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In einem fesselnden und doch ruhigen, geradezu meditativen Ton schildert Luca Lauga, wie der schwere Unfall einer ihrer Söhne sie in eine tiefe Krise stürzt. Auf langen Wanderungen in der wilden Landschaft Patagoniens kann sie das Geschehene allmählich verarbeiten. Sie hört Geschichten von Riesenwellen, Vulkanausbrüchen, Erdbeben, vom Überleben, vom Weiterleben und Aushalten. Vom Alltag und von Wundern.Die Autorin nimmt uns als Leser mit auf eine Estancia in der patagonischen Steppe, macht eine Bootsreise über den Nahuel-Huapi-See, besucht eine Siedlerfamilie, reitet am Rio Limay entlang, wandert zu entlegenen Berghütten und über schneebedeckte Vulkanfelder. Genau wie in den Nächten im Krankenhaus an der Seite ihres Sohnes fühlt sie auch auf ihren Wanderungen tief in diese Situationen hinein. Sie beschreibt, wie ihr diese intensiven Naturerlebnisse heraushalfen aus dem Gefangensein in den eigenen Krisen, aus dem Erstarrtsein in ihren Ängsten. Mit allen Sinnen in der Natur zu sein kann aus einer schweren Krise heraushelfen und die Freude am Leben wiedererwecken.
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Seitenzahl: 225
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LUCA LAUGA
kommt beim Gehen
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© Aurum in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2022,[email protected]
1. Auflage 2022
Projektleitung | Lektorat: SUSANNE KLEIN, Hamburg, kleine-brise.net
Umschlaggestaltung | Layout und Satz: GESINE BERAN, Turin
Umschlagmotiv: © shutterstock | Red monkey
Alle Fotos im Bildteil von LUCA LAUGA
ISBN 978-3-95883-550-4 | ISBN E-BOOK 978-3-95883-551-1
www.kamphausen.media
Prolog
Bewegtes Land
Der Sturz
Die Erde bebt auch unter Wasser
»Katastrophe« – ein Wort wie ein Tsunami
Aufstieg zur Laguna Negra
Im Café Vertiente
Wenn sich Zufälle kreuzen
Sommer in Bariloche
Vom Überleben und Weiterleben
Ariel geht auf Sendung
Zuhause in Deutschland
Ich kehre zurück
Epilog
Danksagung
Anmerkungen
Über die Autorin
»Worte sind Steine, der Satz ist ein Weg.«
TOMÁS LAUGA1
FÜR DEN, DER ÜBERLEBEN MÖCHTE, ist der Abgrund nicht gefährlich. Mit diesem Wissen machte ich mich auf den Weg. Das ging. Es ging. Und die Gedanken gingen auch. Was blieb, war die Stille, die immer präsenter wurde. Und genau aus dieser Präsenz heraus kam die Kraft weiterzugehen. Und als die Sonne wieder zurückkam, fand alles seine Ordnung.
Persönliche Desaster und Naturkatastrophen haben vieles gemeinsam. Meistens kündigen sie sich an. Sie tun es, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Tiere spüren schon Tage vorher, dass es in der Erde brodelt. Vögel versammeln sich in Scharen und fliegen davon. Hunde bellen unentwegt und suchen das Weite. Kröten setzen sich in Bewegung, Ziegen werden unruhig. Sie reagieren auf Veränderungen im Innern der Erde, sie spüren Schwingungen, hören und sehen anders als wir. Was wir erst später wissen, taucht bei ihnen als ein Gefühl oder eine Ahnung auf. Ob sie dabei Angst empfinden oder ob sie aus einer inneren Sicherheit heraus reagieren, das weiß ich nicht. Wir Menschen könnten solche Katastrophen auch spüren, würden wir auf unsere Sinne achten und unseren Verstand vorübergehend zurücknehmen. Wir würden dann intensiver sehen, hören und fühlen und hätten einen besseren Zugang zu unserer Intuition, unserer Wahrnehmung und unseren Visionen. Doch meistens sind wir im Gestern, im Vorgestern oder in der Zukunft verfangen, abgelenkt und unkonzentriert, sodass uns die Momente der tiefen Intensität, der Gegenwart und Konzentration entgehen. Wir leben über diese Augenblicke hinweg, spüren sie kaum. Vergessen sie schnell wieder. Und sind oft stärker darin, etwas nicht zu sehen und nicht zu fühlen. Nur manchmal, im Nachhinein, taucht ein »Da war doch was« auf. Ein »Etwas«, was dem Geschehen vorausgegangen war. Ein »Ich hab es doch geahnt«. Im Augenblick zu sein gelingt nicht immer.
