Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein einsamer Parkplatz in München-Pasing. Als Lydia Bertele zu ihrem Auto geht, wird sie entführt. Die näheren Umstände der Entführung, die Art der Kontaktaufnahmen mit dem Ehemann, dem Chirurgen Matthias Bertele, sowie die perfekte Gestaltung der Geldübergabe weisen auf hochtechnisierte, professionelle Täter hin. Die Ermittlungen von Staatsanwältin Heidrun Clemens und der im Polizeipräsidium München unter Leitung des Kriminalkommissars Markus Runninger gebildeten Sonderkommission verlaufen lange ergebnislos, bis ein Computerfachmann in Verdacht gerät. Es kommt zu einem Strafprozess gegen den nicht geständigen Mann, gegen den einige Indizien sprechen. Werden sie für eine Verurteilung ausreichen? Das Buch schildert die Tat, den Gang der Ermittlungen und den Ablauf des Strafprozesses jeweils im Detail. Insbesondere bei der Darstellung der langwierigen Beratungen des Gerichts wird deutlich, dass der Autor, Richter im Ruhestand, selbst an derartigen Beratungen teilgenommen hat.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 376
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Autor (Toni Wutz ist ein Pseudonym) ist 1948 in München geboren und lebt dort. Nach Abschluss seiner juristischen Ausbildung war er bis zu seiner Pensionierung als Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht in verschiedenen Funktionen bei der Münchner Justiz tätig, darunter etliche Jahre als Staatsanwalt. Von ihm ist bereits der Justizkrimi Brumbauer oder die Grenzen der Justiz bei BoD erschienen (2. Auflage 2023, ISBN: 978-373-472-4817).
Herzlichen Dank an alle, die sich die Mühe gegeben haben, das Manuskript auf Schreib- und sonstige Fehler durchzulesen. Wenn trotzdem noch welche enthalten sind, bitte ich den geneigten Leser um Entschuldigung. Nur Profis wären in der Lage gewesen, alle Fehler zu finden. Man wird dem Buch auch anmerken, dass ich keinen Lektor eingeschaltet habe.
Teil 1
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
Teil 2
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
Teil 3
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
In alter Verbundenheit
Lydia Bertele sah auf ihre Uhr. Es war 18 Uhr 07 und sie wusste, dass sie wieder einmal spät dran war. Nach Beendigung ihrer Vorlesung in der Fachhochschule in München-Pasing wurde sie noch von einer Studentin aus Rumänien angesprochen, die mit einem der Fälle aus der heutigen Vorlesung ganz und gar nicht klargekommen war. Angesichts der beschränkten Kenntnisse der deutschen Sprache hatte Bertele dies nicht verwundert. Lydia Bertele lehrte als Dozentin in der Fakultät Touristik das Fach Recht. Auch wenn die Studentinnen und Studenten nur rudimentäre Kenntnisse auf diesem Gebiet nachweisen mussten, waren rechtliche Probleme doch nur schwer zu vermitteln. Bei etlichen fehlte es schlichtweg am Interesse, andere taten sich wegen Sprachschwierigkeiten ausgesprochen hart. Lydia schätzte, dass mindestens ein Drittel ihrer Schutzbefohlenen aus Osteuropa kam und die Sprachkenntnisse doch sehr unterschiedlich waren. Viele beherrschten die deutsche Sprache nahezu fließend, manche nur rudimentär. Geduldig hatte sie der Studentin den Fall erklärt und dabei den Eindruck gewonnen, dass diese sehr dankbar gewesen war.
Sie zog ihren Mantel an und warf noch einen Blick in den großen Spiegel, der in dem kargen, kleinen Dienstzimmer überdimensioniert wirkte. Wiederholt stellte sie fest, dass der Kauf dieses Kleidungsstücks ein Volltreffer gewesen war. Es war Anfang Dezember, der Mantel hatte sich bereits bewährt, denn die Temperaturen waren die letzte Woche doch recht deutlich unter null geblieben. Ihr Spiegelbild betrachte Lydia Bertele mit Wohlwollen. Der Dozentin sah man ihre zweiundvierzig Jahre nicht an. Ihre vollen braunen Haare umrahmten ein ovales Gesicht, in dem die leicht schräg geschnittenen Augen sofort die Blicke auf sich zogen. Auch ihre Figur konnte sich sehen lassen, das schlichte blaue Kleid umschmeichelte einen wohlgeformten Körper. Dass manche vielleicht ihren Hintern für etwas üppig halten konnten, war ihr völlig egal.
Sie schloss die Türe ab und gelangte über einen kurzen Gang ins Freie, wo die Kälte sie sofort schaudern ließ. Lydia Bertele zog ihren Autoschlüssel aus der Manteltasche und sah, wie sie ihr Wagen nach Betätigen des Transponders mit einem zweifachen Blinken begrüßte. Das Fahrzeug stand kurz vor der Ausfahrt in einer Ecke. Neben ihrem BMW war ein dunkelfarbiger großer SUV geparkt, das einzige fremde Auto auf dem Parkplatz. Als Bertele ihr Fahrzeug fast erreicht hatte, öffnete sich die Beifahrertüre des anderen Autos. Eine dunkel gekleidete, nicht allzu große Person stieg aus und drehte sich zu ihr um. Sie erschrak, denn die Person trug eine tief ins Gesicht gezogene Schirmmütze und hatte eine blaue Maske über Mund und Nase gezogen. Bertele blieb abrupt stehen und im selben Moment fühlte sie einen harten Gegenstand im Rücken. Eine dumpf klingende Stimme hinter ihr sagte: „Das ist eine Entführung, wenn Sie jetzt schreien, war das ihr letzter Schrei!“ Bevor sie auch nur reagieren konnte, fühlte sie, wie ihre Hände mit einem harten Ruck nach hinten gezogen wurden. Sie hörte noch das Einschnappen von Handschellen, dann zog ihr die vor ihr stehende Person einen Sack oder etwas Ähnliches über den Kopf, so dass sie nichts mehr sehen, jedoch atmen konnte. Gleichzeitig wurde sie an den Armen gepackt, nach vorn gestoßen und nach ein paar Schritten unsanft auf die Rückbank der Limousine gesetzt. Lydia Bertele war so entsetzt, dass sie außer einem leichten Röcheln keinen Ton hervorbrachte. Sie hörte und spürte, dass der Wagen angelassen wurde. Die Fahrgeräusche und die Bewegung des Fahrzeugs vermittelten ihr, dass der Fahrer zunächst zurücksetzte und dann mit rascher Beschleunigung links abbog. Es war ihr klar, dass man jetzt auf der Maria-Eich-Straße nach Süden in Richtung Gräfelfing fuhr. Trotz der Panik, die sie erfasst hatte, zwang sie sich, darauf zu achten, wohin die erzwungene Reise ging. Sie kannte die Maria-Eich-Straße sehr gut. Deshalb realisierte sie an Hand einer S-Kurve, dass man sich jetzt in der Friedensstraße befand, wie die Maria- Eich-Straße ab Gräfelfing heißt. Am Ende der Friedensstraße gab es einen Kreisverkehr, den der Wagen an der ersten Ausfahrt verließ. Lydia Bertele konnte auch noch folgen, dass man sich nach zweimaligem Linksabbiegen in der langen durch Gräfelfing führenden Straße befand, die ebenfalls Maria-Eich-Straße hieß. Urplötzlich bog das Fahrzeug links ab und anschließend rechts. Es folgten nunmehr in kurzem Abstand mehrere Abbiegevorgänge, so dass Lydia Bertele, die sich in dem Gräfelfinger Straßengewirr nicht so gut auskannte, völlig die Orientierung verlor. Als das Fahrzeug erneut links abbog, beschleunigte und nunmehr geradeaus fuhr, hatte sie keinerlei Ahnung mehr, in welche Richtung es ging. Sie gab es auf, sich orientieren zu wollen.
