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Die Strafe E-Book

Hubertus Borck

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Beschreibung

In Hamburg sterben Menschen, die der Umwelt schaden. Jede und jeder könnte das nächste Opfer sein. Ein sensationeller Fall für das Hamburger Ermittlerduo Erdmann und Eloğlu von Erfolgsautor Hubertus Borck.  Ich sehe, was du tust. Dafür wirst du bestraft. Bei einem Brand im Müllkeller eines Hochhauses kommt eine Frau ums Leben. So verzweifelt sie auch versucht zu entkommen, die Tür lässt sich nicht mehr öffnen. Kurz vor ihrem qualvollen Tod entdeckt sie eine geheimnisvolle Botschaft über sich an der Decke: «Ich sehe, was du tust». Wenige Wochen später verbrennt ein erfolgreicher Rechtsanwalt in einem Bordell auf der Reeperbahn, eingesperrt in einem Käfig. Beide Brände scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, doch dann entdecken Hauptkommissarin Franka Erdmann und Alpay Eloğlu vom LKA Hamburg eine besorgniserregende Spur. Wurden die Feuer absichtlich gelegt, um Menschen im Namen der Umwelt zu bestrafen? Dann könnte es jede und jeden treffen. Die fieberhafte Suche nach dem Täter beginnt, oder ist gleich eine ganze Gruppe für diese Bestrafungen verantwortlich? Und während die Soko hoch konzentriert ermittelt, wird schon das nächste Feuer entfacht. Werden Franka und Alpay die Flammen aufhalten können, bevor ein weiteres Opfer verbrennt? Erdmann und Eloğlu ermitteln unter Hochdruck: Sie ist hart und abgeklärt, er ist der Neue im Job. Nach «Das Profil» und «Die Klinik» der neue packende Thriller von Hubertus Borck. «Die Strafe» ist Hochspannung für Fans von Sebastian Fitzek und Andreas Winkelmann. 

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Seitenzahl: 403

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Hubertus Borck

Die Strafe

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Ich sehe, was du tust!

Dafür wirst du bestraft.

 

Bei einem Brand im Müllkeller eines Hamburger Hochhauses kommt eine Frau ums Leben. So verzweifelt sie auch versucht zu entkommen, die Tür lässt sich nicht mehr öffnen. Kurz vor ihrem qualvollen Tod entdeckt sie eine geheimnisvolle Botschaft über sich an der Decke: «Ich sehe, was du tust!». Kurz darauf verbrennt ein erfolgreicher Rechtsanwalt in einem Bordell auf der Reeperbahn, eingesperrt in einen Käfig. Beide Brände scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, doch dann entdecken Hauptkommissarin Franka Erdmann und Alpay Eloğlu vom LKA Hamburg eine besorgniserregende Spur. Wurden die Feuer absichtlich gelegt, um Menschen im Namen der Umwelt zu bestrafen? Dann könnte es jede und jeden treffen. Und das nächste Feuer ist schon entfacht.

 

Erdmann und Eloğlu ermitteln: Der neue packende Thriller des Erfolgsautors von «Das Profil» und «Die Klinik».

 

«Spannend und lesenswert.» Sabine Rückert, Chefin des Podcasts ZEIT Verbrechen zu «Das Profil»

 

Stimmen zur Erdmann und Eloğlu - Reihe :

 

«Ein extrem schneller Thriller, der im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht.» Münchner Merkur zu «Das Profil»

 

«Wer Fitzek mag, wird diesen Thriller lieben.» Frankfurter Rundschau Online zu «Das Profil»

 

«Hochspannung um Social-Media-Gefahren, Hamburg-Kolorit und Ermittler, denen man gern folgt.» Hörzu zu «Das Profil»

 

«Nach ‹Das Profil›, dem fulminanten Start seiner Erdmannn-Eloğlu-Reihe (...) der zweite Band um das ungleiche LKA-Ermittlerduo (…) extrem unterhaltsam.» krimi-couch.de zu «Die Klinik»

 

«Hochdosiert spannend.» Kulturnews zu «Die Klinik»

Vita

Hubertus Borck, geboren 1967 in Lübeck, ist Kabarettist, Texter, Theater- und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. für «Gute Zeiten, schlechte Zeiten», «Wege zum Glück» und die NDR-Produktion «Rote Rosen». Hubertus Borck lebt in Hamburg. In der Thrillerserie mit Franka Erdmann und Alpay Eloğlu erschienen bisher «Das Profil» und «Die Klinik».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Carla Felgentreff

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Helmut Henkensiefken/pixxwerk

ISBN 978-3-644-01522-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Kai.

Prolog

Montag, 28. August

Wenn sie jetzt das Lenkrad verriss, ermahnte sich Christine, würde sie gegen einen der Alleebäume rechts und links der Bundesstraße knallen. Die fast senkrecht stehende Mittagssonne schien ihr durch die Frontscheibe des alten Mini mitten ins Gesicht, und trotz der heruntergeklappten Sonnenblende musste sie die Augen immer wieder zusammenkneifen. Es roch nach Reinigungsflüssigkeit. Mit der Scheibenwischanlage versuchte sie verzweifelt, die Unmengen toter Insekten vom Glas zu entfernen, die ihr die Sicht auf der Landstraße von Hittfeld zur Autobahnauffahrt Richtung Hamburg zusätzlich erschwerten. Alle redeten davon, dass es immer weniger Bienen, Grashüpfer und Mücken gab, was ja stimmen mochte, aber es waren noch genug, dass die Wischblätter einen schmierigen Film daraus machten.

Sie sah durch den Rückspiegel zu ihren Kindern nach hinten. Während ihre Vierjährige tief und fest in ihrem Kindersitz schlief, thronte ihr um zwei Jahre älterer Sohn stolz auf seiner Sitzschale, für die er seit wenigen Wochen endlich groß und schwer genug war. Er summte ein Lied und leckte schon wieder einen Butterkeks an, den er anschließend vor sich in den Fußraum warf. Für eine erneute Ermahnung war Christine zu müde. Jedes Mal, wenn die Kinder einige Tage bei ihren Eltern verbracht hatten, musste sie ihnen anschließend all die Dinge wieder abgewöhnen, die Oma und Opa ihnen hatten durchgehen lassen. Trotzdem war Christine dankbar für die kostenlose Kinderbetreuung, insbesondere wenn sie die Kleinen während der Prozesstage dort abgeben konnte. Gerade jetzt, zum Auftakt der Hauptverhandlung, versuchten Journalisten immer wieder, Christine vor ihrer Wohnung in Alsterdorf abzufangen.

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Lkw auf der schmalen Landstraße vor ihr auf und fuhr über den Mittelstreifen direkt auf sie zu. Panisch schlug sie auf die Hupe, zog mit ihrem Mini so weit nach rechts, dass sie die Sträucher der Böschung gegen die Beifahrerseite schlagen hörte. Sie hielt die Luft an und streckte sich gleichzeitig ein wenig nach oben, als würde das eigene Auto dadurch schmaler werden. Ein lautes Horn ertönte. Als der Lkw an ihr vorüberdonnerte, sah sie aus dem Augenwinkel gerade noch, wie der Fahrer ihr den ausgestreckten Mittelfinger zeigte. Was für ein Vollidiot!

Erleichtert atmete sie durch, während ihr das Herz gefühlt bis zum Hals schlug. Ihre Hände am Steuer waren feucht. So feucht wie der nächste Keks, den ihr Sohn nach vorne warf. Dieses Mal blaffte sie ihn an, was ihr schon im nächsten Moment leidtat. Sie selbst hätte besser aufpassen müssen. Christine wusste doch, dass die Lastwagen bei Stau auf der Autobahn die Elbe über die Kattwykbrücke querten und ein Stück über die Ausweichstrecke Richtung Süden fuhren. In ihrem alten Wagen fühlte sie sich weit weniger sicher als in dem schweren Firmenwagen, aber den hatte sie bei ihrer fristlosen Kündigung vor einem Jahr abgeben müssen. Seitdem stand sie extrem unter Strom. Wie sollte es weitergehen? Christines Gehalt war nun einmal unverzichtbar für den Unterhalt ihrer Familie.