ICH WOLLTE AUF DAS DACH UNSERES HAUSES kommen, an die Regenrinne, die so vollgestopft war, dass das Wasser überlief. Das hatte ich in der Nacht zuvor während eines heftigen Sturmes bemerkt. Vor meinem Schlafzimmerfenster war das Wasser wie eine verschwommene Glaswand herabgestürzt. Es war laut auf einen Gehweg geprasselt, der in den Garten führt, und noch am Morgen standen dort riesige Pfützen. Im Frühjahr regnet es hier in Nordpatagonien viel, und deswegen ist es wichtig, dass die Regenrinne den Wasserströmen standhalten und das Wasser gut abfließen kann. Ich lieh mir beim Nachbarn eine Leiter, eine alte aus Holz, und stellte sie gegen die Hauswand. Sie wackelte, deswegen stieg ich ein wenig skeptisch die ersten Sprossen hinauf. Ich hatte Angst. Würde sie mein Gewicht halten können? Würde das alte spröde Holz brechen? Nach Matthias’ Sturz, er war einige Jahre zuvor vom Dach unseres Hauses gefallen, war ich vorsichtig geworden. Es lag mir fern, etwas Riskantes zu tun und mich in Gefahr zu begeben, indem ich etwa in die Höhe stieg, um dann auf den Boden zu fallen. Also nahm ich Sprosse für Sprosse, vergewisserte mich jede Sekunde, ob die Leiter mich auch wirklich hielt. Dabei atmete ich tief durch und hielt mich mit beiden Händen gut fest. Als ich endlich die Höhe der Dachrinne erreichte, drehte ich meinen Kopf ganz vorsichtig herum. Meine Schultern halfen nach, bis ich mich auch leicht in der Hüfte drehen musste. Nur so und von hier oben konnte ich ihn sehen. An diesem Tag lag er ganz still wie eine Silberplatte bewegungslos zwischen den auslaufenden Bergketten der Anden unterhalb unseres Grundstücks: der Lago Nahuel Huapi. Dieser riesige See in Nordpatagonien hatte sich nach dem Sturm allmählich beruhigt. Ich atmete tief durch und war froh, dass die Nacht vorbei war.
Die Regenrinne war voller Sand. Poröser, heller, nasser Sand. Ich griff mit der Hand hinein, manchmal war ein bisschen Erde oder Moos dazwischen, aber alles lag locker in der Regenrinne. Ich warf Klumpen für Klumpen einfach nach unten. Es gab jedes Mal einen platschenden Laut auf den Steinplatten. Um die gesamte Regenrinne an beiden Seiten des Hauses mit meinen Händen freizuschaufeln, brauchte ich den ganzen Vormittag. Der See lag in der Mittagssonne immer noch ruhig und ohne den geringsten Wellengang einige Hundert Meter unterhalb unseres Grundstücks. Unter den Dachrinnen, an beiden Seiten des Hauses, verlief nun jeweils eine unregelmäßige, niedrige Sandmauer, so als hätte ein Kind sie mit seinen kleinen Händen gebaut.
Schon am Morgen hatte ich ein bisschen des groben Sandes zum Trocknen auf ein Tablett in die Sonne gelegt. Am Abend ließ ich den porösen Grieß durch meine Finger rieseln und füllte ihn in ein Glas, das ich auf meinen Schreibtisch stellte.
