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EIN TÖDLICHER TÖRN IN DIE KARIBIK VIER FRAUEN, DREI MÄNNER UND EIN SCHIFFBRÜCHIGER WER WIRD ÜBERLEBEN? Die drei Söhne eines Kieler Reeders freuen sich auf einen sommerlichen Segeltörn mit Freunden. Doch von Anfang an läuft es anders als geplant. Einer der Söhne erscheint nicht beim Ablegen auf den Kapverden, in der Gruppe gibt es Spannungen und schon kurz nach Reisebeginn muss ein Schiffbrüchiger aufgenommen werden. Dann geschieht ein Mord. Angst und Misstrauen machen sich breit. Und es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Schnell fällt der Verdacht auf den Fremden an Bord. Doch ist er wirklich der Mörder? Als erneut jemand getötet wird, übernimmt Panik das Ruder ...
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Marina Heib • Die Stille vor dem Sturm
Marina Heib
DIE STILLEVOR DEM STURM
Niemand hätte jemals das Meer überquert,wenn er die Möglichkeit gehabt hätte,bei Sturm das Schiff zu verlassen.
Charles F. Kettering
Filmriss
Er wacht auf und öffnet die Augen. Es ist dunkel, er kann so gut wie nichts sehen. Aber er liegt nicht in seinem Bett, das spürt er. Er liegt hart, sehr hart. Schmerz dringt in sein Bewusstsein. Seine Glieder fühlen sich geschwollen an, jeder einzelne Knochen tut weh, der Kopf dröhnt, und seine linke Hand pocht wie verrückt. Was ist passiert? Wo, verdammt, ist er? Totaler Filmriss. Er stützt sich mit beiden Händen auf, um sich aus seiner liegenden Position hoch zu rappeln, doch als er mit seinem Gewicht Druck auf die linke Hand ausübt, schreit er vor Schmerz laut auf und fällt wieder hinten über, wobei er mit dem Kopf auf den Boden stößt. Es klingt nackt, roh, metallisch. Mit der rechten Hand tastet er um sich, um vielleicht eine Lampe oder einen Lichtschalter zu finden. Nichts. Ebenfalls nur mit der Rechten richtet er sich wieder auf und betastet vorsichtig seine linke Hand. Ein dicker Verband ist um sie gewickelt. Der Verband fühlt sich nass und schmutzig an. Er riecht daran. Es riecht nach Blut. Behutsam tastet er den Verband ab, drückt auf den Handrücken und jeden einzelnen Finger, um herauszufinden, was mit seiner Hand los ist. Als er es begreift, überkommt ihn eine Welle der Übelkeit. Ihm wird schwindlig.
Da klafft eine Lücke. Da, wo sein Ringfinger sein sollte. Er ist nicht da. Einfach nicht da. An der Stelle, wo der Finger sitzen sollte, ist … nichts. Von einem heiß-kalten Schock gepackt schreit er wieder auf. Scheißescheißescheiße, schreit er. Dann übergibt er sich. Als er wieder Luft bekommt, stammelt er entsetzt vor sich hin und wiegt sich vor und zurück wie ein hospitalisierendes Kind. Es dauert eine Weile, bis er damit aufhören kann. Er fragt sich, was zur Hölle passiert ist, und versucht, sich zu erinnern.
Er ist mit Macke im Club gewesen und hat das Spiel angesehen. Hat viel getrunken. Ein paar Lines Koks reingezogen. Er erinnert sich an laut grölende Fans, als die Hertha das finale Siegestor schoss. Das Bier floss in Strömen. Er hat mit Macke noch ein, zwei oder drei Absacker genommen, dann ist er mit ihm raus gegangen. Hat sich verabschiedet, sich torkelnd auf den Weg nach Hause gemacht. Das Auto hatte er vorsorglich in der Tiefgarage gelassen, weil er beim Public Viewing in der Kneipe eh säuft, vor allem beim Heimspiel. Er erinnert sich auch noch, den pakistanischen Zeitungsverkäufer der Morgenausgabe an der Kreuzung gesehen zu haben. Kurz danach ist er in seine Straße eingebogen. Dann Blackout. Nichts mehr.
Er hat keine Ahnung, wie lange er ohne Bewusstsein war. Er spürt immer noch diffus das Koks in seinem Organismus, dazu jede Menge Adrenalin, das durch seine Zellen jagt und sie zum Vibrieren bringt. Doch dieser Grundton von nervöser Energie wird überlagert von einem Gefühl der Betäubung, das dumpf in ihm nachhallt und seine Gedanken und sensorischen Empfindungen in Watte packt.
Eine Millisekunde lang glaubt er an einen blöden Scherz seiner Freunde. Aber das ist Schwachsinn, die hätten ihn ins Krankenhaus gebracht, wenn er einen Finger verliert, wie auch immer das passiert sein mochte. Die meisten seiner Freunde sind zwar total bescheuert, aber keine Arschlöcher. Also ist die Sache ernst. Sehr ernst. Er will in die Innentasche seiner Jacke greifen, das Handy herausnehmen. Doch er trägt seine Jacke nicht. In der Dunkelheit kniet er sich hin und tastet seine nähere Umgebung ab. Die Jacke ist nicht da. Damit fehlen auch sein Geld, seine Papiere und sein Handy. Scheiße! Hat er die Jacke verloren? Einfach so? Wohl kaum. Genauso wenig wie er seinen Finger einfach so verloren hat.
Er zermartert sich das Hirn, erinnert sich aber nur an einen grellroten Blitz aus Schmerz inmitten tiefster Schwärze. Er muss fast vollständig betäubt gewesen sein, als er den Finger verlor. Wodurch auch immer. Sein Geschmack im Mund ist pappig und bittersüß. Das kommt weder vom Alk noch vom Koks. Er schüttelt den Kopf, um sich klar zu kriegen, unterlässt es aber sofort wieder, denn es tut weh. Genau wie das Nachdenken. Alles tut weh.
Er kniet sich hin, tastet sich vorsichtig weiter, nur mit der Rechten. Ein paar Meter neben ihm stehen zwei große Plastikkanister und eine Metallbox auf dem Boden. Als er die Kanister bewegt, schwappt es. Er öffnet einen der Behälter und riecht daran. Geruchlos. Er streckt den Zeigefinger der rechten Hand hinein und fühlt lauwarmes Nass. Er leckt an seinem Zeigefinger. Wasser. Das nimmt er zumindest an. Er hofft es. Aber er traut sich nicht zu trinken, obwohl seine Zunge trocken am Gaumen klebt. Er blickt sich angestrengt um. Seine Augen beginnen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Schemenhaft kann er seine nächste Umgebung sehen, aber weder die Ausdehnung des Raumes erkennen noch die Umrisse. Es scheint ein großer Raum zu sein. Als er hustet, wobei ihm nicht nur der Schädel fast zerspringt, sondern auch seine Rippen sich in die Lunge zu bohren scheinen, hallt es hohl. Er wendet den Kopf, nach rechts, nach links, er setzt sich wieder hin, dreht sich im Sitzen um die eigene Achse. In jeder Richtung blickt er in eine bedrohliche, dunkelgraue Leere. Er hört Wasser. Es schwappt und gluckst leise, aber er kann nicht orten, aus welcher Richtung die Geräusche kommen. Als er sich darauf konzentriert, werden die Geräusche lauter und lauter, als befinde er sich inmitten eines reißenden Flusses. Sein Kopf dröhnt. Er hält sich die Ohren zu. Seine mühsamen Versuche, halbwegs klar zu denken, ertrinken in einer Welle aus Panik.