Sie musste die Waschmitteldüse erneut bedienen. Aber einige Insektenreste klebten immer noch hartnäckig am Glas, so hartnäckig wie die Schlagzeile einer deutschen Boulevardzeitung an Christine: Die Brandmeisterin von Billbrook. Die Anklage der Hamburger Staatsanwaltschaft lautete auf fahrlässige Tötung. Sie war gefangen in diesem Albtraum, aus dem es im Moment kein Erwachen gab. Eine Hexenverfolgung im 21. Jahrhundert, bei der die Medien mithalfen, das Feuer des Scheiterhaufens, auf dem Christine stand, zu entfachen. Dabei war sie unschuldig. Doch sie hatte schon während der ersten Verhandlungstage am Amtsgericht einen Vorgeschmack darauf erhalten, dass recht haben und recht bekommen zwei unterschiedliche Paar Schuhe waren.

Immer noch hielt sie das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert, gerade so, als würde es ihr die Stabilität im Leben zurückgeben, die sie am Tag X verloren hatte. Die meisten Freunde hatten sich längst zurückgezogen. Auch einige Familienmitglieder schienen der falschen Berichterstattung und den Lügen, die über sie verbreitet wurden, Glauben zu schenken.

Endlich tauchte die Auffahrt Buchholzer Dreieck vor ihr auf. Christine war jedes Mal erleichtert, wenn sie die schmale Landstraße verlassen und auf die gut ausgebaute A1 Richtung Hamburg fahren konnte. Ihr Handy klingelte auf dem Beifahrersitz unter den Tupperdosen, die ihre Mutter mit frischem Obst aus dem Garten gefüllt hatte. Dann verstummte es. Wahrscheinlich sprang die Mailbox an.

Als sie nach rechts auf den Zubringer zur Autobahn abbog und beschleunigte, bemerkte sie im Rückspiegel einen schwarzen Sprinter, der eindeutig nicht genügend Sicherheitsabstand hielt. Waren heute nur Idioten unterwegs? Wieder meldete sich das Handy. Es musste wohl wichtig sein. Vielleicht war es ihr Anwalt mit neuen Erkenntnissen? Er hatte die Aussage eines Kollegen überprüfen wollen, die sie möglicherweise entlasten könnte. Auf dem Beschleunigungsstreifen gab sie noch einmal Gas, kontrollierte den Verkehr durch beide Spiegel und drehte sich kurz über die linke Schulter. Freie Fahrt.

Sie setzte den Blinker und scherte zügig auf die Autobahn ein. Das Handy verstummte wieder, um gleich darauf erneut zu klingeln. Der Sprinter hinter ihr war zurückgefallen und folgte nun in gebührendem Abstand. Und wenn sie das Gespräch schnell entgegennahm? Es ging ja nur geradeaus, der Verkehr war übersichtlich, und mehr als einhundertzwanzig Stundenkilometer durfte man hier sowieso nicht fahren. Blind tastete sie unter dem eingetupperten Obst nach dem Handy. Eine Dose fiel in den Fußraum. Endlich bekam sie das Gerät zu fassen. Beim erneuten Blick in den Rückspiegel sah sie den Sprinter immer noch hinter sich. Er kam jedoch wieder näher. Beschleunigte er etwa? Raste er auf sie zu? Fast wirkte es so, als würde er Anlauf nehmen. Sicher würde der Fahrer gleich den Blinker setzen und hinter ihr auf die linke Spur ausscheren.

Aber dann spürte Christine den heftigen Stoß. Sie verriss das Lenkrad. Ihr Kopf schnellte nach vorne. Die Kinder schrien auf. Sie verlor die Kontrolle über den Wagen, und für den Bruchteil einer Sekunde staunte sie über die saubere Scheibe, durch die sie nun plötzlich in den Himmel hinaufschaute.

Als ihr die ersten Splitter des Sicherheitsglases ins Auge schossen, wurde es stockfinster. Dann folgte Stille.

1Montag, 28. August

«Wollen wir schnell irgendwo was essen? Mittagszeit ist schon durch. Ich übernehme den Kaffee.» Alpay lenkte den Dienstwagen durch den Berufsverkehr zurück in Richtung Stadtpark, in dessen Nähe sich das Hamburger Polizeipräsidium befand. In einem Kaufhaus im Stadtteil Wandsbek hatte er am Vormittag gemeinsam mit Franka knapp dreitausend Euro Falschgeld sichergestellt, mit Angestellten und der Geschäftsleitung gesprochen und Videomaterial gesichtet.

Er schaute kurz zu ihr hinüber, aber sie hatte den Blick aus dem Beifahrerfenster gerichtet und sagte keinen Ton, trommelte jedoch nervös mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel. Alpay dachte an die Nikotinpflaster zurück, die sich Franka vor einigen Wochen gegen ihre Entzugserscheinungen auf den Arm geklebt hatte. Die Kettenraucherin Franka Erdmann hatte doch tatsächlich den Zigaretten abgeschworen.

Er unternahm einen letzten Versuch. «Komm schon, Franka. Lass uns wenigstens irgendwo draußen ein Brötchen essen. Der Sommer ist so gut wie vorbei.»

«Danke für das Angebot, Alpay. Aber ich würde gerne die Blüten in die Technik geben. Mich interessiert, ob diese Scheine auch aus Neapel stammen.»

Alpay wusste, dass ein Großteil des europäischen Falschgelds früher aus Balkanländern wie dem Kosovo gekommen war, es vor einigen Jahren aber eine Verschiebung Richtung Italien gegeben hatte. Er hätte sich eigentlich denken können, dass Hauptkommissarin Erdmann die kriminaltechnische Untersuchung wichtiger war als ihre Mittagspause.

Franka öffnete ihr Fenster einen Spalt, der Fahrtwind roch bereits nach Herbst. Als plötzlich klassische Musik über die Boxen erklang, schaute Alpay verwundert zum Autoradio in der Mittelkonsole. Es war ausgeschaltet. Dafür leuchtete im Display der Freisprechanlage der Name Susanne Erdmann-Fr… Anscheinend ein Doppelname, der nicht auf die Anzeige passte. Fragend blickte er zur Kollegin hinüber, die sich mit Privatem ziemlich zurückhielt, das wusste jeder im Dezernat. Während eine Harfe stimmungsvoll vor sich hin zupfte, durchwühlte Franka ihre Umhängetasche.

Endlich bekam sie ihr Handy zu fassen, entkoppelte es aus der Freisprechanlage und steckte es kommentarlos wieder ein, ohne den Anruf entgegenzunehmen. Die Harfenmusik verstummte. Alpay konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

«Was ist so komisch?» Franka schaute zu ihm hinüber. «Meine Schwester. Ja und?»

«Du hast eine Schwester? Die hast du nie erwähnt.»

«Warum sollte ich?»

«Älter oder jünger?»

Franka schaltete das Radio ein, und Alpay kapierte, dass er es gut sein lassen sollte. Selbst nach fast einem Jahr im Dezernat und zwei gemeinsam gelösten Fällen erwischte ihn Frankas manchmal schroffe Art noch völlig unvermittelt. Abgesehen davon, dass sie vor einigen Wochen neunundfünfzig Jahre alt geworden war und in der Nähe der Eimsbütteler Apostelkirche lebte, wusste er immer noch kaum etwas über seine Vorgesetzte.

Die Radiomoderatorin kündigte den Informationsblock der nächsten halben Stunde an. Darunter eine Reportage über eine Bootsausstellung in den Messehallen und eine Kritik zur gestrigen Opernpremiere in der Staatsoper.

