Die Spur des Bösen - Stefanie Ross - E-Book

Die Spur des Bösen E-Book

Stefanie Ross

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Spannendes Kopfkino für alle "Tatort"-Fans aus deutscher Feder  Als eine Obdachlose einen Mord beobachtet, hört ihr zunächst niemand zu. Ausgerechnet Rettungssanitäter sollen ein Unfallopfer umgebracht haben, statt ihm zu helfen? Nur Astra glaubt ihr, doch ehe er Marcus Lauer und das Team alarmieren kann, wird ein Anschlag auf die unerwünschte Zeugin verübt. Endlich werden offiziell Ermittlungen aufgenommen, doch Team Lauer ahnt nicht, mit wem sie sich anlegen. Erst als nicht nur ihre Karrieren, sondern auch ihre Leben in Gefahr sind, bemerken sie, wie persönlich dieser Fall wirklich ist …

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Lektorat: Lisa Wolf

Covergestaltung: bürosüd, München

Coverabbildung: www.buerosued.de

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

Die Menschen in Hamburg genossen das schöne Juliwetter. Tagsüber hatten sie sich auf den Wegen und in den Cafés entlang der Alster getummelt. Auch die Grünflächen waren von Decken und Handtüchern fast vollständig bedeckt gewesen.

Sie selbst war in einem früheren Leben an solchen Sommertagen am liebsten an der Elbe spazieren gegangen, um dort auf den Hafen zu blicken, der niemals schlief, und auf die Schiffe, die dort wie an unsichtbaren Fäden gezogen entlangglitten. Wie gerne würde sie sich dieses Schauspiel noch einmal ansehen, doch der Weg war einfach zu weit für ihre alten Beine und den schweren Einkaufswagen, der ihr ständiger Begleiter war.

Und dann waren da noch die Gefahren, die überall lauerten. Keiner der Menschen in den Cafés und auf den Wiesen blickte hinter die Fassaden der lächelnden Gesichter. Jede dieser leicht bekleideten Personen hätte das Böse sein können. Nur Agathe wusste es besser. Sie kannte die Abgründe, zu denen die Menschen fähig waren. Jetzt war es Abend, Dunkelheit würde sich bald über die Stadt legen, und die Straßen wären so gut wie leer gefegt. Sie liebte diese Zeit, vor allem im Sommer, wenn es lange hell war und das Böse sich nicht so früh in der Dunkelheit verbergen konnte.

Sie schob ihren Einkaufswagen über den Gehweg. Nur noch vereinzelt kam ihr ein Jogger oder ein Spaziergänger mit Hund entgegen. Sie sah niemanden an. Aufmerksamkeit zu erwecken konnte tödlich sein, und sie wollte leben.

Mochte auch manch einer ihre Existenz für bedauernswert halten, so genoss sie doch auf ihre Weise ihr Dasein. Wer brauchte schon ein Haus, einen Job oder Geld? Noch immer hatte sie den farbenfrohen Schmetterling vor Augen, den sie heute Morgen am Alsterufer gesehen hatte. Die Schönheit des Augenblicks trug sie durch den Tag und würde ihr durch die Nacht helfen.

Am Laternenmast vor ihr hing ein Papierkorb. Sie fand darin eine Pfandflasche und ein halb gegessenes Brot. Damit war ein spätes Abendessen gesichert, und ihr Spargroschen wuchs.

Den angeekelten Gesichtsausdruck einer Frau in kurzärmliger Bluse und engem Rock, die einen Pudel mit einem glitzernden Halsband Gassi führte, ignorierte Agathe. Was scherte sie die Meinung anderer? Sie verstaute ihre Beute im vollgepackten Einkaufswagen und ging langsam weiter.

Sosehr sie die Helligkeit liebte, so sehr störte sie das schöne Wetter, denn unter den drei Schichten Kleidung schwitzte sie. Doch sie konnte sich nicht überwinden, etwas von ihren kostbarsten Besitztümern im Wagen aufzubewahren. Zu groß war die Gefahr, dass ihr jemand die Jacke oder den Pullover stahl. Das Böse lauerte überall und wartete nur darauf, ein Opfer zu finden. Das hatte sie gelernt.

Unter den Ästen einer Weide fand sie einen schattigen Platz. Betonpfosten am Straßenrand sorgten für einen gewissen Abstand zwischen den parkenden Wagen und verschafften ihr den perfekten Platz für eine kurze Pause. Zwischen den Fahrzeugen fiel sie kaum auf. Sie wusste diese neumodischen hohen Wagen, die man nun überall sah, zu schätzen. Vielleicht würde sie sich hier sogar schon ein Stück ihres Abendbrots gönnen. Sie setzte sich auf den Pfosten und atmete tief durch. Der Gehweg war nun leer. Weit und breit niemand, der eine Bedrohung hätte darstellen können. Agathe atmete auf.

Auf der anderen Straßenseite raste ein Mann in einem gelben Shirt auf einem Rennrad den schmalen Streifen entlang, der für Radfahrer reserviert war. Ein Licht hatte sein merkwürdiges Gefährt nicht, aber sein Trikot leuchtete grell, sodass man ihn kaum übersehen konnte. Agathe hatte niemals einen Führerschein besessen, erkannte aber instinktiv, wie gefährlich die Kombination aus Parkstreifen, Radweg und dem hohen Tempo war.

Ein Lieferwagen fuhr los. Der Radfahrer hatte keine Chance und knallte dem Transporter in die Seite.

Agathe hielt die Luft an. Das sah nicht gut aus. Doch der Helm schien ihn geschützt zu haben, denn der Mann saß aufrecht auf dem Boden und fasste sich an den Kopf. Der Unfallverursacher fuhr langsam weiter. Agathe duckte sich tiefer hinter dem Wagen und spähte vorsichtig an dem Kofferraum vorbei.

Was für ein Glück für den Radfahrer! Ein Krankenwagen war plötzlich aufgetaucht und hielt neben ihm. Ein Mann in einem roten Anzug lief zum Unfallopfer.

Agathe zuckte zurück, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Da war es. Das Böse! Sie erkannte es immer und überall. Ihr Herz pochte laut, als sie wieder hinsah. Der Sanitäter beugte sich über den Radfahrer und erwürgte ihn. Die Beine des Opfers zuckten, eine Hand wurde angehoben und fiel kraftlos auf den Boden zurück.

Eilig wandte sie sich ab und schob den Einkaufswagen zurück auf den Gehweg. Nicht hinsehen! Sie durfte dem Bösen keinen Grund geben, sich auch ihrer Seele zu bemächtigen.

Kapitel 1

Um halb fünf Uhr am Nachmittag schien die Sonne noch auf die kleine Terrasse hinter dem Reihenhaus von Marcus Lauer. Er beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, frühzeitig Feierabend gemacht zu haben, und ließ sich auf den Stuhl fallen. Perfekt. Mehr brauchte er nicht: Die Teenagertochter war mit Freunden unterwegs, es war angenehm warm, und vor ihm auf dem Tisch stand eine kühle Flasche Bier. Dazu kam noch der Reader, auf dem ein Krimi wartete, den die Presse in den Himmel gelobt hatte.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wann war er zuletzt mit sich und seinem Leben so zufrieden gewesen? Nachdem er jahrelang in seinem Job als Kriminalkommissar beim LKA nur Akten hin und her geschoben hatte, ermittelte er nun wieder und sorgte für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit und Sicherheit auf Hamburgs Straßen. Gerade erst hatten er und seine Assistentin Juliane nach drei Wochen intensiver Polizeiarbeit dafür gesorgt, dass ein Trickdieb, der sich bevorzugt ältere Damen als Opfer aussuchte, in Untersuchungshaft saß. Die fälligen Berichte für den Staatsanwalt konnte er am nächsten Tag schreiben. Er gähnte und überlegte, ob ein kurzes Schläfchen vielleicht die bessere Alternative zum Krimi war. Ein leises Quietschen entschied die Frage für ihn. Er hatte schon längst das Gartentor ölen wollen. Doch so kündigten sich spontane Besucher – oder seine Tochter Valerie, die mal wieder den Schlüssel vergessen hatte – zumindest unfreiwillig an.