Einige Wochen zuvor:
Die Einladung
Ein Sommersturm näherte sich über der Nordsee. Dunkle Wolken ballten sich bedrohlich am Horizont, Wind setzte ein, wurde stärker, begann zu jaulen, zu brausen und zu tosen, drehte, wendete, schwieg kurz, um dann mit verstärkter Macht aufzubrüllen. Möwen flogen wie Fetzen durch die Luft. Bleigraue Wassermassen rollten mit ungestümer Wucht gegen das Gestade und zogen Sand, Muscheln, Steine, Geröll und alles, was zuvor an den Strand gespült worden war, wieder mit zurück in die schwarze Tiefe. Das Meer schien in epileptischer Raserei, türmte sich in Wellenbergen, die Gischt wirkte wie Schaum vor dem Mund eines wütenden Ungeheuers. In den Dünen standen zwei Spaziergänger, die sich geduckt dem Toben des Windes entgegenstemmten, die Hände in Hosen- oder Jackentaschen versteckt, die Schultern nach vorne gebeugt. Übermütige Sturmsucher, die ihre Kräfte mit der Gewalt der Natur messen wollten. Trutz, blanke Hans! Von weitem grollte ein Donner, wenige Sekunden darauf zuckten grelle Blitze über die See und tauchten die Szenerie für einen Augenblick in gespenstisches Licht. Ein plötzlich einsetzender Starkregen trommelte auf das Meer und schlug auf den Strand ein wie die Bleikugeln eines Schrapnells.
Nach etwa 30 Minuten war der Spuk vorbei. Der Himmel riss auf, die Wolken zogen sich langsam an den Horizont zurück, wo sie schließlich ganz verschwanden, als wären sie draußen, weit weg in die offene See abgetaucht. Das Firmament erstrahlte in einem frisch gewaschenen Babyblau, die Sonne flimmerte heiß durch die feuchte Luft und machte sich daran, den schweren, nassen Sand zu trocknen. Dünengräser richteten sich langsam auf, letzte Regentropfen liefen glitzernd an ihnen herab, um im Sand zu versickern. Die beiden Spaziergänger richteten sich ebenfalls auf, leckten sich die Lippen, um noch etwas von dem Salz zu schmecken, das der Wind ihnen ins Gesicht gepeitscht hatte. Sie legten schützend ihre Hände vor die Augen, blinzelten in die Sonne und suchten das Meer nach Zeichen des vorangegangenen Infernos ab. Vergeblich. Die See lag jetzt ruhig und weich bewegt, die Wasseroberfläche wogte sanft, schaukelte, glitzerte, das Bleigrau wich Meter für Meter einem satten, dunklen Blaugrün. Nichts als pure Schönheit, Grenzenlosigkeit, Ewigkeit. Trügerische Stille.
Marie blickte zu den Spaziergängern und sah, dass sie endlich weitergingen. Nun war sie ganz allein mit dem Meer. Sie betrachtete es voller Abscheu. Obwohl sie auf einer friesischen Hallig geboren und aufgewachsen war, die Nordsee also ständig vor Augen und in der Nase und das Salzwasser im Blut gehabt hatte, weigerte sie sich stur, in die allgemein übliche Begeisterung einzustimmen. Wenn ihr ein zumeist binnenländischer Tourist das mit bedeutungsschwangeren Metaphern aufgeblähte Loblied des Meeres sang und darauf hoffte, dass sie einstimmte, zuckte sie nur mit den Schultern und zitierte in einer kleinen Abwandlung Kurt Tucholsky: „Das Meer liegt da und sieht aus.“ Auch wenn sie es besser wusste, viel besser. Mehr gab es für sie dazu nicht zu sagen. Falls sie überhaupt etwas dazu sagte.
Auch jetzt stand sie wortlos in den Sylter Dünen. Klatschnass und schwer atmend beobachtete sie das Naturschauspiel. Der Sturm und die aufgepeitschte See hatten sie in Panik versetzt, doch sie hatte nicht in die Sicherheit des Hotels fliehen wollen, um mit Henning an der Bar einen Cocktail zu schlürfen und in entspannter Ablenkung herumzualbern, bis der Wind sich wieder legte. Sie hatte standgehalten. Dennoch zitterten noch immer ihre Hände, ihr Puls war erhöht, und sie wusste nicht, ob das Tosen des Meeres in ihren Ohren nachhallte oder sie nur das rhythmische Rauschen ihres Blutes hörte.
Marie atmete tief durch, drehte sich um und stapfte langsam zurück, um sich zu duschen und für den Abend umzukleiden.
Der Türsteher der Bar sah Henning Wendelstein und Marie Brodersen schon von weitem und winkte die beiden mit fast devoter Geste heran. Henning zog Marie an der langen Schlange junger Menschen vorbei, die geduldig auf ihren Einlass warteten. Einige murrten lautstark, andere tuschelten verhalten. Marie hörte, wie ein junger Mann zu seiner Begleiterin sagte: „Scheiß Wendelsteins. Die glauben, ihnen gehört die halbe Welt!“
„Und die andere Hälfte den Brodersens …“, antwortete seine Freundin. Dabei warf sie einen begehrenden Blick auf Henning. Der scherte sich nicht um das Fußvolk und drängelte Marie fröhlich vorwärts.
„Jetzt komm endlich, bevor der Pöbel über uns herfällt!“
Auch wenn Marie der arrogante Auftritt ihres Freundes unangenehm war, so war sie dennoch erleichtert über seine gute Laune. Tagelang hatte er sich maßlos darüber geärgert, dass sein Bruder Sören ihn ohne Erklärung für ein Wochenende nach Sylt in ein Luxushotel und für diesen Abend in den angesagtesten Club der Insel beorderte. Marie freute sich über die kleine Auszeit vom Alltag. Henning jedoch hatte sich nur über den Kommandoton seines älteren Bruders echauffiert und ihr damit die Vorfreude vermiest. Inzwischen schien er sich jedoch auf die Zusammenkunft zu freuen. Also verdrängte Marie die ihr peinliche Bevorzugung, die sie beim Türsteher genossen hatten, und folgte Henning bereitwillig in den Club. Sie war fest entschlossen, den Abend zu genießen.
Der Club war brechend voll mit amüsierwilligen jungen Leuten, die sich am Tresen und auf der Tanzfläche drängten. Es lief entsprechend des Kuba-Mottos dieser Nacht karibische Steel-Drum-Musik. Die Einrichtung präsentierte sich in einem edlen, satt-sündigen Rot. Henning wurde von dem Club-Besitzer mit einer Umarmung begrüßt und zu einem reservierten Tisch auf einer halbwegs ruhigen Empore geleitet. Sofort kam ein Kellner, der ihre Getränkewünsche aufnahm.
Marie sah sich angetan um. Die Atmosphäre gefiel ihr, die Musik ebenso. Nur das Gedränge auf der Tanzfläche verursachte ihr Beklemmungen. Sie war froh, von ihrem Sitzplatz aus das wilde Treiben der Partygäste beobachten zu können, ohne sich ins Getümmel stürzen zu müssen.
„Wieso sind wir noch nie hier gewesen? Ich find’s sehr nett!“, sagte sie.
„Nett ist die kleine Schwester von scheiße.“ Henning sah auf die Uhr. „Typisch, Sören lässt mich warten. Seine blöden Machtspielchen gehen mir dermaßen auf den Wecker! Aber scheiß drauf, heute Abend wird gefeiert!“
Er zog Marie in seine Arme und küsste sie stürmisch. Marie lachte. „Fragt sich nur, was wir feiern?“
„Dass du mit mir zusammen bist? Dass wir jung, reich und schön sind und uns die Welt offensteht? Dass die Pappnasen da drüben vor Neid grün und gelb sind, wenn sie sehen, wie ich meine Zunge in deinen Hals stecke?“
„Sei nicht so ein blöder Macho, Henning Wendelstein!“
Henning antwortete nicht, denn er entdeckte Tim, den jüngsten der drei Wendelstein-Brüder. Ungestüm winkte Tim schon von der Tür, bahnte sich seinen Weg durch die Menge und strahlte dabei unbekümmert wie immer. Als er am Tisch ankam, riss er Marie aus den Polstern, küsste sie auf beide Wangen und klopfte Henning auf die Schulter.
„Hey, Leute, bin gerade über Hamburg mit der Bimmelbahn angekommen. Sachen im Hotel abgeworfen und zack, hierher. Alles frisch bei euch?“
Ein Nicken von Henning genügte ihm als Antwort, er sprudelte temperamentvoll weiter.