Der Verkehr wurde zähfließender, und Alpay nahm den Fuß vom Gas, bis er schließlich hinter einem Taxi zum Stehen kam. «Ist jetzt nicht wahr, oder?» Er öffnete sein Fenster und steckte den Kopf hinaus. «Kann man da vorne nicht abbiegen, oder was?» Scheiße, dachte er, als er sich daran erinnerte, dass man die Innenstadt ab dem Vormittag hätte weiträumig umfahren sollen. Er ließ sich ergeben in seinen Sitz sinken.

«… doch zunächst schalten wir live zu unserer Kollegin Britta Sieland, die für uns am U-Bahnhof Baumwall steht. Britta, wie viele Demonstranten und Demonstrantinnen werden denn erwartet?»

Auch Franka schüttelte nun den Kopf. «Ich hatte das auch nicht mehr auf dem Schirm.» Sie band sich die grauen Haare notdürftig zu einem kurzen Zopf zusammen.

Weder Alpay noch Franka hatten an die Klimademo gedacht, auf die sich die Hamburger Polizei seit Wochen akribisch vorbereitet hatte. Anscheinend wirkte sich die Sperrung der Hamburger Innenstadt selbst auf Barmbek-Nord aus.

«Die Veranstalter haben ihre Anhänger über alle Social-Media-Kanäle zum friedlichen Protest aufgerufen», sagte die Frau im Radio. «Zum jetzigen Zeitpunkt geht man von dreißigtausend Teilnehmenden aus. Die Hamburger Polizei hingegen hat eine weitaus geringere Zahl gemeldet.»

Franka fuhr ihre Rückenlehne etwas nach hinten und legte ihren Ellbogen auf den Fensterholm.

«Britta, entschuldige», unterbrach die Moderatorin im Studio ihre Kollegin in der Live-Schalte. «Wir haben eine dringende Verkehrsmeldung reinbekommen: Auf der A1 Richtung Hamburg auf Höhe der Anschlussstelle Buchholzer Dreieck brennt ein Pkw. Bitte bilden Sie unbedingt eine Rettungsgasse und fahren Sie langsam an der Unfallstelle vorbei. Schaulustige erschweren die Rettungsarbeiten. Noch einmal, bitte bilden Sie eine Rettungsgasse.»

Franka schaltete das Radio wieder aus. «Hoffentlich hat der Fahrer oder die Fahrerin es rechtzeitig rausgeschafft. Es gibt kaum etwas Schrecklicheres, als wenn ein Mensch verbrennt.»

2Dienstag, 5. September

Margarete stand auf ihrem kleinen Balkon im zehnten Stock eines Hochhauses im Hamburger Stadtteil Billstedt und schaute in die dunkle Nacht hinaus. Sie leerte den Rest Spezi aus der Jumboflasche und zündete sich zufrieden eine Zigarette an, die sie fast ohne hinzugucken gedreht hatte. Den Tabak und das Einwegfeuerzeug steckte sie zurück in die Kängurutasche ihres Hoodies. Sie spürte, wie die Süße der Limo unangenehm unter die Krone ihres linken Backenzahns zog. Irgendwo in der Nachbarschaft schrie eine Frau ihren Freund an, der brüllte zurück.

Sie genoss die Zigarette. Eigentlich war das Nikotin genauso Gift für ihr Rheuma wie der Zucker in der Limo. Aber heute hatte sie sich beides verdient. Zufrieden lehnte sie sich gegen das Balkongeländer und schaute durch die geputzte Scheibe ins frisch gestrichene Wohnzimmer hinein. Die neue Wandfarbe sah auch im Schein der Deckenlampe wirklich toll aus.

Margarete hatte die Klassenfahrt ihrer Tochter Kathleen dazu genutzt, die Wände der zweiundsechzig Quadratmeter großen Dreizimmerwohnung hellblau zu streichen. Und weil sie im Baumarkt nicht nur Wand-, sondern auch Lackfarbe günstig geschossen hatte, hatte sie gleich alles angeschliffen und lackiert, was einen frischen Look benötigte. Daher strahlten nun auch die Türen und Fensterrahmen, die Fronten der Küchenschränke und das kleine Schuhregal im Flur in mattem Weiß. Obwohl sie öfter eine Pause hatte einlegen müssen, weil ihre Fingergelenke wieder schmerzten, hatten die Renovierungsarbeiten Margarete erstaunlich viel Spaß gemacht. Sie massierte sich die Hände, wobei sie der Ring am linken Ringfinger an Kathis Vater erinnerte. Die Liebe ihres Lebens war vor sechs Jahren verstorben. Aber es hatte weitergehen müssen.

Über zwanzig Jahre hatte sich Margarete in der Reinigung in der Steinfurther Allee krummgelegt, bis ihr das Rheuma vor vier Jahren endgültig einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Unter diesem Gesichtspunkt war sie noch etwas stolzer auf sich, die anstrengenden Streicharbeiten ganz alleine bewerkstelligt zu haben.

Auch wenn Margarete jeden Euro zweimal umdrehen musste, tat sie alles, damit es Kathi gut ging. Na, die würde Augen machen, wenn sie morgen früh aus Grömitz zurückkäme. Wie oft hatte Kathi sich einen neuen Anstrich für die Wohnung gewünscht. Und Hellblau war ihre Lieblingsfarbe.

Unten, auf dem Havighorster Redder, saß eine Gruppe Teenager auf einer Bank unter einer Laterne. Sie kannte die Truppe. Einige harmlose Jungs, die breitbeinig durch die Gegend mackerten, aber keiner Fliege etwas zuleide taten. Der jüngste Sohn von Kieslings war siebzehn und war Margarete sogar hin und wieder mit den Einkäufen behilflich, wenn sie mal wieder nicht richtig tragen konnte. Nun flippte er seine brennende Kippe auf die Straße, die der Wind über die Fahrbahn rollte. Selbst von hier oben sah Margarete die kleine Glut aufspritzen.

Sie fühlte sich wohl in diesem Stadtteil. Das Leben in der Mümmel, wie viele von ihnen die in den Siebzigerjahren erbaute Hochhaussiedlung liebevoll nannten, war besser als sein Ruf, besonders, wenn man sich aus dem Ärger heraushielt.

Als sie ihre Zigarette fast aufgeraucht hatte, betrachtete Margarete die Sammlung leerer Farbeimer und Lackdosen, die auf dem Balkon zusammengekommen war. Wenn sie Kathi morgen früh vom Bahnhof abholen wollte, wie sie es ihr vorhin am Telefon versprochen hatte, müsste sie heute noch den ganzen Müll entsorgen und die Wohnung wieder picobello herrichten. Zu Kathis Rückkehr sollte alles perfekt sein.

Farinaz war schon gestern Nachmittag beeindruckt die Kinnlade heruntergeklappt, dabei war der Flur noch nicht einmal fertig gestrichen gewesen. Die Nachbarin aus dem Elften hatte spontan auf ein Schwätzchen vorbeigeschaut. Was den neusten Klatsch anbelangte, war Farinaz Baumann wie ein Kiosk, wie die Barfrau selbst über sich sagte. Margarete hatte gestern wieder einmal festgestellt, dass man sie lieber zur Freundin als zur Feindin hatte.

Langsam wurde es kühl hier draußen. Der Spätsommer fühlte sich Anfang September bereits nach Herbst an. Margarete drückte ihre Kippe in dem kleinen Aschenbecher aus, der auf dem wackeligen Holztisch stand. Dann nahm sie den letzten Schluck und stellte die leere Speziflasche auf das Fensterbrett neben das große Gurkenglas mit dem benutzten Terpentinöl. Mehrere Pinsel in verschiedenen Größen weichten darin ein. Insgesamt waren in der letzten Woche vier solcher Gefäße mit altem Lösungsmittel zusammengekommen. Darüber, wo sie diese Brühe entsorgen sollte, hatte Margarete sich bisher keine Gedanken gemacht. Wahrscheinlich müsste sie zum Recyclinghof fahren. Aber dafür war es heute bereits zu spät, es war ja schon nach Mitternacht. Sie war sicher, dass es Leute gab, die in einer solchen Situation alles einfach in den Ausguss kippten und ihr ökologisches Gewissen gleich hinterher, so sie denn eins hatten. Margarete würde das aber nicht tun. Sie schaute zur leeren Jumboflasche. Ob da alles hineinpasste? Wenige Minuten später hatte sie das Terpentin problemlos umgefüllt und sammelte in der Wohnung noch das bekleckerte Zeitungspapier vom Fußboden. Da kam einiges an Papiermüll zusammen, auf dem teils handtellergroße Placken Lackfarbe getrocknet waren. Zu ihrem eigenen Erstaunen brauchte Margarete vier riesige Tüten dafür.

