Die Spur der Principessa - Alessia Gazzola - E-Book

Die Spur der Principessa E-Book

Alessia Gazzola

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  • Herausgeber: carl's books
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Der neue Band der beliebten Krimi-Serie

Die angehende Rechtsmedizinerin Alice Allevi sitzt in der Klemme: Immer wieder hat sie davon geträumt, ihre zickige und karrieresüchtige Kollegin Ambra della Valle loszuwerden. Jetzt ist Ambra wirklich verschwunden, ohne jede Nachricht oder Spur. Kurz darauf fördern Baggerarbeiten ein Skelett zutage. Auf dem Schädel befindet sich eine Kinderkrone aus Plastik. Polizeiinspektor Calligaris beginnt mit den Ermittlungen und bittet Alice um Unterstützung. Bei dem Skelett handelt es sich um die Überreste von Viviana Montosi, einer begabten Archäologiestudentin, die seit 2006 vermisst wird. Alice beginnt sich näher mit Vivianas Leben zu beschäftigen. Als sie entdeckt, wer ihre beste Jugendfreundin war, kriegt sie es mit der Angst zu tun: Es war Ambra della Valle …

Mit unkonventionellen Methoden, Neugier und besonderem Einfühlungsvermögen gelingt es Alice erneut, den Fall zu lösen. Und das, obwohl sie nebenbei von ihrer neuen Mitbewohnerin auf Trab gehalten wird und immer noch mit Beziehungsproblemen zu kämpfen hat.

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Seitenzahl: 403

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem TitelLe ossa della principessa bei Longanesi in Mailand.

Die Zeilen aus Pablo Nerudas Gedicht »Das Lachen« stammen aus: Pablo Neruda, Das lyrische Werk, hrsg. von Karsten Garscha, © Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2014 by Longanesi & Co. S.p.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 bei carl’s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: semper smile, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-15303-8

Für Eloisa, kleines großes Licht in der Nacht.Gracias a la vida, que me ha dado tanto …

Dann fühle ich, Harry, daß ich meine ganze Seele an einen hingegeben habe, der sie behandelt, als ob sie eine Blume fürs Knopfloch wäre, eine kleine Dekoration, seiner Eitelkeit damit zu schmeicheln, ein Schmuck für einen Sommertag.

Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray

Überlege dir deine Wünsche gut – sie könnten wahr werden

Ambra Negri Della Valle ist verschwunden.

Und das ist kein Traum, sondern Wirklichkeit. Ich habe Gewissensbisse, weil ich mir genau das unzählige Male gewünscht habe. Wie in dem Film aus den Achtzigerjahren mit David Bowie: Ein Mädchen wünscht sich, endlich ihren quengeligen kleinen Bruder loszuwerden, auf den sie eifersüchtig ist, und dann wird er tatsächlich vom König der Kobolde entführt.

Ambra ist das größte Biest, das ich kenne. Ihr ist jedes Mittel recht, um die erste Geige zu spielen, und alle anderen dienen ihr nur dazu, sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Für sie läuft immer alles glatt, immer ist sie die Beste, die Nummer eins.

Spurlos zu verschwinden, passt eigentlich überhaupt nicht zu ihr, sie sorgt eher dafür, dass andere unsichtbar werden.

Niemand hat eine Ahnung, wo sie steckt: Sie ist abgetaucht, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Nicht einmal ihr Handy hat sie mitgenommen. Als man es in ihrer Wohnung fand, waren ungefähr hundert unbeantwortete Anrufe drauf.

Drei Jahre lang saßen meine Kollegin Lara, Ambra und ich am Institut im selben Büro – so etwas wie Ambras Schaltzentrale der Macht. Mitunter haben wir uns die Kopfhörer von unseren iPods in die Ohren gesteckt, damit wir ihr nicht zuhören mussten. Denn Ambra quatschte unaufhörlich. Und doch haben wir in diesem Raum, in dem jetzt eben nur noch Lara – meine Leidensgenossin – und ich sitzen, derzeit das Gefühl, als ob etwas fehle, und die Atmosphäre ist bedrückend. Wir konnten Ambra nicht leiden, aber ihr Verschwinden hat uns trotzdem betroffen gemacht, und oft sehen wir uns schweigend an. In unseren Blicken steht eine Angst, die sich auch auf den Fluren unseres Instituts für Gerichtsmedizin in Rom breitgemacht hat. Man denkt immer, dass bestimmte Dinge nur anderen passieren, und wenn man es dann selbst durchmacht, fühlt man sich von der Unberechenbarkeit des Lebens wie erschlagen.

Derzeit wagt hier kaum einer zu lächeln, von lachen ganz zu schweigen.

Unser Büroalltag ist nach Ambras Verschwinden einfach nicht mehr der gleiche.

Gerade beschäftige ich mich mit einem Fall, den man ihr zugeteilt hatte und der wegen ihres Verschwindens unbearbeitet geblieben ist. Die Papiere durchzublättern, die auch sie berührt hat, nach Lösungen zu suchen, die vielleicht auch ihr eingefallen wären, die Erinnerung an ihr Haar, das honigblond leuchtete, wenn Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen … alles macht mich sehr traurig. Vermutlich habe ich vor einem Monat noch davon geträumt, mich nie wieder mit ihr auseinandersetzen zu müssen.

Ich bin in meine düsteren Gedanken vertieft, als Claudio Conforti in unser Büro kommt. Er ist … wie soll man ihn mit einfachen Worten beschreiben? Beginnen wir mit dem Wesentlichen: sechsunddreißig Jahre alt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut mit vielversprechenden Karriereaussichten. Er ist ebenso attraktiv wie gemein. Außerdem ist er Ambras offizieller Ex. Der Grund für die Trennung ist mir allerdings bis heute nicht klar. Lange Zeit war Claudio mein ganz geheimer verbotener Traum. Dieser Traum hat sich vor knapp einem Jahr während eines Kongresses in Sizilien tragischerweise erfüllt, und seitdem ist es mit meiner inneren Ruhe vorbei.

Davor war unser Verhältnis so ähnlich wie das zwischen Herr und Dienerin. Er machte mich fertig, und ich dankte ihm noch dafür. Zugegeben, manche seiner verbalen Abreibungen hatte ich verdient. In meinen Augen ist das Institut schon immer so etwas wie ein Tempel der Demütigung gewesen. Doch ich muss sagen, dass ich das mit meiner Ungeschicklichkeit manchmal auch herausgefordert habe. Zum Beispiel, als ich an einem exhumierten Leichnam eine Autopsie vornehmen sollte und mich vor Ekel ins Bad flüchtete. Claudio holte mich höchstpersönlich dort ab und rief: »Du bist wirklich eine Schande für dieses Institut. Wenn das hier vorbei ist, kannst du deine Karriere begraben!« Oder noch schlimmer – einmal bat er mich, die Tasche mit seinem neuen Mac, auf den er sehr stolz war, in sein Büro zu tragen. Ich hatte den Gurt nicht richtig befestigt und der Mac fiel zu Boden. Er schimpfte wie ein Rohrspatz. Andrerseits – warum setzt er mich auch als Taschenträgerin ein!

Claudio wirkt erschöpft. Ambras Verschwinden hatte für ihn höchst unangenehme Folgen. Er war gezwungen mit den zuständigen Ermittlern zusammenzuarbeiten – das lag auf der Hand und war gleichzeitig reine Routine. Insbesondere mit dem einzigartigen Ispettore Roberto Calligaris, der sehr erstaunt darüber war, es mit Claudio zu tun zu haben. Mit Calligaris habe ich sozusagen inoffiziell – und ich weiß nicht genau, ob das überhaupt rechtens ist – gemeinsam in ein paar Fällen ermittelt. Ich mache Kay Scarpetta mittlerweile alle Ehre, finde ich.