„Ich muss euch unbedingt was erzählen, ich bin echt hin und weg, aber ich halte meine Klappe, bis Sören da ist. Sonst muss ich euch zwei Mal voll labern. Mann, hab ich’n Brand, wo is’n der Mundschenk? Henni, weißt du, was unser Großer hier für einen Aufriss macht? Geht’s um Papas Geburtstag?“
„Das würde mich auch interessieren.“ Hinter Tim war ein großer, breitschultriger Typ mit wirren, hellbraunen Locken und einer sexy gekleideten, zierlichen Blondine an den Tisch getreten. Er gab allen die Hand, wirkte dabei aber mürrisch.
Henning stellte vor.
„Marie, das sind Mike und Julia. Ich hab dir von ihnen erzählt. Mike, Julia, das ist Marie. Tim kennt ihr ja.“
Tim begrüßte die beiden lachend.
„Hey, Julia, du schärfste Schulfreundin ever! Du bist immer noch mit diesem Kerl aus dem kanadischen Holzfällerbilderbuch zusammen?!“
Mike runzelte die Stirn, er konnte mit Tims Humor offensichtlich wenig anfangen. Tim zog Julia mit zum Tresen, um ein paar Cocktails zu holen. Mike setzte sich zu Henning und Marie und musterte die beiden. Marie fühlte sich unwohl, sie fand Mikes durchdringenden Blick unhöflich und seine deutlich schlechte Laune minimierte ihre Neugier auf ihn. Tim und Julia waren noch am Tresen, als Sören eintraf. Genau wie Henning zog er die Blicke vieler Frauen und Männer auf sich, als er den Raum durchquerte. Bei Henning lag dieser Effekt an seinem auffallend guten Aussehen. Bei Sören war es die Präsenz, die er ausstrahlte. Dass sie Wendelsteins waren, tat sein Übriges.
Sören ignorierte Hennings sarkastische Bemerkung über seine Verspätung geflissentlich. Er war gut drauf und begrüßte auch Julia und Tim erfreut, als die beiden mit einem Tablett voller Sex-on-the-Beach-Cocktails zurückkamen. Die Margaritas, die inzwischen vor Marie und Henning standen, schob Tim achtlos beiseite.
„Alle da? Super! Sören, bevor du loslegst: Ich will was verkünden! Ihr werdet es nicht glauben! Ich habe die Frau meines Lebens kennengelernt!“
Sören und Henning stöhnten synchron auf.
„Nicht schon wieder!“
„Dieses Mal ist sie es wirklich! Ich schwör’s bei meiner Red Corvette!“
Julia nickte lachend.
„Er hat mich schon am Tresen voll gelabert … Wie schön, sanft, klug, lieb sie ist … Britt! Und ausnahmsweise keine Schickeria-Tussi, sondern eine Frau, die für ihren Unterhalt arbeitet! Tim ist verknallt in eine Kindergärtnerin! Ritzt es in alle Bäume und Barhocker, schreibt es an den Himmel!“
Sören winkte ab.
„Schreib’s lieber in den Sand, denn beim nächsten Windstoß heißt sie schon wieder anders.“
Tim wollte vehement widersprechen, doch Mike unterbrach unwirsch. „Können wir jetzt mal zur Sache kommen?“
Marie fand Mike immer unsympathischer. Was für eine Spaßbremse! Sie wusste nur noch nicht, was sie von dieser tief dekolletierten Sexbombe Julia zu halten hatte, die wie eine Ertrinkende in Mikes Arm hing, dabei aber ihre Hand auf Tims Oberschenkel ablegte und Sören mit Schlafzimmerblick anlächelte. War diese Frau selbstbewusst oder einfach nur billig?
Sören nickte Mike zu.
„Wir sind hier versammelt, weil unser alter Herr demnächst seinen 65. Geburtstag feiert.“
Tim gab dem Kellner ein Zeichen, eine neue Runde zu bringen, obwohl sie die Drinks bislang kaum angerührt hatten.
„Aber warum bequatschen wir die Party auf Sylt? Feiern wir hier?“
Sören verneinte.
„Sylt erschien mir passend, das wirst du gleich verstehen. Wir bequatschen übrigens keine Party, sondern eine Yacht.“
Marie schaltete ab. Wenn die Wendelsteins anfingen, über Yachten zu reden, konnte das Gespräch ausufern. Der alte Wendelstein besaß eine große Werft bei Kiel für Bau und Wartung von Doppelwandtankern, wo neben oder treffender gesagt unter Sören auch Henning arbeitete. Sören war der designierte Nachfolger des Alten und als Jurist zuständig für die internationalen Verträge. Henning kümmerte sich um Kundenbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit. Zudem gehörte zum Familienbesitz noch eine erheblich kleinere, aber ebenfalls sehr lukrative Werft in der Nähe von Marbella, wo exklusive Boote im Auftrag betuchter Eigner gefertigt wurden. Yachten, sowohl Motorals auch Segelyachten, waren die Leidenschaft des alten Wendelstein, und auch Sören und Henning teilten dieses Interesse. Marie jedoch zeigte bei dem Thema noch weniger Interesse als Tim und verlegte sich auf das Beobachten der Anwesenden. Sie fand es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die Brüder waren, selbst wenn sie sich durchaus ähnlich sahen: alle drei gut bis sehr gut aussehend, dunkelhaarig, schlank. Zudem trug jeder von ihnen den gleichen wertvollen Siegelring mit seinen Initialen, ein Geschenk ihres Vaters, der damit eine Geschlossenheit der Familie beschwören wollte, die nicht existierte. Tim war der einzige, der das irgendwie cool fand. Er hatte sich die Initialen sogar in der gleichen, altmodisch verschnörkelten Typo auf die Rückseite seines Handys gravieren lassen. Doch charakterlich waren die Brüder völlig verschieden. Sören gab stets den smarten Macher und souveränen, verantwortungsvollen Juniorchef mit Stil. Selbst in diesem betont lässigen Club trug er eine Seidenkrawatte mit doppeltem Windsorknoten. Tim war der Gegenentwurf zu Sören. Das Nesthäkchen der Familie surfte begeistert, unüberlegt und sprunghaft auf einer Welle aus Sorglosigkeit durchs Leben. Er studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin und verdiente gelegentlich ein paar Euro mit Musik-Videoclips, die er für mehr oder minder begabte Bands drehte. Dazu bekam er eine beachtliche monatliche Summe von Papa, das meiste davon gab er für Partys, Drogen und seine Red Corvette aus. Tim baute zwar jede Menge Mist, aber man konnte ihm nie böse sein, weil er es nie böse meinte. Ganz anders Henning. Wenn Tim Licht war, so war Henning Schatten. Sein Hauptmerkmal war die Widersprüchlichkeit. Er konnte ungeheuer charmant, humorvoll, aufmerksam und sogar liebenswert sein, manchmal jedoch agierte er unerwartet kühl und bissig. Dann strahlte er etwas Düster-Geheimnisvolles, fast Besessenes aus. Marie vermutete, dass es diese spannungsgeladene Mischung war, die sie so faszinierte und seit einem knappen Jahr an diesen Mann band.
Sie hatte Henning beim Tierarzt-Notdienst kennengelernt, wo sie an manchen Wochenenden assistierte, um parallel zu ihrem Studium der Veterinärmedizin praktische Erfahrung zu sammeln. Henning war mit einer schwer verletzten Katze hereingekommen, die ihm direkt vor der Praxis vors Auto gelaufen war. Marie fand es rührend, wie sich dieser Kerl um den räudigen Streuner sorgte, den sie leider nicht hatten retten können. Entgegen ihrer sonstigen Zurückhaltung hatte sie ihn zum Trost auf einen Kaffee in dem Schnellimbiss gegenüber der Praxis eingeladen. Dort erzählte er ihr von einem Kater namens Chippie, der in seiner Kindheit für ein paar Jahre die Hauptrolle in seinem Leben gespielt hatte, aber schließlich vom Vater in der Auffahrt überfahren worden war. Sein Vater habe ihn, als er um Chippie weinte, bloß angeherrscht, er solle sich wegen der blöden Katze nicht ins Hemd machen. Marie fühlte sich sofort zu Henning hingezogen, und das hielt bis heute an. Auch wenn Henning nie wieder eine solche emotionale Offenheit an den Tag gelegt hatte wie damals, als er ihr von Chippie erzählte.