Ich wollte mich erinnern. Denn was ich aus der Dachrinne herausgeholt hatte, war feiner Lavasand des Vulkans Puyehue (Abb. 2, 3 und 9), der am 4. Juni 2011 nach langer Ruhepause in den südchilenischen Anden ausgebrochen war und seine Umgebung unter einer dicken Schicht Asche vergraben hatte. Der Vulkan liegt im chilenischen Nachbarland, achthundert Kilometer südlich von Santiago de Chile. Ein langer Graben hatte sich in der Erdkruste aufgetan, und anfangs war nicht zu erkennen gewesen, welcher der Vulkane dieses Komplexes ausgebrochen war. Eine riesige Rauchsäule war emporgestiegen und hatte ganze Landstriche eingehüllt. Villa La Angostura, ein Ferienort am nördlichen Teil des Lago Nahuel Huapi gelegen, wurde ganz besonders stark vom Ascheregen überrascht.
Bariloche, der Ort, in dem unser Haus steht, liegt rund fünfzig Kilometer weiter südlich und war durch die speziellen Windbedingungen ebenfalls betroffen. In unmittelbarer Nähe des Vulkans evakuierte man 3.500 Menschen, die Grenzen zwischen Argentinien und Chile waren geschlossen und die Flughäfen gesperrt.
Chile liegt am pazifischen Feuerring, einem hufeisenförmigen Vulkangürtel, der den Pazifischen Ozean umgibt. Mehrere Kontinentalplatten bewegen sich ganz langsam, stoßen im Inneren der Erde aneinander und lösen Erdbeben aus. Tsunamis sind die Folge der Erd- oder Meeresbeben und können ganze Küstengebiete zerstören.
Wir, mein Mann Martín und ich, hielten uns zu diesem Zeitpunkt in Deutschland auf. Wir verfolgten jeden Tag die Nachrichten und Bilder im Internet, sahen die kilometerweit aufsteigende Aschewolke, Menschen, die sich bei Tage in Dunkelheit mit Mundschutz durch die Stadt bewegten, und Wälder, die weißgraue Asche trugen, als seien sie von Schnee bedeckt. Wir spürten das Bedrohliche. Aber wirklich vorstellen konnten wir uns diese Katastrophe nicht.
Wie ist es, wenn plötzlich Vulkanasche herabregnet, der wolkenlose Himmel am hellen Tage verschwindet, die Natur extrem stark in das eigene Leben eingreift und den Alltag der Menschen stillstehen lässt? Wie fühlt es sich an, wenn die Menschen sich nicht mehr trauen, die Luft um sich herum einzuatmen, weil sie giftig ist? Ich hatte keine Ahnung.
Am Straßenrand auf freien Flächen fielen später die angehäuften Berge dieses grauen Sandes auf. Und noch ein oder zwei Jahre später fand ich, wenn ich in die Berge ging, lange nach der großen Eruption hin und wieder an unberührten Stellen, wo auch der Wind nicht hinkam, eine dünne hellgraue Schicht über der dunklen Erde. Im Winter, beim Skilaufen oben in den Bergen, war manchmal der Schnee grau, weil der Ostwind die Vulkanasche aus der Steppe herübergeweht hatte.
Noch lange nach der Katastrophe tauchte die graue Schicht, die in den ersten Stunden nach dem Ausbruch vom Himmel gekommen war, beim Graben im Garten eine Handbreit unterhalb der Oberfläche wieder auf. Es war Verglühtes und Verbranntes aus dem Inneren des Planeten. Nun macht es die Erde um uns herum fruchtbar.
EINMAL LAS ICH EINEN ARTIKEL über Personen, die wenige Tage oder Stunden vor einer Naturkatastrophe ein Summen im Ohr verspürt hatten. Doch brachten die meisten das Rauschen erst im Nachhinein mit einem Vulkanausbruch oder einem Erdbeben in Zusammenhang. Stunden vor der Katastrophe hatten sie keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte. Sie suchten die Ursache bei sich selbst und waren einfach nur unruhig und besorgt.
Hatte sich Matthias’ Fall vom Dach auch angekündigt? Hatte ich Tage oder Stunden vor dem Sturz unseres Sohnes ein mulmiges Gefühl oder eine Ahnung? Ich kann mich nicht erinnern. Im Nachhinein rekonstruierten wir gemeinsam den Abend vor der Nacht, in der wir unseren Sohn fast verloren hätten.