Marcus öffnete die Augen und sah gerade noch Freddy, den Mops seines Nachbarn, auf sich zulaufen. Der Hund sprang mit einem Satz auf seinen Schoß und forderte mit einem leisen Fiepen einige Krauleinheiten. Das quadratische Kissen auf vier Beinen beherrschte zwar einige Tricks, konnte aber kaum das Gartentor öffnen. Mit einigem Abstand und wesentlich langsamer betrat nun auch Professor Winfried Kohlmorgen die Terrasse und sah Marcus schuldbewusst an.

»Ich hätte anrufen können!« Sein Freund und Nachbar hielt eine Flasche Wein hoch. »Nimmst du das als Entschuldigung an?«

»Lass mal, ich bleibe beim Bier. Ich würde dir ja ein Glas holen, aber dann müsste ich deinen Hund auf den Boden setzen.«

Freddy hob den Kopf und sah sein Herrchen an.

Winfried lächelte. »Nun, ich weiß ja mittlerweile, wo ich alles finde. Störe ich denn wirklich nicht?«

»Nein. Im Gegenteil. Ich hatte sowieso vor, bei dir vorbeizuschauen, sobald die Sonne hier verschwunden ist.«

Der ehemalige Rechtsmediziner und Professor bewohnte direkt gegenüber von Marcus auf der anderen Straßenseite eine Altbauvilla mit einem weitläufigen Garten, der bis an die Alster reichte. Eine der drei Terrassen lag eigentlich immer in der Sonne.

Marcus wartete, bis Winfried mit einem Weinglas aus der Küche zurückgekehrt war und sich gesetzt hatte.

Sein Nachbar hob das Glas. »Das ist neu«, stellte er fest und goss sich Weißwein ein.

Marcus prostete ihm mit der Bierflasche zu. »Valerie hat mir einen Vortrag darüber gehalten, dass deine edlen Weine und meine profanen Gläser einfach nicht zusammenpassen. Nun habe ich vier neue Gläser hier stehen und frage mich immer noch, wie sie mich dazu gebracht hat, so viel Geld dafür auszugeben.«

Winfried seufzte und trank einen Schluck. »Ich erspare dir einen Vortrag darüber, dass diese Gläser jeden Cent wert sind. Gehe ich recht in der Annahme, dass du deinen Fall abschließen konntest?«

»Ja. Und deine Vorhersagen über den Täter trafen zu. Es war ein Mann, Mitte vierzig, äußerst gebildet, der gegenüber den Opfern ausgerechnet als Polizeibeamter aufgetreten ist. Ich habe deine Einschätzung als Gutachten in der Fallakte berücksichtigt, sodass der Staatsanwalt keine Sekunde gezögert hat, einen Haftbefehl zu beantragen und mir sogar Zeit bis morgen für die fälligen Abschlussberichte eingeräumt hat. Ohne dich wären wir ihm nicht so schnell auf die Schliche gekommen, und ich könnte nicht mit dir hier in der Sonne sitzen.«

»Das höre ich gerne.« Sichtlich zufrieden lehnte sich Winfried zurück.

Marcus kraulte den Mops weiter, obwohl Freddy sich zusammengerollt hatte und leise Schnarchlaute von sich gab.

Aus Richtung der Gartenpforte ertönte ein Quietschen und Scheppern, das nicht von der Pforte stammte, Marcus aber dennoch sehr vertraut war. Es kam von dem Einkaufswagen eines Obdachlosen, mit dem sowohl er als auch Winfried sich angefreundet hatten. Auch Winfried setzte sich aufrechter hin. Wenig später betrat Astra die Terrasse und sah die beiden unsicher an.

»Störe ich?«

»Nur, wenn du da stehen bleibst. Setz dich und trink ein Bier mit uns. Du weißt, dass du immer willkommen bist, ganz egal, ob Valerie oder ich zu Hause sind oder nicht. Und wo der Ersatzschlüssel versteckt ist, weißt du ja auch.«

»Du wiederholst dich, Running Man. Aber es ist gut, dass ihr beide hier seid. Ich brauche eure Einschätzung. Gebt mir ein paar Minuten.«

Mittlerweile zeigte Astra keine Hemmungen mehr, Marcus’ Badezimmer zu benutzen, zu duschen oder die Kleidung zu wechseln. Doch bis es so weit gekommen war, hatten Valerie und er hitzige Diskussionen mit Astra geführt.

»Na, da bin ich ja gespannt«, überlegte Winfried und trank einen Schluck Wein. Seine Augen funkelten. »Ob ein neuer Fall in der Luft liegt?«

Marcus lächelte. Er wusste nur zu gut, dass sich Winfried langweilte, seitdem er seinen Job als Leiter der Rechtsmedizin aufgegeben hatte, und es genoss, an aktuellen Fällen mitzuarbeiten. Marcus wiederum war dankbar für die Einschätzungen eines Experten, der mittlerweile ein guter Freund geworden war.

Kapitel 2

Als Astra wenig später frisch geduscht auf die Terrasse zurückkehrte, hatte er Marcus’ Tochter im Schlepptau.

Valerie strahlte. »Ihr alle zusammen hier? Das riecht doch nach einem neuen Fall! Wie wäre es mit etwas Pizza dazu?«

»Aus der Tiefkühltruhe?«, fragte Winfried.

Valerie hob die Nase höher. »Selbst belegt, nur der Teig ist gekauft. Was sagt ihr?«

»Vielleicht später«, erwiderte Astra. »Ich würde gerne erst mit euch über etwas reden.«

Valerie schnappte sich den letzten Stuhl. »Klar, die Reihenfolge ist mir egal.«

Astra nahm einen Schluck aus der Bierflasche, die Marcus ihm hingestellt hatte – natürlich seine bevorzugte Marke. »Ich dachte an deinen Vater und Winfried.«

Valeries Lächeln wurde noch strahlender. »Du kannst dich freuen! Ich bin auch da, um dich zu unterstützen. Nun fehlen nur noch Sabrina und Juliane, und unser altes Team ist komplett.«

Marcus lehnte sich zurück. »Gib es auf. Du müsstest sie mitsamt des Stuhls wegtragen. Was ist denn passiert?«

Astra verzog den Mund. »Es geht um eine Frau, die ihr auch kennt. Agathe. Es ist unbestritten, dass sie unter Verfolgungswahn leidet. Ich vermute ein traumatisches Erlebnis in ihrer Kindheit oder Jugend als Auslöser. Dass sie ihr eigenes Leben von bösen Mächten bedroht sieht, ist nicht neu. Doch nun läuft sie durch die Gegend und erzählt von einem Mord, den sie beobachtet haben will. Für mich klingt ihre Schilderung erschreckend realistisch. Ich weiß ja, dass sie krank ist, aber eine solche Fantasie passt für mich nicht. Deswegen wäre ich für Winfrieds Einschätzung äußerst dankbar. Und vielleicht könntest du, Marcus, auch in deinem Computer nachsehen, ob es so einen Vorfall gab.«

Nicht zum ersten Mal wunderte sich Marcus über die gewählte Ausdrucksweise des Obdachlosen. Doch jeder Versuch, Astra über seine Vergangenheit auszufragen, war bisher gescheitert.