„Vater hat eine Yacht gekauft. Eine wunderschöne Swan 70. Luxusklasse, 21 Meter lang, fünf Kabinen. Das Innenleben ist völlig neu ausgestattet, modernste Technik, Touchscreen-Überwachung, neueste Navigations- und Kommunikationsgeräte, AIS … Ihr werdet sie ja sehen, ein absoluter Traum!“
Mike, der als leitender Ingenieur auf der Kieler Wendelstein-Werft arbeitete, wirkte irritiert.
„Wieso werden wir sie sehen? Will er sie nicht verkaufen oder in Charter geben?“
„Erst mal nicht.“ Sören griff in seine Tasche und nahm ein paar Umschläge heraus. Henning, Tim und Mike bekamen jeweils einen.
Marie sah Henning neugierig über die Schulter. In dem Umschlag befanden sich zwei Flugtickets und ein Hotelvoucher. Sören lächelte.
„Wir sind heute auf Sylt, um schon ein bisschen Seeluft zu schnuppern. Denn in etwa drei Wochen fliegt ihr alle nach Las Palmas. Ich bringe das Schiff ein paar Tage vorher mit der Werftcrew aus Marbella. Abends gehen wir essen, am nächsten Tag legen wir ab. Die Überführungscrew fliegt zurück, wir segeln mit der Swan in die Karibik. Erst St. Lucia, dann Kurs Nord zu den Caymans, wo wir Vater treffen und seinen Geburtstag feiern. Wie findet ihr das?“
Marie blickte Henning verblüfft an. Er sah nicht sonderlich überrascht aus. Die anderen hingegen schon. Tim war begeistert.
„Scheiße, ist das cool! Ich nehme Britt mit, dann lernt ihr sie gleich kennen! Wieviel Zimmer hat’n das Boot? Passen wir da alle rein?“
Sören schüttelte missbilligend den Kopf.
„Man passt nicht in ein Boot, sondern auf! Außerdem ist es kein Boot, kleiner, ahnungsloser Bruder, sondern eine Yacht. Für zehn bis elf Personen. Und eine Yacht hat keine Zimmer, sondern Kabinen!“
„Zimmer, Kabinen … ist mir Latte, Hauptsache, es schwimmt!“ Tim grinste frech zurück.
„Warum willst du mich dabeihaben?“, fragte Mike. Er wirkte weder beeindruckt noch erfreut.
Sören hob seinen Sex on the Beach.
„Weil mein kleiner Bruder Tim ein lausiger Matrose ist, der nicht mal zum Kartoffelschälen taugt. Henning hat zwar einiges drauf, wie du weißt, aber im Grunde ist er ein Schönwettersegler, der ab Windstärke fünf lieber mit ein paar Cocktails und einem guten Pokerblatt im Yachtclub abhängt, damit sein hübscher Arsch beim Ausreiten nicht aufs Wasser kantet. Mir wäre also erheblich wohler, wenn ich für die Fahrt über den Atlantik einen Skipper deiner Qualität an der Seite hätte. Soweit ich weiß, bist du die Strecke bei der Atlantic Rallye for Cruisers schon gefahren. In sensationellen zwölf Tagen. Nur ein Tag und ein paar Stunden über Streckenrekord. Außerdem bist du mein Kollege und Kumpel!“
Mike lächelte zum ersten Mal.
„Kumpel? Aha. Bin ich das?“
Marie fand das Lächeln ziemlich aufgesetzt. Sie sah forschend zu Henning, um zu sehen, wie er die beiläufigen Beleidigungen seines Bruders verkraftete. Zu ihrer Überraschung wirkte er entspannt.
„Das heißt also im Klartext,“ fuhr Mike fort, „du willst eine Maxi-Yacht von den Kanaren Richtung Kapverden fahren, westlich abbiegen, und dann auf zum fröhlichen Hochseesegeln? Du hast recht, ich kenne die Strecke. Auch die Barfußroute hat ihre Tücken. 2700 Seemeilen. Der Nordostpassat weht schon bei den Kanaren kräftig mit 4-6 Beaufort und kann in den Düsen zwischen den Inseln noch zulegen. Böen von 30 bis 35 Knoten. Das ist kein Anfängerrevier, sondern was für erfahrene Segler, die auf Starkwind stehen.“
„Du haust ganz schön auf die Trommel, mein Lieber“, sagte Sören. „Die Strecke ist zu der Jahreszeit locker zu schaffen. Geradezu problemlos. Du hast ja nicht nur Loser an Bord.“
„Das werden wir sehen. Ich zähle zwei Profis, Henning als halbwegs brauchbaren Vorschoter, den Trockenfurzer Tim und ein paar Frauen, deren Frisur nicht nass werden darf !“ Er sah seine Freundin an: „Sorry, Julia, aber genau so war es beim letzten Mal.“
Die Männer lachten. Julia auch. Marie lachte nicht. „Wir können ja für euch kochen, putzen und die Segel mit Blümchen besticken. Dann sind wir nicht ganz so unnütz!“
Mike grinste. „Klingt akzeptabel.“
Henning sah Marie perplex an.
„Du willst mit? Ich dachte, du kannst das Meer nicht ausstehen?!“
„Das wird ja immer besser!“, sagte Mike kopfschüttelnd zu Marie. „Bevor du die ganze Zeit kotzend über der Reling hängst, überleg dir das lieber noch mal!“
Marie bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und wandte sich an Sören.
„Können wir auch Nadine mitnehmen?“ Zu Mike gewandt schob sie nach: „Die war schon mal Boxenluder bei einer Regatta, ist also quasi vom Fach! Und sieht selbst beim Kotzen über die Reling super aus.“
„Welche Nadine?“, fragte Sören.
„Nadine Burmester, du kennst sie doch!“
Sören überlegte kurz und nickte dann.
„Ach ja, die Juwelier-Burmester. Klar, wenn du willst. Platz haben wir genug.“
Henning wandte sich genervt an Marie.
„Diese Zicke … Muss das sein?“
Marie bejahte spöttisch. „Sie kann Julia und mir beim Kochen, Waschen und Bügeln helfen.“
Insgeheim war Marie selbst nicht sonderlich begeistert, ihre Freundin Nadine mitzunehmen. Obwohl die beiden seit dem Internat, das Marie ab ihrem 16. Lebensjahr besucht hatte, eng befreundet waren, gab es wegen geringer Anlässe oft Zoff zwischen ihnen. Aber Nadine war scharf darauf, sich den Wendelstein-Ältesten zu angeln, und wenn Marie ihr diese perfekte Chance auf Sören nicht zu Füßen legte, würde Nadine ihr auf ewig die Hölle heiß machen. Abgesehen davon war Marie von ihrer unbedachten Zusage, über den Atlantik zu segeln, so schockiert, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug und sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie würde Schiffsplanken betreten und auf das offene Meer fahren! War sie verrückt geworden? Wieso hatte sie sich so provozieren lassen? Sollte sie nicht lieber gleich einen Rückzieher machen?
„Cool! Lauter scharfe Bräute an Bord! Unsere Mädels werden super Kühlerfiguren abgeben …“, freute sich Tim.
„Kühlerfiguren … Auf der Yacht …“, sinnierte Mike kopfschüttelnd. „Ich bin im Tal der frauenfeindlichen Ahnungslosen. Das kann ja heiter werden!“
Einige Stunden und Drinks später betraten Henning und Marie ihr Hotelzimmer. Henning wunderte sich immer noch, dass Marie mit auf die Kreuzfahrt kommen wollte. Fast bekam sie den Eindruck, ihm wäre es lieber, ohne sie zu fahren, was in ihr einen gewissen Trotz hervorrief. Um ihre Unsicherheit über ihre spontane Entscheidung zu verbergen, lenkte sie von sich ab, indem sie Henning fragte, wieso er so freudig zugesagt hatte. Wo er weder gut mit seinem Vater zurechtkam, noch seinen Bruder Sören besonders ins Herz geschlossen hatte.
