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Hubertus Borck

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Beschreibung

Ich kenne dein Profil. Es wird dir zum Verhängnis werden. #Qual.#Mord.#Tod. Der Tote im Sandkasten ist bis zum Kehlkopf eingegraben. Ihm fehlt ein Auge. Der makabre Fund auf einem Hamburger Spielplatz setzt die erfahrene Kriminalkommissarin Franka Erdmann und ihren neuen Assistenten Alpay Eloğlu unter Hochdruck. Kurz darauf wird eine junge Influencerin brutal in ihrer Wohnung getötet. Auch wenn sich die Handschriften beider Verbrechen unterscheiden, deutet immer mehr darauf hin, dass es sich um denselben Mörder handelt. Und während die Polizei fieberhaft ein Profil von ihm erstellt, überwacht er bereits den Instagram-Account seines nächsten Opfers, dessen scheinbar perfektes Leben ein grausames Ende finden soll. Der packende Auftakt einer neuen Thrillerserie mit einem ungleichen Hamburger Ermittlerduo für Fans von Andreas Winkelmann, Sebastian Fitzek und Michael Tsokos.

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Seitenzahl: 459

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Hubertus Borck

Das Profil

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Ich kenne dein Profil. Es wird dir zum Verhängnis werden. #Qual #Mord #Tod

Der Tote im Sandkasten ist bis zum Kehlkopf eingegraben. Ihm fehlt ein Auge. Der makabre Fund auf einem Hamburger Spielplatz setzt die erfahrene Kriminalkommissarin Franka Erdmann und ihren neuen Assistenten Alpay Eloğlu unter Hochdruck. Kurz darauf wird eine junge Influencerin brutal in ihrer Wohnung getötet. Auch wenn sich die Handschriften beider Verbrechen unterscheiden, deutet immer mehr darauf hin, dass es sich um denselben Mörder handelt. Und während die Polizei fieberhaft ein Profil von ihm erstellt, überwacht er bereits den Instagram-Account seines nächsten Opfers, dessen scheinbar perfektes Leben ein grausames Ende finden soll.

Der packende Auftakt der Thrillerserie mit dem Hamburger Ermittlerduo Franka Erdmann und Alpay Eloğlu.

 

«Spannend und lesenswert.» Sabine Rückert, Chefin des Podcasts ZEIT Verbrechen

Vita

Hubertus Borck, geboren 1967 in Lübeck, war der kreative Kopf des Hamburger Musik-Kabarett-Duos Bo Doerek. Er arbeitet heute als Theater- und Drehbuchautor und schrieb u. a. für «Gute Zeiten, Schlechte Zeiten», «Wege zum Glück» und die NDR-Produktion «Rote Rosen». Hubertus Borck lebt in Hamburg.  

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Maren Schaarschmidt, Lukas Vering/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01225-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Brita und Valeska.

Prolog

Kein einziges Staubkorn tanzte im einfallenden Sonnenlicht. Alles, was sich im Schlafzimmer bewegte, waren die Schatten der Birke, die vor dem Fenster im Garten stand. Die Umrisse der kleinen Blätter flirrten nervös auf der weißen Raufasertapete über dem Ehebett wie löchriges Zelluloid, das eine Spule durch den Projektor zog. Helene saß auf dem Hocker vor ihrer Schminkkonsole und betrachtete sich im Spiegel. Sie war Mitte dreißig. Keine Schönheit im klassischen Sinn, aber von einer bemerkenswerten Apartheit, wie man ihr oft sagte. Wann immer sie einen Raum betrat, zog sie die Blicke auf sich. Sie schminkte sich dezent, und ihre Haut schien rosig und straff. Sie trug die Perlenkette, die Helmut ihr zur Geburt des Sohnes geschenkt hatte. Aus der Siedlung war das monotone Geräusch eines elektrischen Rasenmähers zu hören. Seit der Ölkrise im letzten Jahr hatten einige Nachbarn ihren Benziner durch einen leiseren Elektroantrieb ersetzt, trotzdem übertönte das Surren beinahe den Schlager, der von irgendwoher aus einem Kofferradio plärrte.

Dieser Sommer war heiß. In dem Reihenhaus am Ende der Sackgasse, in dem Helene mit ihrem Mann und dem siebenjährigen Jungen wohnte, waren fast alle Vorhänge geschlossen. Lange hatte sie sich einen Umzug in ein großzügiges Zuhause mit Garten gewünscht. Als sich vor einem Jahr die Gelegenheit bot, war sie die treibende Kraft gewesen. Helmut hatte den Aufwand über sich ergehen lassen. Er war kein Mann, der Veränderungen liebte, aber mittlerweile hatte auch er den Vorteil erkannt: Es gab mehr Platz, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Im Erdgeschoss befand sich neben der Küche, einem separaten Esszimmer und einem Wohnzimmer auch ein großzügiges Arbeitszimmer, in dem Helene immer öfter auf dem kleinen Sofa aus grünem Breitcord schlief. Im ersten Stock waren zwei Räume für Kinder, das Bad und das Schlafzimmer untergebracht.

Sie tuschte sich die Wimpern und schaute flüchtig durch den Spiegel zum Bett hinüber, in dem ihr Sohn schlief, das Beste, was sie in ihrem Leben zustande gebracht hatte.

Helene lächelte, doch das dumpfe, wattige Gefühl, das sie oft lähmte und mit Angst erfüllte, wurde wieder stärker. Sie kannte den fragilen Moment, wenn ihre Vernunft gegen ihre Dämonen verlor. In klaren Momenten wurde sie sich ihres jahrelangen Alkoholmissbrauchs bewusst. Dann beruhigte sie sich mit dem nächsten Gin. Trotz täglicher Hilfe durch ihre Unterstützer war sie müde. Der Rasenmäher legte eine Pause ein, doch die junge Schlagersängerin drehte noch eine Schleife.

Du und ich im Dunkel der Nacht,

unsere Liebe kippt über Bord wie die Fracht,

die auf hoher See ins Rutschen gerät,

doch um sie zu retten, ist es zu spät.

Helene straffte sich. Sie zog ihre blassrosa geschminkten Lippen nach, wischte mit dem kleinen Finger den überschüssigen Lippenstift aus den Mundwinkeln und legte geschickt ein Perückenband um ihre langen blonden Haare. Dann nahm sie, wie jeden Morgen, ihre Frisur vom Styroporkopf auf der Frisierkommode. Weder der erneut einsetzende Rasenmäher noch die letzte Strophe des Schlagers weckten ihren Jungen auf. Helene brachte mit wenigen Handgriffen ihre Zweitfrisur in Form und fixierte das Kunsthaar mit zwei Haarnadeln am Stirnband. Sie lächelte zufrieden hinter der frisch getünchten Fassade. Mit dem Glasverschluss ihres Parfümflakons tupfte sie sich einen Hauch Mitsouko von Guerlain auf den Hals und strich das leichte Sommerkleid zurecht. Dann setzte sie sich hinüber auf die Bettkante. Er atmete schwer hinter ihr, doch ihr fehlte der Mut, sich nach ihm umzublicken. Der Junge stöhnte. Die Krämpfe ließen seine Glieder merklich zucken. Helene nahm das Glas vom Nachttisch, in dem sich ein zäher Brei aus aufgelösten Schlaftabletten wieder verfestigte. Sie goss ordentlich Gin hinein und rührte mit einer Nagelfeile um.

Ohne zu zögern, setzte sie das Glas an die Lippen. Mit drei großen Schlucken hatte sie den Mix aus Gin und Pillen hinuntergespült. Der Alkohol brannte in der Kehle, doch er betäubte zuverlässig den Weg hinunter in den Magen. Sie atmete erfolgreich gegen das Würgen und streckte sich auf dem Bett aus. Langsam nahm der Körper die tödliche Mischung in sich auf, ein dumpfes Gefühl vertrieb das allerletzte bisschen Angst.

Zärtlich strich sie ihrem Jungen die verschwitzten langen Haare aus der Stirn, griff nach seiner Hand und dämmerte erleichtert neben ihm weg. Endlich, sie hatte es geschafft.