Winfried trank noch einen Schluck Wein, beugte sich hinab, um Freddy über den Rücken zu streicheln, der mittlerweile wieder auf dem Boden saß, und runzelte dann die Stirn. »Du liegst mit deiner Einschätzung schon ganz richtig. Hättest du mir erzählt, dass die gute Agathe sich von lilafarbenen Männchen mit langen Antennen bedroht fühlt, so hätte das zu ihrem Krankheitsbild gepasst. Doch die Schädigung eines Dritten würde nur dann einen gewissen Sinn ergeben, wenn eine enge Verbundenheit zu dem Opfer bestehen würde. Ist das der Fall?«

Astra schüttelte den Kopf. »Nein. Sie kennt den Namen des Radfahrers nicht einmal.«

»Dann ist davon auszugehen, dass sie tatsächlich etwas beobachtet hat, das für sie wie ein Mord ausgesehen haben muss. Ob es jedoch wirklich einer war oder ob sie einen Sachverhalt schlicht falsch interpretiert hat, das vermag ich nicht zu sagen. Doch dieser wie auch immer geartete Zwischenfall wird kein Produkt ihrer Fantasie gewesen sein. Was weißt du denn noch?«

Astra sah Valerie an. »Hast du nicht noch ein paar Hausaufgaben zu machen?«

»Nein, es sind Ferien.«

»Wartet irgendein Freund auf dich?«

»Nein. Und wenn er das tun würde, müsste er länger warten. Ihr habt natürlich Vorrang.«

Marcus war zwar nicht begeistert davon, dass Valerie sich ihnen uneingeladen angeschlossen hatte, doch sie war mit ihren siebzehn Jahren nicht nur selbstständiger als manche Dreißigjährige, sondern auch in absehbarer Zeit volljährig. »Gib’s auf«, wiederholte er.

Seufzend lenkte Astra ein. »Also gut. Irgendwann in den letzten Tagen wurde in den Abendstunden ein Radfahrer von einem Transporter angefahren. Ein Krankenwagen kam zufällig – oder wohl eher nicht zufällig – vorbei, und der Sanitäter hat den Mann nicht versorgt, sondern erwürgt.«

Schweigen breitete sich nach Astras knapper Schilderung aus.

Dann beugte sich Valerie vor. »Ich weiß, welchen Unfall du meinst! Den in der Nähe vom Tennisstadion! Da war nämlich was mit einem Mann auf einem dieser irren Radfahrstreifen und einem Unfall mit Fahrerflucht. Aber ich weiß nicht mehr, was und wann das genau war. Sabrina hatte das nur beiläufig erwähnt. Ich rufe sie an. Ja? Sie kann blitzschnell hier sein.«

Nein!, wollte Marcus rufen, doch Astra und Winfried nickten bereits. Verdammt. Marcus mochte die Lokalreporterin – und zwar ein wenig zu sehr. Eigentlich hatte er den Eindruck, dass sie ihn auch mochte, doch da war immer noch der Altersunterschied von rund zehn Jahren, der ihn jeden Gedanken an eine ernsthafte Beziehung vergessen ließ. Und genau aus diesem Grund hatte er sich in den letzten Wochen auf belanglose Nachrichten via WhatsApp beschränkt und keine weitere Verabredung vorgeschlagen. Dass Valerie und Sabrina sich regelmäßig sahen, wusste er, und verhindern konnte er es kaum.

Seine Tochter tippte bereits wie wild auf dem Handy herum und lächelte dann. »Passt. Sie ist genau dann hier, wenn die Pizza fertig ist. Ich weiß nicht mehr, was genau sie damals gesagt hat, aber es ging irgendwie um Karma und dass er es verdient hätte.«

Ehe Marcus nachfragen konnte, stand seine Tochter auf und verschwand in der Küche. Großartig. Bei Winfried war das Jagdfieber geweckt, sein Instinkt sagte ihm, dass Astra ins Schwarze getroffen hatte, und in wenigen Minuten würde er Sabrina wiedersehen. So viel zu seinem ruhigen Abend.

Kapitel 3

Gerade als Valerie ein Brett mit Pizzastücken in die Mitte des Tisches gestellt hatte, klingelte es an der Haustür.

Valerie runzelte die Stirn. »Wieso kommt sie nicht einfach außen herum?«

Marcus blickte sie spöttisch an. »Ich kann dir das nicht sagen. Frag sie doch, wenn du die Tür öffnest.«

Nach einem vernichtenden Blick ging seine Tochter ins Innere.

Winfried betrachtete den Berg aus Pizzastücken. »Erwartet Valerie noch mehr Besuch? Ich frage mich, wer das alles essen soll.«

Freddy bellte. Grinsend schüttelte Marcus den Kopf. »Vergiss es, Kleiner. Das ist zu viel für dich.«

Valerie stand bereits wieder in der Terrassentür. »Ich dachte, jeder nimmt was mit, wenn was übrig bleibt. Besser zu viel als zu wenig, und außerdem musste der Teig weg.«

Sie setzte sich wieder, während Sabrina ungewöhnlich unsicher neben dem Tisch stehen blieb.

Ohne nachzudenken, stand Marcus auf und fasste nach ihrer Hand. Die Berührung durchfuhr ihn wie ein Blitz und hatte dennoch etwas so Vertrautes, dass ihm die Geste wie selbstverständlich erschien. »Wie schön, dass du so kurzfristig Zeit hattest. Setz dich doch. Möchtest du ein Glas Rotwein?«

Einen Moment lang sahen sie sich stumm an, dann nickte Sabrina. »Sehr gerne.«

Auf dem Weg in die Küche versuchte Marcus zu verdrängen, wie hübsch sie mit den etwas zerzausten, schulterlangen Haaren und diesen blitzenden blauen Augen aussah. Die enge, ausgewaschene Jeans und das weiße T-Shirt waren eigentlich nichts Besonderes, doch durch ein lässig gebundenes buntes Tuch und silberfarbene Sneakers bekam es diese gewisse Note, die so typisch für sie war.

Nachdem er mit einem Glas ihres Lieblingsrotweins, den er zufällig noch im Schrank gehabt hatte, auf die Terrasse zurückkehrte, hatten sich seine unerwarteten Gäste bereits über die Pizza hergemacht. Damit blieb es ihm überlassen, Sabrina über Agathes Beobachtung zu informieren.

Sabrina legte das Stück Pizza zurück auf den Teller. »Das ist ja ein Ding. Haben wir eine Chance herauszufinden, welchen Unfall Agathe gesehen hat? Der, den ich Valerie gegenüber erwähnt hatte, war vor zehn Tagen.« Sie nannte noch den genauen Ort.

Marcus seufzte, stand wieder auf und holte sein Notebook aus dem Wohnzimmer. Er ignorierte die ungeduldigen Blicke von Sabrina und Valerie, die sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich waren, und überprüfte in aller Ruhe, ob und welche Unfälle es in letzter Zeit in der Hamburger Innenstadt und den Randbezirken gegeben hatte.

Er fand drei, von denen er jedoch zwei sofort verwerfen konnte. Einer war geklärt, einmal war ein Kind zu Schaden gekommen, und vor allem lebten die Opfer noch. Beim dritten ließ er sich die Details anzeigen, verzichtete jedoch darauf, die vollständige Akte aufzurufen. Der Ort stimmte mit ihren Informationen überein. Ein Mann war dort infolge eines Unfalls mit Fahrerflucht ums Leben gekommen.

Er fasste das Ergebnis seiner Recherche zusammen. »Soll ich den Namen des Opfers durch die Datenbanken jagen?«, bot er an.