Martín hatte Matthias beim Abendessen von einem Film erzählt, von einem Mann, der durch eine akute Erkrankung in ein Koma gefallen war, aber dennoch alles um sich herum erlebte, vielleicht aus einer anderen Dimension heraus, aber auf irgendeine Art sehr anwesend. Beide hatte die Geschichte beeindruckt, und sie erinnerten sich gemeinsam, wie sehr der Film sie bewegt hatte. War das ein Zufall? Hatten sie beide eine unausgesprochene Ahnung von dem, was in jener Nacht passieren würde?
*
ICH HABE NOCH NIE IM LEBEN eine Naturkatastrophe erlebt. Darüber bin ich auch froh. Aber auf einer Reise mit Martín von Bariloche auf der argentinischen Seite über die Anden nach Chile begegnete ich Menschen, die mir von ihren Erlebnissen mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis erzählten. Und immer wieder fragte ich mich nach solchen Gesprächen, was schlimme Krisen und das Erleben von Katastrophen mit uns machen, wie sie uns prägen und wie wir mit den Geschehnissen weiterleben können.
Von Bariloche aus gibt es Richtung Norden mehrere Pässe über die Berge, die nach Chile führen. Der kürzeste Weg schlängelt sich am Vulkan Puyehue vorbei, und man kommt auf der chilenischen Seite schnell in die Stadt Osorno. Wir wählten die längere Strecke, den nördlicher gelegenen Pass, der uns auf seinem höchsten Punkt kurz vor dem Grenzübergang durch einen verzauberten Araukarienwald führte. Von Weitem sah man schon den massiven und kegelformartigen Vulkan Lanín, der auf mich immer sehr grandios und sogar bedrohlich wirkt. Ganz anders als der Vulkan Villarica (Abb. 1), an dem wir eine Stunde später auf chilenischer Seite entlangfuhren. Dieser Berg liegt direkt neben dem kleinen Städtchen Pucón und ist vielleicht der schönste, aber mit Sicherheit auch aktivste Vulkan Amerikas. Fast an jeder Straßenecke des Ortes sieht man ihn, der so lebendig ist, dass oft Rauch aus dem Inneren aufsteigt. Steht eine Wolke über dem Krater, reflektiert sie manchmal das brodelnde Magma und leuchtet rot. Der Vulkan erscheint von Pucóns Straßen aus zum Anfassen nahe. Mit einer entsprechenden Ausrüstung kann man den Berg besteigen, und es gibt einige Reiseagenturen, die eine Exkursion zum Krater anbieten.
Es war noch sehr früh am Morgen, und ich machte mich von unserem Hotel aus auf den Weg durch die Hauptstraße, um ein paar Informationen zu bekommen. Irgendwann wollte ich da hinauf und einmal in den Krater schauen. Es lässt sich nicht genau erklären, was mich so anzieht an diesem Berg. Er erscheint freundlich und lieblich, genau wie die Umgebung mit ihren fruchtbaren Hügeln. Dann stand ich vor einer Trekking-Agentur, die gerade ihre Türen öffnete, und entschied, einfach mal zu fragen, was man braucht, um den Vulkan zu besteigen. Es sprach mich ein junger chilenischer Mann an, der aus Pucón kam und in Deutschland studiert hatte. Sein Name war Carlos und er erklärte mir die Route auf einer Karte, zeigte mir die Ausrüstung, die die Agentur zur Verfügung stellt, und sagte ganz entschieden: »Wer wirklich hinaufwill, dem helfen wir, bis er oben ist.« Das machte mir Mut, denn ich weiß nie so genau, wie ich meine eigene Kondition einschätzen soll. Aber zu jenem Zeitpunkt war ich mit Martín auf der Durchreise und sammelte also die Informationen für später, wenn ich einmal für ein paar Tage allein in Pucón sein würde. So verabschiedete ich mich von Carlos und fragte nur kurz noch, ob die Menschen im Ort keine Angst hätten vor einem Vulkanausbruch.