1

Der Regen stand quer in der Hansestadt. Es war diese Art von feinem Novemberniesel, der sich wie ein grauer, nasser Schleier über die Stadt legte. Hauptkommissarin Franka Erdmann versuchte zum wiederholten Mal, die beschlagene Frontscheibe ihres alten Nissans frei zu wischen, während sie vom Hof einer Reifenwerkstatt im Hamburger Stadtteil Barmbek rollte. Bevor sie an diesem Morgen ihren Dienst im Polizeipräsidium antrat, hatte sie einen Satz neuer Winterreifen gekauft, die mehr kosteten, als ihr Wagen vermutlich noch wert war. Franka fühlte sich abgekämpft und müde. Sie hasste den Herbst. Nicht erst, seitdem sie ihren eigenen erreicht hatte. Sie war Ende fünfzig, antriebs- und lustlos. Die Jahre bei der Polizei hatten Spuren hinterlassen und persönliche Opfer gefordert. Aber der Vorruhestand war nie eine Option für Franka gewesen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sagte sie sich. Ihre neueste Last wog achtundsiebzig Kilo und war vor einem Monat frisch von der Universität gekommen. Unter den jüngeren Mitarbeiterinnen hatte schnell Einigkeit darüber geherrscht, dass Alpay Eloğlu dem Dezernat in jeder Hinsicht neuen Drive bescherte.

Franka fischte ihre Zigarettenpackung vom Armaturenbrett, wobei ihr Handy zwischen Sitz und Mittelkonsole des alten Nissans rutschte. Sie konnte es nicht fassen. Wie oft war ihr das schon passiert? Sie zog eine Kippe aus der Schachtel und griff zum Einwegfeuerzeug, als sich ihr Telefon ausgerechnet jetzt mit einer Fanfare meldete. Franka stöhnte. Sie hatte fast jedem Kontakt einen speziellen Klingelton zugeordnet. So wusste sie schon beim ersten Sound, ob sie rangehen oder lieber der Mailbox den Vortritt lassen konnte. Die Trompeten hatte sie für Alpay Eloğlu ausgesucht. Ein Ton wie der neue Kollege: laut, forsch und angriffslustig. Sie tastete blind nach ihrem Telefon und konzentrierte sich darauf, das Lenkrad nicht zu verreißen. Aber alles, was ihr zwischen die Finger geriet, waren leere Energydrink-Dosen und zerknüllte Zigarettenschachteln. Sie setzte den Blinker, fuhr rechts ran und fischte ihr Smartphone hervor. Bevor die Mailbox ansprang, nahm Franka den Anruf entgegen.

«Herr Eloğlu. Guten Morgen.» Sie kurbelte die Scheibe einen Spalt herunter und blies den Rauch hinaus.

«Keine Ahnung, ob das ein guter Morgen ist.» Auch wenn Alpay schwer zu verstehen war, hörte sie die Anspannung in seiner Stimme und stellte den Motor aus.

«Ist was passiert?»

«Ich stehe mit den Kollegen auf einem Spielplatz am Klosterstern. Eine Gruppe Vorschulkinder hat einen toten Mann in einer Sandkiste gefunden. Er ist nackt, und ihm fehlt das linke Auge.»

 

Franka stellte den Kragen ihrer Lederjacke auf. Mit hochgezogenen Schultern versuchte sie, sich gegen den fiesen Nord-Ost-Wind zu schützen, der den Sprühregen unter den Regenschirm blies, den Alpay über ihnen aufgespannt hatte.

Er deutete auf die Leiche. «Der Mann war bis zum Kehlkopf eingegraben.»

Sie schauten auf das Opfer hinunter, das die Beamten der Spurensicherung vorsichtig freilegten. Der Körper war durch die Liegezeit im nassen Sand bereits stark verändert.

Frankas Zigarette war feucht geworden. Selbst für sie war das Rauchen bei diesem Wetter kein Vergnügen. Fasziniert betrachtete sie den Toten im Sand. «Wenn ihm das linke Auge nicht fehlen würde, sähe das Ganze aus wie ein verunglückter Strandspaß auf Sylt.»

Während sie sich noch fragte, ob es Zufall war, dass der Kopf des Toten in einem scharfen Neunzig-Grad-Winkel über die linke Schulter blickte, bemerkte sie, dass Alpay stattdessen an der Leiche vorbeischaute. Wie ein Schauspieler die Filmkamera vermied er den direkten Blick auf das Opfer.

«Sehen Sie das?» Franka deute auf den verdrehten Kopf der Leiche. Alpay schien sich auf eine Textnachricht zu konzentrieren, die er auf seinem Smartphone tippte. Sie ahnte, dass er das nur zur Ablenkung tat, weil ihm der aufgeweichte Körper und die leere Augenhöhle des Toten vermutlich Probleme bereiteten. Gerade für junge Kollegen war es am Anfang oft hart, sich der eingehenden Betrachtung von Todesopfern zu stellen, die zudem noch durch äußere Gewalt entstellt waren. Zwar lehrte man an Polizeihochschulen und Universitäten immer feinere Ermittlungstechniken, aber auf solche Brutalitäten in der Praxis wurden Studierende bis heute nicht wirklich vorbereitet. Franka wusste, dass die Berufserfahrung einen gewissen Gewöhnungseffekt mit sich brachte, aber sie war dennoch froh über jeden Kollegen, der auch mit der Zeit nicht abstumpfte.

«Herr Eloğlu, sind Sie okay?»

«Alles bestens.» Er log nicht sonderlich überzeugend.

Hier, in unmittelbarer Nähe zur Hamburger Außenalster und zur Flaniermeile am Eppendorfer Baum mit den kleinen Boutiquen und teuren Feinkosthändlern, hatte sich die Nachricht über den nackten Toten rasant verbreitet. Noch bevor Franka am Fundort eingetroffen war, lungerten die ersten geschockten Nachbarn in Gummistiefeln am eilig von der Polizei gespannten Flatterband.

«Herr Eloğlu. Stift, Kladde und dann mal umhören da vorne. Vielleicht hat jemand irgendwas beobachtet.» Sie nickte in Richtung der gaffenden Passanten, denen ein Sichtschutz den unmittelbaren Blick auf die nackte Leiche versperrte. Sichtlich erleichtert verließ Alpay den Rand der Sandkiste in Richtung Absperrung. Sie sah ihm hinterher. Sein Ehrgeiz und seine Dynamik hatten Franka in den letzten vier Wochen ziemlich angestrengt.

«Herr Eloğlu?» Er drehte sich noch einmal zu ihr um. «Und den Schirm, den lassen Sie mir hier.» Er zögerte kurz und schaute in den verregneten Himmel. Franka überlegte, ob er sich Sorgen um seine Frisur machte.

«Sorry.» Alpay reichte ihr den Regenschirm, setzte die Kapuze seines Parkas auf und ging zu den neugierigen Bewohnern des Viertels hinüber, von denen die meisten wohl in den lichtdurchfluteten Altbauwohnungen und eleganten Jugendstilvillen in der Nachbarschaft wohnten.

Die Spurensicherung hatte nicht nur den Kinderspielplatz, sondern auch den angrenzenden kleinen Park am Klosterstern als erweiterten Tatort abgesperrt. Poppy, der Leiter der Spurensicherung, setzte Franka ins Bild, während seine Leute immer noch damit beschäftigt waren, den Toten vorsichtig aus der Sandkiste zu graben, ohne etwaige Spuren zu vernichten.

«Moin. Ich kann dir noch nicht viel sagen, Franka. Eingeschlagener Schädel, ist nicht zu übersehen. Das fehlende Auge auch nicht. Können aber auch die Krähen gewesen sein.» Franka schaute sich auf dem Spielplatz um, in den Bäumen lauerten die Vögel und warteten auf Beute.

«Fußspuren?»

«Das ganze Areal ist nass, und so früh am Morgen waren noch nicht so viele Leute unterwegs.» Poppy Bruhns deutete auf die Spuren in der Sandkiste. «Wir haben nur die Abdrücke der Kinder, die den Toten gefunden haben.»

«Kümmert sich jemand um die Lütten?» Franka hoffte sehr, dass die psychologischen Betreuer das Entsetzen der Kinder auffangen konnten. Sie mochte Kinder, auch wenn sich die Frage nach eigenem Nachwuchs für sie nie ernsthaft gestellt hatte. Sie konnte nicht einmal sagen, ob sie sich bewusst dagegen entschieden hatte oder ob es ihre Lebensumstände waren. Auch wenn sie tief in sich hineingehorcht hatte, hatte sie die viel zitierte tickende Uhr nie gehört. Ohnehin beschäftigten sie genug andere Probleme. Sie war froh, wenn sie nachts nicht mehr so oft schweißgebadet aufwachte, um dann stundenlang hellwach an die Decke zu starren.

«Ist das der Neue?» Poppy beobachtete Alpay, wie er am Absperrband Leute befragte.