Ich bin Rechtsmedizinerin, genau wie sie. Oder besser, Assistenzärztin, Rechtsmedizinerin in progress sozusagen, noch nicht eigenverantwortlich, aber mit dem Ehrgeiz, es zu werden. Ich bin im dritten Jahr meiner Ausbildung. Noch zwei weitere, und wenn ich die Dämpfer überlebe, die hier an der Tagesordnung sind, und meine eigene Ungeschicklichkeit mir kein Bein stellt, habe ich mein Ziel endlich erreicht.

Claudio wirft einen ganz kurzen Blick auf Ambras Schreibtisch – sehr melancholisch, so kommt es mir vor – und setzt sich auf ihren Stuhl. Durch das Fenster scheint die Sonne, und das helle Licht zeigt deutlich tiefe Spuren in seinem Gesicht, die die jüngsten Ereignisse hinterlassen haben.

»Gibt’s was Neues?«, erkundige ich mich und bereue es sofort.

»Wenn es Neuigkeiten gäbe, dann hättest du sie längst erfahren, Allevi«, gibt er zurück. Sein Ton ist schneidend und zugleich betrübt.

In der Zeit vor ihrem Verschwinden hatte sich Ambra von einer modischen Barbie in ein Auslaufmodell verwandelt, in eine ausrangierte Puppe, die aus der Spielkiste eines verwöhnten Mädchens herauslugt, das Haar schlecht geschnitten und am Leib die scheußlichen abgelegten Klamotten von anderen Barbies. Eine Puppe, die niemand mehr mag und mit der niemand mehr spielt. Ich habe den schrecklichen Verdacht, dass Claudio für diesen Abstieg aus dem Puppenhimmel verantwortlich war, und bin wirklich sehr froh, mich damals nicht weiter mit ihm eingelassen zu haben.

Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.

Jetzt hat das Dunkel Ambra verschluckt, das Böse ist in meinen Alltag eingedrungen, und ich habe das Gefühl, dass die Grundfesten eines ganz normalen Lebens erschüttert sind.

Ambra: Ihre letzten Stunden vor dem Tag X

Ambras Mutter ist sympathisch, auf jeden Fall sympathischer als ihre Tochter.

Lara und ich befinden uns im Wohnzimmer ihrer Wohnung in der Viale Romania. Es ist ein kleiner Raum mit Unmengen an Nippes, aber geschmackvoll. Ambra und ihre Mutter Isabella lebten zusammen.

»Warum hätte sie sich eine Mitbewohnerin suchen sollen, wo sie doch mich hat?«, hatte Isabella gemurmelt, als sie uns vorhin Ambras Zimmer zeigte. Es war sehr unpersönlich eingerichtet, das hat mich überrascht. Ein riesengroßes Bett mit einem lilafarbenen Überwurf. Weiße Vorhänge. Weiße Wände. Ein weißer Wandschrank. An einem Haken hinter der Tür ein elegantes Kleid, fertig zum Anziehen und Ausgehen. Ein antiker Frisiertisch wie aus einem Puppenhaus. Leer.

»Auch Ambras Schminkzeug ist verschwunden«, meinte die Mutter, als sie meinen fragenden Blick bemerkte.

Anfangs hatte ich mich geweigert, doch jetzt bin ich froh, dass ich der Bitte von Ispettore Calligaris gefolgt bin. Er hatte mich gestern Abend angerufen, ausgerechnet mitten im Film Eat, pray, love. Cordelia, meine Mitbewohnerin, und Ichi, mein kleiner Hund, waren empört gewesen.

»Weißt du, Alice, mir ist gerade durch den Kopf gegangen, dass du mir zu deiner Kollegin nicht viel Interessantes zu sagen hattest«, warf mir der Ispettore gutmütig vor. »Nach deiner Beschreibung ist sie eine ehrgeizige und nicht sehr sympathische junge Frau. Doch das kann unmöglich alles sein, was sie als Person ausmacht. Das bekommst du noch besser hin, da bin ich sicher. Besuche ihre Mutter, sag ihr meinetwegen, wie leid dir alles tut, und halte auf deine spezielle Art Augen und Ohren offen. Das führt hinterher immer zu guten Ergebnissen.«

»Aber, Ispettore …«

»Kein Aber. Das ist der Anfang, Alice. Wenn du mitmachst, stehen dir die Türen bei den Ermittlungen offen. Natürlich innerhalb bestimmter Grenzen«, fügte er einschränkend hinzu. Wie immer war er zwischen seinem Überschwang und den Regeln, an die er sich halten muss, hin- und hergerissen.

Für Calligaris ist unsere Bekanntschaft wie ein Talisman. Ich glaube, dass er mich mittlerweile zurate zieht, weil ich ihm Glück bringe. Dass ich in diesem Fall Ambra gut kenne, ist für ihn ein Zufall, den er bis aufs Letzte ausnutzen wird. Und deshalb befinden wir uns jetzt in dieser Wohnung. Lara hat mich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass uns Ambra, wenn sie davon wüsste, auf der Stelle hinauswerfen würde.

»Signora …«

»Nennt mich ruhig Isabella. Ich bin gar nicht so viel älter als ihr«, betont sie. Sie könnte wirklich Ambras ältere Schwester sein, bei der Geburt ihrer Tochter war sie bestimmt nicht viel älter als zwanzig. Oder sie hatte einen Schönheitschirurgen, um den sie selbst Hollywoodstars beneiden würden.

Isabella nimmt auf einer Chaiselongue Platz. Das Licht einer verschnörkelten Lampe fällt auf ihr Gesicht, sie sieht wirklich fast so aus wie meine Kollegin.

»Wir sind sicher, dass Ambra bald wieder zurückkommt«, sagt Lara, sie wirkt erschüttert. Ihre Stimme zittert sogar leicht.

Isabella runzelt die Stirn, als traute sie ihren Ohren nicht, derart mitfühlende Worte in Bezug auf ihre Tochter zu hören.

»Wie lieb von euch, ihr beiden. Man sieht, dass euch etwas an Ambra liegt. Auf den ersten Blick wirkt sie unzugänglich. Aber sie hat ein großes, großes Herz«, fügt sie hinzu und fährt mit der Hand an ihre Brust. »Sie hat nicht viele Freunde, unzählige Bekannte, aber wenige Leute, die sie wirklich mag. Ich bin froh, dass es Menschen gibt, denen es zu Herzen geht, dass man nicht weiß … was aus ihr geworden ist«, beschließt sie ihren Satz. Sie unterdrückt ein Schluchzen und wendet sich von uns ab. Sie trägt einen Trainingsanzug aus Chenille, hat wie ihre Tochter langes Haar, genau im gleichen Farbton und frisch gefärbt, und eine schlanke, durchtrainierte Figur – auf dem Weg ins Bad habe ich in ihrem Schlafzimmer ein Laufband bemerkt.

Noch ein unterdrückter Schluchzer, vielleicht sollten wir uns besser auf den Weg machen.

»Möchtet ihr einen Tee? Ich habe gerade welchen aufgebrüht.«

Noch bevor wir antworten können, ist sie schon aufgesprungen und kehrt mit zwei Tassen aus der Küche zurück, die sie uns höflich reicht.

Der Tee schmeckt gut, wenn auch ein wenig bitter, aber sie bietet uns keinen Zucker an. Ich höre ihr zu, während sie von ihrer Tochter erzählt, und versuche meine Tasse vor mir auf dem Couchtisch abzustellen. Aber natürlich – wirklich typisch, das kann nur mir passieren – fällt sie mir auf den Boden aus Mamorgranulat, wie man es oft in älteren Wohnungen findet. Wenigstens ist die Tasse nicht zerbrochen, sondern nur angeschlagen.