Sabrina schüttelte den Kopf. »Nee, brauchst du nicht. Ich kann dir auch erzählen, was das für einer war. Ein echt fieser Kerl, ein Love Scammer, der es auf junge Frauen abgesehen hatte.«

»Ein was?«, fragte Winfried nach und kam Marcus damit zuvor. Auch Astra brummte zustimmend und konnte mit dem Begriff offensichtlich ebenfalls nichts anfangen.

Valerie verdrehte die Augen und wechselte mit Sabrina einen vielsagenden Blick, der Marcus das Gefühl gab, sich auf dem Bildungsniveau eines Neandertalers zu befinden.

»Na, das sind diese angeblichen Piloten oder Militärangehörige, die auf den Social-Media-Portalen verliebten Frauen das Geld aus der Tasche ziehen«, erklärte Valerie.

Sabrina nickte. »Ganz genau, und dieser Kerl hat das System sogar noch optimiert. Er hat echte Bilder von sich gepostet, hatte dreißigtausend Follower und jungen Frauen weisgemacht, dass er mit ihnen eine Zukunft plant. Dafür braucht er nur noch ein wenig Geld. Die Mädels haben entweder ihre Ersparnisse geplündert oder Kredite aufgenommen oder sich als Escort Girl was dazuverdient.«

Astra legte sein Stück Pizza sorgfältig auf den Teller zurück. »Hast du gerade gesagt, dass die Mädchen für ihn auf den Strich gegangen sind?«

Sabrina nickte. »Ja. Es war schon etwas edler, kommt aber aufs Gleiche raus. Eins der Mädchen hat sich umgebracht, als er sie fallen gelassen hat. In ihrem Nachlass sind die Eltern auf den Typen gestoßen und haben Anzeige erstattet. Er heißt – oder hieß – Fabian Edel. Nun ja, am Ende kam jedenfalls nichts bei raus, man konnte ihm nichts nachweisen, es steht eben jedem frei, einem anderen Geld zu schenken.« Sie hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Ich habe das auf Insta verfolgt und hatte den Eindruck, dass Fabian durch die Ermittlungen sogar noch interessanter für eine gewisse Art von Frau geworden war.«

Marcus hatte Probleme, den Ausführungen zu folgen. Wie konnte man nur so naiv sein? Er sah seine Tochter an. »Du würdest aber doch nicht auf so einen Typen reinfallen, oder?«

Valerie grinste schelmisch. »Natürlich nicht. Es gibt einen ganz bestimmten Typ Frau, der ins Beuteschema fällt. Weder Sabrina noch ich sind so liebesbedürftig, dass wir diese Komplimente brauchen und uns nach jedem netten Wort sehnen.«

Sofort meldete sich Marcus’ schlechtes Gewissen zu Wort. Bisher hatte er an einfältige und naive Opfer gedacht, nun taten ihm die Frauen leid.

Astra trank einen Schluck Bier und rieb sich übers Kinn. »Also halten wir fest, dass es einen Unfall gab, den Agathe beobachtet hat. Das kläre ich mit ihr, in dem ich sie konkret nach der Zeit und dem Ort frage. Und es gibt sicher einige Leute, die einen Grund gehabt hätten, diesen Fabian abzumurksen.«

Markus biss von der Pizza ab, dann nickte er knapp. »Ja, passt. Aber um so ein Ding durchzuziehen, mit gefälschtem Krankenwagen und allem, muss man ganz schön viel planen und …« Unwillkürlich dachte er an den Fall des Serienmörders, den er mit genau dieser Runde hier am Tisch gelöst hatte. Der damalige Täter hatte sich durch eine akribische, beinahe bewundernswerte Planung ausgezeichnet. »Ich werde morgen Juliane darauf ansetzen, was die Sanitäter zu dem Unfall protokolliert haben. Die Zusammenfassung gab da nichts her. Versprecht euch aber nicht zu viel davon. Doch wenn einer der Sanitäter eine Verbindung zu einem potenziellen Opfer hat, dann … Na, wir werden sehen.«

Sabrina drehte ihr Glas in der Hand. »Ich komme morgen früh mal bei euch vorbei. Vielleicht kann ich Juliane helfen. Ich habe schon ein bisschen über den Kerl recherchiert.«

»Natürlich kannst du das!«, stimmte Valerie zu.

Marcus räusperte sich demonstrativ, nickte dann aber. »Auch wenn ich es vorgezogen hätte, dass ich zustimme und nicht meine Tochter, bist du bei uns immer herzlich willkommen.«

Verflixt, das klang viel zu förmlich. Natürlich mussten Winfried und Astra nun auch noch einen vielsagenden Blick wechseln. Na, das konnte ja lustig werden.

Kapitel 4

Der Flur im Hamburger Polizeipräsidium lag noch menschenleer vor ihm. Die Energiesparlampen spendeten gerade genug Licht, damit die Szenerie nicht unheimlich wirkte. Dennoch musste Marcus flüchtig an eine Szene aus Shining denken. Besonders einladend war der lange Gang mit den geschlossenen Türen nicht. Er war extra früher ins Büro aufgebrochen und hatte dafür auf ein gemütliches Frühstück zu Hause verzichtet. Da Valerie bis in die Morgenstunden mit ihrem geliebten Computerspiel beschäftigt gewesen war und vermutlich erst irgendwann gegen Mittag aufstehen würde, konnte er mit ihrer Gesellschaft ohnehin nicht rechnen.

Zunächst hatte er nicht gewusst, was er von Valeries Nachtaktivität in den Ferien halten sollte, dann jedoch von Kollegen erfahren, dass so etwas bei Teenagern nicht unüblich war. Und da es auch an ihren Noten nichts auszusetzen gab, hatte er auf eine Diskussion verzichtet. Obwohl Valerie erst im Frühling von Teneriffa aufs Hamburger Gymnasium gewechselt war, konnte sie im Zeugnis einen Einser-Schnitt vorweisen. Die Zulassung zum Abitur war somit in keiner Weise gefährdet. Das Gespräch über ihre Pläne für die Zeit nach dem Schulabschluss vermied er allerdings so gut es ging, seit er erfahren hatte, dass sie fest entschlossen war, sich für die Polizeiakademie zu bewerben. Vermutlich sollte er sich geschmeichelt fühlen, dass sie in seine Fußstapfen treten wollte, doch das tat er nicht. Im Gegenteil. Er würde ein Studium und anschließenden Bürojob für Valerie vorziehen. Da er ihren Sturkopf kannte, musste er sich erst noch die passende Strategie überlegen, um sie von ihrem Plan abzubringen.

Er stutzte, als er sah, dass die Tür zu seinem Büro nur angelehnt war und Licht auf den dunklen Flur schien. Aufgrund irgendeines obskuren Energiesparplans war um diese Zeit nur die Notbeleuchtung aktiv, die gerade ausreichte, um nirgends gegenzulaufen. Normalerweise kam Juliane erst gegen neun Uhr. Auf die Erklärung für den Lichtschein war er gespannt.

Er öffnete die Tür und stampfte extra laut auf. Seine Assistentin war fast vollständig taub, konnte ihn dank ihrer Cochlea-Implantate zwar verstehen, aber am besten dann, wenn sie Blickkontakt hatten, sodass sie zusätzlich seine Lippenbewegungen lesen konnte. Außerdem hatte sie Probleme mit dem Richtungshören, und eine Annäherung von hinten konnte sie erschrecken. Sein Trick wirkte. Ihr Kopf fuhr hoch, und sie lächelte ihn an. Was für ein Unterschied zu früher, als sie kaum zwei Worte miteinander gewechselt hatten. Nachdem sie gemeinsam daran gearbeitet hatten, einen Serienkiller zu überführen, hatte sich vieles geändert – und zwar durchweg zum Positiven.