Franka nickte flüchtig, schaute aber auf den toten Mann hinunter, dessen Brustkorb und Oberschenkel mittlerweile von Sand befreit waren. «Ganz schön perverse Nummer. Einäugig, nackt und verscharrt in einer Sandkiste. Erinnert an schlechte Mafia-Filme.»

Es hörte auf zu regnen. Sie klappte den Schirm zusammen und rammte ihn in die aufgeweichte Erde, um eine Zigarette zu rauchen, die ihr der Regen nicht verdarb.

Alpay kam von seiner Befragung zurück. «Fehlanzeige. Niemand hat was gesehen.» Dafür habe er gehört, wie sich einige Gaffer untereinander über den polizeilichen Sichtschutz beschwert hatten, der ihren Fotos im Weg war. Franka fragte sich, wann Menschen aufgehört hatten, zumindest so zu tun, als würden sie sich für ihre Sensationslust schämen.

«Poppy, das ist der neue Kollege Alpay Eloğlu. Herr Eloğlu, das ist Bernhard Bruhns, wichtiger Mann bei der Spurensicherung.»

Die Männer gaben sich die Hand und begannen einen inhaltslosen Smalltalk. Franka unterbrach das kollegiale Begrüßungsgeplänkel, als Poppy wissen wollte, ob Alpay sich im Dezernat schon eingelebt hätte.

«Ist die Identität des Toten geklärt?»

«Nein. Keine Klamotten, kein Ausweis.»

«Ach du Scheiße!» Alpay starrte entsetzt zu den Beamten der Spurensicherung, die den Toten vorsichtig aus der Sandkiste hoben. Bei der Bergung des Körpers hatte sich der Kopf der Leiche über die linke Seite gedreht und war über den normalen Beugungsgrad der Halswirbelsäule hinaus nach hinten weggekippt.

Ganz offensichtlich hatte jemand dem unbekannten Mann das Genick gebrochen.

 

Der Nieselregen nahm wieder zu, und die Lüftung des Nissans blecherte vergebens gegen die Feuchtigkeit im Auto an, als Franka im morgendlichen Berufsverkehr zum Hauptkommissariat am Bruno-Georges-Platz fuhr. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen, wenn sich die Scheinwerfer des Gegenverkehrs in den Regentropfen auf der Scheibe brachen und das Bild vor ihr verschwamm. Sie brauchte nicht erst das Ergebnis ihres nächsten Schießtrainings abzuwarten, um zu wissen, wie sehr sich ihre Augen verschlechtert hatten.

Alpay Eloğlu saß still auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Fenster in den Regen hinaus. Es war das erste Mal, dass sie gemeinsam in Frankas altem Wagen fuhren. Alpay schwieg, und sie wusste, warum. Es gab doch immer eine Art Erwachen, wenn die jungen Kollegen ins Berufsleben einstiegen. Franka betrachtete Alpay kurz von der Seite und dachte unweigerlich an ihren langjährigen Kollegen Armin, der oft auf diesem Platz gesessen hatte. Vor einem halben Jahr hatte er den Kampf gegen den Prostatakrebs verloren. Seitdem die Diagnose feststand, hatte er eine Menge Arschwitze gerissen. Lachen betäubt die Angst und übertönt das Pfeifen im Walde. Franka dachte daran, wie Armin vor einigen Jahren den Zigarettenanzünder ihres Nissans konfisziert hatte, weil er sie vor dem Lungenkrebs bewahren wollte. Jetzt lag Armins Asche in einem Friedwall im Sachsenwald.

Auf dem Weg zum Polizeipräsidium nahm sie die Strecke durch den Hamburger Stadtpark, wo Jogger und Hundebesitzer dem Novemberwetter trotzten.

Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als ihr die Dezernatsleitung, allen voran ihr Vorgesetzter Martin Suttmann, Alpay zur Seite gestellt hatte. Nach seiner Ausbildung an der Akademie der Polizei in Hamburg und dem anschließenden Masterstudiengang in Kriminologie an der Universität der Hansestadt war man der Meinung, eine bessere Einführung in den Praxisalltag konnte dem jungen Mann nicht passieren. Zudem war Frankas Chef immer noch vom Synergieeffekt der beiden überzeugt. Franka konnte nicht sagen, wann Martin diesen Begriff in seinen Wortschatz aufgenommen hatte. Vermutlich im Zuge eines seiner zahlreichen Change-Management-Seminare der letzten zwei, drei Jahre, aus denen er immer fortschrittliche Methoden mitbrachte, die ihr danach das Leben schwer machten.

«Sieh es doch mal so, Franka», hatte er gesagt und dabei seine Nase betastet, um die Länge der herauswachsenden Haare zu kontrollieren. «Der Junge hat einen blendenden Abschluss gemacht. Zusammen mit deinen Erfahrungen …» Suttmann hatte die Augen geschlossen und sich, ohne eine Miene zu verziehen, eine Borste aus dem knollig-bläulichen Rüssel gezogen. Franka hatte ihren Blick angewidert abgewendet und versucht, sich auf das Kabelgewirr unter seinem Schreibtisch zu konzentrieren. «Du und der kleine Türke», hatte Martin gesagt, «das ist so, als würde man ein Paar abgelatschte Schuhe neu besohlen.»

Sie öffnete ihr Autofenster einen Spalt, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch hinaus. Sie spürte Alpays Blick von der Seite und wartete nur auf einen unnötigen Kommentar.

«Haben Sie den verloren?» Er deutete auf den fehlenden Zigarettenanzünder, hinter dem ein kleines Lämpchen den Weg zurück in die Buchse leuchtete.

Franka konzentrierte sich auf den Verkehr. «Ja. Der ist für alle Zeiten weg.»

 

Alpay folgte Franka durch den Haupteingang ins Polizeipräsidium. Er hatte verständnislos zugesehen, wie sie auf dem Parkplatz Unmengen leerer Dosen und zerknüllter Zigarettenschachteln unter dem Vordersitz ihres alten Wagens hervorgezogen hatte, die sie jetzt in der Eingangshalle des Präsidiums in den Mülleimer warf. Ihr tropfte der Regen aus den Haaren, deren grauer Ansatz immer mehr zum Vorschein kam. Sie band sich ihre leicht gewellte, schulterlange Matte notdürftig mit einem Haargummi zu einem Zopf zusammen. Alpay fragte sich, ob Franka wirklich so uneitel war oder ob die vielen Dienststunden einen solchen Pragmatismus bewirkten. Er hoffte, sie legte privat ein bisschen mehr Wert auf ihr Äußeres. Er musterte sie. Ihre Hardware stimmte: Die Frau war schlank und breitschultrig und ein bisschen größer als er. Aber das Gesamtpaket kam ihm manchmal zäh und verbissen vor. Alpay war noch nie auf einen Typ Frau wie Franka getroffen, und was ihn daran besonders verunsicherte, war, dass er sie absolut nicht einschätzen konnte.

Die Klamotten der beiden waren durch den Regen feucht geworden, und Frankas Lederjacke stank noch stärker nach abgestandenem Rauch als sonst. Oder war er das? Alpay roch an seinem Parka und verzog angewidert das Gesicht. Er kapierte nicht, wie man sich bei allem, was man über das Rauchen wusste, trotzdem so vergiften konnte. Auf der Autofahrt ins Präsidium hatte er sich zusammengerissen. Aber eigentlich war es eine ziemliche Frechheit von ihr gewesen, sich in ihrem Schrottmobil ungefragt eine Kippe anzuzünden und ihn mit einzunebeln.

Wie selbstverständlich steuerte Franka auf die Fahrstühle zu, was Alpay nicht sonderlich überraschte. Wahrscheinlich setzte sich seine Vorgesetzte zum Brötchenholen am Sonntagmorgen auch ins Auto. Alpay nahm die Treppe hinauf in den dritten Stock und traf in einem Zwischengeschoss auf Martin Suttmann, der ihm väterlich auf die Schulter klopfte. Er spürte, dass ihn Suttmann auch abseits seiner fachlichen Qualitäten mochte.

«Teamsitzung ist gerade vorbei. Habe von der Einsatzleitung bereits von dem Mann in der Sandkiste gehört. Wir setzen uns gegen Mittag zusammen.» Suttmann war schon halb auf dem Weg nach unten, als er sich noch einmal nach Alpay umdrehte. «Und? Haben Sie sich schon bei uns eingelebt?»

Alpay gab sich betont entspannt. «Ja, läuft.»