Matthias Bertele war ein großer, gutaussehender Mann Anfang fünfzig. Mit seinen vollen, bereits stark ergrauten Haaren entsprach er dem Klischeebild eines Chefarztes, der er auch war. Er leitete die ihm gehörende Wagner-Klinik, eine kleine, aber feine Privatklinik im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Er hatte sie neben einigen Immobilien und einem beträchtlichen Aktienpaket von seinem Vater geerbt. Bertele war alles andere als ein Angeber und vermied es strikt, über seine Vermögensverhältnisse zu sprechen. Sich selbst gegenüber machte er sich allerdings nichts vor, er bezeichnete sich als stinkreich.
Sein Ärger über das Ausbleiben seiner Frau verwandelte sich langsam in Unruhe. Er sah zum wiederholten Mal auf die Uhr. Wo verdammt blieb Lydia nur? Mehrfach hatte er bereits versucht, sie telefonisch zu erreichen. Es war jetzt kurz vor 18 Uhr 30 und sie sollten in einer Stunde bei den Weissenbergers sein, einem befreundeten Ehepaar, das in Starnberg wohnte. Vom Anwesen Berteles in der Feichthofstrasse in München-Obermenzing würde man jetzt im Abendverkehr bis Starnberg sicher eine knappe Stunde brauchen. Lydia musste doch wissen, wie sehr die Weissenbergers auf die Pünktlichkeit ihrer Gäste Wert legten. Erneut griff er nach seinem Handy und wählte Lydias Nummer. Wieder klingelte es, aber keiner nahm das Gespräch an.
Matthias Bertel spürte leichte Panik aufsteigen. Lydia war zwar nicht gerade eine Pünktlichkeitsfanatikerin und es kam schon mal vor, dass sie sich nach einer Vorlesung verspätete. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, dass sie einmal eine Verabredung vergessen hätte; zudem hatten sie sich noch beim Frühstück über die Einladung unterhalten und er hatte versprochen, Blumen zu besorgen. Dass sie bei einer Verspätung nicht anrief, passte ebenso wenig zu Lydia wie der Umstand, dass sie nicht ans Telefon ging. Ratlos starrte er auf sein Handy. Schließlich rief er bei ihrer gemeinsamen Tochter Sybille an, die in einer Studentenbude in Schwabing wohnte. Sie hob sofort ab.
Er wollte Sybille nicht beunruhigen und zwang sich zu einem saloppen Tonfall: „Hallo Sybille, sag mal, weißt du vielleicht, wo sich deine Mutter herumtreibt? Wir sind heute Abend eingeladen und sie ist immer noch nicht von ihrer Vorlesung zurück. Ich erreiche sie auch telefonisch nicht. Hat sie sich vielleicht bei dir gerührt?“
Die Antwort seiner Tochter fiel so aus, wie er es erwartet hatte: „Nein, Papa, ich habe zuletzt mit ihr vor zwei Tagen telefoniert und seither nichts gehört.“ Bertele spürte die Unruhe in der Stimme seiner Tochter, als sie fortfuhr: „Um Himmels Willen, da wird doch nichts passiert sein! So was passt doch überhaupt nicht zu Mama! Was willst du denn jetzt machen?“
„Das wenn ich wüsste“ dachte er. Er fasste einen Entschluss und sagte zu Sybille: „Ich glaube, ich fahre jetzt mal zu FH und schau´, ob ihr Auto noch am Parkplatz steht. Jetzt reg` dich mal nicht auf, es wird schon eine harmlose Erklärung für ihr Ausbleiben geben. Ich sage dir jedenfalls sofort Bescheid, wenn sie aufgetaucht ist.“
Eilig zog er seine Jacke an, nahm die Autoschlüssel und ging zu dem vor dem Haus geparkten Mercedes. Bis zur Fachhochschule brauchte er zwölf Minuten. Sofort sah er, dass das Auto seiner Frau als einziges auf dem Parkplatz stand. Spontan fiel ihm ein Stein vom Herzen: Einen Autounfall hatte sie jedenfalls nicht gehabt. Er ging zum Fahrzeug und bemerkte, dass die Rückspiegel ausgefahren waren. Unwillkürlich sprang ihn wieder die Angst an, denn das Auto nicht abzuschließen passte so gar nicht zu seiner äußerst gewissenhaften Frau. Er öffnete die Fahrertüre und blickte in den leeren Innenraum. Nichts! Ratlos stand er vor dem Fahrzeug, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich gab er sich einen Ruck und sah zum Hochschulgebäude. Er kannte das Büro seiner Frau, es brannte kein Licht. Er ging quer durch den Hof zur Eingangstür, die er erwartungsgemäß verschlossen vorfand.
Bertele schnaufte tief durch und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Es dämmerte ihm, dass irgendetwas Schlimmes geschehen war. Unwillkürlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass seine Frau entführt worden sein könnte. Er drehte sich abrupt um und ging in Richtung seines Autos. „Nicht durchdrehen, jetzt bloß nicht durchdrehen!“ sagte er sich mehrmals laut vor. Er zwang sich zur Ruhe und überlegte, ob er zur Polizei fahren sollte, eine große Polizeiinspektion befand sich am Pasinger Marienplatz, nur fünf Autominuten entfernt. Doch was würde er dort erreichen? Aus Krimis und Hörensagen glaubte er zu wissen, dass die Polizei ihm heute sagen würde, dass die meisten Vermissten wieder auftauchen würden und derzeit nichts unternommen werden könne.
Sein Handy klingelte. Hastig zog er das Gerät aus der Innentasche seiner Jacke. Das musste Lydia sein, alles würde sich aufklären. Doch er sah sofort, dass es nicht Lydias Nummer war. Als er sich meldete, hörte er die Stimme von Gustav Weissenberger: „Ja, wo bleibt ihr denn?“ Bertele sah auf die Uhr seines Handys. 19 Uhr 36! Es war ihm nicht klar gewesen, wieviel Zeit durch das Telefonat mit seiner Tochter, die Fahrt zum Gebäude der FH und sein Überlegen auf dem Parkplatz vergangen war. Bertele war erleichtert über den Anruf. Gustav Weissenberger war, von seinem Pünktlichkeitswahn abgesehen, ein sehr vernünftiger Mann und ein alter Freund aus Studientagen.