»Angst? Nein, das haben wir nicht. Wir sind daran gewöhnt.« Auf dem Weg zurück zum Hotel fragte ich mich, woran sie gewöhnt sind und wie er das genau meinte. Leben sie einfach gleichmütig mit dem Gedanken und dem Gefühl, dass der Vulkan jederzeit ausbrechen könnte und sie dann alles verlieren würden, vielleicht sogar ihr eigenes Leben? Nehmen sie diese Vorstellung an als eine Variante der Zukunft, oder meinte er mit »Wir haben uns daran gewöhnt« ein Abstumpfen, ein Nicht-darüber-Nachdenken oder sogar ein Verdrängen? Ersteres würde sie vielleicht sogar freier machen als andere Menschen, die nicht in unmittelbarer Nähe eines so aktiven Vulkans leben. Letzteres erschien mir als eine unerträgliche Situation. Und mir kam der Gedanke, dass in dieser Gegend rund um den Vulkan, der jederzeit eine ganze Stadt unter seinen Lavaströmen begraben kann, möglicherweise ein größeres Bewusstsein vom Leben existiert als anderswo. Sie wissen dort vielleicht besser als wir, was in ihrer Macht steht und was nicht. Braucht Leben Risiko und Wagnis, um Bewusstsein zu schaffen? Und brauchen wir Gefahr, Bedrohung und Krisen, um zu erfahren, was Freiheit ist?
Später erzählte mir ein älterer Chilene in einem Café in Pucón, dass die Bedrohung für die Menschen, die in unmittelbarer Nähe eines Vulkans leben, umso geringer sei, je aktiver der Berg ist. »Wir, die wir so dicht an einem aktiven Vulkan leben, kennen unseren Berg und seine Gefahren, wir wissen und fühlen, was passieren kann, und haben gelernt, mit dieser Bedrohung umzugehen. Wir schauen jeden Tag und jede Nacht auf ihn und bleiben doch ganz ruhig. Und wenn es wirklich nötig wird, halten wir uns in gebührendem Abstand auf.« Und ich fragte mich, ob der Vulkan dann überhaupt noch eine Bedrohung ist?
»ICH MACHE NUR REISEN MIT EINEM TIEFEREN SINN«, hatte mir mal eine gute Freundin gesagt. Der Satz war im Gespräch mit ihr untergegangen, und es ergab sich keine Gelegenheit mehr zu fragen, wie genau sie das gemeint hatte. Während unserer Reise durch Patagonien erinnerte ich mich immer wieder an diesen Satz, ohne die geringste Ahnung zu haben, ob das, was wir erlebten, einen tieferen Sinn haben würde.
Von Pucón aus fuhren Martín und ich Richtung Süden und kamen am späten Nachmittag in einem verschlafenen kleinen Ort namens Futaleufú an. Es war Sonntag, und es wurde gewählt, in der Schule. Die Straße davor war gesperrt. An jeder Restauranttür hing ein Schild: »Hoy no hay alcohol,« (»Heute gibt es keinen Alkohol«).
In den ersten Tagen unserer Reise begleiteten uns unsere argentinischen Freunde mit ihren zwei kleinen Kindern, und Víctor, der Vater, der so gerne angeln geht, fand auch bald eine geeignete Stelle am Fluss. Er angelte, und Martín und ich stiegen in unsere Neoprenanzüge. »Vamos Luca, da oben schwimmen wir los, du immer hinter mir her, und weiter unten, wo die Strömung abnimmt, steigen wir wieder aus«, erklärte mir Martín. Angst mischte sich mit Aufregung, und ich wusste um meinen Ärger, wenn ich nicht springen würde. Es war kurz nach der Schneeschmelze, und das Wasser hatte ungefähr vier Grad Celsius.
Ich bin eine gute Schwimmerin, ich liebe die Gleichförmigkeit der Bewegungen beim Vorwärtskommen, und das Wasser um mich herum, auf meiner Haut, auch und gerade wenn es richtig kalt ist, macht mich für Momente noch ein bisschen lebendiger. Meistens schwimme ich in hellblauen Freibädern meine Bahnen oder in Seen, wenn es erlaubt ist, und manchmal im Meer, aber noch nie war ich mit oder durch einen Fluss geschwommen. Wie stark die Strömung des Flusses war, konnte man sehen, und als Martín mich aufforderte, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich weiß manchmal nicht, ob er meine Kraft richtig einschätzen kann. Einen Moment lang war ich unsicher.