»Wie konnte das nur passieren«, murmele ich.

»Mach dir keine Gedanken, Alice … Ambra hat mir von dir erzählt. Das hier ist nicht das gute Geschirr«, erwidert Isabella mit einem unaufrichtigen Lächeln. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie vielleicht heftiger reagiert. Jetzt wechselt sie sofort das Thema und kehrt zu Ambra zurück.

»Darf ich euch nach den letzten Tagen fragen … vor ihrem Verschwinden?«, erkundigt sie sich, für uns überraschend. »Für mich zählt jedes Detail. Ist euch etwas aufgefallen?«

Die Wimperntusche ist durch ihre Tränen etwas verwischt und liegt wie ein Schatten unter den hellen Augen. Aber ihr Blick hängt hoffnungsvoll an unseren Lippen.

»In der letzten Zeit war Ambra niedergeschlagen«, beginnt Lara.

»Vielleicht hatte sie Liebeskummer«, ergänze ich. In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, wie es ihr in den letzten Tagen vor dem Verschwinden ging: Ich war nämlich in Japan.

»Ich weiß. Mir kam es so vor, als hätte sie sich wieder in einen Teenager verwandelt.«

»Kurz bevor sie verschwand, wirkte sie aber wieder fröhlicher«, fährt Lara fort.

»Doch, das stimmt«, bestätigt Isabella. »Sie lächelte wieder mehr, und sie hatte einen Tangokurs angefangen, der ihr viel Spaß machte.«

»Tango … genau, auf ihrer Startseite war ein Foto von zwei Tänzern«, fügt Lara hinzu.

Isabella kräuselt leicht die Lippen. »Ambra, wo steckst du nur?«, murmelt sie. »Wie kann man einfach so spurlos verschwinden? Sie hat ihr Handy hier zu Hause gelassen, als sie ging. Ambra nahm es sogar mit auf die Toilette, es ist ausgeschlossen, dass sie es einfach vergessen hat. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele unbeantwortete Anrufe drauf waren, als ich es entdeckte. Jetzt hat es die Polizei, aber das Ganze bleibt rätselhaft.« Isabella atmet tief durch und fährt dann fort: »An jenem letzten Tag hat sie mir gesagt, sie wolle ins Institut, ganz wie immer. Ich solle nicht mit dem Mittagessen auf sie warten, sie müsse erst noch eine Arbeit zu Ende bringen. Ich habe ihr das Frühstück hingestellt, ihren Lieblingskaffee, Müsli und einen Apfel. Meine Ambra achtet sehr auf ihre Gesundheit. Sie erschien mir zittrig, als ob sie aufgeregt wäre. Ich fragte sie, was los sei, und sie antwortete, sie würde an einem komplizierten Fall arbeiten. Das war glaubwürdig, denn Ambra war von ihrer Arbeit oft sehr mitgenommen. Sie war ihr sehr wichtig.«

»Im Institut ist sie nicht erschienen«, sagt Lara düster. »Sie hat angerufen und mitgeteilt, dass sie sich einige Tage freinehmen würde.«

»Sie hat auch mit Marta, ihrer besten Freundin, gesprochen. Die Arme hat der Polizei erzählt, dass Ambra sie auf ihrem Handy angerufen hat, aber von einer anonymen Nummer aus. Und Ambras Worte kamen ihr äußerst rätselhaft vor.«

Bisher nichts Neues, wovon ich Calligaris berichten könnte.

Das Telefongespräch zwischen Ambra und Marta kenne ich mittlerweile auswendig.

Was Ambra da sagt, erschien der Freundin völlig durchgedreht.

Der Augenblick ist gekommen, jetzt ist mir alles viel klarer.

Was meinst du damit, Ambra?

Versuch mich zu verstehen, Marta.

Calligaris hat sich bei Marta erkundigt, in welchem Tonfall Ambra gesprochen hat. Die meinte, aufgeregt habe sie nicht geklungen, im Gegenteil, eher gelassen.

Aus Ambras Schrank fehlen einige Kleidungsstücke, doch die Mutter kann nicht ausschließen, dass sie die vielleicht irgendwann weggegeben oder entsorgt hat. Es sind ohnehin nicht die Kleider, die sie normalerweise getragen hat, sondern alte Klamotten, die Ambra seit ewigen Zeiten nicht mehr anzog. Doch einer Mutter entgeht nichts. Ansonsten fehlen weder Handtaschen noch persönliche Gegenstände – mit Ausnahme der Schminksachen. Der Schmuck ist an seinem Platz, ebenso ihre teuren Körpercremes, ihr Nagellack, die Zahnbürste, ihr Parfüm – Magnolia Nobile di Acqua di Parma –, ihr geliebter regenfester roter Trench.

Vor dem Verlassen der Wohnung verabschiedete Ambra sich von ihrer Mutter. Wusste sie da bereits, dass das Institut sie über ihre Abwesenheit benachrichtigen würde? Oder ist auf dem Weg dorthin etwas passiert, das sie veranlasste, ihre Freundin Marta anzurufen? Aber wenn sie die Möglichkeit zum Telefonieren hatte, warum informierte sie nicht ihre Mutter?

Vielleicht erhoffte sich Calligaris, dass ich die Antworten auf all diese Fragen herausfinden würde. Doch als ich später nach Hause zu Cordelia zurückkehre, bin ich genauso schlau wie am Abend zuvor.

Sprich mit uns, Alice, zeig uns die Geheimnisse

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Cordelia widmet sich mittlerweile wieder voll und ganz der Schauspielerei. Davor hatte sie als Verkäuferin bei Vuitton gearbeitet, wollte aber eigentlich immer auf die Bühne. Doch ihre Versuche waren dermaßen niederschmetternd gewesen, dass sie am Ende aufgab. Auch ihr Liebesleben war eine ziemliche Katastrophe.

Mittlerweile hat sie Lars verlassen. Diese Affäre mit einem verlogenen, verheirateten Norweger, Vater von Zwillingen, war am Ende doch nicht ihr Lebensinhalt, ebenso wenig wie Japanern oder den Freundinnen von Fußballern und Promis Köfferchen mit Monogrammen zu verkaufen.

Jetzt ist sie Single, verbringt am Tag fünfzehn Stunden und mehr mit Proben für Die Katze auf dem heißen Blechdach – sie spielt die Rolle der Mae –, und ihre Stimmung hängt von der Wirkung ihres Antidepressivums ab. Sie ist in der Tat leicht depressiv veranlagt, behauptet aber, dass am Ende nicht die Medizin, sondern die Gesellschaft von Ichi, meinem Hündchen, sie heilen würde. Für Ichi ist sie die große und einzige Liebe, aber nicht ganz uneigennützig – er schließt in sein Herz, wer ihm das meiste Futter gibt.

Wegen Ichi folgt Cordelia dem manischen Anteil ihrer bipolaren Störung und ist mittlerweile zu einer engagierten Tierliebhaberin geworden. Jeden Sonntag arbeitet sie ehrenamtlich in einem Tierheim und hat das Nerzjäckchen, das ihr Vater ihr geschenkt hat – mein Boss, auch der Allerhöchste genannt –, irgendwohin weggegeben, wohin, weiß ich nicht mehr. Außerdem entwickelt sie sich zur Vegetarierin und folgt damit ihrem Bruder, der schon lange so lebt.

Cordelias Bruder heißt Arthur.

Er ist halb Südafrikaner, halb Engländer.

Bis vor knapp zwei Jahren studierte und arbeitete er in Italien. Dann ist er nach Paris umgezogen und hat verkündet, er würde nie wieder hierher zurückkehren.