„Du weißt doch, wenn Papa befiehlt, dann springen wir. Er muss nur sagen, wie weit und wie hoch. Und wenn ich an seinem Geburtstag nicht dabei bin, werde ich enterbt.“
„Wäre das so schlimm?“
„Glaubst du, ich höre mir seit Jahren den Scheiß vom Loser-Sohn an und habe am Ende nix davon? Nee, ich bleibe schön auf Spur, auch wenn mir meine Family echt auf den Sack geht.“
Marie sah ihn forschend an.
„Manchmal weiß ich nicht, was du ernst meinst und wann du Witze machst.“
Henning zog sie lachend aufs Bett.
„Okay, dann pass mal auf. Mein voller Ernst: Was hältst du davon, wenn wir meinem Vater zu seinem Jubeljahr ein ganz besonderes Geschenk machen? Wir verloben uns. Der Alte wäre überglücklich, die Linie der Wendelsteins mit derer von Brodersen zu kreuzen.“
Marie lachte.
„Ist das ein Antrag? Reichlich formlos, mein Lieber! Außerdem beschleicht mich der Verdacht, dass du das nur machst, um deinem Vater zu gefallen.“
Henning zuckte mit den Schultern.
„Das wäre ein angenehmes Nebenprodukt. Er mag dich.“
„Blödsinn. Dein Vater mag niemanden! Der ist nur scharf auf den Stahl meines Opas. Was für ein Synergie-Effekt! Die Brodersens haben Stahl und die Wendelsteins bauen Ozeanriesen.“ Marie warf sich in eine theatralische Pose. „Aber ich möchte um meiner selbst willen geliebt werden. Das ist zwar äußerst anspruchsvoll, aber so bin ich nun mal.“
Henning begann, halb zärtlich, halb fordernd, unter ihrem Pullover zu fummeln.
„Komm her, ich zeige dir, wie sehr ich dich liebe“, flüsterte er.
Nach einer knapp halbstündigen Beweisführung war Henning eingeschlafen. Marie lag eine Weile im Bett, die Augen ins Nichts gerichtet. Sie wusste, dass sie nicht einschlafen würde. Schließlich erhob sie sich, zog sich an, verließ das Hotelzimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.
Etwa zur gleichen Zeit traten Mike und Julia vor der Bar auf die Straße. Sie waren mit Tim noch länger im Club geblieben, weil Julia unbedingt hatte tanzen wollen. Mike plante, den kurzen Weg zum Hotel zu Fuß zu gehen. Die frische Meeresbrise, die von den Dünen herüberwehte, tat ihm nach der verbrauchten Luft im Club gut. Julia hingegen fror in ihrem dünnen Minikleidchen. Sie war vom Tanzen verschwitzt, und das Sturmtief vom Nachmittag hatte die Temperatur heruntergekühlt. Zudem waren ihre Riemchensandalen mit den zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen für einen Fußweg wenig geeignet.
„Aber tanzen kannst du damit, oder was?“ Seufzend legte Mike ihr seine Lederjacke um die Schultern und hielt ein vorbeifahrendes Taxi an. Er wollte den sich anbahnenden Streit vermeiden, er war einfach zu müde und musste früh wieder raus. Im Taxi kuschelte sich Julia an ihn. „Ich freue mich so auf die Kreuzfahrt! Du schipperst uns durch Wind und Wellen, und ich bräune meinen makellos weißen Alabasterleib auf lecker Moccafarbe.“
„Kannst du überhaupt so lange freinehmen? Vielleicht sind wir über einen Monat unterwegs. Wind ist nicht planbar.“
Julia arbeitete als Visagistin beim Fernsehen und wurde für einzelne Produktionen gebucht. Zudem bemühte sie sich, Jobs als Komparsin zu bekommen, um irgendwann in die Schauspielerei einzusteigen. Dafür nahm sie teuren Privatunterricht, trieb eisern Sport, perfektionierte ihr Englisch und hielt sich an ihre ‚Schlank im Schlaf‘-Diät.
„Im Moment steht keine Produktion an. Und ein paar Wochen Luxusyacht lasse ich mir nicht entgehen! Hallo? Die Wendelsteins laden uns ein! Wir könnten uns das nie leisten!“
Mike schwieg. Er würde Julia morgen sagen, dass er keinen Bock auf diese Farce hatte. Sören wollte ihn nur als Lakaien dabeihaben, den er herumkommandieren konnte, so wie er es auch auf der Werft tat. Dabei hatte Mike als ausgebildeter Schiffsbau-Ingenieur weitaus mehr Ahnung vom Job als Sören, der sich lediglich um die Verträge zu kümmern hatte, sich aber auch immer in alle anderen Belange einmischte. Zudem verstand Mike erheblich mehr vom Hochsee-Segeln. Dennoch würde Sören an Bord den Skipper raushängen lassen. Die Kumpeltour nahm Mike ihm nicht ab. Er wusste, dass er Sören ein Dorn im Auge war, weil der alte Wendelstein ihn voller Respekt behandelte, während er seinen Sohn und Nachfolger auch in aller Öffentlichkeit auflaufen ließ. Dennoch machte Sören stets gute Miene zum bösen Spiel und ließ Mike seine Verachtung nur gelegentlich als kleinen Scherz getarnt spüren. Dabei würde Mike eine offene Konfrontation jederzeit bevorzugen. Und dann noch diese talentfreie Crew … Aber er ahnte schon, dass er gegen Julias Hartnäckigkeit den Kürzeren ziehen würde. Sie würde betteln, schmusen, schimpfen, drohen und dann ihre stärkste Waffe einsetzen: Sex. Und er würde schwach werden. Zudem bot ihm die geplante Kreuzfahrt eine gute Gelegenheit, etwas herauszufinden, was ihn brennend interessierte.
Marie stand barfuß am Strand. Allein. Unbewegt. Schweigsam. Die Nacht war schwarz, still und undurchdringlich. Kein Mond, keine Sterne. Marie konnte kaum etwas sehen, nicht einmal das Meer, obwohl es nur wenige Meter vor ihr lag. Sie roch es. Salz und Tang und Muscheln. Sie hörte es. Es rief nach ihr. Drohend. Wispernd. Lockend. Der Wind frischte auf und blies ihr die langen, dunklen Haarsträhnen ins Gesicht. Sie bemerkte es nicht. Sie starrte in die Nacht. Sah nur Hände, die keinen Halt fanden. Das totenbleiche Gesicht. Die weit aufgerissenen Augen. Dann nichts mehr. Nichts als dunkles, aufgepeitschtes Wasser.
Unterdessen saß Sören in der kleinen Bar des Hotels, nahm einen Cognac als Absacker und telefonierte mit seinem Vater.
„Alle sind dabei?“, fragte Armin Wendelstein zum wiederholen Mal.
„Hab ich doch gesagt.“
„Schön, schön … Das ist gut. Und Mike kommt auch mit, ganz sicher?“
„Er hat nicht abgelehnt. Und wenn er es tut, wird ihn seine Tussi schon überreden mitzukommen. Die kann es gar nicht erwarten, sich auf den Caymans wie internationaler Jet Set aufzuführen.“
„Ein Rätsel, wieso Mike mit dieser Frau zusammen ist. Obwohl … ihre Brüste sind sensationell!“
Sören kümmerte die sexistische Bemerkung seines Vaters nicht, damit war er aufgewachsen. Nicht nur was Frauen betraf … sein Vater war schon immer ein Arschloch gewesen. Sören ärgerte viel mehr, dass er Mike hatte einladen müssen.
„Du traust mir den Törn nicht zu, oder, Vater?“
Armin seufzte laut vernehmlich.
„Sören, du bist ein guter Segler. Aber ich will auf Nummer sicher gehen. Was ist, wenn du an Bord ausfällst? Krankheit, Unfall, was weiß ich. Kann ja passieren. Auf Henning ist noch nie Verlass gewesen, Tim hat keinen Schimmer von irgendwas. Sie sind ohne dich verloren. Und die Yacht dann auch.“
„Schön, dass du dir solche Sorgen um die Yacht machst.“ Sören trank seinen Cognac in einem Zug aus. „Damit wäre ja alles gesagt.“
Er trennte die Verbindung, warf missmutig einen Schein auf den Tresen und ging auf sein Zimmer.