Suttmann hob die eine Hand zum Gruß und eilte die Treppe hinunter, die andere Hand auf dem Geländer, wahrscheinlich weil ihm der Bauch den Blick auf seine Füße versperrte. Alpay schaute ihm hinterher und fragte sich, ob er selbst auch so behäbig werden würde, sollte ihn der Polizeidienst eines Tages auf einen wichtigen Posten befördern.

 

Er betrat das fast leere Großraumbüro. Die wenigen Kollegen gingen nach der morgendlichen Teamsitzung ihren Aufgaben nach. Einige saßen an ihren Schreibtischen und waren mit Verwaltungsarbeiten beschäftigt. Andere waren bereits im Dienst unterwegs. Alpay blickte durch die verglaste Tür zu Frankas verwaistem Schreibtisch hinüber. Als eine der wenigen in ihrer Abteilung hatte sie ein eigenes Büro. Während er Kaffee aufsetzte, fragte er sich, ob ihr Fahrstuhl stecken geblieben war.

Nach seinem bestandenen Master hatte er recht schnell ein Job-Angebot von der Abteilung 4 für Deliktsorientierte Ermittlungen des LKA erhalten. Martin Suttmann war auf ihn aufmerksam geworden, als Alpay während des Studiums ein Praktikum in der Abteilung 6 für Organisierte Kriminalität absolvierte. Suttmann hatte damals für kurze Zeit interimsmäßig die Leitung der Abteilung übernommen.

Alpay hatte sich geschmeichelt gefühlt, als ihn das Jobangebot erreichte, denn seine Ausbilder bescheinigten ihm neben seiner Intelligenz ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein, eine belastbare Psyche und physische Kondition. Er selbst bezeichnete sich einfach als Teamplayer, der begierig lernte.

Er war hoch motiviert gewesen, aber wenn er ehrlich war, reichten ihm die vier Wochen an der Seite der Hauptkommissarin Erdmann schon jetzt. Sie war qualifiziert, keine Frage, und an ihre oft ruppige Art würde er sich schon gewöhnen. Aber im Moment kochte er Kaffee, tippte Gedächtnisprotokolle ab und sortierte Verwaltungsakten. Alpay sah, dass Franka mittlerweile in ihrem Büro angekommen war. Er hoffte sehr, dass sie den Fall des toten Mannes aus der Sandkiste übertragen bekam und dass er an ihrer Seite zeigen konnte, was er in den Jahren seiner Ausbildung gelernt hatte.

Aus dem von Suttmann angekündigten Treffen gegen Mittag wurde nichts, denn zu dieser Zeit gab es weder Neuigkeiten über die Leiche aus der Rechtsmedizin, noch hatte die Spurensicherung ihren Bericht auch nur im Ansatz fertig. Die Tür zu Frankas Büro stand offen, und Alpay hörte, wie sie den zuständigen Arzt in der rechtsmedizinischen Abteilung des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf am Telefon zusammenfaltete.

«Das ist mir egal, Herr Dr. Dörfler. Wir haben alle viel zu tun. Es ist uns beiden doch wohl klar, dass ein Opfer, das nackt in der Sandkiste eines Spielplatzes regelrecht bestattet wurde, auf einen Täter hinweist, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht alle Latten am Zaun hat.»

Alpay schmunzelte. Er musste zugeben, dass Frankas schroffe Art in solchen Momenten auch von Vorteil sein konnte. Von seinem Platz aus beobachtete er, wie sie eine Dose Energydrink öffnete. Ihr Ton wurde schärfer.

«Dann müssen Sie Ihre Prioritäten besser setzen, Herr Doktor. Statt mir Ihre Arbeitsstunden vorzurechnen, machen Sie lieber mit den Untersuchungen weiter. Sie haben den Mann seit heute früh auf Ihrem Tisch. Jetzt ist es nach Mittag, und ich brauche zumindest mal einen Anhaltspunkt zur Todesursache. Wiederhören.» Sie knallte den Hörer auf die Gabel. «Was für ein Mädchen.»

Alpay hob die Augenbrauen. Vermutlich hätte Franka ihm einen Kommentar gedrückt, wenn er sich so geäußert hätte.

Da es keine Neuigkeiten gab, stand für ihn jetzt die Prüfung eines kriminaltechnischen Protokolls zu einem alten Fall an. Franka hatte Alpay mit der Durchsicht der Akte beauftragt. Durch die Ergebnisse neuer Ermittlungstechniken hoffte man, den Tod eines Rentners in Wandsbek aufklären zu können. Auch Alpay kam zu dem Ergebnis, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte, und bestätigte damit Frankas Verdacht.

Der Nachmittag ging in den frühen Abend über, und der nächste Blick auf die Uhr zeigte bereits den Feierabend an.

Die Tür zu Frankas Büro stand fast immer offen. Er klopfte an den Türrahmen. Hier drinnen stank es nach kaltem Rauch.

«Was gibt’s?» Sie sah nicht von ihrem Computerbildschirm auf.

«Ich würde jetzt zum Sport gehen, wenn’s das für heute war.»

Das Eingangssignal ihres E-Mail-Postfachs kündigte eine Nachricht an. Auf Frankas Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus.

«Na, geht doch.» Sie stand auf. «Sorry, Herr Eloğlu. Da müssen Sie ein paar Liegestützen vor dem Zu-Bett-Gehen machen. Der rechtsmedizinische Befund ist da.»

Seite für Seite fiel der vierseitige Bericht noch warm ins Ausgabefach des Druckers.

 

Alpay hatte auf dem Besucherstuhl vor Frankas Schreibtisch Platz genommen. Sie schätzte es, dass er seinen Sport, ohne mit der Wimper zu zucken, hintangestellt hatte. Lange Abende im Büro, die für Franka zur Routine geworden waren, befeuerten offenbar den Ehrgeiz eines Berufseinsteigers.

«Na dann.» Sie reichte ihm den Bericht des Rechtsmediziners, zog ihre Lesebrille aus der Tasche und las am Bildschirm.

Das Opfer war männlich, einhundertundvierundachtzig Zentimeter groß und zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt. Dem Mann war mit einem harten Gegenstand aus unmittelbarer Nähe und mit voller Wucht auf den Hinterkopf geschlagen worden, wodurch ihm der Schädelknochen gebrochen wurde. Die Biegungsfraktur des Kraniums erstreckte sich bis zum Mittelohr, die umliegende Haut war großflächig aufgerissen. Der Schlag hatte Venen und Arterien verletzt, sodass sich Blut unter der Schädeldecke gesammelt und ein intrakranielles Hämatom immer mehr Druck auf das Hirn ausgeübt hatte. Der Mann musste sofort bewusstlos geworden sein. Es war zu Lähmungen und Atemnot gekommen, sein Herzschlag hatte sich verlangsamt und schließlich zum Tod geführt. Franka scrollte weiter. Der Schädelbasisbruch war durch die Aufnahme der Computertomografie dokumentiert. Dörfler war sicher, dass das Opfer völlig ahnungslos angegriffen worden war. Es gab keinerlei Abwehrverletzungen, auch nicht an den Händen. Die Fingernägel waren frei von fremder menschlicher DNA. Dafür fand der Rechtsmediziner Metallspäne und Reste von Maschinenöl darunter. Weiter dokumentierte Dörfler in seinem Bericht den Bruch der oberen zwei Halswirbel, der dem Opfer post mortem zugeführt worden war. Der Täter hatte Axis und Atlas mit einer scharfen Rotation eine so heftige Fraktur zugefügt, dass der Kopf nur noch lose am Körper hing.

Obwohl die Leiche über Nacht bei vier Grad Celsius im Sand vergraben gewesen war und die Niederschläge ihr Übriges getan hatten, legte Dörfler den Todeszeitpunkt zwischen 22:30 und 0:30 Uhr des vergangenen Abends fest. Das Auge hatte der Mann vermutlich in den frühen Morgenstunden durch eine Krähenattacke verloren.

Franka lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Nicht die brutale Gewalttat ließ sie aufhorchen. Im letzten Jahr hatten deutsche Staatsanwaltschaften über zweihundertfünfundvierzig Mal Anklage wegen Mord- und Totschlagdelikten erhoben. Es war vielmehr die Art, wie diese Leiche entsorgt wurde. Franka schaute von ihrem Computer auf. «Heftig. Wie der Tote zurückgelassen wurde, kommt einer Bestattung gleich.»

