Butter gemacht, unsere Kühe gefüttert, gemolken und gestriegelt. Die Milch gehörte zu meiner Ausbildung zum Wehrbauern. Sie hat mich ernährt, mir Arbeit gegeben, in schweren Zeiten vor Hunger und sogar vor einem Erschießungskommando bewahrt. Von diesen und andern Erlebnissen und Ereignissen erzählt dieses Buch. Begebenheiten, die sich wirklich ereignet haben. Dies ist alles so aufgeschrieben, wie ich es erlebt oder aus den Berichten und Erzählungen meiner Eltern und Geschwister übernommen habe. Es sind heitere, spannende, lehrreiche, tragische und auch ergreifende Begebenheiten darunter. Sie beschreiben Vergangenes, aber dies war einmal die Wirklichkeit.
Lebensbedingungen und Umstände haben sich seitdem sehr verändert, kaum noch etwas ist so geblieben, wie es damals war. Zwei große Kriege verursachten bei Freund und Feind in fast allen Familien bitteres Leid, entwurzelten viele Menschen, brachten sie um Freunde, Heimat, Gesundheit und Leben.
Keiner von uns kann sich die Zeit, den Ort und die Familie aussuchen, in der er das Licht der Welt erblickt. Ich hatte Glück und es dabei in mancher Hinsicht besser angetroffen als viele andere. Ich war gesund, kannte keinen Mangel, war in meiner Familie geborgen und habe diese Zeiten unbeschadet überstanden. Und heute weiß ich, dass die Milch daran maßgeblich Anteil hatte, ohne sie wäre mein Leben völlig anders verlaufen. Die Milch hat so in meinem Leben eine deutliche Spur hinterlassen, die „Spur der Milch“ …
Wir sind im Jahr 1929. Es war ein denkwürdiges Jahr. Thomas Mann erhielt den Nobelpreis für Literatur, das deutsche Luftschiff „Graf Zeppelin“ umrundete die Welt und der Schwarze Freitag erschütterte die New Yorker Börse. Das für mich wichtigste Ereignis aber war, dass ich zur Welt kam. In Berlin regierte Reichskanzler Hermann Müller und auf dem Josephshof mein Vater. Und hier beginnt die Spur der Milch.
Der Josephshof ist ein stattliches Weingut in Graach an der Mosel. Damals war es im Besitz des Reichsgrafen von Kesselstatt und mein Vater war dessen Verwalter. Daheim, das war für mich der Josephshof. Zuhause, das ist für Kinder da, wo sie mit ihren Eltern wohnen und zusammen sind. Ich war das fünfte von sechs Kindern, ich hatte eine Schwester und fünf Brüder. Außer unseren Eltern wirkten die Schule, die Kirche, die Nazis, die Hitlerjugend und das Jungvolk bei unserer Erziehung mit. Es waren unterschiedliche Weltanschauungen und Ansichten. Alle wollten unser Bestes. So wurde unsere Kindheit geprägt vom Leben auf dem Gutshof, von wilden Spielen und harter Arbeit, gottesfürchtigen Eltern, einem strengem Pastor und nationalsozialistischen Lehrern. Aber letztlich waren für uns das Vorbild der Eltern und das Miteinander in unserer Familie prägend. Und diese Werte überdauerten die Zeit.
Daheim, das war nicht nur die Familie. Teil unseres Zuhauses waren auch die Umgebung und die Landschaft, in der wir aufwuchsen. Das waren der Gutshof, das Heimatdorf im Talgrund und die Mosel.
Mein Vater stammte von einem Bauernhof in Dahenfeld bei Neckarsulm. Als das dritte von zwölf Geschwistern hatte er keine Aussichten, den väterlichen Hof zu übernehmen. Aber er wollte Landwirt werden, dazu fühlte er sich berufen. Zielstrebig erwarb er sich das nötige Wissen und Können und suchte sich seinen Weg als Gutsverwalter.