Noch niemals in meinem Leben habe ich einen Mann so sehr geliebt.

»Gibt’s Neuigkeiten, was deine Kollegin angeht?«, erkundigt sich Cordelia. Sie hat sich Ambras Schicksal zu Herzen genommen. In ihrer Erinnerung ist Ambra zwar die größte Arschkriecherin der Weltgeschichte, doch sie weiß, dass die ganze Geschichte ihrem Vater sehr nahegeht, und empfindet deshalb Mitgefühl.

»Nein, Cordy, nichts.«

»Was für eine scheußliche Sache, Alice.« Irgendwann in diesen Tagen werde ich ihr dafür den Hals umdrehen, dass sie sich angewöhnt hat, meinen Namen englisch auszusprechen, ganz wie ihr Bruder in lang verflossenen, glücklichen Zeiten.

»Mein Vater hat Angst, dass ihn früher oder später die Nachricht erreicht, man habe ihren Leichnam gefunden.«

»Davor haben wir alle Angst. Ich glaube, das liegt auch an unserem Beruf.«

»Ich hoffe, dass sie wieder auftaucht, à la: Hier bin ich, habt ihr euch etwa Sorgen um mich gemacht? Und dass ihr nichts zugestoßen ist«, fügt sie hinzu. Unterdessen bereitet sie die Wii-Konsole für ihre Yogalektion vor dem Fernseher vor.

Das habe ich ganz vergessen zu erwähnen – sie beschäftigt sich mit fernöstlicher Philosophie, liest Osho und erzählt mir unaufhörlich Dinge über Buddhismus und Meditation. Selbstverständlich praktiziert sie alles auf ihre eigene Art, zum Beispiel Yoga mithilfe eines Nintendo und Shiva Rea via Sky und nicht in einem Yogazentrum.

Ich glaube nicht, dass die Dinge so ausgehen werden, wie Cordelia sich das vorstellt. Ambra hat sich vor einem Monat buchstäblich in Luft aufgelöst, und ihr Verschwinden ist ungewöhnlich und rätselhaft.

Die Prinzessin aus dem Reich der Rechtsmedizin hatte weder erklärte Feinde noch bedenkliche Lebensgewohnheiten. Mir ist klar geworden, dass sie ein viel einfacherer Charakter ist, als es nach außen hin schien. Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie fünf Jahre alt war, und seitdem lebte sie bei ihrer Mutter, zu der sie ein herzliches und freundschaftliches Verhältnis hatte. Ihr Vater ist sehr wohlhabend und spielt in ihrem Leben kaum eine Rolle. Seit ihrer Kindheit ist er beruflich viel unterwegs. Ambra ist Einzelkind. Sie hat eine sehr enge Freundin, Marta, die aber vieles über sie nicht weiß.

Und sie hat einen treulosen Exfreund, Claudio, der sich zwar über den Grund der Trennung ausschweigt, für mich aber über jeden Verdacht erhaben ist. Ich weigere mich zu glauben, dass Claudio direkt oder indirekt etwas mit Ambras Verschwinden zu tun hat. Natürlich blieb Calligaris nichts anderes übrig, als seinen Job zu machen und ihn zu vernehmen. Die Trennung der beiden liegt bereits viele Monate zurück, und die Beziehung zwischen ihnen blieb seither auf Berufliches beschränkt und war außerdem kühl und distanziert – mehr war da nicht. Sie hätten sich einfach nicht gut verstanden, hätten unterschiedliche Lebensgewohnheiten und vor allem unterschiedliche Erwartungen an ihre Beziehung gehabt, hat Claudio Ispettore Calligaris gegenüber erklärt. Ambra träumte von einer Verlobung im amerikanischen Stil. Claudio träumt von einem Leben ohne Verpflichtungen und lehnt die Ehe ab. Er ist untreu, hinterlistig und ein bisschen kleinkariert. Theoretisch waren sie von ihrem Äußeren und ihrem Charakter her wunderbar kompatibel, doch in der Praxis nicht.

Fest steht, dass Claudio ziemlich fertig ist. Das Verschwinden seiner Ex ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er hat dabei wohl entdeckt, dass er so etwas wie ein Herz besitzt. Wie das von Grinch hat auch seines nur etwa ein Drittel der Größe des Organs eines Normalsterblichen. Aber selbst mit diesem Miniorgan leidet er.

Abends treffen wir uns hin und wieder. Oft geht es dann irgendwann um Ambra. In seiner Stimme schwingt ein bislang nie gekanntes Schuldgefühl mit, wenn er über Fehler spricht, die er vielleicht bei ihr gemacht hat.

Dann wechselt er abrupt das Thema und lässt sich über die Zubereitung des Fischs aus oder über Wally, die Nachfolgerin des Allerhöchsten, diese böse Zwergin, die den Thron besteigen wird, sobald der Allerhöchste in Pension geht – und bis dahin ist es nicht mehr lang. Das bereitet Claudio aber kaum Kopfzerbrechen, denn er ist ihr Liebling, und wenn Wally überhaupt jemanden respektiert, dann ihn. Ihre Thronbesteigung könnte für Claudio den offiziellen Ritterschlag bedeuten, und das sagt ihm natürlich sehr zu.

Der König ist tot, es lebe der König.

Never mind, I’ll find someone like you

Im Institut tue ich so, als würde ich einem Studenten zuhören, der vor seiner Prüfung noch einmal einige rechtsmedizinische Themen durchgeht. Ich denke an alles, nur nicht an Schusswaffenverletzungen, deren Besonderheiten dieser junge Hoffnungsträger herunterbetet wie ein dressierter Papagei.

Wally gefällt die Vorstellung, ein fortschrittliches Institut mit angenehmer Arbeitsatmosphäre zu leiten, in der Studenten ihr Bestes geben können. Selbstverständlich kümmert sie sich nicht darum, ihre Vision in die Realität umzusetzen, diese Aufgabe fällt Assistenzärzten zu. Mir zum Beispiel.

Dieser dreiundzwanzigjährige Typ mit einem Haarschnitt à la Ivan Drago in Rocky IV muss in zwei, drei Stunden zur Prüfung antreten, und meiner Ansicht nach ist er perfekt vorbereitet. Er ist sichtlich aufgeregt, unter seinen Achselhöhlen breiten sich dunkle Flecken aus.

»Hören Sie mir zu, Dottoressa?«

»Na klar«, antworte ich prompt. In Wahrheit habe ich gerade an die blauen Wildlederstiefel gedacht, die fast so aussehen wie die von Valentino. Ich habe sie gestern Abend entdeckt, aber nicht gekauft, weil sie mir zu teuer erschienen und ich mir vorgenommen habe, etwas sparsamer mit meinem Geld umzugehen. Doch heute Morgen habe ich es mir anders überlegt und beschlossen, sie auf jeden Fall noch heute zu erstehen – bevor sie mir jemand anderes vor der Nase wegschnappt.

»War meine Definition richtig? Denn dieses Thema ist schwierig, wissen Sie …«

»Nur keine Angst, du bist super!«, erwidere ich fröhlich. Mich Strapazen wie dieser zu unterziehen, wird in neuen Stiefeln sicher erträglicher sein. Auf seinem erschrockenen Gesicht mit den Schafsaugen breitet sich ein Lächeln aus.

»Mir ist das sehr wichtig. Nach der Prüfung würde ich hier gerne mein Praktisches Jahr absolvieren. Ich möchte Rechtsmediziner werden.«

Ich nicke mitfühlend und enthalte mich eines Kommentars à la Denke noch mal drüber nach, solange Zeit ist.