Sie sah sich das Bild vom Fundort noch einmal genau an. Der Torso des Mannes war bis zum Hals in der Sandkiste vergraben. Der Kopf schaute heraus, um neunzig Grad zur linken Schulter gedreht. Der konstante Regen hatte alle brauchbaren Spuren verwischt. Selbst die Abdrücke der Krähen, die dem Toten das Auge ausgehackt hatten, waren aus dem Sand genieselt worden. Franka entging nicht, dass Alpay die Fotos, besonders die Detailaufnahmen, schnell überblätterte. Sie wurde immer mehr in ihrer Annahme bestätigt, dass der junge Kollege zwar über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte und in der Lage war, Situationen analytisch einzuschätzen. Aber großflächige Hämatome, aufgerissene Haut, geöffnete starre Augen und der Geruch von süßlich verwesendem Fleisch würden vermutlich noch zur Herausforderung für ihn werden.

«Wir wissen immer noch nicht, wer er ist.» Franka betrachtete die Fotos der Leiche eingehend und war, anders als ihr junger Kollege, fasziniert vom fehlenden Auge. «Der November ist kalt, und die Krähen sind hungrig.» Sie schaute zu ihm hinüber. «Früher hatten wir davon nicht so viele in der Stadt.»

Sie sah, wie Alpay versuchte, einen Schauer zu unterdrücken. Schnell stand er auf und ging nach nebenan, zog für den Bericht einen Hefter aus seiner Ablage und setzte sich an seinen Schreibtisch. «Bis jetzt gibt’s keine Vermisstenmeldung, die auf den Toten passt.»

Franka trat in den Türrahmen und bemerkte zum ersten Mal den aufgeräumten Arbeitsplatz ihres jungen Kollegen. «Dörfler dokumentiert, die Hände der Leiche sind durch die Liegezeit im nassen Sand so aufgequollen, das wird dauern mit Fingerabdrücken», sagte sie. «Er hat vorsorglich einen Gebissabdruck angefertigt.»

Franka wusste nicht, warum, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, sich strecken zu müssen. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, kreuzte die Arme über dem Kopf und schob sich in die Höhe. Ihre Lendenwirbel knackten. «Laut Dörfler trat der Tod also gestern zwischen 22:30 und 0:30 Uhr ein, so stand es im Bericht. Zum Zeitpunkt der Beerdigung in der Sandkiste war das Opfer bereits tot.»

Alpay rollte auf seinem Stuhl zurück. «Dann muss der Mann ungefähr zwischen 0:30 Uhr und dem ersten Jogger, also so gegen 6:00 Uhr, eingegraben worden sein. Die Kinder haben ihn um 9:00 Uhr gefunden.»

«Ich frage mich», Franka ging zurück in ihr Büro und nahm eine neue Schachtel Zigaretten aus ihrer Umhängetasche, «wer ist so irre und riskiert, sich mitten in der Stadt beim Vergraben einer Leiche erwischen zu lassen?»

Der Polizeisprecher hatte die Hamburger Tageszeitungen am Abend mit den nötigsten Informationen zum Leichenfund versorgt. Ein kleiner Artikel morgen früh würde hoffentlich helfen, Zeugen zu finden, die in der Nacht etwas Ungewöhnliches beobachtet hatten. Auch auf der Facebookseite der Hamburger Polizei würde es am nächsten Tag einen entsprechenden Post geben.

Franka zog das Stanniolpapier aus ihrer Zigarettenschachtel und steckte es in ihre Umhängetasche. Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie zwischen die Zähne und kramte in ihrer feuchten Lederjacke nach dem Feuerzeug.

«Die wollen Sie sich jetzt aber nicht anstecken?»

Franka schaute Alpay irritiert an. Sie konnte nicht verhindern, dass sie dabei leicht mit den Augen rollte.

«Herr Eloğlu. Es ist nach Dienstschluss, und ich bin immer noch hier. Es regnet, ich habe ein Vermögen für neue Winterreifen ausgegeben, und da draußen läuft ein Typ rum, der weit mehr als ein Kinderschreck zu sein scheint. Ich mache das Fenster auf, okay?» Immerhin hatte der Regen nachgelassen.

«Und der Rauchmelder?» Alpay stand von seinem Platz auf und trat in den Türrahmen. Er schaute zur Dose an der Decke von Frankas Büro und stutzte. Hatte das rote Lämpchen aufgehört zu blinken?

Franka zog die oberste Schublade ihres Schreibtisches auf und präsentierte den Neun-Volt-Block. «Entspannen Sie sich.» Sie öffnete das Fenster und zündete sich die Zigarette an. «Ein nackter junger Mann wird mit einer Eisenstange erschlagen. Danach bricht ihm jemand die Halswirbel und verscharrt die Leiche, bis auf den Kopf, in einer Sandkiste.» Sie stand eine Weile nachdenklich an den Fensterrahmen gelehnt und blies den Zigarettenrauch ungeniert ins Büro. «Der Täter wollte zwar, dass wir den Mann schnell finden. Aber er hat alles unternommen, um die Identität des Opfers zu verheimlichen.»

Franka drehte ihren Bildschirm zu Alpay, der immer noch im Türrahmen lehnte. Sie wollte ihn nicht vorführen oder testen, sondern seine ehrliche Meinung hören. «Was sehen Sie?»

Die hell erleuchtete Großaufnahme des Kopfes schockte ihn, auch wenn er es zu verstecken versuchte. Die Schädeldecke des Opfers war eingedrückt, getrocknetes Blut klebte am Ohr. Nervengewebe hing aus der linken Augenhöhle und war alles, was die Krähen dort übrig gelassen hatten. Alpay atmete tief durch und nippte an seinem Becher. Sie spürte, er wollte sich keine Blöße geben, auch wenn ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich.

«Ein Toter, vergraben bis zum Kehlkopf, in einer Sandkiste. Nass vom Regen. Das linke Auge nicht mehr vollständig vorhanden, das rechte geöffnet.»

Franka ging mit der brennenden Kippe im Mund zu ihrer Umhängetasche und holte eine Dose Energydrink heraus.

«Seine Kopfhaltung?»

«Circa neunzig Grad nach links gedreht.»

«Was ist mit dem Rumpf?»

«Als er ausgegraben wurde, lag er senkrecht zur Längsseite der Sandkiste.»

Franka öffnete die Dose. Sie mochte es, wenn sich der süßliche Duft mit ihrem Zigarettenrauch mischte. «Warum schaut der Mann nicht geradeaus?»

Alpay überlegte. «Vielleicht ist der Kopf durch die gebrochenen Halswirbel zur Seite gekippt.»

Franka nahm einen kräftigen Schluck, inhalierte den letzten Rest ihrer Zigarette, bis der Aufdruck verbrannt war und der Filter heiß wurde. Dann versenkte sie die Kippe in der halb leeren Dose.

«Wer auch immer sich die Mühe einer solchen Inszenierung macht, ist detailverliebt. Dem Täter geht es um den Kick über die Tat hinaus.» Sie putzte ihre Lesebrille mit ihrem Unterhemd, das unter der Bluse aus der Hose hing. «Warum bricht der Täter dem Opfer den Hals nach dessen Tod?»

Alpay zuckte die Schultern. «Könnte beim Transport der Leiche passiert sein.»

Franka rief auf ihrem Bildschirm eine Satellitenaufnahme des Stadtteils auf. Sie vergrößerte Eppendorf von oben und scrollte zum Kinderspielplatz, sodass die Parkbänke am Klosterstern klar zu erkennen waren.

«Dort lag die Leiche.» Mit einem Stift zeigte sie auf die Sandkiste. «Die Füße waren in diese Richtung, senkrecht zum Klosterstern, ausgerichtet, der Kopf schaute aber um neunzig Grad nach links. Zufall?» Franka ließ Alpay keine Zeit für eine Antwort. «Vielleicht hat der Täter dem Mann das Genick gebrochen, weil die Totenstarre es ihm sonst unmöglich gemacht hätte, den Kopf seitlich zu fixieren.»

Alpay nickte bestätigend. «Nach Einsetzen des Todes produziert der Körper kein Myosin mehr. Die Muskeln erstarren.»

«Ich frage mich, wollte der Täter, dass das Opfer genau in diese Richtung schaut, wenn es gefunden wird?» Franka griff nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug.

Alpay überlegte. «Sie meinen, jemand will mit uns spielen?»

Sie nickte. Genau das meinte sie.

Aber mit Franka zu spielen war nicht nur beim Skat kein Vergnügen.