Mit der Anstellung als Verwalter auf dem Josephshof war er am Ziel seiner Träume: Hier konnte er sein Wissen und Können anwenden und das tat er auch. Er war erfüllt von der Verantwortung für den Betrieb und für seine Arbeiter. Stets kreisten seine Gedanken um den Josephshof, die anstehenden Aufgaben und darum, wen seiner Mitarbeiter er nun mit welchen Aufträgen betrauen sollte.
Geboren im Jahr 1889, kam mein Vater aus einer weit zurückliegenden Zeit: Er erzählte, dass in seiner Kindheit die Leute ihre Notdurft frühmorgens auf dem Misthaufen an der Dorfstraße verrichteten. Die Bäche waren damals so rein, dass man daraus trinken konnte. Als Kinder fingen sie dort Bachkrebse und Forellen. Es gab Wasser aus dem Dorfbrunnen und in einigen Häusern besaß man sogar einen eigenen Brunnen. Damit das Wasser nicht verunreinigt wurde, hatten die Bauern ihre Mist- und Jauchegruben sorgfältig mit gestampftem Lehm abgedichtet. Undichtigkeiten bemerkten die Leute sehr bald am Trinkwasser und schafften dann selbst Abhilfe.
Zu den Feldarbeiten spannten die Bauern ihre Pferde, Ochsen oder Kühe vor den Wagen, den Pflug oder die anderen Ackergeräte. Wenn beim Angelusläuten die Kirchenglocken zum Gebet aufriefen, hielten die Bauern ihre Ochsen und Pferde an, um zu beten und um den Tieren eine Verschnaufpause zu gewähren. Für so was habe man damals noch Zeit gehabt, erzählte mein Vater.
Als Kinder kletterten er und seine Spielkameraden auf Bäume, wilderten Krähennester und einmal sogar einen Eichhörnchenkobel aus. Das Eichhörnchen aber war zuhause, wehrte sich und biss Vaters Spielkamerad in den Finger. „Jesses, was hot der g’schriie“, erinnerte sich Vater noch 60 Jahre danach mit Grausen.
Vater berichtete auch von einem Onkel, der ihn und die Geschwister hin und wieder hütete. Manchmal habe dieser eine Bank unter der Stubendecke aufgehängt und seine Schützlinge draufgesetzt. Da mussten sie dann sitzen. Wer das nicht aushielt, der fiel herunter. Es sei manchmal arg gewesen, meinte mein Vater: „Dös hot ma frieher durft, heit därf ma dös nimmer!“
Nach der Volksschule arbeitete Vater zunächst bei einem Bauern. Das sei eine harte Zeit gewesen. Der Bauer löhnte nach einem Jahr mit zwanzig Goldmark. Vater war sehr enttäuscht, denn er hatte mehr erwartet.
Ab Neujahr 1907 bis Weihnachten 1908 besuchte er die Weinbauschule in Weinsberg. Die Schüler wohnten dort und ernährten sich mit dem, was sie im zugehörigen Betrieb erwirtschafteten. Theorie und Praxis waren unter einem Dach vereint. Zum Lehrstoff gehörten Wein-, Acker-, Garten- und Obstbau sowie Tierhaltung und Kellerwirtschaft. Meine Brüder Albert, Hans und Benjamin besuchten später ebenfalls diese Schule.
Um 5 Uhr in der Frühe begann die erste Unterrichtsstunde beim Schulleiter. Dieser eröffnete sie stets mit einem Gebet. Von 6 bis 7 Uhr gab es Frühstück, Bettenbau, Stuben- und Flurdienst. Die Schüler schliefen alle in einem Schlafsaal, als Matratzen lagen Strohsäcke in ihren Eisenbetten. Ab 7 Uhr mussten sie praktische Arbeit verrichten. Nur im Winter war von 7 bis 12 Uhr Unterricht. Mittagspause durften die Schüler immer von 12 bis 13 Uhr machen. Von 13 bis 17:30 Uhr mussten sie grundsätzlich - im Sommer und Winter - Arbeiten in Feld und Flur, in den Wein-, Obst- und Gemüsegärten, in den Viehställen mit Pferden, Kühen, Schweinen und Federvieh leisten.