„Tut mir leid, Gustav“, sagte er, „aber ich stehe auf dem Parkplatz der FH in Pasing. Lydia ist verschwunden!“
Sein Gesprächspartner antwortete nicht sofort. Bertele glaubte, die Verblüffung in seinem Gesicht zu sehen. Schließlich hörte er ihn fragen: „Um Gottes Willen, was ist denn passiert? Erzähl!“
Dankbar, eine vertraute Person an der Strippe zu haben, schilderte Bertele ihm den Ablauf der letzten Stunde und was er auf dem Parkplatz vorgefunden hatte. Als er fertig war, fragte sein Freund: „Und was willst du jetzt machen?“
„Keine Ahnung, wie schon gesagt, die nächste Polizeistation aufzusuchen, erscheint mir nicht besonders sinnvoll.“
Weissenberger überlegte kurz. Dann sagte er: „Also ich glaube, ich würde jetzt mal nach Hause fahren, vielleicht ist Lydia da oder wenigstens eine Nachricht von ihr. Wenn das nicht der Fall ist, solltest du unseren alten Freund Johannes Lifter anrufen. Schließlich ist der Oberstaatsanwalt. Wenn einer weiß, was zu tun ist, dann wahrscheinlich er. Das ist sicher besser als zur Polizei zu gehen. Johannes kennt dich und Lydia. Er weiß, dass du kein Spinner bist und Lydia nicht einfach aus Jux und Tollerei verschwindet. Sollte sie tatsächlich entführt worden sein, ist ja vielleicht eine Nachricht bei dir am Festnetz oder im Briefkasten. Ich glaube, das dürfte jetzt das Vernünftigste sein. Kopf hoch, das wird sich bestimmt alles auflösen, jedenfalls hat Lydia keinen Verkehrsunfall gehabt. Wenn in ihrer Vorlesung etwas passiert wäre, hättest du schon längst davon erfahren. Ich wünsch‘ dir jedenfalls alles Gute, und bitte, halte mich auf dem Laufenden!“
Bertele bedankte sich, überlegte kurz und kam zu dem Ergebnis, dass der Vorschlag seines Freundes wirklich gut war. Entschlossen setzte er sich ins Auto und fuhr nach Hause.
Die Fahrt kam Lydia Bertele wie eine Ewigkeit vor. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, der Schweiß lief ihr unter dem Sack über das Gesicht. Die auf den Rücken gefesselten Arme schmerzten, die Handschellen schnitten in ihre Handgelenke. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wer waren diese Leute, was wollten sie, wo würden sie sie hinbringen? Die Vorstellung, gefesselt in ein kaltes Verließ gesperrt zu werden, löste bei ihr nacktes Entsetzen aus. Entführungen kannte sie nur aus dem Fernsehen und aus Kriminalromanen. Mit Schaudern dachte sie daran, was alles mit Opfern angestellt worden war und wie oft sie eine Entführung nicht überlebt hatten. Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen und sich ihr Zittern verstärkte. „Nicht durchdrehen, bloß nicht durchdrehen!“, flüsterte sie sich mehrmals vor.
Ihre Gedanken wurden dadurch unterbrochen, dass der Fahrer des Fahrzeugs mehrmals rasch hintereinander abbog, bis er den Wagen nach einem erneuten Linksschwenk zum Stehen brachte. Lydia Bertele hatte den Eindruck, dass er in eine Einfahrt oder etwas Ähnliches gefahren war. Sie hörte, dass beide vordere Türen geöffnet wurden. Unmittelbar danach wurde auch die Türe des Rücksitzes aufgerissen, eine Hand packte sie hart am Arm und zog sie wortlos aus dem Auto. Den Griff empfand sie als fest, aber nicht als brutal, was sie sehr dankbar vermerkte. Sie verspürte kalte Luft, hatte aber den Eindruck, dass sie sich nicht im Freien befand. Vielleicht war das Auto in eine Garage gefahren und die Tür nicht geschlossen worden, dachte sie. Weder das Öffnen noch das Schließen einer Garagentüre hatte sie akustisch wahrgenommen. Die Person, die sie aus dem Wagen gezogen hatte, lockerte ihren Griff am rechten Arm Lydias nicht, sondern zog sie leicht in eine bestimmte Richtung. Nach wenigen Schritten hörte sie ein Geräusch, wie vom Öffnen einer Türe. Die sie dirigierende Person befand sich jetzt offensichtlich hinter ihr und schob sie nach vorne. Sie stolperte leicht und war sich sicher, dass das eine Türschwelle gewesen sein musste. Sofort spürte sie, dass es jetzt plötzlich wärmer war und schloss daraus, dass man sich jetzt in einem Haus befinden musste. Eine dumpfe, unnatürlich klingende Stimme sagte: „Vorsicht Treppe!“ Sie wurde wenige Stufen nach oben geführt, bevor man sie schob. Nach wenigen Schritten wurde sie angehalten. Lydia Bertele fühlte einen Griff auch am linken Arm und merkte zu ihrer Verblüffung, wie ihre Handschellen aufgeschlossen wurden. Nach einem leichten Stoß taumelte sie ein paar Schritte nach vorne. Als sie zum Stehen kam, überlegte sie kurz, ob sie sich den Sack vom Kopf ziehen sollte. Während sie noch wie gelähmt dastand, ertönte ganz plötzlich eine Stimme, die offensichtlich aus einem Lautsprecher kam: „Sie können sich jetzt ihres Sackes entledigen, Frau Bertele!“
Überrascht, aber ohne weiteres Nachdenken, begann sie langsam den Sack nach oben zu ziehen und merkte, dass es in dem Raum hell war. Das Herz schlug ihr wieder bis zum Hals. Was würde sie wohl vorfinden? Sie war auf das Schlimmste gefasst. Als der Sack die Augen freigegeben hatte und sie endlich sehen konnte, traute sie ihren vom plötzlichen Licht geblendeten Augen kaum: keine kahlen Wände, kein düsteres Verließ, keine Strohmatte als Bett. Eine große Deckenlampe verbreitete ein angenehmes Licht. Lydias Verblüffung wich einer großen Erleichterung, als sie den Blick durch den Raum schweifen ließ. Sie schätzte ihn auf circa zwanzig Quadratmeter, die Höhe der weiß getünchten Wände entsprach dem in Wohnräumen Üblichen. In einer Ecke stand ein sauber bezogenes Bett, in der Mitte des Raumes ein Tisch mit zwei Stühlen, von denen einer gepolstert war und ausgesprochen bequem aussah. Eine Wand war von einem breiten Sideboard zur Hälfte verdeckt, vor der andern stand ein Fernsehapparat mittlerer Größe. Der Raum hatte zwei Fenster, beide ohne Griffe. Die Sicht nach draußen verhinderten schwere Rollos, wohl aus Metall, wie Lydia Bertele annahm. In der aus ihrer Sicht linken Ecke ragten zwei Wände in den Raum, eine hatte eine schmale Türe mit Türklinke. Lydia Bertele vermutete, dass sich dahinter ein kleiner Raum befand. Eine weitere, breitere Türe befand sich an der anderen Seite. Zögernd ging sie zu der schmaleren Türe und öffnete sie. Der kleine, fensterlose Raum enthielt eine Toilette, ein Waschbecken und sogar eine Duschkabine. Als Lydia Bertele sich von ihrer Überraschung erholt und in den Hauptraum zurückgegangen war, bemerkte sie, dass auf dem Sideboard etwas lag. Ihre bereits nahezu grenzenlose Verblüffung steigerte sich noch, als sie die Gegenstände inspizierte. Fein säuberlich zusammengelegt lagen dort eine Jeans der Marke Lewis, eine blaue Baumwollbluse, zwei einfache weiße Baumwollunterhosen sowie zwei Paar Socken, alles unschwer zu erkennen in ihrer Größe
Lydia Bertele atmete tief durch, zog ihren Mantel aus und ließ sich mit einem lauten Seufzer auf den bequemen Stuhl fallen. Was, zum Teufel, sollte das für eine seltsame Entführung sein!