Armin Wendelstein blickte kurz verärgert auf das Telefon, als sei der Apparat schuld an dem abrupten Ende des Gesprächs. Dann legte auch er auf. Er saß im Wohnzimmer seiner Villa in Kiel-Düsternbrook und blickte durch die Glasfront auf die im Mondlicht glitzernde Förde.
Sören hatte recht, er traute ihm so einiges nicht zu. Sören beherrschte zwar alle Segelmanöver ohne Fehl und Tadel, dennoch war Armin Wendelstein wohler, Mike an Bord zu wissen. Normalerweise lief auf der geplanten Route alles glatt, sie galt als problemlos zu segeln. Wenn das Wetter mitspielte. Und das Schiff. Und die Crew. Falls jedoch eine dieser Komponenten quer schlug oder fehlerhaft war, konnte aus einem netten Törn schnell ein Albtraum werden. Dann war Mike der Skipper mit der größeren Erfahrung und den besseren Nerven.
Armin Wendelstein hatte sich schon oft gewünscht, dass Mike sein Erstgeborener wäre und nicht Sören. Sören warf ihm gelegentlich vor, daraus auch keinen Hehl zu machen. Armin hingegen fand Sörens Buhlen um die Zuneigung des Vaters verweichlicht und weibisch. Als Jurist war Sören gut zu gebrauchen, das Schachern und Taktieren lag ihm. Aber Armin Wendelstein gehörte zu einem anderen Schlag. Er war ein Mann der Tat und hielt nicht viel von filigranem Geschwätz. Die kleine Werft seines Vaters hatte er zu einer der größten Europas ausgebaut. Dazu gehörten guter Geschäftssinn, Entschlossenheit, Tatkraft, Härte und nicht zuletzt Rücksichtslosigkeit. Von diesen Eigenschaften schrieb er nur erstere seinem Sohn Sören zu. Rücksichtslos war eventuell Henning, wenn man ihn ausreichend unter Druck setzte. Und sein Jüngster, Tim, der war … Künstler. Also rein gar nichts.
Armin Wendelstein seufzte, enttäuscht über seine Brut, und goss sich noch einen Single Malt ein. Vielleicht irrte er sich ja in Sören. Man würde sehen. Er hatte ihm diesen Törn gewissermaßen als Bewährungsprobe übertragen. Hoffentlich lief alles glatt. Schließlich ging es um viel mehr als nur um die Yacht.
Einige Wochen später:
Eingeschlossen
Er spürt überdeutlich die feucht-warme Luft, die dickflüssig durch seine wunden Nasenlöcher suppt und sich wie ein nasses Tuch auf seine Haut legt. Das Atmen ist beschwerlich. Ihm ist klar, dass seine Sinne durch die Chemiekeulen im Blut beeinträchtigt sind, dass seine Wahrnehmung verzerrt ist. Er friert, obwohl es heiß und stickig ist. Er friert und schwitzt zugleich. Seine Zähne klappern erbärmlich, auf der Stirn steht kalter Schweiß.
Er muss etwas tun, muss sich bewegen, darf nicht einfach sitzen bleiben und abwarten.
Mühsam unterdrückt er seine Panik und rappelt sich hoch. Seine Glieder sind steif. Als er sich hinstellt, tut es weh. Sein linker Fuß scheint verstaucht zu sein. Auch seine Hand pocht wie wild. Er weiß, dass die Wirkung des Kokains und des Betäubungsmittels, das man ihm vermutlich verabreicht hat, die Schmerzen bislang noch eindämmt. Es wird schlimmer werden, viel schlimmer.
Er reckt sich, will die Decke des Raumes ertasten. Sie ist außerhalb seiner Reichweite. Suchend humpelt er ein paar Schritte vor, bis er an eine Wand stößt. Er klopft sie ab. Sie ist wie der Boden des Raumes aus Metall. Er dreht sich um und humpelt, vorsichtig durch das Dunkel spürend, zur gegenüberliegenden Seite. Auch hier Metall. Die Wände erweisen sich als zu glatt, um ohne Hilfe zu der Querverstrebung hoch zu klettern, deren Umrisse er schemenhaft über sich erkennen kann. An der Wand tastet er sich weiter nach rechts, spürt eine leichte Bodenneigung. Er stolpert über am Boden liegende Kleinteile, die ihn jetzt nicht interessieren. Er sucht einen Ausgang. Vielleicht gibt es seitlich eine Tür oder ein Loch. Es tut ihm gut, etwas zu tun, die Panik ebbt langsam ab, er wird ruhiger.
Um seine Füße schwappt mit jedem Schritt abwärts mehr Brackwasser, das nun knappe zehn Zentimeter hoch steht und seine Turnschuhe und Socken bis zu den Knöcheln durchnässt. Es fühlt sich schmierig an und stinkt. Mit der rechten Hand klopft er weiter die Wände ab. Einige Stellen sind dünner als andere, das hört er am helleren Klang. Mit seinen Fingerspitzen spürt er dicke Roststellen.
Langsam bekommt er eine Vorstellung von dem Ort, an dem er sich befindet. Ein großer, leerer Raum ohne erkennbare Unterteilung. Nach außen gebogene, teils rostige Metalllwände. Schemenhaft erkennbare Querstreben über ihm. Und rundherum das Geräusch von bewegtem Wasser. Er ist in einem Schiffsbauch, es kann gar nicht anders sein. Ein Schiff, das mit Schlagseite irgendwo auf Grund sitzt und vor sich hin rottet. Er erschrickt. Wo, verdammt noch mal, liegen verrostete Schiffe herum? Wohin hat man ihn gebracht? Wie weit ist er von der nächsten Stadt entfernt, dem nächsten Haus, den nächsten Menschen? Er will raus, nur raus!
Vorsichtig legt er sich auf den Rücken, bemüht sich, den Kopf so weit wie möglich über dem übel riechenden Wasser zu halten, hebt das rechte Bein an und tritt mit seinem unverletzten Fuß gegen eine stark verrostete Stelle in der Bordwand. Wieder und wieder und wieder … Das dumpfe Dröhnen hallt durch den Raum und verstärkt seine Kopfschmerzen. Die Wand gibt keinen Millimeter nach.
Er hat das Gefühl, dass sein Puls ihm fast die Augen herauspresst. Schließlich gibt er auf und krabbelt auf Knien tastend weiter, immer darauf achtend, die linke Hand nicht zu sehr zu belasten. Die Dunkelheit macht ihm zu schaffen. Nur durch ein paar Ritzen strömt frische Luft und fällt ein wenig trübes Licht, das sein stählernes Gefängnis jedoch kaum zu erhellen vermag. Es muss am Abend oder sehr früh am Morgen sein. Seine Sichtweite beträgt in der Nähe einer dieser Ritzen maximal einen Meter. Angestrengt tastet er sich weiter.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ist er an einem Ende des Frachtraums angelangt. Erschöpft lehnt er sich gegen die Wand aus Metall und wischt den Schweiß von der Stirn. Als er wieder einigermaßen bei Kräften ist, richtet er sich auf und tastet sich vorsichtig zurück bis zum anderen Ende, wiederum nur die rechte Hand an der Bordwand. Nun spürt er die Steigung. Nach etwa 15 Metern stehen seine Füße nicht mehr im Brackwasser, es schwappt nicht mehr um seine Nikes herum. Er rechnet seine abgezählten Schritte um, das hilft gegen die inzwischen wieder langsam aufsteigende Panik. Der Raum, in dem er sich befindet, muss ungefähr 30 Meter lang sein. Von der Form und Größe des Schiffsbauchs schließt er auf eine Schute, einen alten Kohlekahn oder etwas in der Richtung. Humpelnd durchmisst er die Breite. Etwa fünf Meter. Dann gibt es nichts mehr zu zählen und zu berechnen.