»Ich dachte mir, dass du früher kommst und habe Kaffee und Croissants mitgebracht.«

»Das klingt gut. Hat sich Sabrina angemeldet?«

»Ja, aber erst gegen zehn Uhr. Ich bin gespannt, was du sagst, wenn du die vollständige Akte liest.« Sie deutete auf den Bildschirm. »Überflieg das mal. Ich hole Becher, die habe ich vergessen.«

Marcus nickte und setzte sich auf ihren Platz. Das Protokoll der Streifenwagenbesatzung, das Juliane sich aus der Fallakte besorgte hatte, war denkbar knapp. Zunächst fiel ihm nichts Besonderes auf, doch dann kniff er die Augen zusammen und öffnete in einem neuen Fenster Google Maps.

Er war gerade zum Ergebnis gekommen, dass nichts so einfach war, wie es in den wenigen Sätzen dargestellt wurde, als Juliane zurückkehrte.

Sie musterte ihn prüfend und lächelte dann. »Dachte ich mir, dass du es auch sofort bemerkst.«

Marcus wartete, bis sie ihm einen gefüllten Becher gereicht hatte, und achtete dann darauf, dass er sie direkt ansah. Das war ihm eigentlich im Laufe der Zusammenarbeit bereits zur Gewohnheit geworden, doch manchmal musste er daran denken, nicht auf den Monitor zu starren. »Danke. Es klingt zunächst alles wunderbar logisch, doch wenn man genauer hinsieht, ergeben sich Fragen. Erstens: Die Kollegen gingen von einem Lieferservice wie Amazon aus, doch der hätte einfach auf dem Radstreifen gestoppt und sich nicht damit aufgehalten, seinen Wagen in eine Lücke zu rangieren.«

Juliane nickte.

»Und zweitens bin ich nicht sicher, ob die um die Zeit überhaupt noch ausliefern.«

Nun prostete seine Assistentin ihm zu.

»Habe ich noch was vergessen?«

»Ja. Die Wahrscheinlichkeit, dort um diese Zeit eine freie Lücke zu finden, ist sehr gering. Die Anwohner sind zu Hause, und es gibt kaum Parkplätze in der Gegend.«

Marcus nippte an seinem Kaffee. »Verstehe. Wenn wir den Gedanken fortspinnen, dann hat der Fahrer des Transporters dort viel früher eingeparkt, dann auf den Radfahrer gewartet und ihn absichtlich umgefahren.«

»Das würde durchaus Sinn machen.«

»Es kann natürlich sein, dass es rein zufällig doch eine freie Lücke gab, der Fahrer vorschriftsmäßig geparkt und den Unfall nicht bemerkt hat.«

Juliane verzog den Mund. Unwillkürlich sah er genauer hin. Hatte sie ein neues Lippenpiercing? Dieser schwarze Stein passte perfekt zu ihrer Kleidung, die ebenfalls immer diese Farbe aufwies. Von Valerie wusste er, dass sich dieser Stil Gothic nannte. Er hatte bereits mitbekommen, dass einige Kollegen sich abfällig über Julianes Kleidungsstil und die Piercings äußerten. Für ihn spielten diese Dinge keine Rolle. Er schätzte ihren scharfen Verstand und ihre hervorragende Organisation und mochte sie – egal, was sie anzog.

»Ist der neu? Da war doch vorher ein Ring, oder?«

Lächelnd nickte Juliane. »Ja, der ist neu. Oder eher war es, denn den habe ich seit letzter Woche.«

Entschuldigend hob er die Hände. »Immerhin ist es mir jetzt aufgefallen.«

»Stimmt, Chef. Aber zurück zu diesem Fall. Ich denke, es gibt genug Fragezeichen, um weitere Unterlagen anzufordern, oder?«

»Ja, das sehe ich auch so. Aber was meinst du mit ›anfordern‹? Ist nichts in der digitalen Akte gespeichert? Eigentlich müsste dort doch alles drin sein.«

»Eben. Eigentlich. Ich finde nichts von den Sanitätern. Nur deren Namen und den Vermerk des Kollegen, dass die Reanimation erfolglos war.«

»Dann hak da bitte gleich nach.«

»Mache ich. Was sagt denn dein Bauchgefühl?«

Marcus trank erst einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete. »Ich sage es mal so. Wir haben genug Gründe, um tiefer einzusteigen, und ich sehe mich schon bei unserem Oberboss sitzen, um es mir absegnen zu lassen, dass wir noch viel tiefer einsteigen. Den Anfang nehme ich noch auf meine Kappe.«

»Gefällt mir.« Sie griff nach einer Papiertüte und zog ein Croissant heraus. »Mit Schokolade. Damit du genug Energie für deinen fälligen Bericht hast. Der sollte bis um zehn Uhr fertig sein, damit wir uns mit Sabrina gemeinsam auf diesen Fall stürzen können.«

Stöhnend nahm er es. Er wusste nicht, was schlimmer war: Der Bericht oder die Vorstellung, wieder mit Sabrina gemeinsam zu ermitteln. Wobei der letztere Gedanke nicht wirklich unangenehm war. Er konnte das Kribbeln nicht richtig einordnen. Dass er nervös war, würde er nicht zugeben, denn unwillkürlich fragte er sich seit dem gestrigen Abend wieder, ob sich nicht doch etwas zwischen ihnen entwickeln könnte. Wenn sie nicht da war, vermisste er sie, und wenn sie da war, dann … Verflixt, er konnte seine Gefühle einfach nicht richtig einschätzen. Wenn er das Funkeln in Julianes Augen richtig interpretierte, hatte sie ihn durchschaut und amüsierte sich gerade köstlich. Er war nicht sicher, ob ihre Implantate sein Knurren übertrugen, doch er ging lieber in sein eigenes Büro, eher er sich noch zu einer Bemerkung hinreißen ließ, die am Ende noch mehr über sein Gefühlsleben verriet – wobei, vielleicht verstand er sich dann endlich.

Kapitel 5

Der Ausblick auf die nächtliche Elbe wurde auch nach all den Jahren nicht langweilig. Ein Lotsenschiff legte von einem Containerschiff ab und kehrte in den Hafen zurück. An Bord würde der Kapitän nun auf das hören müssen, was ihm gesagt wurde.

Dieses Bild war mit dem vergleichbar, was er seit Jahren organisierte. Es gab Menschen, die mussten in die richtige Richtung gesteuert werden, weil sie allein den Weg nicht fanden. Gut, das war ein wenig abstrakt und sehr frei interpretiert, doch irgendwie passte es. Er konnte jedenfalls gut mit dem leben, was er verantwortete.

Der fünfundzwanzig Jahre alte Whisky in seinem Glas verströmte ein Aroma nach Torf und Salz. Er liebte diese Mischung, genoss sie aber natürlich nur in Maßen. Schon seine Eltern hatten ihm eingebläut, wie wichtig es war, das richtige Maß zu halten. Beherrschung, Bescheidenheit und das Wohl der anderen stets im Blick. Das hatte ihm sein Vater als hanseatische Grundsätze eingebläut. Erst später hatte er festgestellt, dass auch die Vermehrung des eigenen Vermögens auf dieser Liste gestanden hatte, doch darüber beschwerte er sich nicht. Schließlich profitierte er davon. Mit diesen idealen Startbedingungen hatte er ihr Familienvermögen verwaltet, sicher durch jedes Unwetter navigiert und weiterhin an Macht und Einfluss gewonnen.

Sein Handy gab einen dezenten Ton von sich. Unwillig gab er seinen Platz am bodentiefen Fenster auf und setzte sich mit dem Glas in der Hand in den Cocktailsessel, der bequemer war, als er aussah.