Ich gebe ihm einen ermunternden Klaps auf die Schulter und wünsche ihm viel Glück.

* * *

»Aber was erzählen Sie da? Sie haben ja überhaupt nichts begriffen!«

Mit ihrer Krächzstimme fährt Wally meinen Unglücksraben von Studenten an. Er macht einen völlig überrumpelten Eindruck, ist aber weniger eingeschüchtert, als es auf den ersten Blick scheint, denn er erwidert in verbindlichem, aber festem Ton: »Professoressa, entschuldigen Sie, aber das ist ungerecht. Ich bin dieses Thema noch heute Morgen mit einer Assistenzärztin durchgegangen. Und sie hat mich nicht korrigiert.« Ich spüre, wie ich innerlich kleiner werde, und möchte am liebsten in den Erdboden versinken.

Wally zieht ihre Augenbrauen zusammen. »Sie waren hier am Institut?«

»Ja, Professoressa. Ich bin viele Themen mit der Dottoressa durchgegangen, die dort steht.«

Und er zeigt mit dem Finger unmissverständlich auf mich. Ich bin eigentlich nur kurz vorbeigekommen, weil ich neugierig auf seine Prüfung war. In der Tat hat er gerade etwas Unmögliches von sich gegeben, und Wally lässt keine Ausrutscher bei Themen zu, die für sie zum Basiswissen gehören.

Die Augen der Großen Kröte schweifen in meine Richtung, und sie sieht mich an, als wollte sie sagen: Wusste ich es doch.

»Allevi, stimmt das?«

Ich nicke schüchtern, während Ivan Drago versucht, die Lage zu seinem Vorteil zu nutzen und doch noch passabel durch die Prüfung zu kommen.

Er soll bloß wagen, sich hier auf eine Stelle zu bewerben.

Ich werde ihm das Leben zur Hölle machen, so wahr ich Alice Allevi heiße.

Und das geht ganz einfach: Ich muss mich nur daran erinnern, wie ich hier mein Praktisches Jahr absolviert habe und der smarte Claudio Conforti, damals in der Facharztausbildung, an mir seine subtilen Mobbingstrategien erprobt hat.

* * *

Von Wally kommen die üblichen Schmähreden: Auf die kann man sich wie üblich nicht verlassen!

An Stiefelkauf ist nicht mehr zu denken, meine Laune ist auf dem Tiefpunkt.

Niedergeschlagen gehe ich nach Hause, dann hebt eine unerwartete SMS ganz kurz meine Stimmung:

Too bad you weren’t there with us, you would have laughed a lot!

I missed you. See you tonight.

Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass diese Nachricht gar nicht für mich bestimmt ist. Denn jegliche Kommunikation zwischen Arthur und mir war bisher immer auf Italienisch.

Er hat sie an eine andere gesandt, nicht an mich.

Eine, die sich amüsiert hätte, wenn sie bei irgendeinem Anlass dabei gewesen wäre. Eine, mit der er sich heute Abend trifft. Eine, die ihm gefehlt hat.

Mir wird plötzlich übel. Genau so muss es Alessandra während ihrer Schwangerschaft ergangen sein. Auch sie hat sich immer über ganz plötzlich auftretende Übelkeitsattacken beklagt.

Ich umklammere mein Handy und kann nicht anders, ich bleibe mitten auf dem Gehsteig stehen. Die anderen Fußgänger weichen mir verdrossen aus.

Vielleicht kommt alles daher, dass Wally mich heute wie in alten Zeiten fertiggemacht hat. Vielleicht, weil ich nicht mehr in der Stimmung bin, shoppen zu gehen. Vielleicht, weil ich ihn nicht vergessen habe und es mir unendlich wehtut, dass er sich mit einer anderen amüsiert.

In meinen Augen stehen Tränen, und als ich merke, dass mein Handy vibriert und sein Name auf dem Display erscheint, will ich im ersten Moment nicht antworten.

Doch dann gebe ich nach.

»Sorry, Alice. Sorry.«

Der Tonfall seiner rauen und tiefen Stimme klingt nach ehrlicher Betroffenheit, aber ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Vielleicht ist es ja besser, die Wahrheit zu kennen, dann kann ich mich darauf einstellen.

»Ein Versehen, Arthur?«, frage ich unterkühlt. Ich muss mich sehr zusammenreißen, damit ich beim Reden nicht schluchze.

»Well, laut Freud verrät ein solches Versehen … etwas aus dem Unterbewusstsein.«

»Spar dir dumme Kommentare.«

»Ich wollte wirklich nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.«

»Klar, beim nächsten Mal passt du besser auf.«

»Alice …«

»Nenn mich bitte nicht mehr so. Eine Alice gibt es nicht.« Oder besser, die Alice, die du kennst, gibt es nicht mehr.

»Entschuldige.«

»Na dann … einen schönen Abend noch«, sage ich und beiße mir auf die Zunge, um eine bissige Bemerkung in Bezug auf seine neue Flamme zu unterdrücken. Das hätte nur kleinkariert gewirkt.

»Alice«, sagt er, er gibt nicht auf, »das Leben geht auch für mich weiter.«

* * *

»Wusstest du, dass Arthur eine Neue hat?«

Cordelia und ich sitzen am Tisch. Ichi hat sich zu ihren Füßen zusammengerollt und ist merkwürdig still. Ich befürchte, er teilt mit ihr nicht nur die Kekse, sondern auch ihre Pillen – sie bestreitet das selbstverständlich.

»Alicia Stair«, antwortet sie.

Dieses Miststück, sie hat sogar den gleichen Namen wie ich. Wie dumm, dass er in der Adressenliste seines Handys gleich nach meinem kommt. Das erklärt Arthurs Lapsus.

Cordelia legt die Gabel ab und verschränkt die Hände, wahrscheinlich macht das ihre Psychoanalytikerin ganz genauso.

»Woher weißt du das?«, erkundigt sie sich in neutralem Tonfall.

»Er hat mir eine Nachricht geschickt, die für sie bestimmt war. Und danach hat er sich bei mir entschuldigt, damit auch wirklich alles klar ist. Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Da läuft erst seit Kurzem etwas. Sie sind auch nicht wirklich ein Paar … du kennst ihn ja.«

»Aber er hat dir davon erzählt?«

»Nur weil ich darauf bestanden habe. Weißt du, es ging ihm sehr schlecht, und daran warst du schuld. Deswegen möchte ich, dass diese neue Beziehung eine Chance hat, falls es zwischen euch beiden wenig Hoffnung gibt. Was ich befürchte.«

»Woher willst du das wissen? Ganz bestimmt gibt es da nichts zu hoffen, solange diese Alicia Stair mitmischt.«

»Alicia ist eine Kollegin von ihm. Ich glaube, sie ist um die fünfunddreißig und arbeitet als Fotografin für AFP. Der Alltag der beiden ist schwer genug. Wenigstens tun sie sich hin und wieder etwas Gutes und gehen miteinander ins Bett. Wenn du mich fragst, hoffe ich, dass er sich in sie verliebt.« Ich schaue sie finster an, doch sie fährt unbeirrt fort: »Mit wem sonst sollte er sein Leben teilen? Nur eine, die wie er herumreist, versteht ihn und nimmt ihn, wie er ist.«

Ich stehe auf, das Essen auf meinem Teller habe ich nicht angerührt.

»Was machst du jetzt?«, fragt sie, halb verblüfft, halb eingeschnappt.

»Ich geh meditieren«, gebe ich zurück und schlage die Tür hinter mir zu.