Die Schüler wurden in allen Bereichen der Landwirtschaft eingesetzt. So lernten sie alles Notwendige und erwirtschafteten damit neben ihren Lebensunterhalt auch ihre Studiengebühren.
Um 18 Uhr gab es Abendessen und von 19 bis 22 Uhr mussten sie noch einmal in den Unterricht oder hatten Zeit zum Selbststudium im Lehrsaal. Auch an Samstagen wurde voll gearbeitet. Erst nach dem Abendbrot hatten die Schüler bis 22 Uhr frei. Sogar sonntags war Pflichtstudium vom Frühstück bis zum Mittag sowie vom Abendessen bis 22 Uhr. Vom Vormittagsstudium waren nur die Kirchgänger befreit. So wurde das Motto „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ gelebt und gelehrt.
Mit dem Eintritt ins Schulalter begann für uns der Ernst des Lebens, wir mussten arbeiten. Damals war es üblich, dass Kinder ab diesem Lebensalter auch Pflichten übernehmen mussten.
„Müßiggang ist aller Laster Anfang!“, sagte Vater oft und er bewahrte uns vor Müßiggang, wo immer er konnte. Schon im frühen Kindesalter hielt er uns zu allen möglichen Arbeiten an. Dabei hat er es deutlich übertrieben, mein ältester Bruder Albert hatte darunter besonders zu leiden. Ein Beispiel: Vater war dem Direktor des Bernkasteler Gymnasiums begegnet, an dem Albert Schüler war. Vater erkundigte sich nach den Leistungen seines Sohnes. Der Lehrer antwortete: „Ihr Albert ist intelligent, aber faul, faul, oberfaul!“ Als Vater am späten Abend nach Hause kam, war er außer sich vor Zorn. Obwohl es schon 22:00 Uhr war und alle im Bett waren, riss er Albert hinaus, prügelte auf den schlaftrunkenen Jungen ein und schrie ihn dabei an: „Woischt, wos der Lehrer g’sogt hot? Du seiest faul, faul, oberfaul!“
Erst Mutters Einschreiten erlöste Albert von seinen Qualen. Im Nachhinein beklagte Albert sich bei Mutter, dass seine schlechten schulischen Leistungen maßgeblich durch Vater verursacht seien. Denn Vater hindere ihn mit seinen ständigen Arbeitsaufträgen am Lernen. Dies war tatsächlich so, immer hatte er eine Arbeit für uns parat.
Als Kind habe ich diese Haltung und seine ständigen Aufträge gefürchtet. Immer wusste er, was ich „tun dürfe“ und wenn ich fertig sei, dürfe ich wieder zu ihm kommen. Wir versuchten deshalb, ihm aus dem Wege zu gehen, wo immer es ging. Nie aber hätte ich damals geahnt, dass mir diese Haltung später einmal das Leben retten würde.
Oft musste ich den Hof kehren. Es dauerte einen ganzen Nachmittag, bis er sauber gefegt war. Es lagen Pferdeäpfel, Strohhalme, Heu oder Grashalme, Hühner- und Gänsefedern, Hühnerkacke und Rebenzweige herum. Der Hof war vor dem Kuh- und Pferdestall mit runden Kieselsteinen gepflastert, sonst war er naturfest, das heißt, er war mit den rundum vorhandenen Erden und Schiefergesteinen aufgeschüttet und dann gewalzt und festgestampft worden. Die Flächen waren weder geteert noch sonst wie mit einer Deckschicht versehen. Wenn es trocken war, wirbelte beim Kehren grauer Schieferstaub auf. Wenn es damit zu arg war, besprengte ich den Hof mit Wasser.