Er steht einfach da, das Gewicht auf seinen gesunden Fuß gelagert. Überlegt, was er sonst noch tun könnte. Ihm fällt nichts ein. Auf einen Schlag wird ihm bewusst, dass er allein ist, so allein wie niemals zuvor. Entsetzt fängt er an zu rufen und zu schreien und mit der rechten Faust gegen die Seitenwand zu trommeln. Er ruft und schreit in die Dunkelheit, bis seine Stimme versagt. Als Antwort bekommt er lediglich das Krächzen einiger Krähen zu hören.
Er geht langsam in die Knie, sinkt einfach zu Boden. Weinend liegt er da. Tränen strömen aus seinen Augen, von tief unten aus seiner Brust steigt ein gequältes Wimmern auf, Rotz läuft aus seiner Nase. Er muss sich zusammenreißen, verdammt noch mal zusammenreißen! Noch ist er am Leben!
Fast wütend stemmt er sich wieder hoch und geht zur Mitte des Kahns, wo die beiden Kanister mit Wasser stehen und die große Box. Er rechnet. Der Laderaum einer Schute ist maximal drei, vier Meter hoch. Er selbst misst 1,82 Meter. Wenn er die beiden Kanister auf die Box stellt und hinaufklettert, kommt er vielleicht an die Ladeluken ran, die er zwar nicht nicht deutlich sehen kann, die es aber geben muss. Und möglicherweise sind die ja nur ge- und nicht verschlossen. Er muss die Decke abtasten.
Kaum kommt ihm dieser Gedanke, legt er hoffnungsvoll den ersten Wasserkanister auf die Box. Durch die Neigung der Schute liegt die Kiste jedoch schief, sodass sie keine ebene Basis bietet und der Plastikkanister herunterrutscht. Er zieht sein Shirt aus, rollt es zu einer festen Wurst und gleicht die schiefe Ebene damit behelfsmäßig aus. Dann hievt er den zweiten Kanister auf den ersten. Das Ganze ist trotz des Gewichts der Kanister sehr wacklig. Zudem ist es zu hoch, um mit einem großen Schritt darauf zu steigen, und er hat nichts, worauf er sich stützen könnte. Er verlagert seine gesamte Konstruktion von der Mitte des Raumes an die Wand. Damit sind die vermutlich mittig angebrachten Luken außer Reichweite, aber er hofft, an eine der Querstreben zu kommen, um sich an ihnen entlang zu einer Luke hangeln zu können. Er glaubt nicht wirklich daran, dass ihm dieser herausfordernde Akt gelingen könnte, zumal er weder Freeclimber ist noch sonst über große sportliche Qualifikationen verfügt und nur eine unversehrte Hand zur Verfügung hat. Aber er will, er muss es versuchen. Selbst mit verletzter Hand und verstauchtem Fuß. Man wächst an seinen Aufgaben.
Schon das Schleppen und Aufbauen der Kanister zur Wand kommt ihm vor wie Schwerstarbeit. Er ist geschwächt, alles tut ihm weh, er schwitzt und keucht. Beim ersten Versuch, das Podest zu besteigen, rutscht er mit seinen nassen Turnschuhen auf dem glatten, runden Plastik ab und fällt hin. Dabei knickt sein linker Fuß um, der eh schon verletzt ist. Er schreit auf vor Schmerz und bleibt eine Weile hyperventilierend liegen.
Beim zweiten Versuch gelingt es ihm, etwa zwei Sekunden auf der Konstruktion zu balancieren. Er greift nach oben, will die Querstrebe erreichen. Vergeblich, es fehlen einige wenige Zentimeter. Kaum hat er das frustriert eingesehen, rutschen die Kanister unter ihm weg, und unter Schmerzen stürzt er erneut. Doch er gibt nicht auf. Es sind nur wenige Zentimeter bis zur Freiheit. Er muss zumindest einen der Kanister hochkant stellen, um die erforderliche Höhe zu erreichen. Er versucht es. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Mit etwas Fingerspitzengefühl ist es machbar, einen der nassen Kanister hochkant auf den anderen zu stapeln, dass er stehen bleibt. Doch seine akrobatischen Bemühungen, diesen wackligen Turm zu ersteigen, enden in weiteren Stürzen und in tiefer Verzweiflung. Beim letzten Versuch fällt er auf seine linke Hand, brüllt vor Schmerz und verliert das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kommt, bleibt er hoffnungslos liegen und schluchzt. Es dauert eine Weile, bis er sich eingestehen kann, dass er so nicht herauskommt aus dem dunklen Loch. So nicht und auch nicht anders. Also muss er überleben, bis er freigelassen oder gefunden wird.
Er rappelt sich wieder hoch. Seine Kleidung ist durchnässt und stinkt. Angestrengt zerrt er die beiden Kanister und die Box auf die leicht erhöhte Seite der Schute ins halbwegs Trockene. Bereits das kostet ihn so viel Kraft, dass ihm schwindlig wird. Er setzt sich hin, zwingt sich, ruhig zu atmen und konzentriert zu denken. Er öffnet die Verschlüsse der Box und untersucht deren Inhalt. Ganz offensichtlich Essensvorräte. Er schätzt den Inhalt der Wasserkanister. Vermutlich zwei Mal zehn Liter. Wie lange, verdammt, soll er hier drin bleiben? Wie lange wird es reichen? Warum ist er überhaupt hier?
Er versucht, sich zu beruhigen. Ganz klar, dass es sich um eine Entführung handelte. Sein Vater würde jedes geforderte Lösegeld zahlen, das ist sicher. Er wird hier nicht lange vor sich hin siechen. Höchstens einen Tag. Oder zwei. Aber warum dann 20 Liter Wasser? Und nicht bloß fünf!? Fünf würden doch ausreichen!
Seine Gedanken rasen gleichzeitig in alle Richtungen, überholen und überschlagen und verkeilen sich, sodass keine klare Linie mehr auszumachen ist. Er atmet tief durch, doch die Hitze, die abgestandene Luft und die Dämpfe hier unten verursachen ihm Übelkeit. Unter Aufbietung all seines verbliebenen Mutes überwindet er Angst und Ekel und tastet noch einmal den notdürftigen Verband an seiner linken Hand ab. Die Mullbinde ist klatschnass, obwohl er seine Linke weder zum Kriechen durch das Wasser noch zum Ertasten der Wände benutzt hat. Langsam, fast gegen seinen Willen, hebt er die Hand und hält sie in einen winzigen Lichtstreif, der sich seinen Weg durch eine Ritze in der Bordwand hereinbahnt. Es ist inzwischen ein wenig heller geworden. Also Morgendämmerung. Der Tag bricht an.
Der Verband ist dunkel, fast schwarz. Die Wunde, die das Abtrennen seines linken Ringfingers hinterlassen hat, blutet noch immer stark. Erneut überkommt ihn Panik. Er wird hier drin verbluten, verrecken, abkratzen. Es macht keinen Sinn, das alles macht absolut keinen Sinn! Vor ein paar Stunden noch – oder ist er schon seit Tagen hier? – war er der glücklichste Mensch auf Erden gewesen. Reich, jung, gut aussehend, herrlich besoffen und die Taschen und das Hirn voller Koks. Eigentlich sollte er sich auf eine Kreuzfahrt in die Karibik begeben. Wie lange ist er schon hier? Er hat jegliches Zeitgefühl verloren. Er weiß nicht genau, ob heute schon morgen ist. Oder morgen schon gestern war. Er weiß nur, dass er keine schicke Luxus-Kreuzfahrt machen wird. Was ist bloß schiefgelaufen?
Die betäubende Wirkung der Drogen lässt mehr und mehr nach. Seine linke Hand scheint kurz vor der Explosion zu stehen. Seine Zunge klebt am Gaumen. Stöhnend zieht er einen der beiden Kanister an sich heran und öffnet ihn. Vorsichtig, damit er die linke Hand nicht belastet, setzt er sich hin. Er will aus dem Kanister trinken. Der Durst ist größer als seine Angst vor Gift. Aber er schafft es nicht, den schweren Kanister mit einer Hand anzuheben. Ihm wird wieder schwindlig. Also bückt er sich weit nach unten, legt sich halb unter den Kanister und kippt den Kanister so, dass Wasser in seinen Mund fließt. Es geht eine Menge daneben, klatscht ihm ins Gesicht. Er lässt den Kanister zurück kippen, auch dabei schwappt Wasser über.