Schließlich schaute sie auf die Uhr. So spät nachts war nicht anzunehmen, dass sie noch jemanden im Keller antreffen würde, der sich über den Lösungsmittelgestank ihres Mülls beschwerte – und darüber, dass sie die Flasche mit dem benutzten Terpentin einfach neben einen der Müllcontainer stellte. Margaretes schlechtes Gewissen meldete sich erneut, denn sie wusste natürlich, dass der Müllkeller kein Recyclinghof war. Aber die Stadtreinigung würde die Flasche ganz sicher nicht einfach stehen lassen. Oder? Sie beruhigte sich mit einer Geschichte, die Farinaz gestern erzählt hatte. Zwei ihrer Bekannten hatten ihre alte Waschmaschine nach unten in den Müllraum transportiert, und die Nachbarin ging ganz selbstverständlich davon aus, dass der Hausmeister einen städtischen Entsorger rief, wie er es immer tat, vermutlich aus Notwehr, damit der Keller nicht im Sperrmüll versank. Dass das nicht zu seinen Pflichten gehörte, schien Farinaz egal zu sein. Was war da schon Margaretes eine Flasche Terpentinöl?

Bevor sie die Tür im zehnten Stock hinter sich zuzog, befühlte sie noch die Taschen ihrer Jogginghose. Links hatte sie ihr Handy eingesteckt, rechts schob sie den Schlüsselbund hinein. Dann schlüpfte sie mit nackten Füßen in ihre Gummisandalen und schleppte den Müll zum Fahrstuhl.

Die Türen öffneten sich. Der Geruch, der Margarete entgegenschlug, war eine Mischung aus gebratenen Zwiebeln unten vom Croqueladen und altem Katzenstreu.

Das Licht in der Kabine flackerte mal wieder. Margarete streckte sich und schlug von unten gegen die weiße Kunststoffverkleidung der Lampe, wobei sich die toten Insekten darin kurz zu bewegen schienen. Der Wackelkontakt war jedenfalls behoben.

Dann drückte Margarete auf U. Die verbeulten Schiebetüren fuhren zusammen, und vor ihrer Nase erschien ein frisch ins Metall geritztes Hakenkreuz. Darunter hatte jemand mit Edding einen alten Spruch geschmiert: Du bist scheiße, ich bin cool. Rudolf Hitler ist ein schwul.

Im Keller angekommen, trat Margarete hinaus in den schmalen Gang. Ein Bewegungsmelder ließ die Leuchtstoffröhren an der weiß gestrichenen Decke eine nach der anderen anspringen. Wie ein kippender Dominostein den nächsten umwarf, schien eine Lampe die nächste einzuschalten. Vor Jahren hatte man das Haus einer Grundsanierung unterzogen. Hier unten war davon nichts mehr zu erkennen. Die Wände waren längst wieder mit Graffitis und Parolen überzogen, die sich die Verfasser wohl nur im Verborgenen an die Wände zu schmieren trauten. Margarete gruselte es hier immer ein wenig. Irgendwo fiel eine Metalltür ins Schloss. Sie horchte auf. War sie um diese Uhrzeit doch nicht alleine?

«Hallo?»

Schritte entfernten sich. Noch eine Tür klappte. Dann war nur noch das monotone Brummen aus dem Raum der Haustechnik zu hören.

Der leichte Luftzug, der stetig durch die Belüftungsschlitze in den Wänden zog, roch immer etwas modrig. Hinter der Tür am Ende des Gangs ging es links zu den Kellerverschlägen. Bog man nach rechts, erreichte man den fensterlosen Raum mit fünf rollbaren Müllcontainern für die insgesamt fünfundfünfzig Wohnungen.

Margarete hängte sich die vier Tüten über den Rücken und griff mit der anderen Hand die Bügel der zwei großen Farbeimer, in denen sie die leeren Lackdosen verstaut hatte. Die Jumboflasche Terpentin zog ihr den Arm zusätzlich nach unten.

So beladen erreichte sie kurz darauf den Müllraum. Na toll! Der Container mit Hausmüll war mal wieder bis zur Oberkante voll, der Deckel war schon nicht mehr zugegangen. Hier drinnen stank es entsetzlich nach Babywindel. Farinaz’ Waschmaschine stand vor dem schweren Rolltor auf der gegenüberliegenden Seite der Kellertür. Daneben lehnte eine versiffte Matratze.

Margarete bugsierte ihre Mülltüten und die Farbeimer in den Raum, als über ihr das Licht ausging. Wie wild fuchtelte sie mit beiden Armen durch die Dunkelheit – aber der Bewegungsmelder reagierte nicht. Was war denn nun los? Sie winkte erneut durch das Schwarz und fluchte. Doch die Lampe wollte einfach nicht wieder anspringen. Dafür hörte sie, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Nur das leise Grundrauschen der Entlüftung war zu hören. Das durfte doch jetzt wohl nicht wahr sein!

So stand sie eine Weile bewegungslos da, bis sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Margarete kniff die Augen zusammen. Das Schwarz schärfte die Sinne. Schemenhaft traten die Umrisse der Behälter wie aus dem Nichts hervor und schimmerten gelbgrünlich wie in einem 3-D-Effekt. Als würde fahles Licht von der Decke fallen. Vorsichtig schaute Margarete nach oben und versuchte dabei, im Dunkeln nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als sie die phosphoreszierende Nachricht über sich entzifferte, traute sie ihren Augen nicht.

Ich sehe was du tust!

Das war jetzt ein Witz, oder? Plötzlich erinnerte sie sich an die Schritte, die sie gehört hatte. Die Tür, die irgendwo ins Schloss gefallen war. Sie spürte den Luftzug der elektrischen Entlüftung hinter sich, der konstant durch die Schlitze unterhalb der Decke zog. Als würde ihr jemand im Dunkeln in den Nacken atmen. Sie schluckte. War sie hier drinnen etwa nicht alleine?

Ich sehe was du tust!

Langsam stieg Panik in ihr auf. War der Bewegungsmelder vielleicht gar nicht defekt, sondern jemand hatte ihn manipuliert? Etwas knisterte links von ihr. Dann plumpste es zu Boden. Margaretes Nackenhaare stellten sich auf. Laut und deutlich hörte sie unter dem Geräusch der Lüftung das Fiepen einer Ratte. Es raschelte erneut. Im fahlen Licht der Neonfarbe kroch ein weiteres Tier aus dem Hausmüll. Es fiel von der Kante des Containers hinab ins Dunkel. Angeekelt bewegte Margarete sich mit kleinen Schritten durch den Raum, dorthin, wo sie die Tür vermutete. Die phosphoreszierenden Buchstaben konturierten die Umrisse der Tonnen nur schwach. Sie rempelte gegen einen der Container und spürte das Handy in der Jogginghose. Erleichtert zog sie es hervor. Das Display leuchtete auf. Immerhin einen Balken Empfang hatte sie hier unten. Mittlerweile war es 1.40 Uhr. Auch ohne die Taschenlampe einzuschalten, erkannte sie im Schein ihres Displays die rettende Tür zu ihrer Linken. Eine Ratte huschte ihr über die Sandalen, Margarete spürte die kleinen spitzen Krallen auf den nackten Füßen. Ein stummer Schrei, nur noch wenige Schritte zum rettenden Ausgang. Endlich. Voller Angst griff sie nach der Klinke – und zog sie aus dem Schließblech.