Matthias Bertele stellte den Wagen vor der Haustüre ab, ihn in die Garage zu fahren hatte er jetzt keinen Nerv. Am Gartentor öffnete er hektisch den Briefkasten. Es befand sich jedoch keine Nachricht von irgendwelchen Entführern darin, wie er gebangt, aber auch gehofft hatte, sondern lediglich das Werbeblatt der Region. Er warf seinen Mantel achtlos in die Ecke und stürmte zum Telefon. Die blinkende Anzeige des Anrufbeantworters sagte ihm, dass ein Anruf mit einer Nummer eingegangen war, die er nicht kannte. Atemlos drückte er den Abhörknopf und es ertönte eine wohlbekannte Stimme: „Hallo Matthias, hier ist deine Mutter. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich mit Hermann für ein paar Tage nach Sylt gefahren bin. Ach, ich kann dir nur sagen, hier ist es wunderbar. Ich glaube, ich werde mich hier sehr gut erholen. Das habe ich nach dem Stress der letzten Wochen auch bitter nötig. Euch geht es doch sicher gut, das freut mich. Ich rühr mich wieder, Tschüss!“
Enttäuscht legte Bertele den Hörer auf. Seine Mutter, die hatte ihm gerade noch gefehlt! Dass sie mit ihrem zweiten Mann Hermann nach Sylt fahren würde, hatte sie ihm gar nicht gesagt. Auch von einem Stress der letzten Wochen hatte er keinerlei Kenntnis und er konnte sich auch gar nicht vorstellen, dass seine Mutter, die in Saus und Braus in einem Villenviertel in München wohnte, auch nur irgendein Stresserlebnis gehabt haben könnte.
Seine Gedanken wurden durch das Läuten des Telefons unterbrochen. Er fuhr zusammen. Ein Blick auf die Anzeige sagte ihm, dass die Nummer unterdrückt war. Hastig nahm er den Hörer ab und meldete sich mit „Bertele“.
Eine unnatürlich klingende Stimme sagte: „Spreche ich mit Herrn Matthias Bertele?“
„Ja!“
„Gut, Sie werden ja bereits bemerkt haben, dass ihre Frau nicht nach Hause gekommen ist. Sie wird auch nicht kommen, da sie sich in unserem Gewahrsam befindet. Man könnte auch sagen, dass wir sie entführt haben. Es geht ihr aber ausgezeichnet und Sie werden ihre Frau auch zurückbekommen, sobald unsere Forderungen erfüllt worden sind. In Kürze hören Sie wieder von uns. Bereits jetzt können Sie sich darauf einstellen, dass wir drei Millionen Euro fordern werden, 40 000 Fünfziger, 2000 Fünfhunderter, jeweils gebraucht!“ Nach einer ganz kurzen Pause sagte die Stimme: „Ach ja Herr Bertele, was Sie jetzt auf diesen Anruf hin machen, ist allein ihre Sache und uns völlig egal.“ Dem Klicken im Hörer entnahm Bertele, dass der Anrufer aufgelegt hatte.
Konsterniert ließ er sich in einen Sessel in der Nähe des Telefons fallen. Panik stieg in ihm hoch, seine Gedanken rasten. Er hatte es zwar befürchtet, aber die Gewissheit, dass Lydia tatsächlich entführt worden war, schmetterte ihn nieder. In seinen schlimmsten Träumen hatte er sich so etwas nicht vorstellen können, das durfte doch alles nicht wahr sein! Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Um Gottes Willen, wie mochte es Lydia gehen? Wo war sie? Lebte sie überhaupt noch? Dann überschlugen sich seine Gedanken: drei Millionen, das müsste machbar sein, auch wenn er im Moment nicht gezielt darüber nachdenken konnte, wie er das Geld locker machen könnte.
Seine Stimmung schlug um. Der Inhalt des Anrufes berechtigte jedenfalls zu der Hoffnung, dass Lydia am Leben und nicht ermordet worden war. Daran klammerte er sich nun und er fühlte, dass er sich langsam wieder in den Griff bekam. Matthias Bertele atmete tief durch, ergriff den Telefonhörer und wählte die gespeicherte Nummer des Oberstaatsanwaltes Johannes Lifter.
Mit Bangen wartete er darauf, dass der Klingelton von einer Stimme unterbrochen wurde. Endlich wurde abgehoben. Johannes Lifter war selbst am Apparat. Die Nummer Berteles war eingespeichert. Eine vertraute, angenehme Stimme mit einem unverkennbaren bayerischen Akzent meldete sich: „Hallo Matthias, das ist aber schön, mal wieder was von dir zu hören. Sprich, wie geht es euch?“
„Beschissen!“, stieß Bertele hervor. „Lydia ist heute Abend entführt worden!“ Er hörte, wie sein Gesprächspartner tief durchatmete. Ohne Umschweife fordert er ihn auf: „Erzähle!“
Matthias Bertele ließ sich nicht zweimal bitten, hastig berichtete er von den Ereignissen des Abends. Er fühlte zu seiner eigenen Überraschung, wie er während der Schilderung ruhiger wurde. Lifter unterbrach ihn kein einziges Mal. Nach Beendigung seines Berichts trat eine kurze Pause ein. Dann sagte der Oberstaatsanwalt mit einer Stimme, die in den Ohren von Bertele unglaublich sachlich und kompetent klang: „Okay, Matthias, ich werde mich sofort um die Sache kümmern. Es wird nicht lange dauern, bis ein Team der Polizei bei dir sein wird. Ich werde auch kommen. Beruhige dich erstmal, soweit möglich.“ Er stockte kurz und fragte dann: „Die drei Millionen, kannst du die auftreiben?“ Bertele bejahte dies, was von Lifter nur mit „Gut!“ kommentiert wurde.