Angst hatte mir schon oft im Leben den Boden unter den Füßen weggerissen, Angst um mich selbst und Angst um andere. Wobei die Angst um mich selbst immer geringer war als die Angst um andere. Und am größten war immer die Angst um unsere Kinder.
Aber ich wusste auch, dass es eine Angst gab, die irreal ist, die nichts mit dem, was ist oder war, zu tun hat. Das ist eine Angst, die man stoppen kann, die man überwinden kann. Und so traf ich eine Entscheidung, schaute noch einmal flussaufwärts auf die starke Strömung, atmete tief ein und sprang in das quirlige, gletscherkalte, türkisfarbene Wasser. Trotz des Schutzes durch den Neoprenanzug spürte ich die Kälte des Wassers sofort auf meiner Haut. Der Anzug war nicht ganz dicht, und besonders am Hals und an den Handgelenken trat das Wasser ein, da schmerzte die Kälte am meisten. Doch plötzlich übernahm die Energie des Flusses mich ganz, meinen Körper und meine Angst. Ich war mehr Geist als Stoff, und der rauschende Fluss auch. Für einen Moment war ich Teil jedes einzelnen Wassertropfens, des Windes, des Himmels und der Kraft der Strömung. Und im gleichen Moment sah ich Martín kurz vor mir. Ich holte ihn ein, und er schrie mir nur zu: »Da vorne steigen wir aus!«, denn weiter unten war Víctor mit seiner Angel. Ein paar kräftige Schwimmzüge Richtung Ufer, und ich hatte wieder Boden unter den Füßen. Ich bin dann noch einmal das gleiche Stück mit dem Fluss geschwommen und würde es immer wieder tun.
AM NÄCHSTEN TAG FUHREN WIR BIS CHAITÉN, einem kleinen Ort an der chilenischen Pazifikküste. Ich wusste nichts über dieses Städtchen, nur, dass uns von hier aus am nächsten Tag eine Fähre zur Insel Chiloé bringen sollte. Beim Ankommen spürte ich Beklommenheit. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, war mein Gefühl. Später erfuhr ich, was Anfang Mai des Jahres 2008 passiert war. Einige Tage vor dem 8. Mai hatte ein Erdbeben der Stärke 4,1 den kleinen Ort mit seinen 3.300 Einwohnern überrascht. Kurz darauf regnete es Asche und bedeckte die Gegend mit einer ca. fünfzehn Zentimeter hohen Schicht. Infolgedessen wurde das Trinkwasser unbrauchbar. Die ersten Personen wurden evakuiert, die meisten Menschen brachte man auf Booten auf die vorliegende Insel Chiloé. Ein paar Tage später explodierte der relativ kleine Vulkan Chaitén, und seine Lavamassen und Schlammlawinen zerstörten dreihundert Häuser. Bis heute sind etwa siebenhundert Menschen zurückgekommen, es gibt wieder ein paar Restaurants, ein Hotel, eine Schule und eine kleine Gesundheitsstation.
Der Ort Chaitén ist umgeben von großen, aktiven Vulkanen, aber niemand hatte damit gerechnet, dass gerade der kleinste so eine Katastrophe anrichten würde. Denn er galt als erloschen, und sein letzter großer Ausbruch wird auf das Jahr 7.420 v. Chr. datiert.
Am Nachmittag kam die Sonne raus, es war windstill, und so konnte ich mit unserem Paddleboard zum ersten Mal auf den Pazifik hinauspaddeln.
Obwohl ich schon zwei Wochen in Südamerika war, wurde ich immer noch morgens gegen fünf oder sechs Uhr wach. So auch am nächsten Morgen in Chaitén. Ich ging hinunter zum Pazifik und traute meinen Augen nicht. Was am Tag zuvor noch von Wolken verdeckt gewesen war, tauchte jetzt plötzlich majestätisch vor mir auf: die Spitze des Vulkans Corcovado. Ich nahm ein paar tiefe Atemzüge, war überwältigt und lief schnell nach Hause, um die Kamera zu holen. Wie dumm, hinter einem Foto herzurennen, denn als ich zurückkam, war der Vulkan wieder hinter den Wolken verschwunden. Was für eine Illusion! So saß ich da und lachte eigentlich über mich selbst, als plötzlich zwei Delfine von links nach rechts an mir vorbeischwammen. Sie tauchten auf, tauchten wieder ein, tauchten auf, tauchten ein, beide ganz gleichförmig. Sie begrüßten mich, und es berührte mich. Die Kamera in meiner Hand hatte ich vergessen. Aber eines war mir klar: Wir können nie genau wissen, was im nächsten Moment passiert. Und fast nie rechnen wir damit, dass es umwerfend schön sein kann.