Durch den Impuls, die Tür mit ganzer Kraft aufzuziehen, machte sie mit dem Handy in der einen und mit dem Griff in der anderen Hand zwei Schritte rückwärts, stolperte über die Flasche mit dem Terpentin, fiel zu Boden und schlug mit dem Kopf gegen einen der Container aus Kunststoff. Vor Schreck ließ sie das Handy fallen und sah, wie es über den Betonboden direkt unter die Waschmaschine rutschte. Die Türklinke hielt sie dagegen noch fest in der Hand wie einen dünnen Strohhalm, der ihr die letzte Rettung versprach. Vergeblich versuchte sie, unter die Maschine zu greifen, die sich zudem nicht einen Zentimeter verschieben ließ, da ihr die Schultergelenke vom Rheuma schmerzten.

Auf allen vieren kroch sie nun durch den Raum, verharrte immer wieder im Dunkeln und betastete mit der freien Hand ihre Umgebung. Sie fühlte das geriffelte Rolltor, unter dem ein leiser Luftzug hindurchwehte. Die Gummilippe schloss zum Glück nicht luftdicht am Boden ab. Sie rief nach Hilfe, doch niemand hörte sie. Es war zum Verzweifeln.

Wie eine Blinde bewegte sie sich weiter nach links, wo sie die Kellertür vermutete. Krümeliger Untergrund. Die Räder der Müllcontainer. Plastik, Metall. Immer noch der stetige Luftzug am Boden. Wenn sie die Richtung im Dunkeln korrekt deutete, musste sie zur Kellertür nur noch geradeaus. Dann endlich! Margarete ertastete den schmalen Alurahmen in der Wand. Sie schob die Hand noch ein Stückchen weiter nach oben. Da war es: das Schließblech! Vorsichtig befühlte sie den Vierkantstift, der auf der anderen Seite der Tür die Klinke hielt. Jetzt ganz ruhig. Komm schon, ermutigte sie sich selbst. Sie musste ihre zitternden Hände unter Kontrolle bringen. Es ging doch nur darum, in fast absoluter Dunkelheit diesen Scheißgriff zurück auf den Metallstift zu schieben. Sie setzte an, rutschte ab. Hinter ihr kratzte irgendwo eine Ratte. Margaretes Herz pockerte. Noch einmal setzte sie vorsichtig an, und endlich rutschte die Klinke auf den Vierkantstift. Aber weil sie noch etwas Spiel zu haben schien, schob Margarete den Griff noch ein kleines Stückchen weiter – als es hinter der Tür im Kellergang plötzlich schepperte. Ahnungsvoll tastete sie das Schließblech ab. Doch dort, wo eben noch der Metallstab gesessen hatte, fühlte sie nur ein scharfkantiges Loch. Sie musste den Vierkantstift mitsamt dem Türgriff auf der anderen Seite aus dem Schließblech geschoben haben. Nun saß sie hier drinnen endgültig fest? Margarete schossen die Tränen in die Augen.

Verzweifelt schlug sie mit den Fäusten gegen die Tür und rief nach Hilfe. Hatte sich jemand einen Scherz erlaubt? Der nicht funktionierende Bewegungsmelder, die Nachricht aus Neonfarbe an der Decke, die lose Türklinke. Wirkte das nicht alles doch sehr wie ein Plan?

Ich sehe was du tust!

Dann musste sie eben weiter lautstark auf sich aufmerksam machen. Sie kam im Dunkeln zurück auf die Füße und trat plötzlich auf einen Gegenstand. Etwas Weiches, das knisterte. Eine Ratte fiepte. Margarete stolperte erneut, schlug wieder der Länge nach hin und knallte dieses Mal mit der Stirn gegen eine der Metalltonnen. Sie hörte das auslaufende Terpentin aus der kaputten Flasche gluckern. Der Kunststoff musste unter ihrem Gewicht geplatzt sein. Dann stiegen ihr auch schon die Terpentindämpfe scharf in die Nase, und ihre Haut brannte am Haaransatz, aus dem ihr warm das Blut über die Stirn lief. Kalt zog ihr hingegen das Terpentin in die Jogginghose und tränkte ihren Schlüpfer. Was war das nur für ein Albtraum? Sie hörte Stimmen von der Straße. Auf allen vieren kroch sie hustend zum Rolltor. Das Lösungsmittel brannte in der Lunge. Eine Gruppe Jugendlicher lachte draußen. Sie kamen näher. Bitte, Jungs, kommt her, kommt und helft mir hier raus. Margarete erkannte die Stimme von Kieslings Sohn. Wieder holte sie zum Schlag gegen das schwere Rolltor aus und rief um Hilfe, doch gerade jetzt fuhr ein getunter Motor heulend oben auf der Straße vorbei.

Und ganz plötzlich ging das Licht im Müllraum wieder an. Margarete blinzelte. Moment, war das wirklich die Lampe? So hell, so gleißend und heiß, dass sie die Augen wieder zusammenkneifen musste. Sie war ganz durcheinander. Hatte sie etwa eine glühende Kippe unter dem Rolltor hindurchtrudeln sehen, die in einer hellblauen Stichflamme verpufft war? Vorsichtig öffnete sie die Augen gegen die Hitze und erkannte die Ratten, die senkrecht die Wände hinaufliefen und dem heißen Inferno durch die schmalen Entlüftungsschlitze unterhalb der Decke entkamen. Es roch nach verbranntem Haar. Und während Margarete begriff, dass es ihre Frisur war, die sich in Rauch auflöste, stand auch schon ihr Jogginganzug in Flammen. Ein Schmerz, so unbeschreiblich grausam, dass nur der Schock sie retten konnte. Kurz bevor Margarete das Bewusstsein verlor, spürte sie eine kleine Explosion in der Tasche ihres Hoodies. Sie roch verbranntes Fleisch. Ob sie wirklich als lebende Fackel den Papiercontainer entzündete, hätte sie nicht mehr sagen können.

3Dienstag, 5. September

Alpay stand mit dem Rücken gegen den Dienstwagen gelehnt und wählte Frankas Nummer. Während er eigentlich damit rechnete, morgens um 7.30 Uhr auf ihrer Mailbox zu landen, beobachtete er Jörg, der sich mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr vor dem abgesperrten Hauseingang eines elfstöckigen Plattenbaus unterhielt.

«Guten Morgen, Alpay», begrüßte ihn Franka schließlich, und ihre Stimme klang ziemlich angeschlagen. Sie hatte sich gestern am frühen Abend nach Hause verabschiedet, weil sie befürchtete, eine Erkältung zu bekommen. Anscheinend hatte sie recht behalten, und schon tat es ihm leid, dass er sie überhaupt angerufen hatte.

«Sorry. Du klingst ja furchtbar.»

Er hörte, wie sie einen Schluck trank. Vielleicht heißen Tee. Dann räusperte sie sich. «Was gibt’s so früh am Morgen?»

«Ich musste eben daran denken, was du letzte Woche zu mir gesagt hast, dass es nichts Schrecklicheres gibt als verbrannte Menschen.»

«Und deswegen rufst du mich an?» Sie hustete.

«Jörg und ich haben Bereitschaft. Wir sind nach Mümmelmannsberg gerufen worden. Laut Feuerwehr ist hier jemand im Keller eines Hochhauses verbrannt.»

Drei Löschzüge parkten vor der Eckbebauung einer Zeile mit insgesamt fünf Wohntürmen. Es schepperte. Die Rettungskräfte waren endlich in der Lage, ein sich langsam abkühlendes und deformiertes Rolltor aufzubrechen. Es lag am unteren Ende einer kleinen Rampe, die der Stadtreinigung zum Abtransport des Mülls diente. Schwarzer dichter Rauch zog daraus hervor.

«Wisst ihr schon, wie das passiert ist?», wollte Franka wissen.

«Du meinst Brandstiftung?» Rettungskräfte in schweren Monturen und mit Atemschutzmasken vor dem Gesicht zogen einen Schlauch durch das Rolltor in den Keller. «Ist noch zu früh, das zu sagen. Die Feuerwehr löscht die letzten Glutnester. Erst danach können die Kollegen von der Brandursachenermittlung rein.»