Auch Botengänge gehörten zu meinen Aufgaben. Ab meinem zehnten Lebensjahr trug ich die Milchrechnungen in Graach aus und kassierte das Geld in Deutscher Reichsmark. Ich war jeden Monat zwei bis drei Nachmittage unterwegs. Damals sorgte die staatliche Preisüberwachung dafür, dass die Preise stabil blieben. Wir lieferten ab Hof an die Kunden, eine Molkerei stand nicht dazwischen. Das Geld gab ich meinem Vater, der anschließend die Beträge kontrollierte. Ich musste dabeistehen und durfte keinen Mucks machen. Wenn ich unruhig wurde, dann schimpfte er mit mir und begann, von vorne zu rechnen. Einmal hatte ich einen Hunderter zu viel. Mein Gott, wie regte sich Vater auf. Das war damals immerhin das Entgelt für etwa 200 Arbeitsstunden. Er wollte wissen, von wem der Hunderter sei. Ich wusste es nicht. Bei der nächsten Kassierrunde, einen Monat später, musste ich alle Kunden fragen, ob bei der letzten Abrechnung alles seine Richtigkeit gehabt habe. Aber niemand vermisste einen Hunderter.
Weitere Botengänge bestanden darin, Sonderlieferungen von Milch zu Kunden zu bringen, die außer der Reihe ab und zu mal Milch bestellten. Im Winter 1940/41 trug ich eine Kanne Milch nach Wehlen. Anschließend kaufte ich im Kolonialwarengeschäft eine Schiefertafel für die Schule und begab mich auf den Heimweg. Auf der Brücke wehte ein eiskalter Wind und durchdrang meine Kleider bis auf die Haut. Ich fror erbärmlich. Wegen der Kälte musste ich weinen. Meine Tränen tropften von den Wangen und fielen mit einem Klicken auf die Schiefertafel. Sie waren zu Eisperlen gefroren. Da lief ich schnell nach Hause, denn erfrieren wollte ich nicht.
Jeden Morgen vor Kirchgang und Schulbeginn half ich meinem Vater in der Milchkammer. Dort füllten wir die Milchkannen unserer Kunden in Graach und in Bernkastel. Die Milch, die übrig blieb, drehte ich durch die Zentrifuge. Der Rahm wurde zu Butter verarbeitet. Dazu kam er in das Rump-Fass aus Steingut, das etwa acht Liter Rahm aufnehmen konnte. Dort wurde er mit einem Stampfer solange gestoßen, bis Butter entstand. Dabei gab es oft müde Arme und die Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Wenn gewittriges Wetter war, gerann die Butter nicht so schnell. Das „Rumpen“, wie wir diese Arbeit nannten, dauerte von einer halben bis zu einer Stunde pro Ladung.
Meine Schwester Lore bekam einmal ein kostbares Seifenstück geschenkt. Dieses wollte sie nur für sich verwenden. Sie versteckte daher die Seife im Rump-Fass und vergaß das Versteck. Als ich das nächste Mal mit dem Butterfass zugange war, wunderte ich mich allerdings, dass die Sahne schäumte. Als Lore die fertige Butter aus dem Gefäß nahm und die Butter von der Buttermilch trennte, kam der Rest der Seife zum Vorschein. Die Seife war kleiner geworden. Lore redete nicht darüber. Sie setzte die Seifenbutter den Kostgängern vor. Keiner machte eine Bemerkung in Richtung „schmeckt nach Seife“ oder so etwas ähnliches. Lore erzählte mir diese Geschichte erst in ihrem 80sten Lebensjahr.
Damit wir Kinder bei den Arbeiten in Feld und in den Wingerten, den steilen Weinbergen, helfen konnten, richteten sich die Schulferien nach den Arbeitsspitzen. Wir mussten beispielsweise Reben raffen. Damals sammelten wir den Rebschnitt ein, bündelten ihn zu Schanzen und hoben diese auf dem Rebenspeicher auf, bis sie zum Heizen des Baakhes (Backofen) benutzt wurden. Im Sommer jäteten wir in den Weinbergen Unkraut: Gemeines Kreuzkraut, Schwarzer Nachtschatten, Brennnesseln, Taubnesseln und auch Tomaten wuchsen zwischen den Weinstöcken. Wir zogen das Kraut mit unseren Händen heraus, schüttelten die Erde von den Wurzeln und legten das Kraut mitten in die Zeilen, mit den Wurzeln nach oben, ab. Alle diese Arbeiten wurden mit krummem Rücken verrichtet. Die Sonne sorgte für Wärme. Wir benutzten keine Handschuhe, die Hände waren nach der Saison schwarz von den Pflanzensäften und unsere Rücken taten weh.