UNSERE REISE GING WEITER RICHTUNG NORDEN, über Temuco nach Nueva Imperial. Wir fuhren durch das Land der Mapuche oder Auracanía, wie sie es selbst nennen, an Flüssen entlang, die ihren Ursprung in den Anden haben und durch fruchtbares Land bis zum Pazifik fließen.
Die meisten geografischen Bezeichnungen stammen aus dem Mapudungun, der Sprache der Mapuche. Wir hatten uns in Pucón ein Wörterbuch Spanisch-Mapuche gekauft, sodass ich die Bedeutung der Namen nachschauen konnte. Mir fiel schon in Bariloche auf, dass viele Wörter auf -lafken endeten.2
Ein Freund hatte mir erklärt, dass es »See« bedeutet. Das war auch kein Wunder, denn Bariloche liegt am Lago Nahuel Huapi, einem der größten Seen Patagoniens. Aber hier, nordöstlich von Temuco, befand sich kein See, es erschien uns plötzlich eher, als bedeute es »Meer«, denn mit jedem Kilometer näherten wir uns dem Pazifik. Also schlug ich noch während der Autofahrt die Bedeutung von Lafken nach – und war überrascht. Die Frage war nicht »See« oder »Meer«, sondern es steht für beides. Lafken bedeutet schlicht »eine Ausdehnung oder weite Oberfläche von Wasser«, und ein See, der so aussieht wie ein Meer, ist ein Calafken. Diese Wahrnehmung der Natur machte mich neugierig, und ich fing an, im Wörterbuch zu lesen. Für das Wort »Wasser« fand ich mindestens neun verschiedene Bedeutungen: Süßwasser, Schlammwasser, blaues Wasser, frostiges Wasser, kristallines Wasser, sandiges Wasser, Meerwasser, Regenwasser, Wasser aus dem Tal und noch einige mehr. Und das Licht heißt Alow, das Licht des Mondes Ale und das Licht der Sonne Alofantu. Und dann schaute ich das Wort »Seele« nach und fand Saki – die freundliche Seele, Am – die verstorbene Seele und Alhue – die verlorene Seele. Ob die Mapuche auch einen Namen für eine Seele hatten, deren Körper und Geist gerade im Koma schweben? Oder ist die Seele im Koma Alhue, die verlorene Seele? Und haben sie ein Wort für Koma? Dabei fiel mir auf, dass ich auch nicht wusste, was das Wort »Koma« bedeutet. Ich fand es noch am gleichen Abend heraus: Koma kommt aus dem Altgriechischen und heißt »tiefer Schlaf«.
UNSER SOHN FIEL AM ABEND des 27. August 2014 vom Dach, und keiner hatte es bemerkt. Martín, Tomás und ich schliefen schon. Tomás, Matthias’ jüngerer Bruder, sagte später, er habe im Halbschlaf einen dumpfen Schlag gehört, das war wahrscheinlich Matthias Kopf, als er auf das Kopfsteinpflaster prallte.
Wahrscheinlich erst Stunden nach diesem Sturz wurde ich wach, denn ich vernahm hektische Schritte unter unserem Schlafzimmerfenster. Matthias, der hinter unserem Haus lange bewusstlos auf der Erde gelegen hatte, war wieder aufgewacht, lief ums Haus herum, kam vom Haupteingang in den Wintergarten und klopfte ein paar Minuten später laut und heftig gegen die Haustür. Sofort wusste ich, dass etwas Unvorhergesehenes, etwas Schlimmes passiert sein musste, und war sehr aufgewühlt. Ich sprang aus dem Bett, lief die Treppe hinunter und öffnete ihm die Tür. Da stand er blutüberströmt und schwer verletzt vor mir, sprach verwirrt Deutsch und Englisch durcheinander. Ich war hellwach, hochkonzentriert und spürte, wie sich all meine Energie in mir bündelte, wie sich meine Kraft zu einem inneren, hellen Lichtwirbel zusammenbraute und mich Schritt für Schritt das nächste Wichtige und Richtige tun ließ. Später wurde mir klar, dass ich getragen wurde und mich diese Energie durch jene Nacht und auch alle weiteren schwierigen Momente der nächsten Monate und sogar Jahre begleitete. Das war mein Glück, unser Glück.