«Okay. Aber mir ist jetzt nicht ganz klar, warum du mich anrufst, wenn du mit Jörg im Bereitschaftsdienst unterwegs bist.» Er hörte, wie sie ihre Nase putzte.

Weil Alpay nicht zugeben wollte, dass er lieber im Team mit Franka statt mit Jörg hierhergerufen worden wäre, druckste er herum.

«Alpay?»

«Entschuldige.»

«Du hast Schiss. Stimmt’s?» Ihre Stimme war voller Anteilnahme, was ihn auf merkwürdige Weise rührte.

«Na ja …» Zumindest in dieser Beziehung musste er seiner Vorgesetzten nichts mehr vormachen. Sie kannte ihn. Er vertraute ihr. Auch wenn Alpays Furcht vor dem Betrachten von Todesopfern in den letzten Monaten einer bemüht professionellen Distanz gewichen war, alleine bei dem Gedanken, vielleicht einem verbrannten menschlichen Körper gegenübertreten zu müssen, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Franka hatte ja selbst neulich erst gesagt, dass es auch für sie kaum etwas Schlimmeres gab, als wenn ein Mensch im Feuer ums Leben kam.

Jemand pfiff auf Fingern, und Alpay bemerkte Jörg, der ihn vom Hauseingang heranwinkte.

«Franka, ich muss Schluss machen.»

«Eine Sache noch, Alpay. Egal, wie furchtbar der Anblick da unten gleich sein sollte, halte die Augen offen. Hörst du? Sieh hin.»

Er wünschte ihr gute Besserung und beendete das Gespräch. Auch wenn Frankas Ratschlag ihm sein Unwohlsein nicht nehmen konnte, würde Alpay sich zumindest bemühen, ihn zu befolgen. Er wusste, wie wichtig der offene Blick bei Tatortbegehungen war. Mit jedem Schritt, den er den betonierten Weg zurück zum Hochhaus ging, stank es intensiver nach verkohltem Plastik. Halte die Augen offen, hörte er Frankas Stimme nachhallen.

Alpay schaute zu einigen evakuierten Bewohnern hinüber, die in circa vierzig Metern Entfernung hinter dem Absperrband der Feuerwehr darauf warteten, in ihre Wohnungen zurückkehren zu dürfen. Eine kleine Gruppe hatte sich geweigert, das in den frühen Morgenstunden extra für sie geöffnete Gemeindezentrum Mümmelmannsberg als vorübergehende Notunterkunft zu nutzen. Nun war ihnen die Erleichterung darüber anzusehen, dass der Kellerbrand keine Katastrophe ausgelöst hatte. Dass dort unten ein Mensch zu Tode gekommen war, hatten Polizei und Feuerwehr bis jetzt noch nicht nach außen kommuniziert.

«Ey, Sie da!»

Alpay drehte sich nach einer Frau im rosa Bademantel um. Sie stand auf einer vertrockneten Rasenfläche und war mit den Absätzen ihrer Pumps im sandigen Untergrund versackt. Nicht unbedingt das passende Schuhwerk für einen Feueralarm, aber in der Eile hatte sie wohl nichts anderes gefunden. Ihr Alter war schlecht zu schätzen. Wohlwollend betrachtet war sie noch keine fünfzig Jahre. Ihre ungekämmten braunen langen Haare schienen auch der Flucht in den frühen Morgenstunden geschuldet zu sein.

«Haben Sie hier was zu sagen?» Ihr Ton klang aggressiv. Sie stützte die Hände in die Hüfte, wobei sie eine Flexileine hielt. Am anderen Ende kackte ein kleiner und, wie Alpay fand, ziemlich hässlicher Hund in eine Rabatte mit verblühten Heckenrosen.

«Sorry, ich bin hier nicht der Einsatzleiter.» Noch hatten Feuerwehr und Brandursachenermittlung das Sagen. Alpay war froh, um eine Diskussion mit der Frau herumzukommen, die nicht im Traum daran dachte, die Hinterlassenschaften ihres kleinen Lieblings aufzusammeln. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu ermahnen. Er setzte seinen Weg zum Hauseingang fort. Auf den Balkonen der umliegenden Hochhäuser standen einige Bewohner und filmten den Großeinsatz der Feuerwehr mit ihren Handys.

Alpay trat zu Jörg, der, sein Notizbuch in der Hand, vom Einsatzleiter der Feuerwehr auf den aktuellen Stand gebracht wurde.

«… die Kollegen haben das Opfer in der Mitte des Raumes gefunden. Durch den Einsatz der Löschmittel können sie aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die Person wirklich dort zu Tode gekommen ist oder erst vom Löschwasser dorthingespült wurde.» Er deutete in Richtung der evakuierten Personen hinter dem Absperrband. «Die Leute hier haben es einem Nachbarn aus der dritten Etage zu verdanken, dass nicht mehr Opfer zu beklagen sind.» Er schaute auf seinen Einsatzbericht. «Der Mann ist gegen 3.00 Uhr von der Arbeit gekommen und hat schon Rauch gerochen, als er den Weg zum Haus hochkam. Er sagt, beim Öffnen der Haustür zog bereits schwarzer dichter Qualm aus dem Keller. Dann hat er geistesgegenwärtig die Nachbarn wach geklingelt und die 112 gerufen.»

«Ich verstehe nicht», sagte Jörg, «warum der Müll hier im Keller gesammelt wird. Man weiß doch, dass solche Container immer mal wieder zur außerordentlichen Gefahrenquelle werden können.»

«Das müssen Sie mit der Verwaltung der Häuser klären. Liegt vielleicht daran, dass hier in den letzten fünf Jahren des Öfteren Außensammlungen angezündet worden sind. Gerade der blaue Deckel scheint eine magische Anziehungskraft auf Feuerteufel zu haben.»

«Können Sie schon sagen, wann der Brand in etwa ausgebrochen ist?» Alpay öffnete sein Notizbuch.

«Da sind Ihre Kollegen von der Brandursachenermittlung gefragt. Als wir ankamen, stand der Keller jedenfalls lichterloh in Flammen.» Er zeigte zum Croqueladen, der sich im Erdgeschoss des Gebäudes befand. «Der Rauch hat die linke Gebäudeseite bis hinauf zum zweiten Stock geschwärzt. Sehen Sie die kleinen Belüftungsklappen oberhalb der Rasenkante? Da zog das raus. Ein Feuer braucht Brenn- und Sauerstoff. Beides war im Keller mehr als vorhanden. Der Kamineffekt hat das Feuer regelrecht angeheizt.»

Alpay sah zu einigen verrußten Fahrrädern und angesengten Kinderwagen hinüber, die auf einem Rasenstück neben dem Wohnhaus lagen. Der Einsatzleiter bemerkte seinen Blick. «Der Scheiß stand überall in den Gängen. Hat die Löscharbeiten zusätzlich erschwert. In einem der Keller sind Dosen mit Bauschaum explodiert. Ich kann Ihnen sagen, die Kollegen sind da überhaupt nicht durchgekommen, so ausgehärtet war das Zeug.»

«Und die Bewohner?», fragte Alpay. «Haben wir schon einen Überblick, ob alle evakuiert worden sind?»

«Kollegen von der Streife sind jetzt drüben im Gemeindezentrum und versuchen, die Meldeliste abzugleichen. Wir hoffen, so herauszufinden, wer da unten ums Leben gekommen ist», sagte Jörg und steckte seine Kladde wieder ein. «Dieses Haus besteht aus elf Stockwerken mit insgesamt fünfundfünfzig Einheiten. Laut Einwohnermeldeamt sind unter dieser Adresse einhundertsechsundvierzig Personen gemeldet. Die Gewerbeflächen waren bei Ausbruch des Feuers noch nicht geöffnet.»