Im Bibelunterricht erfuhren wir, dass die Mühsal der Arbeit ihre Ursache in einem Fluch Gottes habe, in dem es heißt: „ … im Schweiße Deines Angesichtes sollst Du Dein Brot essen … “ (Gen. 3, 17-24). Das Bibelwort wurde uns so zur praktischen Erfahrung. Die Hoffnung, dass der liebe Gott seine Meinung ändern und den Fluch zurücknehmen könnte, schätzten wir aufgrund unserer Beobachtungen und der Äußerungen des Pastors als gering ein. Zum Glück gab es aber auch Zeiten, in denen wir nicht gefordert wurden. Dann konnten wir uns beim Spielen austoben.
Ab 1909 arbeitete Vater auf dem Ernsteiner Hof bei Möckmühle. Der Hof gehörte der Zuckerfabrik Waghäusel, die später einmal die Südzucker AG sein würde. Damals war mein Vater gerade 20, sein Lohn reichte anfangs nicht einmal für Kost und Logis.
Regelmäßig ging er zu seinem Chef, um über die anstehenden Arbeiten zu sprechen. Dort öffnete ihm oft ein zwölfjähriges Mädchen die Gartentüre; sie sollte einmal unsere Mutter werden. So lernten die beiden sich über einen Zeitraum von fünf Jahren kennen und schätzen. 1914 wurde mein Vater als Soldat eingezogen und musste in den Ersten Weltkrieg. 1916 hielt er, wie es damals üblich war, bei Agathes Pflegeeltern um ihre Hand an. Aber erst nach dem Krieg, im Jahre 1919, heirateten die beiden.
Am 1. Januar 1922 begannen sie, auf dem Josephshof zu arbeiten: er als Verwalter, sie als Hauswirtschafterin. Der Anfang war schwer. Schon bei der ersten Einweisung mit den Arbeitern kam es zum Eklat, als die Tagelöhner mit ihm über die Arbeitseinsätze diskutieren wollten. Vater sprach Schwäbisch, aber kein Hochdeutsch. Für ihn war das Moselfränkisch der Arbeiter fremd. Und die Arbeiter konnten oder wollten seine auf schwäbisch gegebenen Anweisungen nicht verstehen. Sie wollten dem „Neuen“ sagen, was er zu tun habe. Sie meinten es gut, aber es gab Missverständnisse und auch Meinungsverschiedenheiten. Vater klärte das Verhältnis zu den Arbeitern, indem er allen kündigte und dann die Arbeiter seiner Wahl zu neuen Bedingungen einstellte.
Graach ist ein Winzerdorf an der Mosel. Hier wuchsen wir auf. In dieser Landschaft erlebten wir Kindheit und Jugend, sie ist Schauplatz der folgenden Begebenheiten. Graach hatte damals etwa 1.200 Einwohner. Heute, 2013, sind es nur noch 700. Das Dorf gehörte früher zum Kreis Bernkastel, heute zum Landkreis Wittlich. Der nächstgelegene, größere Ort Bernkastel-Kues liegt etwa 3km entfernt. Bernkastel-Kues ist ein durch die Mosel getrennter Doppelort: Bernkastel liegt auf rechten Moselseite und Kues auf der linken, eine Brücke verbindet die beiden Ortsteile.
Etwa 200 Meter nordwestlich von Graach liegt der Josephshof. Er war damals ein stattliches Weingut und ist auch heute noch eine Sehenswürdigkeit. Der Gutshof und Graach liegen idyllisch im Talgrund. Hinter den Häusern ragen die Weinberge mit ihren steilen Hanglagen in die Höhe. Die Graacher Weine haben Liebhaber in aller Welt. Lagenamen wie „Himmelreich“, „Domprobst“ und „Abtsberg“ zeugen heute noch von der frommen Gesinnung der mittelalterlichen Namensgeber. Über den Weinhängen lädt die „Graacher Schäferei“ zum Verweilen und Wandern ein.