Gerade als er auflegen wollte, fiel Bertele siedend heiß ein, dass seine Tochter Sybille auf eine Nachricht wartete. Er fragte Lifter, dem er bereits von dem Gespräch mit ihr erzählt hatte, was er ihr sagen sollte. Lifter überlegte kurz und meinte: „Ich fürchte, du musst ihr die Wahrheit sagen. Mir fällt auf Anhieb keine Geschichte ein, mit der du sie vertrösten kannst. Aber sag ihr, dass sie unbedingt sofort zu dir kommen muss. Wenn sie sich an andere Leute wenden würde, wäre das ziemlich fatal. Und, Matthias, sollte sich der Entführer nochmal melden, schreib sofort alles penibel auf, was er sagt. Und achte bitte auf Besonderheiten in der Stimme und etwaige Hintergrundgeräusche! Also bis gleich!“
Erleichtert ließ sich Bertele auf einen Sessel fallen. Er setzte großes Vertrauen in seinen Freund Lifter, den er in Studienzeiten kennengelernt und stets als äußerst zuverlässig und besonnen erlebt hatte. Der Oberstaatsanwalt gehörte wie er selbst zu einer Gruppe, die sich gefunden hatte, obwohl sie verschiedenen Fakultäten angehört hatten. Sie trafen sich in unterschiedlicher Besetzung in unregelmäßigen Abständen und waren immer wieder verblüfft, dass die alte Vertrautheit nicht verloren gegangen war. Alle hatten sie Karriere gemacht. Bei Lifter war abzusehen, dass er nicht als Oberstaatsanwalt in Pension gehen würde. Lifter selbst schwieg sich zwar aus, aber die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass er in absehbarer Zeit die Leitung einer der Münchner Justizbehörden übernehmen werde.
Bertele gab sich einen Ruck und griff zum Telefon. Seine Tochter Sybille meldete sich sofort. „Und, was ist, ist die Mama jetzt da?“ Die Anspannung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Nein, Sybille, leider nicht. Ich muss dich bitten, sofort herzukommen. Es ist etwas Schlimmes passiert, Mama ist entführt worden!“
Die Leitung blieb so lange tot, dass Bertele nachfragte: „Sybille, bist du noch da, hörst du mich?“
„Das darf nicht wahr sein, wer tut denn so was? Haben sich die Entführer schon gerührt? Weißt du irgendwas, wie es Mama geht?“ Bertele merkte, dass sie weinte und sich mit dem Sprechen schwertat.
„Ja, es hat jemand angerufen, aber nur gesagt, dass sie entführt worden ist und ich noch Näheres hören werde. Bitte setz dich jetzt ins Auto und komm her. Oder nimm besser ein Taxi, nicht dass du noch einen Unfall baust! Ich habe im Übrigen Johannes Lifter verständigt, der alles Notwendige in die Wege leiten wird. Und bitte: kein Wort zu irgendjemand, hast du verstanden!“
Kaum hatte er aufgelegt, läutete das Telefon. Elektrisiert hob er ab. Es ertönte die unnatürlich klingende Stimme, die er bereits gehört hatte. „Ich nehme an, dass Sie Ihre Tochter und Ihren Freund, den Herrn Oberstaatsanwalt, verständigt haben.
Wie Sie sehen, sind wir über Sie und ihr gesamtes Umfeld bestens informiert. Uns ist es allerdings völlig egal, wen Sie noch alles verständigen. Auch die Einschaltung der Polizei haben wir natürlich einkalkuliert. Selbstverständlich liefern wir Ihnen auch einen Nachweis, dass Ihre Frau noch lebt. Schauen Sie in Ihren Briefkasten, dort werden Sie ein Foto finden. Ihrer Frau geht es im Übrigen ausgezeichnet, sie wird von uns bestens versorgt. Jedenfalls solange Sie unsere weiteren Anweisungen befolgen. Wir rühren uns morgen wieder.“
Dem Ton des Telefons entnahm Bertele, dass der Anrufer das Gespräch beendet hatte. Er sprang auf und lief zum Briefkasten. Darin lag tatsächlich ein kleiner weißer Briefumschlag, den Bertele ohne weiter nachzudenken, hastig aufriss. Eine kleine Speicherkarte der Firma SanDisk mit 4,5 Gigabyte fiel heraus. Bertele hob sie auf und eilte ins Haus zurück. Er griff sich seine Kamera, entfernte seine eigene Karte und schob die gerade Erhaltene ein. Als er auf die Betrachtungstaste seiner Kamera drückte, erschien ein Bild seiner Frau. Er sah sofort, dass das Bild bearbeitet worden war. Die Körperhaltung Lydias war die einer Sitzenden, ein Stuhl war jedoch nicht zu sehen, der Hintergrund eine graue Fläche ohne jede Kontur. Lydia sah leicht nach oben, offensichtlich direkt in die Kamera. Ihrem Gesichtsausdruck glaubte er zwar Unsicherheit und Misstrauen, jedoch keine Panik entnehmen zu können. Er war sich sicher, dass es sich um ein aktuelles Foto handelte. Lydia ließ sich mit ganz wenigen Ausnahmen nur von ihm fotografieren und dieses Foto hatte er nicht gemacht. Außerdem erkannte er das blaue Kleid, das sie am heutigen Morgen getragen hatte.
Bertele sank in dem Sessel zusammen. Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Lydia lebte!
Lydia Bertele sagte sich zum wiederholten Mal, dass sie jetzt nicht die Nerven verlieren durfte. Sie musste sich zwingen, die positiven Seiten zu sehen: Entgegen ihrer Befürchtungen lag sie nicht gefesselt in einem kalten Raum auf dem Boden, sondern befand sich in einem komfortabel ausgestatteten Raum mit separatem Badezimmer. Offensichtlich waren die Entführer gewillt, sie gut zu behandeln. Sie begann sich weiter in dem Raum umzusehen. In einer Ecke entdeckte sie an der Decke eine Kamera. Dass sie überwacht wurde, überraschte sie nicht. Während sie die Kamera von ihrem Stuhl aus musterte, ertönte plötzlich wieder die Stimme, die ihr schon bedeutet hatte, dass sie sich ihres Sackes entledigen könne. Die Stimme kam aus einem kleinen Lautsprecher, der in der anderen Ecke des Raumes oben an der Wand angebracht war. Sie hatte ihn bisher nicht entdeckt.