Gebeine aus der Vergangenheit

Wie hast du es nur geschafft, dich bei der Wally noch unbeliebter zu machen? Mehr war doch kaum möglich.«

Claudio spießt ein Paar Salatblätter mit gehobeltem Parmesan auf. Wir haben den ganzen Nachmittag bis spät in den Abend hinein gearbeitet. Danach hat er, wie so oft in letzter Zeit, ein gemeinsames Essen vorgeschlagen.

»Immer wenn man sich einbildet, tiefer geht es nicht, entdeckt man, dass die Grenze nach unten noch nicht erreicht ist. Ach, ich mag diesen Song«, sage ich dann. Im Radio läuft gerade Red Rain von Peter Gabriel.

»Pass nur auf, Alice. Wenn Malcomess in Pension geht, kann er nicht mehr seine Hand über dich halten. Weder er noch sein Sohn.«

Ich sehe ihn empört an. »Hältst du mich etwa für seinen Schützling?«

»Nein«, gibt er nüchtern zurück. Er wischt sich mit der Serviette über die Lippen, die bitter ein wenig Pflege nötig hätten. »Ich will damit nur sagen, dass Malcomess bei einigen deiner Patzer beide Augen zugedrückt hat. Und das wird bei der Wally anders sein. Malcomess weiß, dass du im Grunde etwas kannst. Von deiner Beziehung zu seinem Sohn mal abgesehen. Gestatte mir diese kleine Anspielung, ich weiß, sie ist nicht nett, aber ich kann nun mal nicht anders – ich tue denen weh, die ich liebe.«

»Das stimmt nicht. Du kannst nicht anders, weil du von Natur aus verletzend bist.«

»Egal, dieser Salat schmeckt jedenfalls scheußlich. Du hast keine Ahnung, wo man gut zu Abend isst, und das ist der Beweis dafür. Das nächste Mal entscheide ich, wohin wir gehen.« Gott sei Dank hat die Kellnerin bereits die Messer mitgenommen. Er legt seine Gabel auf dem Teller ab und nimmt sich ein Grissino aus dem Brotkorb. Gerade hat er es in eine Ölsoße getunkt, als sein iPhone klingelt.

Er wirft einen Blick auf das Display und wirkt nicht gerade begeistert. »Die Staatsanwaltschaft«, sagt er zu mir und wirkt verdutzt.

»Hast du Dienst?«

»Nein.«

Das Gespräch mit der Person am anderen Ende ist einsilbig, und kurz darauf erfahre ich die Neuigkeit.

»Man hat einen Leichnam gefunden.«

Eine Sekunde lang gefriert mir das Blut in den Adern. Ich habe Angst, dass es sich um Ambra handeln könnte, und offensichtlich hatte Claudio die gleiche Befürchtung.

»Sie fragen, ob ich zu einer Begehung des Fundortes bereit wäre, der Staatsanwalt hat ausdrücklich nach mir verlangt. Tut mir leid, dass ich unser Abendessen ruiniere, aber mir bleibt gerade noch Zeit, um die Rechnung zu bezahlen.«

Ich bin so erleichtert, dass ich begeistert zustimme. Wie immer lasse ich mich einladen. Claudio ist vom alten Schlag, und es würde ihm nicht in den Sinn kommen, die Rechnung mit mir zu teilen.

»Und was haben sie dir noch erzählt?«, erkundige ich mich, während ich in meinen Mantel schlüpfe.

»Genug, um sicher zu sein, dass es sich nicht um Ambra handelt«, erwidert er knapp; er ist ein wenig blass um die Nase. »Es geht um ein Skelett, viel mehr ist nicht übrig. Damit kann sie es nicht sein.«

Er wird ungehalten, weil ich in meiner Tasche nach dem Telefon krame, um Cordelia Bescheid zu sagen, dass ich später nach Hause komme.

»Ich habe es eilig, Alice. Könntest du einen Zahn zulegen? Ich muss dich erst nach Hause bringen und dann ans andere Ende der Stadt.«

»Warum? Nimmst du mich nicht mit?«

»Das Abendessen war ein Reinfall, außerdem erhole ich mich gerade von einem Adrenalinschub, bei dem mir fast das Herz stehen geblieben wäre. Ich habe keine Lust, dich gleich am Hals zu haben und auf dich aufzupassen.«

»Komm schon …«

»Vergiss es. Jeder anständige Mensch hat ein Recht darauf, in Ruhe zu arbeiten.«

»Ein anständiger Mensch schon. Du nicht.«

Im Auto ist er schweigsam. Er hat das Radio leise gestellt, um die Anweisungen seines Navi nicht zu überhören, das ihn an den von den Ermittlern angegebenen Ort führt.

Es ist im Süden Roms, in der Nähe von Potina. Es handelt sch um ein offenes, von Wohnsiedlungen abgelegenes Gelände.

Im Hintergrund steht ein Bagger. Ein Polizist kommt auf uns zu und erklärt, dass in dieser Gegend ein Sportzentrum entstehen soll. Am Nachmittag seien Arbeiter beim Aushub für das Fundament auf Gebeine gestoßen.

Die Nacht ist windig, aufgewirbelter Staub brennt in meinen Augen. Die Dunkelheit macht mich nervös, lieber wäre ich jetzt woanders.

»Unter diesen Umständen ist eine Begehung völlig sinnlos. Es ist stockdunkel, was glauben die denn, was man da entdeckt? Ich hätte alles in Ruhe morgen früh erledigen können«, flüstert mir Claudio zu. Er steht da, in seinen Regenmantel gehüllt, und ist verärgert, weil man ihn in seiner Routine gestört hat. Man führt uns an einen Ort, der etwas von unserem Parkplatz entfernt liegt und von einem generatorbetriebenen Strahler beleuchtet wird. Und dort liegt in einer kleinen Erdkuhle das in Fötushaltung zusammengekauerte Skelett eines Menschen.

Die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits aktiv: Ohne die Leiche anzurühren, nehmen sie Proben für die Untersuchung des Erdreichs, der Pflanzen und Insekten.

Claudio konzentriert sich und vergisst seine schlechte Laune. Er nimmt die Handschuhe, die Überschuhe und andere Schutzkleidung entgegen und übersieht völlig, dass er eine Assistenzärztin dabeihat. Ich halte mich unterdessen im Hintergrund und verfolge alles aus einiger Entfernung, um nicht zu stören.

An dem Leichnam befinden sich Reste einer vom Erdreich durchweichten Hose und eines Pullovers von undefinierbarer Farbe. An den Füßen stecken Turnschuhe der Marke Adidas, und zwar ein Modell, das vor ein paar Jahren in Mode war.

Ich betrachte die Umgebung genauer, und mir wird klar, dass der Leichnam nicht sehr tief unter der Erde gelegen haben kann. Außerdem hat er bei den Aushubarbeiten offenbar keinen Schaden genommen, er sieht intakt aus.

Neben dem Skelett liegt ein Gegenstand, den ich aus dieser Entfernung nicht identifizieren kann. Er ist rund und von der Größe eines Untertellers. Ich nehme mir vor, Claudio später im Auto danach zu fragen.

In der Zwischenzeit gibt Claudio einem Polizisten mit einer Kamera Anweisungen, und ich sehe, wie er auf bestimmte Stellen in der Nähe der Drosselgrube und des Schlüsselbeins deutet.

»Alice!«

Die durchdringende Stimme von Ispettore Calligaris würde ich überall erkennen. Er kommt mir entgegen und wirkt völlig durchgefroren. Ein Windstoß hat ihm fast die Brille mit den runden Gläsern gegen seine starke Kurzsichtigkeit von der Nase geweht. Ein mir unbekannter Mann begleitet ihn.

»Du bist mit Conforti hier, nehme ich an.«

Ich nicke und schüttele ihm die Hand.