Er überflog die Nachricht, stand wieder auf und trat zurück ans Fenster. Was war ein Menschenleben wert? Welche Opfer musste man bringen, wenn man das Richtige tat? Durfte eine obdachlose Frau, deren Lebenserwartung sich vermutlich in Monaten oder Wochen ausdrückte, alles gefährden, wofür er und die anderen gearbeitet hatten? Die Antwort fiel ihm leicht, dennoch fühlte er sich, als ob ein schweres Gewicht auf seinen Schultern lastete. Das war wohl die Verantwortung. Er stellte sich gerader hin. Seine Zeit war bemessen, viel Sand bereits durch die Mitte des Stundenglases geflossen, nur noch wenige Körner im oberen Teil verblieben. Er antwortete mit wenigen wohldurchdachten Sätzen.

Nach einem weiteren Schluck konnte er gut mit seiner Entscheidung leben. Das unterschied ihn von den heutigen Politikern. Er stand zu seiner Verantwortung und hatte mehr im Blick als sein eigenes Wohlbefinden.

Kapitel 6

Es dauerte dann doch bis kurz nach zehn Uhr, bis Marcus den Bericht endlich so verfasst hatte, dass der Staatsanwalt keinen Grund zur Klage hatte. Das gedankliche Wortspiel brachte ihn zum Grinsen, denn schließlich war der Sinn seiner Ausführungen, dass die Anklage vor Gericht standhielt. Nun, er hatte jedenfalls für eine vernünftige Basis gesorgt, der Rest lag nicht mehr in seiner Hand.

Er lauschte, konnte jedoch keine Geräusche aus dem Vorzimmer hören. Rasch speicherte er sämtliche Dokumente, stand auf und reckte sich. Seine Wirbel knackten laut. Jünger wurde er eindeutig nicht, und dieser Gedanke kam genau zum richtigen Zeitpunkt, denn er erinnerte ihn an den Altersunterschied zwischen Sabrina und sich.

Er öffnete die Tür und stieß wie erwartet nur auf Juliane. »Na, wo bleibt denn unsere rasende Reporterin?«

»Sie wollte noch ein ausführliches Dossier über das Opfer zusammenstellen, und das hat länger gedauert als erwartet.«

»Hm. Hast du denn schon was gefunden?«

»Ja, und zwar noch mehr Fragen. Die Sanitäter schreiben, dass es keine Vitalzeichen mehr gab und die Reanimation erwartungsgemäß keinen Erfolg hatte.«

»Das würde dann Agathes Beobachtung widersprechen oder, anders ausgedrückt, vielleicht hat sie was falsch interpretiert. Diese Maßnahmen können ganz schön brutal aussehen.«

Juliane nickte. »So weit war ich auch schon. Es gibt nur ein Problem: Die Sanitäter sagen, dass sie erst von der Polizei alarmiert worden sind und die Beamten schon vergeblich versucht hatten, das Opfer wiederzubeleben.«

»Meinst du, dass Agathe die Polizisten übersehen hat? Das passt doch nicht. Was ist mit dem Notruf? Wer ist zuerst alarmiert worden? Wenn wir wissen, in welcher Reihenfolge das geschehen ist, können wir besser einschätzen, ob das Protokoll richtig ist oder Agathes Beobachtung.«

Sie tippte an die Seite des Monitors, als ob sie ihn wie ein Pferd loben wollte. »Da bin ich dran. Und ich habe noch etwas, das …«

Die Tür wurde so heftig aufgerissen, dass nicht nur Juliane zusammenzuckte. Sabrina stürmte in den Raum, warf eine Papiertüte auf den zweiten Schreibtisch, der seit ihrem letzten gemeinsamen Fall nicht mehr benutzt wurde, und ließ sich auf ihren alten Stuhl fallen.

»Entschuldigt die Verspätung. Es ist kompliziert.« Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe belegte Brötchen mitgebracht. Soll ich Kaffee holen, dann erzähle ich euch, worüber ich gestolpert bin.«

Juliane nickte knapp. Einen Sekundenbruchteil später war Sabrina bereits wieder aus dem Zimmer gestürmt. Marcus sah ihr nachdenklich hinterher. Er hatte diesen Wirbelwind vermisst und war gespannt, was sie ausgegraben hatte.

Juliane sah ihn wissend an. »Wie in alten Zeiten.«

»Es ist nur ein paar Wochen her«, protestierte er.

»Stimmt. Was sagst du eigentlich dazu, dass Heidi Klum mit einem wesentlich jüngeren Mann zusammenlebt?«

Verwirrt blinzelte Marcus. Was sollte denn dieser Themenwechsel? »Tut sie das? Das interessiert mich nicht. Sie kann doch machen, was sie will.«

»Eben.« Jetzt begriff er die offensichtliche Anspielung, kam jedoch nicht dazu, sie zu kommentieren. Juliane tippte mit einem Finger mitten auf den Monitor. »Darüber reden wir besser gleich gemeinsam. Je mehr ich recherchiere, desto verwirrender wird es.«

Marcus war zu ungeduldig, um zu warten, und trat näher. Ihm fiel sofort ins Auge, was Juliane gemeint hatte. Laut dem Rettungssanitäter war das Opfer an einer Verletzung gestorben, die ihm im Halsbereich die Sauerstoffzufuhr abgeklemmt hatte. Das wiederum passte perfekt zu Agathes Beobachtung.

Stumm sahen sie sich an. Schließlich schüttelte Marcus den Kopf. »Die Fragen vermehren sich wie die Karnickel. Mal sehen, was Sabrina noch hat.«

Die Antwort bekam er wenige Minuten später. Er hatte sich seinen Stuhl aus seinem Büro geholt, sodass sie alle um Julianes Schreibtisch herumsitzen, essen und Kaffee trinken konnten.

Sabrina hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Also, das Opfer ist und bleibt ein Widerling. Eigentlich hätte er im Gefängnis landen sollen, wenn er nicht wegen eines Verfahrensfehlers und einer verstorbenen Zeugin freigesprochen worden wäre. Ich habe das alles für euch zusammengestellt und auch schon nach Freunden und Angehörigen gesucht, die auf Rache aus sein könnten, aber keinen gefunden. Ist ja auch logisch. Wären die Frauen nicht so einsam und allein gewesen, wären sie niemals auf diesen schleimigen Mistkerl reingefallen. Und genau das ist nun mein Problem. Eigentlich gönne ich ihm das Ende. Dennoch glaube ich Agathe. Und die Tatausführung mit der sorgfältigen Planung bringt bei mir sämtliche Alarmglocken zum Läuten, und zwar so laut, dass mein Kopf dröhnt. So eine irre Organisation hatten wir zuletzt bei Lutz.«

Schweigen breitete sich nach ihren Worten aus. Marcus musste zugeben, dass er so weit noch gar nicht gedacht hatte, obwohl der Punkt am Vorabend bereits einmal angesprochen worden war.