Die Stimme klang leicht blechern und unnatürlich, sie hatte das Gefühl, dass dies nicht nur auf den Lautsprecher zurückzuführen war. Lydia Bertele war sich allerdings völlig sicher, dass der Sprecher ein Mann war. „Guten Abend, Frau Bertele“ sagte der unbekannte Sprecher. „Sie werden nicht zuletzt auf Grund der Ausstattung Ihres Aufenthaltsraums sicher schon bemerkt haben, dass wir keine Unmenschen sind. Wenn Sie hier keinen Unfug treiben, wird Ihnen nichts geschehen. Die Dauer Ihres Aufenthaltes wird davon abhängen, ob Ihr Mann alle unsere Anweisungen befolgt. Wir haben ihn bereits kontaktiert. In der Annahme, dass Sie ihm das wert sind, haben wir eine Lösegeldsumme von drei Millionen Euro verlangt. Sie können davon ausgehen, dass wir Ihre Entführung von langer Hand geplant haben und sowohl über Ihre finanziellen Verhältnisse als auch über Ihre gesamten Lebensverhältnisse bestens informiert sind. Nach unseren Plänen sollte alles binnen drei Tagen abgewickelt sein. Dann können Sie nach Hause. Sollte allerdings etwas gravierend schief gehen, werden wir uns Ihrer anderweitig entledigen müssen. Wir würden das sehr bedauern.“
Nach einer kleinen Pause fuhr der Sprecher fort: „Ihnen ist sicher schon aufgefallen, dass Ihnen alles zur Verfügung steht, was Sie für die Dauer Ihres Aufenthalts brauchen. Auch der Fernseher ist funktionstüchtig. Von der Vorlage von Büchern haben wir allerdings abgesehen. Wir sind auch angesichts Ihrer uns bekannten persönlichen Vorlieben davon ausgegangen, dass eine Bibel oder ein Koran Sie nicht wesentlich erheitern würden.“
Wieder trat eine kurze Unterbrechung ein und Lydia hatte das Gefühl, dass der Sprecher ein Lächeln unterdrücken musste. Dann ertönte die Stimme ohne jede Veränderung der Stimmlage wieder: „Selbstverständlich wird auch für Ihr leibliches Wohlergehen gesorgt werden. Sie werden vielleicht schon bemerkt haben, dass sich unten an der Türe eine Klappe befindet. Sie dient dazu, Ihnen Essen und Getränke in das Zimmer zu reichen. Wenn Sie sich noch etwas gedulden, in circa einer halben Stunde gibt es was. Ich bitte allerdings um Verständnis, dass sich der kulinarische Genuss in Grenzen halten wird.“ Nach einer kleinen Pause fuhr die Stimme fort: „Wie wir gesehen haben, ist Ihnen die Kamera schon aufgefallen, die alle Ihre Schritte im Raum überwachen wird. Selbstverständlich befindet sich im Badezimmer keine Kamera. Noch ein Letztes: Schreien ist völlig sinnlos, es wird nichts nach draußen dringen, dafür haben wir gesorgt.“ Es ertönte ein leises Knacken, das Lydia annehmen ließ, die Durchsage sei nun beendet.
Sie lehnte sich in Ihrem Sessel zurück und atmete tief durch. Sie wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Der Inhalt der Durchsage und die Art der Unterbringung ließ für sie den Schluss zu, dass man wohl nicht vorhatte, sie umzubringen. „Na, wenigstens etwas“, sagte sie leise zu sich selbst. Als nächstes dachte sie an Matthias. Wie würde es dem gehen? Sie überlegte, ob er sich wohl an die Polizei gewandt hatte. Sie brauchte nicht lange zu grübeln: In Kenntnis seiner Person war ihr völlig klar, dass er diese Situation nicht in völliger Eigenständigkeit durchstehen könnte. Matthias war ein ausgezeichneter Arzt und Geschäftsmann, aber mit Problemen im privaten Bereich konnte er nach ihren Erfahrungen nicht sonderlich gut umgehen. Drei Millionen, das müsste er allerdings hinbekommen. Hoffnung keimte in ihr auf, irgendwie würde, musste schon alles gutgehen!
Der nächste Gedanke galt ihren Entführern. Was mochten das für Leute sein? Sie ließ sich den Inhalt und die Art der Durchsage nochmals durch den Kopf gehen. Eines war für sie jedenfalls klar: Der Sprecher war ein sprachlich sehr gewandter Mann mit einer klaren Diktion. Sein Alter konnte sie nicht schätzen, dazu war die Stimme nicht natürlich genug. Ob man sich technischer Mittel oder lediglich etwa eines vorgehaltenen Tuches bedient hatte, um die Stimme zu verschleiern, konnte sie nicht beurteilen. Die Stimme erinnerte sie an die Ansagerin Ihres Navis im Auto. Das war allerdings eine Computerstimme. Auch wenn sie von technischen Dingen herzlich wenig verstand, war ihr klar, dass die Stimme mit irgendwelchen technischen Tricks verfremdet worden war. Sie überlegte kurz, ob ihr eine dialektische Färbung aufgefallen war, kam aber zu keinem Ergebnis.
Lydia Bertele stand auf und ging ein paar Schritte in dem Zimmer auf und ab. Sie überlegte kurz, wo sie sich wohl befinden könnte, gab jedoch schnell auf. Sie hatte keinen Anhaltspunkt, weit weg von München konnte es nach der Fahrzeit nicht sein. Sie zuckte frustriert die Achseln und sah auf die Uhr. Kurz vor 20 Uhr. Sie ergriff die Fernbedienung und schaltete seufzend das Fernsehgerät in der Hoffnung ein, dass sie damit die immer wieder aufkommenden Panikschübe einigermaßen in den Griff bekommen würde. Die Stimme der Nachrichtensprecherin beruhigte sie tatsächlich etwas, auch wenn sie vom Inhalt der Nachrichten nichts mitbekam.
Es kam Matthias Bertele wie eine Ewigkeit vor, bis Lifter bei ihm eintraf. Der Freund nahm ihn tröstend in die Arme und sagte: „Du wirst sehen, das kriegen wir schon hin! Die Polizei wird gleich da sein. Wir haben Glück gehabt, Kriminalkommissar Runninger vom Polizeipräsidium München wird die Ermittlungen übernehmen. Ich habe ihn bei einigen schwierigen Verfahren sehr zu schätzen gelernt.“
Bevor er weitersprechen konnte, klingelte es erneut. Als Bertele die Türe öffnete, fiel ihm seine völlig aufgelöste Tochter Sybille um den Hals. „Papa, sag‘, dass das nicht wahr ist“, schluchzte sie. Sein „Leider doch!“, löste einen weiteren Tränenstrom aus. Mit völlig entsetztem Gesichtsausdruck sah ihn Sylvia an: „Ja um Gottes willen, was passiert denn jetzt?“
Bevor Bertele antworten konnte, ertönte wieder die Klingel. Lifter ging zur Türe und ließ drei Personen herein. Die älteste, einen mittelgroßen, kräftigen Mann mit einer dichten grauen Haarmähne, begrüßte er mit den Worten: „Ich bin sehr, sehr froh, dass Sie zur Verfügung stehen, Herr Runninger!“ Der Mann wandte sich Bertele und seiner Tochter zu, schüttelte Ihnen die Hand und stellte seine Kollegin Kriminaloberkommisssarin Beate Braun und Kriminalhauptkommissar Fritz Kressmann vor. Bertele waren die drei Beamten sofort sympathisch. Kressmann war sehr groß und schlank, in seinem schmalen Gesicht fielen sofort die wachen grauen Augen auf. Beate Braun war jünger, Bertele schätzte sie auf circa dreißig Jahre. Sie hatte einen warmen Gesichtsausdruck und wandte sich sofort Sybille Bertele zu, der sie spontan ein Taschentuch reichte.