 

Stöhnend erwachte er im Dunkel. Seine linke Seite tat weh, bis hinunter in die Zehen. Die Augen waren verkrustet, er konnte sie nicht öffnen, sosehr er es auch versuchte. Aus seinem Mund tropfte Spucke.

Die Umgebung zu ertasten war unmöglich, denn seine Arme wurden fest auf seine Brust gedrückt und ließen sich nicht bewegen. Wie lange lag er schon unter der Last begraben? Er spürte Panik aufsteigen, da nahm ihm ein vertrauter Duft die Angst. Aus der Entfernung erklang leise Musik. Was war passiert? In seinem Kopf hörte er sein lautes Herzklopfen. Je mehr er versuchte, sich zu erinnern, desto schneller pumpte das Blut, es rauschte in seinen Ohren. Er strampelte sich mit den Beinen frei, doch seine Knie stießen immer wieder gegen etwas Weiches. Sein Oberkörper wurde fixiert, von etwas Großem, Schwerem, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Das alles passte gar nicht zu diesem wohligen Duft, den er doch kannte … Seine Gedanken rasten, und wie Blitze schossen Erinnerungen durch seinen Kopf. Mit jedem neuen Puzzleteil setzte sich das bedrohliche Motiv zusammen, waberte im Dunkeln, dann kehrte alles in einem gewaltig grellen Bild zurück. Er wurde fast ohnmächtig. Nein! Er strampelte schneller und weinte. Er versuchte, sich zu befreien. Es war so unerträglich heiß! Er schrie. Textfetzen eines Liedes waren zu hören. Er schwitzte. Draußen wurde gelacht, und er erinnerte sich, wie sie ihm die klebrig feuchten Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte. Er roch sie. Warum konnte er sich nicht bewegen? Er versuchte es wieder, Verzweiflung machte ihn stärker, er kämpfte sich immer weiter in die Freiheit. Nur raus hier. Endlich ließ sich sein rechter Arm befreien. Er atmete schwer und tastete seine Umgebung ab. Die Last auf ihm. Plötzlich fühlte er die kalten Perlen ihrer Halskette. Was bedeutete das alles? Wimmernd griff er in Richtung Nachttisch und versuchte, die kleine Lampe zu erreichen. Er bekam das Kabel zu fassen, und bevor das Licht zu Boden fiel, erwischte er den Schalter. Er öffnete die verklebten Augen. Das grelle Licht blendete ihn. Seine Mutter lag auf ihm und starrte aus leeren Augen durch ihn hindurch. Sie hielt ihn fest im Griff.

2

Anders als am Vortag regnete es heute regelrecht Bindfäden. Auch dieser Novembermorgen bestätigte alle Vorurteile, die in Bezug auf das Hamburger Wetter im Umlauf waren. Seitdem Alpay in der Hansestadt wohnte, lief er alle zwei Tage seine Runde um die Außenalster. Pünktlich um 6:30 Uhr trabte er zum Warmwerden von seiner Wohnung im Karolinenviertel durch die Wallanlagen, bis er den Ausgang des Parks am Stephansplatz erreichte. Von dort war es nur ein kurzes Stück bis zum Alsterufer, wo er seine Laufapp startete und in Richtung Harvestehude lief. Vor ihm lagen 7,5 Kilometer am Wasser entlang. Er zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und das Tempo an. Er war froh um seine Funktionskleidung, die ihn gegen den fiesen Nordost-Wind schützte, der ungebremst über die Alster wehte.

Alpay liebte Hamburg, und er war überzeugt, diese Stadt mochte ihn auch. Allen voran die Kollegen, die ihn freundlich aufgenommen hatten. Nur Franka zeigte sich unbeeindruckt. Schnell hatte Alpay erfahren, dass sie mit dem Tod ihres Einsatzpartners Armin nicht nur einen hervorragenden Kollegen verloren hatte, sondern auch einen guten Freund. Ihr Ton zu dieser Zeit musste noch schroffer gewesen sein als jetzt. Jeden hatte sie ungerecht behandelt. Ihre kurze Lunte war einigen Kollegen gegen den Strich gegangen. Die Situation hatte zu eskalieren gedroht, bis Suttmann, wie Alpay gerüchteweise erfuhr, ihr geraten hatte, sich psychologische Unterstützung im Haus zu suchen. Franka hatte abgelehnt.

Alpay fand schnell zu seinem Laufrhythmus an diesem frühen Morgen. Er genoss es, die Alster fast für sich alleine zu haben und der Stadt beim Aufwachen zuzuschauen. Die ersten Hunde wurden von ihren Besitzern gelüftet, ansonsten traute sich bei diesem Wetter kaum jemand freiwillig vor die Tür.

Auf Höhe Alte Rabenstraße spürte er den Regen nicht mehr, sondern genoss jeden Schritt, obwohl die Joggingstrecke aufgeweicht war und schwer an seinen Füßen klebte. Das Laufen war für ihn der perfekte Ausgleich zu den langen Abenden im Büro. Abende, die hauptsächlich aus Schreibtischarbeit bestanden. Sein Alltag hatte schon während seiner Studienpraktika nichts mit dem der Ermittler im Fernsehen zu tun gehabt, und jetzt war er fast noch weiter davon entfernt. Er musste grinsen. Wahrscheinlich würden die Zuschauer am Sonntagabend einschlafen, wenn echter Polizeialltag über den Bildschirm flimmern würde. Selbst seinen Eltern musste Alpay regelmäßig erklären, dass er keine BMW 5er bei Verfolgungsjagden schrottete. Er hasste harte Drinks und saß allein schon deshalb nie mit einem Whisky in der Dunkelheit auf einem Fensterbrett, um melancholisch durch ein verregnetes Fenster auf die blinkende City zu schauen. Im realen Leben las er Akten, schrieb Berichte und wertete kriminaltechnische Untersuchungen aus, ohne dass im Hintergrund jemand Jazztrompete spielte.

Er erreichte die westlichen Alsterwiesen. An deren Ufer hatten sich die frühen Kaufmannsfamilien Hamburgs prunkvolle Villen gebaut, in denen heute Menschen lebten, die sich über die Butter zum Brot keine Gedanken machen mussten. Er lief am Anglo-German Club vorbei, der in einer Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert mit direktem Gartenzugang zur Alster residierte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kümmerte man sich hier um die Freundschaft zwischen Deutschland und Großbritannien. Alpay dachte oft, dass ein deutsch-türkischer Club an dieser Stelle damals undenkbar gewesen wäre. Hatte sich das heute geändert?

Die leichte Steigung hinauf zur Krugkoppelbrücke zog ihm in die Beine. Er liebte es, sein Stretching hier oben auf der Hälfte seiner Laufstrecke zu absolvieren. Auf der Brücke, die Harvestehude mit Winterhude verband, hatte man einen weiten Blick über die Außenalster Richtung City. Das Wasser gluckste leise im Dunkeln unter ihm. Sein Handy klingelte. Er checkte das Display und begrüßte Franka mit einer geballten Ladung Endorphine.

«Guten Morgen.»

Stille. Er hörte, wie sie einen Schluck Kaffee trank und sich eine Zigarette anzündete.

«Auf welcher Höhe um die Alster sind Sie?»

«Krugkoppelbrücke.»

Sie hustete. «Laufen Sie auf der Stelle. Ich sammel Sie in zehn Minuten dort auf.»

«Brennt’s?»

«Erzähle ich Ihnen, wenn Sie mir versprechen, nicht allzu sehr zu schwitzen.»

 

Alpay und Franka standen um 7:15 Uhr vor einer Wohnungstür im dritten Stock eines hochherrschaftlichen Altbaus im Stadtteil Winterhude und falteten ihre einteiligen Schutzanzüge aus Polyethylen auseinander. Am Schließblech der Eingangstür hatte der Erkennungsdienst die ersten Markierungen angebracht, in der Wohnung waren bereits Laufkorridore angelegt. Die Kollegen waren mit ihrer Arbeit fast zu Ende. Eine junge Frau, ebenfalls in Schutzkleidung, trug einen Alukoffer an ihnen vorbei, wandte sich an Alpay und blieb abrupt stehen.

«Haben Sie Fieber? So verschwitzt können Sie da nicht rein. Sonst versauen Sie uns alles.»

Franka rollte mit den Augen und sah ihn vorwurfsvoll an.

Alpay reagierte genervt. «Ja was? Wenn Sie mich mitten in meiner Runde aufsammeln?»

Sie hob abwehrend die Hände. «Sorry, ich schreibe heute gleich eine Mail an die Spurensicherung, uns beim nächsten Mal erst zu rufen, wenn Sie geduscht haben, Herr Eloğlu.»