»Dottoressa Allevi, ich möchte dir Sergio Einardi vorstellen. Er ist forensischer Anthropologe.«

Der Mann an Calligaris’ Seite wirkt hochnäsig und gelangweilt. Er grüßt knapp und entfernt sich bald darauf.

»Ein unfreundlicher Typ, aber der Beste auf seinem Gebiet«, murmelt Calligaris entschuldigend. »Für heute Nacht hat man Regen vorausgesagt. Und der Staatsanwalt hat deswegen angeordnet, unverzüglich mit den Ermittlungen zu beginnen, um wetterbedingte Verzögerungen und Pannen zu vermeiden. Schau nur, es nieselt bereits!«, ruft er aus und wendet seine Hand in der Luft. »Der Leichnam ist heute am späten Nachmittag gefunden worden«, fährt er fort. »Es blieb gerade Zeit genug, um das Gelände abzusperren, damit alles unversehrt bleibt, und die unmittelbare Umgebung des Skeletts frei zu räumen. Dann hat man Einardi und Conforti benachrichtigt. Ich freue mich, dass auch du hier bist. Diese Fälle sind sehr interessant«, kommentiert er abschließend.

»Was für Fälle?«, frage ich nach, und meine Fantasie macht bereits Sprünge. »Hat man noch andere Skelette gefunden? Gibt es eine Serie?«

»Nein, ich meinte das nur allgemein. Ungelöste Fälle, sogenannte Cold Cases, sind immer faszinierend, ich spreche da aus Erfahrung«, fügt er hinzu, offenbar kann er seine Eitelkeit nicht zügeln.

Nach einiger Zeit tritt Claudio zu mir und streift betont lässig seine Handschuhe ab.

»Weshalb bist du nicht näher getreten? Macht dir das hier was aus?«, fragt er sarkastisch und zieht dabei hinterlistig eine Augenbraue hoch.

»Niemand hat mir entsprechende Ausrüstung gegeben, und ich wollte nicht wieder etwas machen, das ich mir während der letzten zwei Jahre meiner Ausbildung vorhalten lassen muss.«

»Das geht auch danach noch weiter, nur damit du Bescheid weißt. Oder glaubst du etwa, dass ich dir deine Desaster alle vergebe, sobald du fertig bist? Trotzdem sehr nett von dir, ich weiß deine Geste zu schätzen. Und viel besser als damals, als du bei der Untersuchung der Leiche eines Forstverwalters deine Zigarette in den Wald geworfen hast.«

Es ist einfach gemein, dass er meine Schandtaten immer wieder aufs Tapet bringt. Es stimmt, diese Episode ist in der Tat eines meiner Glanzstücke. Die Verblüffung aller Anwesenden habe ich bis heute nicht vergessen.

»Was lag dort neben dem Leichnam?«

»Ach das – wirklich merkwürdig. Eine Krone.«

»Eine Krone?«

»Ja, ein Spielzeug oder eine Faschingskrone, aus Plastik. Die Krone einer Prinzessin, um es genau zu sagen.«

* * *

Man weiß nicht viel über den Leichnam.

Ausweispapiere gibt es nicht. Und man ist sich noch nicht im Klaren, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Auch das Alter zum Todeszeitpunkt ist noch unbekannt.

»Es kommt mir so vor, als hätte ich auf dem Pullover auf Schulterhöhe einen dunklen Fleck mit einem Loch gesehen. Vielleicht gibt der uns Hinweise auf die Todesursache. Ich bin gespannt«, gestehe ich Claudio im Auto, während er mich auf dem kürzesten Weg nach Hause, in die Via Giulio Cesare, fährt.

Die konzentrierte Arbeit am Fundort hat seine trübe Stimmung ein wenig aufgehellt. Es ist fast Mitternacht, und das erwartete Unwetter bricht über die Stadt herein. Er fährt langsam.

»Ich habe mit Einardi verabredet, dass wir uns das Skelett bereits morgen Nachmittag ansehen. Du bist offiziell eingeladen.«

Cold Case

Nach einem schnellen leichten Mittagessen begebe ich mich zusammen mit Lara zur Leichenhalle.

Die gestern aufgefundenen sterblichen Überreste sind noch nicht vollständig vorbereitet. Claudio verliert die Geduld und herrscht die armen Angestellten an, für die seine Wutausbrüche noch neu sind.

»Seit Ambras Verschwinden ist er unausstehlich«, kommentierte Lara leise.

»Das stimmt, er ist sehr angespannt. Als gestern die Nummer von der Staatsanwaltschaft auf seinem Handy erschien, sah er aus wie kurz vor dem Herzinfarkt.«

»Alice, hast du wirklich noch keine Minute daran gedacht … du weißt schon, was ich meine«, raunt sie.

»Was?« Natürlich habe ich ihre Andeutung verstanden, aber ich will wissen, worauf sie genau hinauswill.

»Dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben könnte«, flüstert sie und errötet leicht dabei.

»Daran habe ich noch niemals gedacht. Keine Sekunde lang.« Mein Tonfall ist kühl. »Das Ganze hat ihn sehr getroffen«, fahre ich verbindlicher fort. »Vielleicht hat er Gewissensbisse, weil er sie einfach abserviert hat, aber das ist alles«, sage ich abschließend.

Lara hebt den Kopf und mustert Claudio. Die nervösen Gesten, seine Wutausbrüche gegenüber dem Techniker der Leichenhalle, die unwirsche Begrüßung von Sergio Einardi.

»Tja, vielleicht. Ich bin mir da nicht so sicher. Wer ist das da?«, erkundigt sie sich mit Blick auf den Neuankömmling.

»Ispettore Calligaris hat ihn mir vorgestellt. Er ist forensischer Anthropologe.«

Einardi begrüßt uns mit einem Kopfnicken. Er hält ein paar weiße Blätter in der Hand, und in seiner Hemdtasche steckt ein Kugelschreiber. Er hat dunkles, an den Schläfen ergrautes Haar, unter seinen braunen Augen liegen leichte Schatten.

Es scheint ihm nichts auszumachen, dass er ganz allein herumsteht, während das Skelett auf den Autopsietisch gelegt wird. Ich erfahre unterdessen, dass die Ermittlungen am Fundort heute Morgen fortgesetzt wurden und dass Claudio erst dort war und dann ins Institut gekommen ist. Die Plastikkrone wird bereits analysiert, ebenso die geologischen und botanischen Proben. Heute Nachmittag geht es darum, ein biologisches Profil des Leichnams zu erstellen, um dann über bestimmte Merkmale Rückschlüsse auf seine Identität zu ziehen.

Der Schädel ist intakt. An den Knochenplatten hängen noch Hautfetzen mit verfilzten Haaren. Perfekte Zähne, wie sie nur nach jahrelangem Tragen einer Zahnspange möglich sind.

Der Pullover mit Rollkragen war vielleicht einmal rot, es ist nicht mehr viel von ihm übrig; hinten hat er am Kragen einen kleinen Riss. Schwer zu sagen, woher der stammt, ob von einer Verletzung durch eine Feuerwaffe oder ein Messer. Um dieses Loch herum ist der Stoff nach innen eingerollt und dunkel eingefärbt, wie von einem großen Blutfleck. Unter dem Pullover und einem Wollunterhemd befindet sich ein sehr feines Halskettchen ohne Anhänger. Die Halswirbelfortsätze scheinen gebrochen. Ansonsten ist der Leichnam nichts als ein Skelett. Am linken Handgelenk hängt eine billige Uhr. Der Slip unter der Jeans sieht so aus, als gehörte er zu einer weiblichen Person.

In der Vordertasche der Hose stecken ein Metroticket, das am 23. Januar 2006 um vier Uhr nachmittags entwertet wurde, und eine Zwei-Euro-Münze.