Sich seinen immer stärker werdenden Schmerzen ergebend, lehnt er sich zurück und träumt sich in eine bessere Welt. Vor ein paar Wochen auf Sylt, bei der Einladung, da war seine Zukunft noch in ein schimmerndes Licht getaucht. Jetzt weiß er nicht einmal, ob er überhaupt noch eine Zukunft hat …
Ankunft auf Gran Canaria
Marie lag in der überdimensionierten Badewanne einer Senior Suite des Fünf-Sterne-Hotels Santa Catalina in Las Palmas, doch sie konnte sich nicht entspannen. In knapp 24 Stunden würde sie die Holzplanken einer Yacht betreten und schon wenig später nichts weiter sehen, außer der endlosen, wogenden Wüste der See. Noch konnte sie absagen, einfach kneifen, für einen kurzen Strandurlaub auf Gran Canaria bleiben und dann zurück nach Deutschland fliegen. Aber sie wusste genau, wie sehr sie sich dann selbst verachten würde. Die Angst würde nicht aufhören, niemals. Sie würde ihr ganzes Leben lang hier oder sonst wo am Strand stehen, sitzen, liegen und aufs Meer starren. Hören, wie es nach ihr rief. Sogar in ihren Träumen hörte sie es rufen.
Sie erhob sich aus der Badewanne und wickelte sich in ein großes, flauschiges Handtuch. In etwa einer Stunde sollten sie alle zum direkt gegenüber liegenden Yachthafen kommen, um die Swan zu bewundern. Sören war schon einige Tage vorher auf Gran Canaria eingetroffen, um sich vor dem großen Törn noch etwas zu entspannen. Nun plante er einen Sektempfang auf der Yacht – zur Begrüßung und Einstimmung. Sören schätzte große Gesten. Marie war gespannt, wie er die Neuigkeiten von Tim aufnehmen würde. Als sie aus dem Badezimmer trat, stürmte Sören gerade ohne anzuklopfen in die Suite.
„Was ist mit Tim los?“, herrschte er ohne Begrüßung Henning an, der auf dem Bett lag und in einem Magazin blätterte.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Bruderherz“, erwiderte Henning und blickte gelangweilt von seiner Lektüre auf.
„Entschuldigt“, lenkte Sören ein und nickte Marie kurz zu, „aber der kleine Scheißhaufen macht mich wahnsinnig. Ich habe eine Nachricht von ihm bekommen. Er nimmt eine spätere Maschine. Keine Erklärung, kein gar nichts. Was soll das?“ Sören ließ sich in einen der plüschigen Cocktailsessel fallen.
„Falsche Info. Ist schon wieder überholt. Tim hat mir vor einer halben Stunde eine neue Nachricht geschickt. Er kommt gar nicht. Er hat das Angebot, mit den Panther Pearls auf Tour zu gehen und einen Konzertfilm für sie zu drehen. Hat sich so ergeben. In letzter Sekunde. Morgen geht’s schon los. Für drei Wochen. Er will danach auf die Caymans fliegen, ist also noch rechtzeitig zu Vaters Geburtstag da.“
„Wer zur Hölle sind die Panther Pearls?“
„Eine der angesagtesten Bands in Europa, du Banause. Kommen aus Wales, machen feinsten Indie-Rock und touren ab morgen durch Europa. So wie’s aussieht mit unserem kleinen Timmi.“
„Weiß Vater das schon? Der reißt ihm den Kopf ab!“
Henning legte die Zeitschrift beiseite und nahm sich eine Cola aus der Bar. „Das ist ein weiteres kleines Detail. Wir sollen Vater nichts davon sagen. Weil der ihm – und ich zitiere Tim – sonst den Kopf abreißt.“
„Na toll, ganz toll! Hast du mit Tim gesprochen? Ich erreiche ihn nicht.“
„Schätze, er hat abgeschaltet, weil er genau weiß, dass auch wir ihm den Kopf abreißen.“
„Ist doch kein Drama. Zumal ihr ihn fürs Segeln eh nicht gebrauchen könnt. Ihr solltet euch für ihn freuen, dieser Tourfilm ist seine große Chance!“ Marie versuchte, die Stimmung etwas zu entschärfen.
Sören lenkte überraschenderweise ein. „Hast ja recht. Lässt sich jetzt auch kaum noch ändern. Dann sind wir halt zwei weniger an Bord.“
Henning schüttelte den Kopf. „Wieder falsche Info. Britt ist nebenan in der Suite, die du für Tim und sie reserviert hast.“
„Wieso das denn?“, fragte Sören.
„Weil sie heute Morgen am Berliner Flughafen noch gedacht hat, dass Tim nachkommt. Sie war bei ihrer Mutter und hat eine SMS bekommen, dass sie den gebuchten Flug schon mal nehmen soll. Da rechnete Tim noch mit einem kurzen Info-Gespräch mit dem Tour-Manager der Panther Pearls und wollte danach die nächste Maschine zu uns nehmen. Er hat nicht gewusst, dass die Rocker ihn gleich mit in ihren Tourbus packen wollen“, erklärte Marie.
„Na klasse. Und jetzt will diese Britt mitkommen? Wir kennen die Frau doch gar nicht!“
Henning zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Tim hat mich in seiner Nachricht darum gebeten. Er kann sie nicht mit auf die Konzerttournee nehmen. Und Britt hat sich extra freigenommen für den Törn. Diese Kindergärtnerin opfert für unseren blöden Bruder gerade ihren gesamten Jahresurlaub.“
Es klopfte. Mike trat ein und begrüßte Sören. Marie streifte er nur mit einem kurzen Blick.
Plötzlich fühlte Marie sich nackt in ihrem Handtuch.
Henning und Sören brachten Mike auf den Stand der Dinge, was die Änderungen in der Passagierliste betraf. Mike schien es egal zu sein. „Und was ist nun? Nehmen wir Britt mit oder nicht? Eure Entscheidung.“
Marie mischte sich genervt ein.
„Ich versteh gar nicht, was es da zu überlegen gibt! Britt sitzt drüben allein in der Suite und weiß nicht, was sie machen soll.“ In Maries Stimme schwang Mitleid mit. „Ist für sie doch auch eine total bescheuerte Situation. Sie will sich garantiert nicht aufdrängen. Aber sie kann nichts dafür, dass Tim so unzuverlässig ist. Außerdem macht sie einen total netten Eindruck!“
„Mir ist es schnuppe“, sagte Henning. „Entscheide du, Sören. Du bist der Skipper.“
Sören zögerte.
„Ich weiß nicht … Mich nervt es einfach, dass Tim uns seine Freundin aufs Auge drückt.“
„Sehe ich auch so“, stimmte Mike zu. „Wir machen schließlich keine Tour für Pauschaltouristen, wo jeder anheuern kann, dem es gefällt.“
Marie sah Mike empört an. Doch bevor sie etwas Scharfes erwidern konnte, kam Sören ihr zuvor.
„Sei kein Arschloch, Mike! Du hast doch sonst so ein großes Herz für die Arbeiterklasse. Die Kleine kommt mit.“ Entschlossen erhob sich Sören. „Ich mache mich kurz frisch, dann zeige ich euch die Swan. In einer Stunde unten.“
Mike ging ebenfalls.
„Was ist dieser Mike für ein Idiot!“, schimpfte Marie.
„Im Gegenteil“, sagte Henning und trank seine Cola leer. „Er hat die Sache mit Britt genauso gesehen wie du. Mike ist nur auf Nummer sicher gegangen. Wenn er dagegen ist, Britt mitzunehmen, ist Sören dafür. Basta. Der Idiot ist also Sören und nicht Mike. Apropos Idiot: Ich wette eine Buddel Veuve Clicquot, dass Sören unseren kleinen Bruder bei Vater verpfeift. Das lässt er sich nicht nehmen. Und jetzt schwing deinen hübschen Hintern in die Klamotten, der Käpt’n hat zum Appell befohlen!“