Überraschenderweise war es Juliane, die als Erste reagierte. »Wenn man davon ausgeht, dass es stimmt, was Agathe erzählt, hast du recht.«

Marcus atmete tief durch. »Dann beginnen wir damit, dass wir uns genau ansehen, was da eigentlich passiert ist. Ich muss euch darauf hinweisen, dass wir auch weiterhin in Betracht ziehen sollten, dass es ein ganz normaler Unfall gewesen sein könnte!«

Wenn er die Blicke der Frauen richtig deutete, zweifelten sie gerade an seiner Zurechnungsfähigkeit. Nun, er fühlte sich verpflichtet, diese Möglichkeit zu erwähnen. Auch wenn er selbst nicht so recht daran glaubte. Er räusperte sich. »Als Erstes sollten wir uns die Rettungssanitäter vornehmen. Wer hat sie alarmiert? Was genau haben sie vorgefunden? Wenn ich alle vorhandenen Informationen zusammenfüge, ergibt sich zwar das Bild, das Sabrina gerade skizziert hat, aber es fällt mir immer noch schwer, es zu glauben.«

Juliane nickte langsam und legte den Rest ihres Brötchens zurück auf den Teller. »Ich weiß, was du meinst. Erzähl trotzdem mal, was du dir überlegt hast.«

»Das Szenario, das alle Fragen beantwortet, wäre dieses: Krankenwagen eins kommt, ist ein Fake, und die Fahrer töten das Opfer. Dann kommt der Streifenwagen und danach trifft ein zweiter Rettungswagen ein, der von den Polizisten angefordert wurde. Diese Sanitäter finden den Toten vor. Das würde alles erklären, klingt aber ziemlich durchgeknallt, und wir wären wieder bei dem Punkt, den Sabrina aufgeworfen hat: Wer sollte so etwas planen?«

Kapitel 7

Bis zum Feierabend bekam Marcus eine Mail mit einem Lob des Staatsanwalts für seine Aktenführung bei dem abgeschlossenen Fall, war aber bei dem toten Radfahrer kein Stück weiter. Juliane und Sabrina hatten sich darangemacht, den Hintergrund von Fabian Edel weiter zu durchforsten. Marcus versprach sich davon nichts und hatte eine Abkürzung gewählt: Er war bei den Kollegen vorbeigegangen, die für Internetkriminalität zuständig waren, und hatte bei einem Kaffee mit ihnen über den Fall geredet. Ihr Fazit war eindeutig: Es war während der Ermittlungen niemand auf ihrem Radar aufgetaucht, der als Täter infrage käme. Nur halb im Scherz hatte der beleibte Oberkommissar auf seine eigene Brust getippt. »Ich wäre da noch am ehesten ein Verdächtiger. Du glaubst gar nicht, was es mich ankotzt, dass ein Fehler des Staatsanwaltes dazu geführt hat, dass dieses Stück Dreck wieder aus der U-Haft entlassen worden ist.«

Marcus konnte den Frust des Kollegen nur zu gut verstehen. Äußerst nachdenklich war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte den Feierabend eingeläutet. In erster Linie, um in Ruhe nachdenken zu können. Irgendetwas hatten die Worte des Kollegen in ihm ausgelöst. Niemand hatte ein Motiv – ausgenommen derjenigen, die für Gerechtigkeit sorgen sollten. Vielleicht fanden Sabrina und Juliane noch etwas, wenn sie die Opfer des Internetbetrügers durchleuchteten, doch viel Hoffnung machte er sich nicht. Während er seinen Wagen durch die verstopften Straßen Hamburgs steuerte, ermahnte er sich, dass es vielleicht nichts anderes als ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen war und das Karma für ein wenig Gerechtigkeit gesorgt hatte.

In diesem Sommer hatte die Hansestadt anscheinend den Ehrgeiz, einen neuen Rekord in Sachen Baustellen aufzustellen. Marcus atmete auf, als er den Wagen endlich vor seinem Reihenhaus auf dem Stellplatz parkte. Er kam nicht einmal dazu, das Haus zu betreten. Valerie rannte ihm, dicht gefolgt von dem laut bellenden Freddy, entgegen.

»Cool, dass du schon kommst. Ich passe auf Freddy auf und wollte mit ihm an die Alster. Kommst du mit? So ein Eis nach Feierabend klingt doch prima, oder?«

Klang es nicht! Ein Bier auf der Terrasse hätte was! Doch er brachte es nicht fertig, seine Tochter zu enttäuschen. »Klar. Ich bringe kurz die Sachen rein und zieh mich um. Dann geht’s los.«

Wenn er sich nicht sehr irrte, wirkte Valerie äußerst zufrieden. Irgendwas hatte sie doch wieder ausgeheckt.

Zunächst schien sein Misstrauen ungerechtfertigt, und er genoss wider Erwarten den Spaziergang an der Alster entlang. Für seinen Geschmack war zu viel los, doch da die meisten es vorzogen, auf der Grasfläche zu liegen, konnte er damit leben.

Plötzlich wurde Valerie mit jedem Schritt aufgeregter, bis sie schließlich stehen blieb und verschmitzt lächelte. »Perfektes Timing. Da sind sie. Komm mit!«

Überrascht folgte er ihr und entdeckte dann auf einer Parkbank Astra und … Er stutzte. Tatsächlich. Neben Astra saß Adelheid Brunner. Die ältere Dame lebte in einem Altersheim, das direkt an der Alster lag. Bei seinem letzten großen Fall hatte sie eine entscheidende Rolle gespielt.

»Das ist doch kein Zufall!«

Kein bisschen schuldbewusst nickte Valerie. »Nö. Astra und Oma Adelheid sitzen jeden Mittwoch um diese Zeit hier und reden über die Klassiker der Weltliteratur.«

»Oma Adelheid?«

»Ja. Wir haben uns auf die Anrede geeinigt. Nun komm. Ich dachte, wir fragen Astra, wo wir Agathe finden. Dann können wir selbst mit ihr reden.«

Das waren eindeutig zu viele Namen, die mit demselben Buchstaben begannen. Er musste ihre Worte kurz sortieren und schüttelte dann den Kopf. »Gute Idee. Aber wenn einer mit ihr redet, dann mache ich das!«

Valerie schnaubte. »Aber Papa! Das war meine Idee!«

In diesem Moment erreichten sie die Parkbank, sodass Astra und Adelheid Brunner ihre letzten Worte mit angehört hatten. Während Astra breit grinste, lächelte Frau Brunner schelmisch.

Wenige Minuten später hatte Marcus sich nicht nur zu einer freundlichen Begrüßung durchgerungen, sondern auch durchgesetzt, dass Valerie bei ihrer Ersatzoma bleiben würde. Astra hatte eindeutig klargemacht, dass der Ort, wo sie Agathe vermutlich finden würden, keiner für ein Mädchen wie Valerie war.

Beinahe drohend richtete Adelheid Brunner einen dünnen Gedichtband auf Marcus. »Wir erwarten unverzüglich einen ausführlichen Bericht! Das ist der Preis dafür, dass wir gemütlich in der Sonne sitzen und uns ein Eis gönnen werden.«

»Ein Eis?«, hakte Valerie sofort nach. »Soll ich uns eins von dem Kiosk dahinten holen?«

Die ältere Dame zog bereits einen Geldschein aus ihrem Portemonnaie. »Ich bitte darum. Und wenn möglich, hätte ich auch gerne einen Kaffee mit einem dieser umweltverschmutzenden Plastikdeckel dazu. Ich werde unterdessen auf das Hab und Gut unseres geschätzten Astra aufpassen.«

Damit war der voll beladene Einkaufswagen gemeint, der hinter der Bank stand.

Astra brummte eine Zustimmung und gab Marcus ein Zeichen, ihm zu folgen.

Kapitel 8

»Du kannst dich auf einen netten Spaziergang um die Alster freuen, Running Man. Apropos, läufst du morgens eigentlich nicht mehr? Ich habe dich lange nicht gesehen.«

Noch bis vor wenigen Wochen war Marcus nachts regelmäßig zu langen Laufrunden aufgebrochen, um die Bilder der Vergangenheit aus seinem Kopf zu vertreiben. Mittlerweile lief er nicht mehr, um vor seinen Albträumen zu fliehen, sondern ausschließlich, um fit zu bleiben.