»Und was meinst du?«, erkundigt sich Claudio bei Einardi.

»Auf den ersten Blick stammen die Zähne von jemandem zwischen zwanzig und dreißig. Vielleicht auch jünger. Schambeinfuge und Beckenknochen wirken nicht abgenutzt. Um das Geschlecht bestimmen zu können, muss ich erst die Schädelknochen, Oberschenkel- und Beckenknochen vermessen. Ich würde von weiblichem Geschlecht ausgehen, aber man kann nicht ausschließen, dass es sich um einen männlichen Teenager handelt. Und was das Alter angeht, würde ich mir gerne die Zähne näher ansehen. Dann die ethnische Herkunft: Die Form der Augenhöhlen ist nicht eindeutig, sie scheint rechteckig, aber nicht ausgeprägt. Ich würde afrikanische Herkunft nicht ausschließen, aber es ist noch zu früh für eindeutige Aussagen. Vielleicht komme ich nach dem Vermessen der übrigen Gebeine zu anderen Schlüssen.«

»Nun, ich beginne morgen mit der genetischen Analyse, dann sind Herkunft und Geschlecht eindeutig geklärt.«

»Sieh dir das Schienbein an«, fordert Einardi ihn auf.

Claudio kommt vorsichtig näher heran. Ungefähr auf der Mitte des Knochens sind Spuren einer mittlerweile gut verheilten Fraktur zu erkennen.

»Das könnte später bei der Identifizierung helfen«, meint der Anthropologe. Er hat die Hände in den Hosentaschen und sieht so aus, als wäre er eher zufällig vorbeigekommen.

Mehr lässt sich über das Skelett im Augenblick nicht sagen, und ich muss Calligaris recht geben.

Ungelöste Fälle, Cold Cases, sind ungemein fesselnd.

* * *

Die Arbeit im Labor unterscheidet sich nicht von meiner üblichen Institutsroutine, und auch der Zeitaufwand ist mehr oder weniger der gleiche. Claudio analysiert die Proben nach genetischen Merkmalen, nach denen die Zughörigkeit des Leichnams zu einer bestimmten Population bestimmt werden kann. Jedes Gen besitzt populationsspezifische Varianten, und aufgrund des Vergleichs dieser Varianten ist es möglich, ein Profil zu erstellen. Aus diesem lässt sich erkennen, ob das Opfer eher aus Europa, Asien oder Afrika stammt. Es wird einige Tage dauern, bis wir Ergebnisse haben.

Unterdessen arbeiten Claudio und Einardi miteinander, aber auch ein wenig gegeneinander.

Ich nehme mal an, für den Anthropologen ist es eine Genugtuung, in kürzester Zeit und mit ziemlicher Sicherheit sagen zu können, dass es sich bei dem Opfer um eine junge Frau um die zwanzig handelt. Er teilt uns das telefonisch mit. Claudio zieht leicht die Augenbrauen hoch und gibt uns das Ergebnis in neutralem Ton weiter.

»Und was schaust du mich so dämlich an?«, herrscht er gleich darauf Lara an, die keine Antwort gibt, sondern weiter mit ihren Proben hantiert.

»Der wird auch immer egozentrischer und unmöglicher«, flüstert sie mir ins Ohr.

»Könnt ihr euch vielleicht ein bisschen konzentrieren?«, fordert er mit lauter Stimme.

Lara sieht auf die Uhr, fast sieben. »Claudio, ich muss gehen.«

»Selbst schuld.«

Sie lächelt ihn verkrampft an und verlässt uns dann ohne großes Bedauern.

»Nur mit der Ruhe, Alice. Für heute sind wir fast fertig. Fast.«

Claudio steht über die Zentrifuge gebeugt. Sein Kittel spannt sich perfekt über die Schultern, die nicht sehr breit, aber schön geformt sind. Darüber der blütenweiße, feste Kragen, ein schöner Kontrast zu seiner olivfarbenen Haut.

Ich betrachte ihn schweigend und warte, bis er mit seiner Arbeit fertig ist. Ich kann es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen und mich mit Ichi ins Bett zu kuscheln.

»Fertig«, ruft er aus, streift sich die Handschuhe ab und kann dem Impuls nicht widerstehen, sich kurz zu rekeln. »Das war echt anstrengend.«

»Ich ziehe mich nur kurz um.«

»Von mir aus kannst du das auch gerne hier tun«, meint er mit einem unverschämten Lächeln.

»Ich kenne dich«, erwidere ich. Dann sehe ich, wie sich sein Lächeln in blankes Entsetzen wandelt. Er stürzt zum PCR-Block und betätigt einen Schalter, der eigentlich in Funktion hätte sein sollen.

»Wollt ihr mich sabotieren!«, schimpft er laut. »Das war bestimmt Lara. Sie hat was gegen mich, auch wenn ich beim besten Willen nicht begreife, was«, fügt er hinzu. Seine Stimme klingt ungewöhnlich verbittert.

»Um ehrlich zu sein, war ich das. Ich dachte, der Zyklus wäre bereits beendet.«

»Ach, das dachtest du! Alice, ich könnte dich ohrfeigen, wenn du dir solche Klöpse leistest.«

»Versuch’s doch«, erwidere ich herausfordernd.

Claudio steht dicht vor mir. Der Kragen seines Hemds ist aufgeknöpft, und sein leichtes Schielen, das man normalerweise nur bemerkt, wenn er müde ist, fällt mir an diesem Abend besonders auf. Ich halte ihm eine Wange entgegen. Nach meiner Einschätzung wäre er durchaus in der Lage, mich zu ohrfeigen, und ich möchte, dass er das weiß. Doch meine Haut wird von Lippen berührt und nicht von einer Hand.

Ein rascher Kuss, mehr mutwillig als leidenschaftlich, er hat nichts mit jenen Küssen gemein, an die ich mich gerne zurückerinnere. Er tritt einen Schritt zurück, gähnt geräuschvoll und kratzt sich am Nacken. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Ich nicke, ein wenig verwirrt, wie immer, wenn er mich berührt. Körperkontakt – und schon verlieren wir den Kopf.

»Willst du dir nicht endlich mal ein Auto kaufen?«, fügt er hinzu. Unsere flüchtige und leichtfüßige Nähe ist schon wieder vergessen und hat dem echten, ziemlich rauen Umgangston zwischen uns Platz gemacht.

What else is there?

Lara, ein sensibler Mensch mit poetischer Ader, hat das Skelett »Prinzessin« getauft, und zwar wegen der Spielzeugkrone.

Die Prinzessin ist europäischer Herkunft und war zum Zeitpunkt ihres Todes noch keine fünfundzwanzig.

Vielleicht ist sie durch einen Schlag von hinten getötet worden. Und zwar einen einzigen, darauf deutet das Loch in ihrem Pullover hin, der aber viel zu zerfallen ist, um verlässliche Hinweise zu geben. Doch es gibt da die gebrochenen Halswirbel.

Als Kind hat die Prinzessin sich das rechte Bein gebrochen, und, wie es aussieht, auch den kleinen Finger der rechten Hand.

Ihre Kleidungsstücke lassen auf eine zierliche Figur schließen. Es gibt keinen BH, vielleicht hatte sie einen kleinen Busen, überlege ich. Vielleicht hat ihr auch jemand den Büstenhalter abgenommen.

Die Zwei-Euro-Münze wurde 2005 in Spanien geprägt. Daraus könnte man folgern, dass das Todesjahr der Prinzessin nicht vor 2005 liegen kann. Claudio geht davon aus, dass sie vor höchstens sechs und mindestens drei Jahren gestorben ist. Damit dürfte das Todesjahr zwischen 2005 und 2009 liegen.