Matthias musste irgendwie sofort ins Krankenhaus gebracht werden. Aber wie? Wir wohnen abseits eines kleinen Dorfes, und jeder unserer Besucher verfährt sich erst einmal, bevor er uns findet. Ich versuchte dennoch, den Notarzt anzurufen. Der Akku des Handys war leer. Das Telefon konnte ich gar nicht finden, und Martín hatte da schon entschieden, ihn selbst ins Krankenhaus zu fahren.
Tomás blieb zu Hause. Ich saß hinten bei Matthias, der immer wieder nur nach Hause wollte, schlafen wollte und gar nicht verstand, was passiert war. Erklären konnte man ihm das nicht. Panik und Angst standen in seinen weit aufgerissenen Augen.
Wir fuhren in ein kleines Krankenhaus, vier Kilometer entfernt von unserem Haus. Erst über einen Feldweg und dann ein kleines Stück durch einen Wald. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir keine Ahnung, was genau passiert war und dass Matthias einen schweren Schädelbasisbruch hatte. Aus unserer Sicht war er von draußen ins Haus gekommen. So, wie wir die Katastrophe wahrgenommen hatten, musste vor unserem Haus etwas Schlimmes passiert sein. War er verprügelt worden? Überfallen worden? Hatte er Drogen genommen? Warum war er so verwirrt? Die Ärzte im Krankenhaus fragten uns, und wir konnten gar nichts Genaues sagen. Das machte alles noch viel schlimmer. Denn wertvolle Zeit verging, bis der Notarzt entschied, ihn mit dem Krankenwagen ins Kreiskrankenhaus zu bringen. Und wenn Matthias aus dem Haus gelockt und überfallen worden war? Hieß das vielleicht, dass Tomás auch in Gefahr war? Nachdem uns das durch den Kopf ging, fuhr Martín sofort nach Hause, um bei Tomás zu bleiben.
Ich hörte, wie die Ärzte Matthias anschrien. Er durfte auf keinen Fall wieder bewusstlos werden. In diesem Moment hatte ich zum ersten Mal Angst. Ich stieg mit in den Krankenwagen ein, aber man ließ mich nicht hinten neben Matthias sitzen, sondern schickte mich nach vorne auf den Beifahrersitz. Die leeren Straßen und die dunkle Nacht beruhigten mich ein bisschen. Dass der Fahrer kein Wort mit mir sprach, hatte ich gar nicht bemerkt. Im Kreiskrankenhaus entschied man, dass Matthias sofort notoperiert werden müsste. Sie telefonierten mit Düsseldorf und Krefeld, um herauszufinden, wo ein Operationssaal frei war. Der Notarzt, der Matthias dann nach Krefeld begleitete, war ziemlich sauer, und ich hörte nur die eine Bemerkung: »Viel zu spät.«
Ich bin ganz sicher, dass er auf dieser Fahrt Matthias das Leben gerettet hat. Er besaß diese Kraft, die auch meinem Vater eigen gewesen war, ihn nicht einfach so sterben zu lassen. Das spürte ich vorne in der Kabine, während der Fahrer mich fragte, ob Matthias vielleicht ein Schlafwandler sei und eventuell deshalb vom Dach gefallen war.
MATTHIAS WURDE NOCH IN DER GLEICHEN NACHT notoperiert. Ich blieb im Krankenhaus und wartete zitternd vor der Tür zum Operationssaal. Der Flur war hell erleuchtet, die Bank, auf die ich mich gelegt hatte, hart und kalt. Niemand sprach mit mir, und ich hielt vor Aufregung manchmal die Luft an. In dieser Nacht spürte ich ganz deutlich, dass Matthias zwischen Leben und Tod schwebte. Ich spürte die Anstrengung der