Auf der gegenüberliegenden Seite des Hausflurs wurde die Wohnungstür vorsichtig geöffnet. Eine für diese Uhrzeit bemerkenswert zurechtgemachte ältere Dame grüßte nervös und nestelte an der Strickjacke ihres himbeerfarbenen Twinsets.

«Ist was mit Marie? Ich meine, Frau Möbius?»

Franka lehnte an der Wand, um beim Anziehen des Einteilers nicht die Balance zu verlieren. Sie hasste diese Dinger, in denen ihr nach kürzester Zeit der Schweiß zwischen den Brüsten hinunterlief und sie daran erinnerte, was die Wechseljahre mit ihr anstellten. Sie richtete sich auf und wandte sich zu der Frau um. Ohne Lesebrille konnte sie den Namen an der Klingel nicht erkennen.

«Bitte gehen Sie zurück in Ihre Wohnung, Frau …»

«Buske, Bernadette. Was ist denn passiert?»

Zwei Männer kamen von unten und trugen eine Bahre mit einem Leichensack herauf, die sie an die Wand zwischen den Wohnungstüren lehnten. Frau Buskes Unterlippe begann zu zittern.

«Im Moment können wir Ihnen leider noch nichts sagen», sagte Alpay. «Wir werden uns sicher später mit Ihnen unterhalten.» Er lächelte freundlich, und Franka fragte sich, wie man um diese Uhrzeit so voller Energie sein konnte. Er hatte den Reißverschluss seines Anzugs längst zugezogen. Gerade schaute Poppy Bruhns aus der Wohnung auf den Flur hinaus und schob seine Schutzbrille auf die Stirn. Er hieß eigentlich Bernhard, aber alle nannten ihn Poppy, weil seine roten Haare unter dem Kunstlicht im Büro leuchteten wie Klatschmohn in der Sonne. Er sah von Franka zu Alpay und wieder zurück. «Seid ihr so weit? Wir sind fast fertig.»

Alpay hatte sich seine vom Laufen verdreckten Sneaker ausgezogen und trug die Füßlinge direkt über den Socken.

«Wir haben ganz feinen Farbabrieb an Wohnungstür und Rahmen gefunden.» Poppy deutete auf die Markierungen des Erkennungsdienstes unterhalb des Türschlosses.

Franka zog sich noch den zweiten Gummihandschuh an, als Poppy den Blick in eine spektakuläre Altbauwohnung freigab.

«Jemand hat sich Zutritt verschafft?»

Er nickte knapp, und Franka und Alpay traten ein. Die Wände waren in dezentem Beige gehalten, Türrahmen und Fenster leuchteten in frischem Weiß und waren mit einer aufwendigen Ornamentik verziert. Der Flur wirkte wie eine riesige Halle, an deren Stuckdecke ein üppiger Leuchter hing. Seine geschliffenen Kristalle schickten das Licht funkelnd über das geölte Fischgrät-Parkett und reflektierten in der antiken Vitrine aus italienischem Nussbaum. Ein kleines Team der Spurensicherung packte langsam zusammen, sie schienen mit der Dokumentation des Tatorts fertig zu sein. Alpay und Franka folgten Poppy, der sie auf den aktuellen Stand brachte.

«Marie Möbius, siebenunddreißig Jahre alt, Geschäftsführerin einer Werbeagentur, kinderlos, verheiratet, getrennt lebend. Sie wurde mit ihrem eigenen Ledergürtel erwürgt. Hat sich dabei heftig gewehrt.»

Die drei betraten die moderne Küche, in der eine Vielzahl exklusiver Geräte beeindruckte. Kaputtes Geschirr lag verstreut auf dem Fußboden, dazwischen die nackte Tote. Der süßliche Geruch von gasendem Fleisch hing im Raum. Franka beobachtete, wie Alpay den Blick zur Leiche vermied und stattdessen aus dem Fenster in den Innenhof schaute. Sie fragte sich, ob er sich bald an Anblicke wie diesen gewöhnen würde oder ob sein Ekel sogar zu einem größeren Problem werden könnte.

Franka deutete auf die fein säuberlich zusammengefaltete Jeans und den hellen Strickpullover, die in durchsichtigen Asservatenbeuteln auf dem Küchenstuhl lagen. «Aber das wart ihr, oder?»

Poppy nickte. «Sophie hat Temperatur gemessen.»

Wie aufs Stichwort erschien die junge Beamtin, die Alpay im Treppenhaus ermahnt hatte, keinen Schweiß zu verteilen. Sie zuckte die Schultern. «Rektal funktioniert nun mal nicht durch den Mund.»

Franka hasste diesen lockeren Ton, den der Nachwuchs oft anschlug. Für sie lag hier immer noch ein Mensch, der es nicht verdient hatte, dass in irgendeiner Form despektierlich über ihn gesprochen wurde. Poppy kannte Franka gut und schaltete sich ein, bevor sie die junge Kollegin zurechtweisen konnte.

«Als wir sie gefunden haben, saß die Frau auf diesem Küchenstuhl hier, ihr Oberkörper lag vornübergekippt auf dem Tisch. Sie ist wohl nach vorn gefallen oder gestoßen worden, der Kopf hat dabei ein Longdrinkglas zerbrochen. Daher die tiefen Schnittverletzungen auf der Stirn.»

Sophie wandte sich an Poppy. «Wir sind so weit fertig. Können die Jungs mit dem Leichensack rein?»

Er bestätigte ihr mit seiner Unterschrift die Freigabe des Tatorts und richtete sich wieder an Franka und Alpay.

«Wie ihr seht, hat die Frau gekämpft. Trotzdem wirkt das hier nicht wie ein Überfall. Laptop, Schmuck, überall liegen noch Wertsachen rum.»

Jedes verstreute Küchenutensil auf dem Fußboden hatte eine Markierung von der Spurensicherung erhalten. Einige Flächen waren noch schwarz vom Spurensicherungspulver, das für die Daktyloskopie notwendig war, die Untersuchung von Fingerabdrücken.

«Nur auf dem Hauptbahnhof findet man mehr Abdrücke, das sag ich euch.» Poppy kratzte sich das verschwitzte Haar unter seiner Kapuze.

«Der ist ja auch ähnlich groß wie diese Wohnung.» Alpay schaute beeindruckt in Richtung Flur. «Wie viele Zimmer sind das?»

«Sieben, verteilt auf zweihundertfünfundsechzig Quadratmeter.» Sophie hob die Hand zum Gruß und verließ die Küche mit der Tatortfreigabe.

«Wer hat sie gefunden?» Franka kniete sich zur Leiche und betrachtete die bläulich-lila verfärbte Strangfurche.

«Die Putzfrau. Sie hat einen Schlüssel. Die Frau hat das Opfer in der Küche entdeckt und sofort die Kollegen gerufen.»

«Können wir mit ihr reden?» Alpay klinkte sich wieder ins Geschehen ein.

Poppy schüttelte den Kopf. «Gerade noch nicht. Der Arzt hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und sie nach Hause bringen lassen. Wir haben aber die Adresse.»

«Schon eine Ahnung, was den Todeszeitpunkt angeht?», fragte Franka.

Poppy zog sich seine Kapuze herunter. «Wir haben hier einundzwanzig Grad Raumtemperatur. Die Verfärbungen der Strangulation, Temperatur, Leichenflecken am Gesäß … ich denke mal, vorgestern zwischen 23:00 und 1:00 Uhr. Genaueres kann Ihnen aber Dörfler sagen …»

«… wenn er die Frau auf dem Tisch hatte», beendete Franka seinen Satz. «Ich weiß.»

Zwei Beamte schauten in die Küche. Sie hatten den Leichensack dabei. Alpay war der Erste, der auf den Flur trat, um den Männern für den Abtransport der Leiche Platz zu machen. Franka wandte sich wieder an Poppy.

«Habt ihr das Handy der Frau?»

«Bekommt ihr von Matze, wenn er damit fertig ist. Die Tote hatte vorgestern Abend wohl per Chat eine üble Auseinandersetzung mit ihrem Ex. Es ging um Geld.»

Alpay war an der Küchentür stehen geblieben und drehte sich zu Franka und Poppy um. Er sah sie skeptisch an. «Das wäre jetzt ein bisschen zu simpel, oder?»