«Während der Löschaktion», klinkte sich der Einsatzleiter der Feuerwehr wieder ein, «mussten einige Bewohner in ihren Apartments bleiben. Erst als wir die Abzugsklappe oben im Dach des Treppenhauses geöffnet haben und der Qualm abziehen konnte, haben wir alle evakuieren können. Das Kohlenmonoxid haut einem einfach die Beine weg. Die Anwohner können von Glück sagen, dass ihr Haus vor drei Jahren eine feuerfeste Fassadenverkleidung bekommen hat.»

Alpay erinnerte sich an einen katastrophalen Hochhausbrand vor einigen Jahren in London, bei dem zweiundsiebzig Menschen den Tod gefunden hatten. Auch in Deutschland gab es immer noch viele alte Fassaden, deren Dämmungen leicht entflammbar waren. «Können wir schon runter?»

Der Einsatzleiter kratzte seinen Dreitagebart und schüttelte den Kopf. «Da unten steht alles voller Löschwasser. Das müssen wir erst abpumpen. Und bis die Brandursachenermittlung durch ist, kann das noch was dauern.» Er nickte knapp und ging zu seinen Leuten hinüber, die eine mobile Pumpe aus einem Einsatzfahrzeug entluden.

Alpay fragte sich, was die Spurensuche in einem Raum zu finden glaubte, in dem mehrere Tausend Liter Müll und ein Mensch verbrannt waren. Bei dem Gedanken daran, dass der Körper noch nicht aus dem Keller geborgen worden war, drehte sich ihm der Magen um.

 

Kurze Zeit später trugen auch Alpay und Jörg die weißen Overalls der Spurensuche. Bernhard Bruhns, genannt Poppy, der Chef der Abteilung, ging mit ihnen zur Rampe, die hinunter zum Müllraum führte. Dort setzte sich seine Assistentin Sophie von Ackern gerade die Kapuze auf den Kopf und zog darüber noch eine Fluchthaube der Feuerwehr, bevor sie mit einem Alukoffer die Rampe zum Müllraum hinunterlief. Das Ventil der Fluchthaube schützte vor toxischen Brandgasen. Auch wenn die Brandexperten der Spurensuche ihre Arbeiten im Keller beendet hatten, dünstete der geschmolzene Kunststoff der Müllcontainer immer noch giftige Dämpfe aus. Zusammen mit den verbrannten Kabeln bildeten sie eine gefährliche Mischung aus Dioxinen, die auch der Schaum nicht erstickt hatte. Im Gegenteil. Auch das Löschen mit Chemie setzte gesundheitsgefährdende Stoffe frei, wie Alpay wusste.

«Okay, Jungs. Seid ihr so weit?» Bruhns war durch das Ventil seiner Fluchthaube schlecht zu verstehen. Zumal auch Alpay so ein Teil auf dem Kopf trug und darum zusätzlich schlecht hörte. Das kleine Sichtfenster und der Filter schützten auch ihn. Schweiß lief ihm in die Augen, und der Schutzanzug aus Polyethylen spannte über seiner Brust. Vielleicht packte er beim Sport im Moment zu viel Gewicht auf die Brustpresse?

Alpay wollte die Besichtigung des ausgebrannten Müllraums so schnell wie möglich hinter sich bringen, zumal das Opfer noch immer nicht geborgen worden war. Jörg klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Wahrscheinlich wusste mittlerweile jeder im Dezernat, wie sehr Alpay Tatortbesichtigungen hasste, wenn die Todesopfer noch nicht in die Rechtsmedizin überführt worden waren.

Mit großem Unbehagen folgte Alpay Jörg und Poppy Bruhns die Rampe hinunter. Dabei spürte er nicht nur die Temperatur ansteigen, sondern auch das flaue Gefühl im Magen. Er wusste, dass er den Anblick des verbrannten Körpers nicht mehr hinausschieben konnte, als Bruhns vor dem inzwischen aufgefrästen Rolltor stehen blieb.

«Bei dem Opfer da unten handelt es sich übrigens um eine Frau. Nach euch.» Mit einer angedeuteten Verbeugung zeigte Bruhns zum Tor.

Jörg trat zuerst ein. «Holy shit!», hörte Alpay ihn trotz Schutzhaube laut und deutlich sagen. Dann betrat er mit erhöhtem Puls hinter dem Kollegen den Brandort.

Drei Scheinwerfer der Spurensicherung standen auf Teleskopstativen und beleuchteten ein schwarzes Inferno aus geschmolzenen Kunststoffcontainern. Ein Spurentechniker fotografierte die Apokalypse im Keller, die einem Menschen zum Verhängnis geworden war. Alpay wusste genau, was dort links von ihm, abgedeckt unter einer grauen Kunststofffolie, auf dem Fußboden lag, und wandte den Blick ab.

Sophie von Ackern reichte ihrem Chef ein Klemmbrett. «Wir sind fertig. Wenn Sie abzeichnen, packen wir zusammen.»

Poppy Bruhns setzte seine Unterschrift unter das Dokument und deutete auf eine kleine zierliche Gestalt, die in der Mitte des Raums hockte und den aufgeplatzten Bodenbelag begutachtete. «Jungs, das ist Annelie Lutze. Kollegin der Brandursachenermittlung.»

Die Frau in Overall und Ventilhaube kratzte mit einer Art Maurerkelle über den bröckeligen Boden. «Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das die Zündquelle. Der Brandentstehungsbereich ist vom Feuer leider komplett vernichtet worden.» Sie zuckte mit den Schultern. «Auch über dem Brandherd ist der Putz großflächig abgeplatzt.»

Alpay schaute zur geschwärzten Decke hinauf, aus der vereinzelt verkohlte Kabel herabhingen. Vier verbogene Metallklemmen hatten einmal die Lampe gehalten.

Lutze scharrte mit ihrem Werkzeug den porösen Boden weiter auf. «An dieser Stelle hat das Löschwasser gebrannt. Das haben die Kollegen der Feuerwehr bestätigt. So was spricht für Brandbeschleuniger. Deswegen kam ein Gemisch aus Wasser und Schaum zum Einsatz. Und hier», sie reichte Jörg einen Spurensicherungsbeutel mit drei völlig verkohlten Blechkanistern, «war jeweils ein halber Liter von dem Zeug drin, das aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Inferno ausgelöst hat.»

Jörg gab den Beutel mit dem verkohlten Inhalt an Alpay weiter. «Aber die Dosen sind nur verbeult und nicht explodiert.»

«Die Feststellung ist richtig.» Lutze kam auf die Füße und nahm Alpay die Tüte wieder ab. «Die Flüssigkeit muss anders in diesen Raum gekommen sein als in diesen Kanistern. Wir haben auch noch eine Menge leerer Lackdosen gefunden und Metallhenkel von Eimern für Wandfarbe. Ich denke, hier könnte jemand ordentlich renoviert haben.»

Wie Lutze ihnen erklärte, hatte das Feuer seinen Ursprung in der Mitte des knapp zwanzig Quadratmeter großen Raums gehabt. Sie deutete auf eine Matte mit Spiralfedern. «Das war mal eine Matratze. Bei allem, was hier vermutlich so rumstand, ist es ein Wunder, dass es nicht zu einer größeren Katastrophe gekommen ist. Durch die alten Metalltüren ist das Feuer nicht übergesprungen. Die Belüftung hat aber ordentlich für Sauerstoff gesorgt. Der Qualm hat fast alle Gänge geschwärzt.»

Alpay konnte nicht glauben, was die Hitze für eine Kraft entwickelt hatte. Zwei der Müllcontainer aus Kunststoff, deren Wände durch das Feuer nach innen eingesackt waren, hatten sich durch den brennenden Papiermüll im Bodenbereich so deformiert, dass die Untergestelle aus Metall darin eingeschmolzen waren. Drei weitere Tonnen hatte das Feuer danach zu konturlosen Skulpturen zusammengeschmolzen, die wie schwarzes Karamell auf dem feuchten Betonboden klebten.

Alpay kratzte sich durch die Haube am Kopf. «Ich dachte immer, solche Tonnen sind schwer entflammbar.»