Runninger sah Bertele an und sagte: „Bevor wir uns eingehend unterhalten, Herr Bertele, werden meine Kollegen an ihrem Festnetzanschluss eine Fangschaltung installieren, wenn Sie einverstanden sind. Außerdem brauchen wir ihr Handy oder Smartphon, damit wir auch dort eingehende Anrufe weiterverfolgen können. Ich selbst möchte mir kurz einen Eindruck von Ihrem Haus und dem Garten machen. Im Übrigen haben wir auf der Straße auch noch Kollegen in zwei Autos postiert. Er hielt kurz inne, griff Bertele an den Oberarm und versuchte ihn zu beruhigen, da er das ängstliche Aufflackern im Blick des Arztes bemerkt hatte: „Keine Angst, Herr Bertele“, sagte er, „wir werden selbstverständlich alles vermeiden, was ihre Frau gefährden könnte. Ich bin mir sicher, wir werden das alles zu einem guten Ende bringen. Und jetzt zeigen Sie mir bitte das Haus und den Garten!“
Nach Beendigung der kurzen Führung schlug Runninger vor, dass man sich in das Wohnzimmer setzen könne. Er meinte zu Bertele: „Herr Lifter hat mir bereits mitgeteilt, was Sie ihm berichtet haben. Aber bitte, erzählen Sie von Anfang an!“
Bertele schilderte ihm den Verlauf des Abends, Runninger und seine Kollegen, die ein Aufnahmegerät mitlaufen ließen, unterbrachen ihn kein einziges Mal. Als er fertig war, fragte ihn Runninger nach einem Bild von Lydia. Bertele reichte ihm das Bild, das er im Briefkasten vorgefunden hatte und fügte hinzu, dass seine Frau am Morgen das Haus in diesem Kleid verlassen hatte. Sybille, die ebenfalls zugehört hatte, holte ein Bild aus dem elterlichen Schlafzimmer und reichte es ihm mit der Bemerkung, dass sie selbst dieses Foto im Sommer aufgenommen habe. Es zeigte Lydia Bertele in einem hellen, geblümten Sommerkleid. Runninger dachte bei sich, dass die Frau wesentlich jünger aussah als sie war. Das Bild von der Entführten reichte er an Beate Braun ohne weitere Erklärung weiter. Die Kollegin würde wissen, was zu tun war. Er sah Bertele an: „Wir möchten uns gerne ein Bild von Ihrer Frau machen. Bitte erzählen Sie uns, wie lange Sie schon verheiratet sind, was Ihre Frau genau beruflich macht und welche Gewohnheiten sie hat.“ Bertele lehnte sich zurück und gab die gewünschten Auskünfte. Bei der Antwort nach Gewohnheiten zuckte er leicht ratlos mit den Achseln und meinte schließlich: „Wissen Sie, wir sind eigentlich eine ganz normale Familie. Unser Freundeskreis ist ziemlich groß, schon beruflich bedingt haben wir ziemlich viele Kontakte. Wir haben es jedoch all die Jahre ganz gut verstanden, unsere Privatsphäre zu bewahren. Zu irgendwelchen publicityträchtigen Einladungen und Veranstaltungen gehen wir eigentlich nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Wir sind beide auch nicht bei Facebook oder Twitter, obwohl wir, ich von meinem Verwaltungschef in der Klinik und Lydia von ihren Studenten, dazu schon oft gedrängt worden sind. Wir spielen Tennis im Tennisclub Gelb/Rot in Gräfelfing, fahren jedes Jahr eine Woche zum Skifahren nach Lech am Arlberg, die letzten Jahre auch jeweils eine Woche ans Rote Meer zum Schnorcheln. Daneben bemühen wir uns jedes Jahr, uns auch Zeit für eine Rundreise innerhalb Europas freizuschaufeln.“
Er sah Kriminalkommissar Runninger fragend an: „Was wollen Sie sonst noch wissen?“
Runninger sah ihn mit einem Blick an, den Bertele als unangenehm empfand, und fragte unverblümt: „Wie würden Sie denn Ihre Beziehung bezeichnen? Ist sie gut, gab es Probleme? Tut mir leid, aber das müssen wir fragen.“
Bertele war anzusehen, dass er die Frage als unangemessen empfand. Er erwiderte jedoch ohne Zögern: „Ausgesprochen gut. Wir lieben uns, haben gemeinsame Interessen und respektieren einander. Jeder lässt dem anderen hinreichend Freiraum, was vor allem für meine Frau äußerst wichtig ist. Natürlich gibt es auch bei uns hin und wieder kleine Reibereien, wie in jeder Ehe.“
Der Polizist gab sich damit zufrieden. „Nächste Frage: Wie sind Ihre finanziellen Verhältnisse? Herr Lifter sagte mir, dass Sie das geforderte Geld aufbringen können.“ Matthias Bertele bestätigte dies nach einem kurzen Blickwechsel mit Oberstaatsanwalt Lifter und gab den Polizeibeamten eine kurze Zusammenschau über das Familienvermögen.
Auch da fragte Runninger nicht nach, sondern kam nochmals auf den Anruf des Entführers zurück: „Ist Ihnen an der Stimme irgendetwas aufgefallen, eine Dialektfärbung, eine besondere Wortwahl oder sonst etwas? Wie alt würden Sie den Anrufer schätzen?“
Bertele ließ sich mit seiner Antwort Zeit. „Ich war so aufgeregt, dass ich nur auf den Inhalt geachtet habe“, sagte er schließlich. „Wenn ich jetzt darüber nachdenke, meine ich, dass die Stimme nicht natürlich geklungen hat, vielleicht hat er sich ein Tuch vor den Mund gehalten oder die Stimme durch irgendeine technische Vorrichtung verfälscht. Der Ton war jedenfalls seltsam. Dialekt habe ich keinen herausgehört, ich kann aber eines sagen: Der Mann ist sprachlich versiert, er drückt sich sehr geschliffen aus und gackst nicht herum. Ich habe den Eindruck, dass er befehlsgewohnt ist. Über das Alter kann ich nichts sagen, dazu klang die Stimme zu unnatürlich, wie von einem Computer oder von einem Navi. Spontan würde ich meinen, ein Mann mittleren Alters, kein Ausländer.“ Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Runninger fragte nun sowohl Bertele als auch seine Tochter, ob ihnen in letzter Zeit irgendetwas aufgefallen sei, ob sie sich beobachtet gefühlt oder seltsame Anrufe erhalten hätten, was beide verneinten. Bertele fügte hinzu, dass auch seine Frau keine ungewöhnlichen Vorkommnisse erwähnt habe.