»Ich bin meistens erst ab halb sechs unterwegs, so zwei- bis dreimal die Woche.«

»Verstehe. Durch deine Tochter hat sich vieles geändert, oder?«

Marcus verzog den Mund zu einem halben Lächeln, denn die Antwort war nicht so einfach. »Nicht ganz. Erst als wir gemeinsam unseren ersten Fall gelöst haben. Auch wenn ich nicht genau erklären kann, woran das liegt. So, wie es jetzt ist, ist es jedenfalls gut. Was meinst du mit Spaziergang um die Alster?«

»Wir müssen auf die andere Seite. Agathe hat seit dem Vorfall Angst vor ihrem eigenen Schatten und verlässt ihr Versteck erst, wenn es dunkel wird. Ich weiß aber, wo sie ist. Es gibt bei einem dieser Segelvereine in der Nähe der Krugkoppelbrücke einen baufälligen Schuppen, in dem nur noch Gerümpel gelagert wird. Er verfügt aber über einen funktionierenden Wasserhahn. Ich habe sie dort mal durch Zufall getroffen und ihr versprochen, ihr Geheimnis zu bewahren. Denn eine Unterkunft wie diese ist natürlich heiß begehrt.«

»Ich verstehe. Danke, dass du mich mit dorthin nimmst.«

»Das müsste für sie in Ordnung sein, denn ich habe ihr von dir erzählt – und dass du zu den Guten gehörst. Für sie bist du ein Kämpfer gegen das Böse. Du hast sie mal kurz getroffen.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie lebt in ihrer eigenen Welt. Ich möchte nicht wissen, was sie alles erlebt hat, um so zu werden.«

Sie gingen gut eine Viertelstunde und ernteten dabei etliche verwunderte Blicke von Spaziergängern, die Marcus konsequent ignorierte. Astra bewahrte in seinem Mantel seine wertvollsten Besitztümer auf, sodass er diesen auch bei gutem Wetter nie ablegte. Marcus trug hingegen Laufshorts mit einem uralten T-Shirt. Amüsiert fragte er sich, ob die Leute ihn auch für einen Penner hielten. Ihm war’s egal. Er stand zu seiner Freundschaft mit Astra und akzeptierte ihn so, wie er eben war.

»Da ist es«, sagte Astra und wies auf ein Schild mit goldenem Schriftzug.

»Müssen wir um das Vereinsheim herum?«

»Ganz genau. Das würde ich bei Tageslicht eigentlich nicht machen, aber in deiner Begleitung ist es hoffentlich okay. Wir sollten nur dafür sorgen, dass Agathe ihren Unterschlupf nicht wegen unseres Besuchs aufgeben muss.«

Und wieder bemerkte Marcus Astras gewählte Ausdrucksweise. Irgendwann würde er das Rätsel über die Vergangenheit seines Freundes lösen.

Er ging an der Schranke vorbei aufs Gelände und blieb stehen, als ihnen ein Mann mit wichtigtuerischer Miene und ausgeprägtem Bauchansatz den Weg versperrte.

»Nur für Mitglieder«, beschied er ihnen.

Marcus seufzte ungeduldig, zog seine Brieftasche hervor und hielt seinem Gegenüber den Polizeiausweis unter die Nase. »Das ist mein Mitgliederausweis. Wir müssen uns hier nur kurz umsehen. Und zwar allein.«

Der Mann schnappte nach Luft wie ein Fisch, der auf dem Trockenen lag.

Marcus schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern betrachtete Astra, der mit gerunzelter Stirn zu einigen Büschen hinübersah, die einige Meter entfernt am Ufer der Alster wuchsen.

»Was ist denn …« Er brachte die Frage nicht zu Ende.

Mit einem schrillen Schrei kam eine Frau durch die Büsche gestürmt. Sie stolperte, fing sich aber wieder und lief noch schneller über die Rasenfläche, auf der einige Boote lagen.

»Agathe!«, rief Astra. »Halt! Warte doch.«

Die Obdachlose ignorierte ihn, vermutlich hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Marcus setzte sich in Bewegung, war aber zu langsam. Ein ganzes Stück vor ihm erreichte Agathe erst den Fußweg und dann die Straße.

Ohnmächtig musste Marcus mit ansehen, wie ein Lieferwagen, der in zweiter Reihe geparkt hatte, nun anfuhr und direkten Kurs auf Agathe nahm, die mitten auf die Fahrbahn lief.

»Agathe! Vorsicht!«, brüllte er so laut, wie er konnte. Vergeblich.

Er zuckte zusammen und kam stolpernd zum Stehen, als die Frau und das Fahrzeug kollidierten. Agathe wurde in die Luft geschleudert, landete auf der Front des Transporters und rutschte dann langsam auf dem Asphalt, wo sie reglos liegen blieb.

Marcus setzte sich wieder in Bewegung. Der Wagen war noch nicht besonders schnell gewesen, mit etwas Glück hatte Agathe … Fassungslos beobachtete er, dass der Transporter nach dem Zusammenprall keineswegs bremste, sondern ganz im Gegenteil: Der Fahrer beschleunigte und überfuhr die bewegungslose Gestalt.

Kapitel 9

Marcus blieb stehen und prägte sich das Nummernschild ein. Hoffentlich war der Wagen nicht als gestohlen gemeldet! Die anderen Verkehrsteilnehmer hatten angehalten. Eine Frau sprang aus einem japanischen Cabrio, lief zu Agathe, beugte sich über sie und wollte offensichtlich Erste Hilfe leisten. Doch dann richtete die Frau sich wieder auf, und ihre Miene verriet Marcus alles, was er wissen musste. Es war zu spät. Ein scharfer Atemzug neben ihm erinnerte ihn daran, dass er nicht allein war.

»Das hat sie nicht verdient«, sagte Astra leise. »Da war jemand, der sie aufgescheucht hat. Ich konnte nur sehen, dass er jung und sportlich war.«

»Gleich«, sagte Marcus. Er musste sich erst selbst davon überzeugen, ob wirklich jede Hilfe zu spät kam, und sprintete zu Agathe.

Die Frau empfing ihn mit einem Kopfschütteln. »Ich bin Ärztin am UKE. Wir können nichts mehr für sie tun. Genickbruch, schätze ich. Der einzige Trost ist, dass es sehr schnell ging.«

»Danke, dass Sie es versucht haben.«

Marcus zog sein Handy aus der Tasche und veranlasste über die Leitstelle, dass ein Streifenwagen zum Unfallort kam. Er hätte zu gern von der Spurensicherung bis zur Gerichtsmedizin alles alarmiert, wusste jedoch, dass dies zumindest an diesem Ort vergeblich war. Seine einzige Hoffnung war, dass sie an Agathes Schlafplatz auf Hinweise stießen.

»Sie sind Polizist?«, fragte die Frau.

»Ja, Marcus Lauer, Kriminaloberkommissar beim LKA.«

»Ich konnte nicht alles sehen, weil der Transporter mich geschnitten hatte. Ich fuhr leicht versetzt hinter ihm. Er hat die Frau absichtlich überfahren und Fahrerflucht begangen. Und wieso ist sie so panisch auf die Straße gerannt? Haben Sie ihr Angst eingejagt?«

»Nein. Ganz im Gegenteil, wir – oder vor allem mein Begleiter – wollten ihr helfen. Vor uns hatte sie keine Angst, aber jemand anderes … Ich werde herausfinden, wer das war.«

»Das ist gut.«

Ein Streifenwagen fuhr mit einem abenteuerlichen Manöver über den Fußweg und erreichte seinen Standort. Mit wenigen Worten informierte Marcus die Kollegen und bat sie, alles weitere zu veranlassen und insbesondere die Personalien der Zeugen aufzunehmen. Er erwähnte auch, dass er an ein Verbrechen glaubte, und erntete erwartungsgemäß einen ungläubigen Blick von dem jüngeren Kollegen.

Der Ältere sah ihn hingegen abwartend an. »Sollen wir hier noch irgendwas veranlassen?«