«Bei viertausend Litern Pappe und Papier macht jedes noch so dichte Polyethylen irgendwann schlapp», erklärte Lutze und schlug gegen einen der stark deformierten Container.

Einzig die Tonne aus verzinktem Alu, deren Hausmüll bis auf das Metall darin vollständig verbrannt war, hatte dem Feuer mit offenem Deckel getrotzt. Die Brandursachenermittlerin deutete auf das, was einmal eine Waschmaschine gewesen war. «Sehen Sie die starken Deformierungen der Kunststoffteile? Das Gerät hat unmittelbar vor der Brandquelle gestanden.»

«Sauerei, was die Leute hier alles abstellen. Das Ding war der Feuerwehr bei den Löscharbeiten im Weg.» Poppy Bruhns half einem Kollegen, die verbogene Matte aus Spiralfedern zum geöffneten Rolltor zu tragen.

Lutze verpackte ihre Asservatenbeutel, in denen sie auch Proben von Fußboden und Decke gesammelt hatte, in einer Alukiste. «Der Termin zur Müllentsorgung wäre übrigens heute Mittag gewesen. Dementsprechend voll waren die Wertstofftonnen.»

Der Boden zu Alpays Füßen glänzte feucht, denn auch wenn man das Gemisch aus Wasser und Löschschaum abgepumpt hatte, tropfte es immer noch von der Decke und Alpay direkt aufs Visier.

«Für mich war’s das, Herr Bruhns. Sie kennen das Spiel: Wenn wir die Ergebnisse ausgewertet haben, bekommen Sie meinen Bericht.» Lutze grüßte in die Runde, doch bevor sie den Keller verließ, hakte Alpay noch einmal nach.

«Wenn Sie von einem Brandbeschleuniger ausgehen, wie Sie sagen, bedeutet das also Brandstiftung?»

Lutze trat durch das aufgefräste Rolltor nach draußen und nahm erst die Ventilhaube, dann die Kapuze ihres Spurensicherungsanzugs ab. Sie strubbelte sich durch die dichten braunen Locken. «Wer weiß, was in diesem Keller noch so alles entsorgt wurde. Denken Sie nur an die Dosen mit Bauschaum, die jemand in seinem privaten Keller gelagert hatte.» Sie wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Alpay schätzte die Frau auf Mitte dreißig. Aber ihre zierliche Statur täuschte nicht darüber hinweg, wie taff sie war.

«Wenn Sie mich fragen, Herr Eloğlu, hat irgendjemand aus diesem Haus eine Menge Terpentin entsorgt. Warum das allerdings angefangen hat zu brennen, das gilt es herausfinden.» Sie nickte in die Runde und ging.

Poppy Bruhns wandte sich an Alpay und Jörg. «Bereit, Jungs?» Seine Frage war anscheinend rhetorischer Natur, denn ohne eine Antwort abzuwarten, schlug er die Kunststofffolie über dem verbrannten Opfer zurück.

«Grundgütiger.» Jörg war das Entsetzen in der Stimme anzuhören. Sein Gesicht konnte Alpay hinter dem beschlagenen Plastikvisier kaum erkennen. Bruhns hatte die Folie über der Toten schneller zurückgeschlagen, als dass irgendjemand noch hätte in Deckung gehen können. Der Anblick war abstoßend und faszinierend zugleich. Irgendwie surreal. Vielleicht wandte Alpay deshalb den Blick nicht ab. Außerdem hörte er Franka sagen: Sieh hin. Jemand machte Fotos.

«Ich dachte, die Aufnahmen habt ihr schon?» Bruhns kratzte sich durch die Kapuze am Kopf. Die Antwort des Kollegen mit der Kamera war unter der Haube schlecht zu verstehen. Er checkte auf dem Display kurz seine Aufnahmen und verließ den Keller.

Alpay war verwundert. Der Blick auf das Opfer gelang ihm erstaunlich gut. Denn obwohl es tatsächlich das Grausamste war, was er bis zu diesem Zeitpunkt gesehen hatte, entbehrte der Anblick der verbrannten Frau jeglicher Realität.

Ein Mensch in Form eines verkohlten Baumstamms. Der kahlköpfige Schädel mit dem verbrannten Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Arme wie zwei Äste nach vorne angewinkelt, einige Finger fehlten. Die Beine, in der leichten Krümmung einer Baumwurzel erstarrt, erinnerten ihn an die Bilder aus dem Geschichtsunterricht über den Untergang Pompejis. Natürlich hatte er während seiner Ausbildung auch Fotos von Brandopfern zu sehen bekommen, aber diese Leiche zeigte ihm wieder einmal, wie krass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis war.

«Da wird euch nur eine DNA-Analyse weiterhelfen. Man muss kein Rechtsmediziner sein, um zu sehen, dass es sich um Verbrennungen vierten Grades handelt.» Bruhns deutete auf den kleinen Ring, den die Tote an der rechten Hand trug. «Vermutlich aus Gold. Sonst wäre er verbrannt. Hilft uns vielleicht bei der Identifizierung.»

Die Haut der Toten, die sich durch die Hitze wie in grobe Falten gelegt hatte, erinnerte Alpay an eine tranige Fackel. Er wusste, dass das Feuer dem Körper sämtliches Wasser entzogen hatte. Ruhig atmete er durch das Ventil seiner Haube. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er immer noch keine Probleme, dieses Opfer eingehend zu betrachten.

«Schaut mal, hier.» Bei der Gestalt, die in Schutzanzug und Atemmaske den Raum vom Keller aus betrat, handelte es sich um Sophie. Sie deutete auf das Schließblech in der Tür. «Die Klinken fehlen. Den einen Griff haben wir auf dem Boden rechts neben dem Rolltor gefunden. Das Gegenstück mit dem Vierkantstift lag auf der anderen Seite der verschlossenen Tür im Gang.» Sie präsentierte zwei Asservatenbeutel aus dem Spurensicherungskoffer.

«Könnten die sich durch die Hitze gelöst haben?», fragte Jörg. Alpays Visier begann noch mehr zu beschlagen. Die Filter der Brandschutzhauben reichten für maximal fünfzehn Minuten, und wie Alpay der Blick auf die Uhr verriet, blieben ihnen davon noch knappe fünf.

«Das werden wir im Labor untersuchen», antwortete sie.

«Wissen wir schon, wer das Opfer ist?» Jörgs Gesicht war nun fast vollständig hinter seinem beschlagenen Sichtfenster verschwunden.

«Ich dachte, ein bisschen Arbeit lassen wir euch auch noch.» Sophie schwenkte ein angesengtes Handy in einem durchsichtigen Beutel. «Das lag unter der Waschmaschine. Wahrscheinlich gehört es dem Opfer.»

Alpay begann langsam den Gestank von verbranntem Kunststoff zu riechen. Das Ventil seiner Maske verlor also auch an Wirkung.

«Okay.» Jörg bewegte sich langsam auf das geöffnete Rolltor zu. «Ich glaube, hier drinnen haben wir genug gesehen.»

«Die bunten Graffitis in den Kellergängen wären sonst noch eine Besichtigung wert.» Sophie deutete in das von der Polizei ausgeleuchtete Labyrinth des Kellers. «Einige fremdenfeindliche Parolen sind nicht vollgerußt. Wir haben Fotos gemacht.»

Zwei Spurentechniker demontierten die Tatortlampen vom Stativ.

«Ganz ehrlich, Leute», Bruhns deckte den Körper des Opfers vorsichtig wieder ab, «im Moment stehen wir noch vor einem totalen Rätsel. Hoffentlich wissen wir mehr, wenn die Frau identifiziert ist.»

4Dienstag, 5. September

«Brandstiftung oder Unfall? Was hältst du von der ganzen Sache?» Alpay pellte sich aus seinem Einteiler, während Jörg seine Fluchthaube auf das Dach des Dienstwagens legte. Sein Gesicht war verschwitzt und glühte.

«Du hast doch gehört, was Bruhns gesagt hat. Wir müssen die Ermittlungsergebnisse abwarten. Wahrscheinlich morgen.»