„Tja, dann müssen wir wohl warten, bis sich die Herrschaften wieder rühren werden. Ich würde Sie nur bitten, einen Kollegen mitzunehmen, wenn Sie sich morgen um das Geld kümmern. Die Person stelle ich Ihnen noch vor. Wir werden uns auch mit der Landesbank und der Bundesbank in Verbindung setzen, eine solche Summe in gebrauchten Scheinen in kurzer Zeit zusammen zu stellen, dürfte nicht so einfach sein.“ Er sah Lifter an und sagte: „Ich glaube, Herr Lifter, es wäre es sehr hilfreich, wenn Sie sich da einschalten würden!“
Als Lydia Bertele am Morgen nach der Entführung nach einer unruhigen Nacht, in der sie immer wieder in Panik verfallen war, aufwachte, wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Der Raum war völlig ohne Lichtquelle und daher stockdunkel. Die Erkenntnis, dass sie entführt worden und in einem Raum eingesperrt war, überfiel sie erneut wie ein Keulenschlag. Hastig tastete sie das Nachtkästchen nach dem Schalter für die dort angebrachte Klemmlampe ab. Als sie ihn endlich gefunden hatte und der Raum in ein weiches Licht getaucht wurde, atmete sie erleichtert auf. Sie ließ sich in das Bett zurückfallen und zwang sich, die Geschehnisse des gestrigen Tages zu rekapitulieren. Langsam wich ihre Panik rationalen Gedankengängen. Im Vordergrund stand nun wieder dieselbe Feststellung, die sie bereits gestern Abend getroffen hatte und an die sie sich auch jetzt klammerte: Die Entführer wollten sie wohl nicht umbringen, sonst würde sie kaum so behandelt werden. Sogar das Essen gestern war annehmbar gewesen, Spaghetti mit Pesto, einem Fertigprodukt. Während sie noch darüber nachdachte, ertönte so unvermittelt die ihr schon bekannte Stimme, dass sie zusammenfuhr: „Guten Morgen, Frau Bertele. Wir hoffen, Sie haben einigermaßen gut geschlafen. Sie werden jetzt ein Frühstück bekommen. Bitte gehen Sie jetzt in das Bad!“
Lydia Bertele stand auf und ging in das Bad. Obwohl sie das bereits gestern getan hatte, überzeugte sie sich erneut, dass sich darin keine Kamera befand. Nachdem sie sich geduscht hatte, zog sie die von den Entführern bereitgelegte Unterwäsche, die Jeans und den Pullover an. Sämtliche Kleidungsstücke passten perfekt. Als sie in den Hauptraum zurückkam, sah sie, dass ein Tablett durch die Klappe geschoben worden war. Darauf standen eine Kaffeekanne, ein Teller, eine Tasse mit Untersetzer, ein Brotkorb mit zwei Semmeln, auf einem weiteren kleinen Teller ein Stück Butter und ein Häufchen Marmelade, Himbeere, wie sie sofort roch. Außerdem sah sie ein kleines Kännchen mit Milch, sowie ein Messer und ein Kaffeelöffel aus weißem Plastik. Sie registrierte automatisch, dass Zucker fehlte, aber den nahm sie eh nie zum Kaffee. Lydia überlegte kurz, ob die Entführer auch das ausgekundschaftet hatten, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Mit einem kleinen Seufzer nahm sie das Tablett und stellte es auf den Tisch. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie nicht nur Hunger, sondern sogar Appetit hatte. Sie setzte sich und wollte gerade mit dem Frühstück beginnen, als ihr der Gedanke kam, dass die Polizei sie nach ihrer Freilassung wahrscheinlich nach jeder Kleinigkeit fragen würde. Lydia Bertele stockte in ihrem Gedankengang kurz: „Du bist wirklich ein grenzenloser Optimist, Lydia!“, sagte sie sich leise. Sie schüttelte den Kopf, wie konnte sie nur so sicher sein, unbeschadet freigelassen zu werden?
Trotzdem musterte sie nun das Frühstück genau. Bei den Semmeln handelte es sich um Sternsemmeln, wie man sie bei jedem Bäcker oder Supermarkt kaufen konnte. Sie waren nicht frisch, sondern aufgebacken. Das Geschirr war aus weißem Porzellan, einen Hinweis auf den Hersteller fand sie nicht. Sie kostete den Kaffee. Er schmeckte nicht schlecht, aber sie sah sich außerstande, zu erkennen, welche Sorte es war. Sie tippte auf ein Billigprodukt aus einem Supermarkt. Die Marmelade stufte sie ebenfalls als Massenware ein.
Nachdem sie fertig gefrühstückt hatte, überlegte sie, was sie den ganzen Tag in dem Raum machen sollte. Sie fühlte sich völlig ausgeliefert, wieder kam Panik auf, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ratlos sah sie sich in ihrem Gefängnis um. Was würde der Tag bringen? Zweifel befiel sie, ob ihr Mann alles richtig machen würde. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als unvermittelt die Stimme aus dem Lautsprecher ertönte: „Sie werden jetzt durch die Klappe ein Exemplar der Süddeutschen Zeitung von heute erhalten. Ihr Frühstücksgeschirr können Sie ebenfalls durch die Klappe schieben. Dann setzen Sie sich bitte wieder auf den Stuhl und blicken zur Kamera. Dabei halten Sie die Zeitung so vor die Brust, dass auf dem Bild die Überschrift der Zeitung zu lesen ist. Die Zeitung können Sie behalten.“
Lydia tat wie ihr geheißen. Als sich die Klappe öffnete, schob sie das Tablett durch und nahm die von der anderen Seite durchgereichte Zeitung auf. Dabei erhaschte sie einen Blick auf die Fingerspitzen, welche die Zeitung durchreichte. Die Person hinter der Türe trug Plastikhandschuhe, es war ihr unmöglich zu erkennen, ob die Finger zu einer Frauen- oder Männerhand gehörten. Brav setzte sie sich auf den Stuhl, hielt sich wie befohlen die Zeitung vor die Brust und blickte direkt in die Kamera an der Decke. Sehr schnell erklang wieder die Stimme: „Danke, das genügt!“
Mit einem Seufzer lehnte sich Lydia Bertele zurück. Wie mochte es Matthias und ihrer Tochter gehen? Sie war sich nicht sicher, ob Matthias Sybille erzählt hatte, was mit ihrer Mutter geschehen war. Hoffentlich nicht, sie wusste, wie hysterisch Sybille auf belastende Dinge reagieren konnte! Drei Millionen! Sie überlegte, was genau Matthias unternehmen würde, um das Geld aufzutreiben. Der Gedanke beruhigte sie. Matthias hatte die Finanzen der Familie voll im Griff und würde schon wissen, was zu tun war. Nachdem sie zu dem Ergebnis gekommen war, dass sie diese Überlegungen nicht weiterbringen würden, musterte sie erneut den Raum. Sie musste sich einfach alle Einzelheiten des Raumes einprägen! Damit würde sie eine Zeitlang beschäftigt sein.
Zunächst versuchte sie, die Größe des Raumes abzuschätzen. Schnell merkte sie, dass sie mit einer Schätzung zu keinem wirklichkeitsnahen Ergebnis kommen würde. Bei der Höhe des Raumes war sie sich zwar ziemlich sicher, es dürfte sich um die Standardhöhe handeln, also ca. 2,50 Meter. Hinsichtlich Länge und Breite kam ihr eine Idee: Beginnend auf einer Schmalseite schritt sie den Raum der Länge nach ab, wobei sie einen Fuß vor den anderen setzte und peinlich genau darauf achtete, dass ihre großen Zehen an die Verse des vorderen Fußes anstießen. Das gleiche wiederholte sie an der Breitseite des Raumes. Zufrieden prägte sie sich die Anzahl ihrer Schritte ein. Als nächstes musterte sie die Fenster. Es gab zwei, eines auf der Längsseite, eines auf der Breitseite. Unschwer war zu erkennen, dass es sich um Holzfenster handelt; sie waren weiß gestrichen und wohl nicht neueren Datums. Sie legte zunächst an der Unterkante des größeren Fensters ihren Unterarm an und stellte fest, dass die Breite der Länge von dreieinhalbmal Längen ihres Unterarmes entsprach. Die Höhe hätte sie nur unter Zuhilfenahme eines Stuhles messen können, was ihr aber als zu riskant erschien.