Nur 100 Meter vor dem Josephshof, vor unserer damaligen Haustüre, fließt die Mosel vorbei. Von Bernkastel-Kues kommend, schlängelt sie sich an Wehlen und Zeltingen entlang, wo sie hinter dem benachbarten Klostergut Machern den Blicken entschwindet. Sie ist hier bei normalem Wasserstand 150 bis 160 Meter breit, ein gewaltiger Fluss. Bei Eisgang und Hochwasser wird sie zum Naturereignis.
Wir hatten zu jeder Tages- und Nachtzeit Zutritt zur Mosel. Wir brauchten niemals Eintrittsgeld zu zahlen, dafür gab aber auch kein Bademeister auf uns acht. Trotzdem ist niemand von uns ertrunken. Einige Menschen aus anderen Moseldörfern hatten da weniger Glück. Wir hatten das ganze Wasser für uns allein. Weder Schnellboote noch Wasserskiläufer gefährdeten uns. Auch die Lastkähne und großen Schubeinheiten, die heute auf der Mosel fahren, kannten wir damals noch nicht.
Die Mosel war zu meiner Kindheit noch nicht kanalisiert, keine Staustufe regulierte ihre Strömung. Es gab tiefe Zonen, in denen das Wasser ruhig und langsam floss. In den flachen Abschnitten war die Strömung schneller und schoss mit flinkem Wellenschlag dahin. Lachse, Aale und andere Fischarten wanderten zu ihren Laichplätzen.
Die Mosel hat unser Leben und unsere Erinnerungen geprägt. Viele unserer Erlebnisse knüpfen sich an diesen großen Fluss, der damals noch ungezähmt und manchmal wild, vor allem aber unbelastet und sauber war.
Die Mosel war von alters her eine wichtige Verkehrsader. Schon die Römer transportierten auf diesem Weg Wein und andere Frachten. So fand der Moselwein damals schon den Weg zu seinen Kunden. Die Schifffahrt war mühsam und gefährlich. Flussauf mussten Pferde und Ochsen die Schiffe vom Ufer aus an langen Leinen gegen die Strömung ziehen. Dabei gingen die Tiere und die Fuhrleute über den heute noch am linken Ufer vorhandenen Weg. In Erinnerung an die Zugleinen wird er heute noch „Leinpfad“ genannt. Die Fuhrleute blieben als „Halfen“ im Gedächtnis der Nachwelt. Flussabwärts ging es dagegen zügig und die Schiffsführer mussten darauf achten, nicht in Untiefen zu geraten. Später übernahmen Dampf- und Motorschiffe die Transporte. Das „Treideln“, so nannte man das Gewerbe der Halfen, war nicht mehr gefragt und ging ein. Doch der Leinpfad, einige Nikolaus-Kapellen und Raststätten zeugen heute noch von dieser Zunft.
Dann kam die Personenschifffahrt auf. Ich erinnere mich heute noch an die großen Raddampfer, welche die Ausflügler der Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) beförderten. Viele junge Menschen kamen auch in Paddelbooten vorbei, übernachteten in ihren Zelten im Uferbereich und setzten am folgenden Morgen ihre Reise auf dem Wasser fort.
Das Wasser der Mosel war klar. Man konnte die Fische und Steine im Flussbett sehen. Es lebten damals noch Muscheln, Krebse, Stichlinge, Hechte, Aale und viele andere Wassertiere in der Mosel. Sie bereicherten die Speisekarte in der für die Christen obligatorischen Fastenzeit und am Freitag, denn während dieser Tage galt der Verzehr von Fleisch als Sünde. Schilf und Weiden säumten die Ufer. Weit in den Fluss ragende Buhnen aus Schiefergestein beruhigten die Strömung in den Uferzonen. Dort saßen Fischer mit ihren Angeln, eins mit der Landschaft. In der Höhe der Graacher Kirchgasse, wo die Strömung am stärksten war, lag ein Aalkutter am Anker. Der Eigner des Kutters war Jäger und Fischer, er lebte von der Jagd und vom Fischfang. Das Moselwasser war bis Ende 1943 noch trinkbar, danach aber verschlechterte sich die Wasserqualität.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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