 

Es war schon einige Zeit her, dass Franka eine derart misshandelte Leiche gesehen hatte. Sie wischte die Sitzfläche mit einem Taschentuch vom Regen trocken und setzte sich auf die Bank vor der Bäckerei, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Tatorts befand. Dann reichte sie Alpay, der die Rückenlehne zum Stretchen nutzte, einen Coffee to go.

«Für mich?» Er schaute überrascht auf den Becher.

«Sie nehmen ihn besser, bevor ich es mir anders überlege.» Alpay setzte sich zu Franka, die sich bereits eine Zigarette angezündet hatte und suchend eine Tageszeitung durchblätterte, die sie zusammen mit den Heißgetränken gekauft hatte.

«Scheiße, ist das heiß!» Alpay zog scharf die Luft ein.

Franka fand, wonach sie suchte. Da die Thanatopraxie zur Rekonstruktion der Fingerkuppen des Toten aus der Sandkiste aufwendig war und Zeit kostete, hatte Martin Suttmann entschieden, die Identität des Unbekannten über die Zeitung zu klären. Um die Leser nicht zu schockieren, hatte Dörfler dem Opfer für das Foto eine Augenklappe auf das ausgehackte Auge gelegt und den Kopf so fotografiert, dass man die eingeschlagene Schädeldecke nicht erkannte. Wenn sie Glück hatten, sorgte diese kleine Notiz dafür, dass der Mann identifiziert werden konnte.

«Wir hatten im letzten Jahr in Hamburg zwölf Morde beziehungsweise Totschlagsdelikte zu klären.» Franka hatte den Deckel ihres Bechers abgenommen und pustete auf den Kaffee. «Zwei Morde an aufeinanderfolgenden Tagen, das ist schon lange her.»

Alpay nickte. «Der Typ in der Sandkiste ist ja laut Dörfler vorgestern zwischen 22:30 und 0:30 Uhr gestorben. Die Frau von heute wurde ungefähr im selben Zeitfenster getötet.» Er wandte sich ab, offenbar brannte ihm Frankas Rauch in den Augen. «Aber der erste Eindruck lässt ja nicht unbedingt darauf schließen, dass die beiden Toten was miteinander zu tun haben.»

«Wer urteilt denn schon nach dem ersten Eindruck?» Franka schaute ihn fragend an. Alpay ließ das unkommentiert stehen und sah zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo die Leiche von Marie Möbius aus dem Haus getragen und in die Rechtsmedizin abtransportiert wurde.

 

Am späten Abend tauchten brennende Kerzen die riesige Altbauwohnung in romantisches Licht. Chillige Popmusik lief im Hintergrund. Marie saß am Esstisch, nippte an ihrem Gin Tonic und ließ den Blick durch den hellen Raum und die geöffnete Schiebetür ins Wohnzimmer schweifen. Sie lächelte traurig. Es hatte nicht funktioniert mit Dirk. Gestern waren sie zusammen beim Anwalt gewesen. Sie hatte auf eine gütliche, einvernehmliche Trennung gehofft, stattdessen war nun alles ein einziger Kampf. Diese riesige Wohnung war wie ihre Ehe. Dirk hatte sich nicht darin zurechtgefunden. Es war vorbei, und sie stritten um Finanzen. Auch wenn Marie ihn immer noch liebte, hatte er sie ganz offensichtlich längst aufgegeben. Sie ahnte, dass er eine andere Frau traf. Wer sie war, wusste Marie nicht. Noch nicht. Aber in einer guten halben Stunde würde sie schlauer sein, wie ihr der Blick auf die teure Armbanduhr verriet.

Zeit, sich bis dahin abzulenken. Marie drehte die Musik etwas auf und positionierte ihr Smartphone im Flur auf der Vitrine aus italienischem Nussbaum. Dann lehnte sie sich lässig in den Türrahmen zum Wohnzimmer und lächelte verträumt zum Kristallleuchter an der Decke. Im Kopf zählte sie den Countdown mit, der auf ihrem Handy rückwärtslief. Sie ging noch ein bisschen mehr ins Hohlkreuz und schüttelte ihr Haar. Freeze, ohne Blitz. Marie checkte die verschiedenen Varianten ihres Selfies und wählte dann das schönste aus. Geübt bearbeitete sie das Bild. Sie verkleinerte den Bildausschnitt, korrigierte die Sättigung der Farben und legte einen Filter über das Foto, bis es wie ein Werbemotiv für ein sorgloses Leben wirkte. Sie folgte dem Groove der Musik in die Küche und öffnete Instagram. Marie war seit drei Jahren unter dem Accountnamen altbauhamburg auf der Social-Media-Plattform aktiv und teilte begeistert Einblicke in ihr Leben. Manchmal konzentrierte sie sich bei den Motiven auf Detailaufnahmen ihrer Wohnung, wie einen Puttenkopf aus Stuck, dann wieder postete sie einen Gesamteindruck ihres Esszimmers mit der französischen Pop-Art an den Wänden, dem modernen Esstisch und den italienischen Designerstühlen. Sie selber folgte Profilen, die sich mit den Themen Einrichtung, Wohnen und Reisen beschäftigten.

Die Welt ist klein, hatte Marie gedacht, als sich vor zwei Tagen ein Typ über Instagram bei ihr gemeldet hatte, der behauptete, seine Frau habe eine heimliche Affäre mit Dirk. Marie hatte das Profil syltrakete zunächst für einen Fake gehalten und den Mann dahinter für einen Spinner. Schon oft hatte sie nervige Follower geblockt. Zudem hatte sein Profil nur wenige Abonnenten. Aber als der Mann zum Beweis mehrere Fotos von Dirk geschickt hatte, auf dem er mit einer brünetten Frau in eindeutiger Pose klar zu erkennen war, hatte Marie mehr erfahren wollen. Es tat weh, da war sie ehrlich. Aber sie war wütend genug gewesen, um sich mit dem Typen zu verabreden.

In wenigen Chats hatte sie sich mit ihm solidarisiert. Beide waren sie Betrogene. Und Marie musste mehr über die Neue an Dirks Seite erfahren.

Sie straffte sich und mixte noch einen Gin Tonic. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihr Selfie und versah die Aufnahme mit Hashtags, die neue Fans auf ihren Account aufmerksam machen sollten. Sie öffnete das Gefrierfach auf der Suche nach Eiswürfeln, fand aber keine. Ob Bernadette noch wach war? Nach dem Streit vor zwei Tagen unten bei den Briefkästen hatte Marie eigentlich keinen Nerv mehr für eine erneute Diskussion über ihre angeblich zu laute Musik. Seit Dirk ausgezogen war, feierte sie gerne ausgelassen mit ihren Freunden und lenkte sich vom nervigen Scheidungskrieg ab. Ein Krieg, in dem es aktuell eigentlich nur um Geld ging.

Schon in ihrer sechsjährigen Ehe hatten sie oft über Finanzen gestritten, und im Moment waren sie unterschiedlicher Auffassung, wie die gemeinsamen Immobilien aufgeteilt werden sollten. Am späten Nachmittag hatte er ihr eine unverschämte SMS geschrieben, worauf ein hässlicher Streit per Messenger folgte.

Bernadette war natürlich ein großer Fan von Dirk. Seine weltmännische Art kam bei älteren Damen an. Sie hatte Marie durch kleine Spitzen immer wieder wissen lassen, wem sie die Schuld am Scheitern der Ehe zuschrieb. Marie war ohnehin schon lange genervt von der Frau in den lächerlichen Twinsets. In den letzten Jahren hatte sie sich immer mehr von der entspannten Nachbarin zum Blockwart des Hauses entwickelt. Richtig eingeschossen hatte sie sich allerdings nicht auf Marie, sondern auf die Familie im ersten Stock. Dauernd meckerte Bernadette über die vielen Schuhe vor der Wohnungstür, auch wenn sie selbst nur mit dem Fahrstuhl daran vorbeifuhr.

Der Wunsch nach einem gekühlten zweiten Drink war größer als die Sorge vor einer Auseinandersetzung. Marie schlüpfte in ihre Hausschuhe aus Filz, öffnete die Wohnungstür und lauschte in das stille Treppenhaus. Um diese Uhrzeit schienen die meisten Nachbarn schon zu schlafen, nur die Zeitschaltuhr für das Treppenhauslicht tickerte leise aus dem Keller herauf. Sie trat auf Bernadettes Fußmatte und lauschte angestrengt, aber es drang kein Laut nach draußen. Im Stockwerk unter ihr fiel eine Tür zu, jemand hastete die Treppe hinunter und verschwand in die Nacht.

Marie spürte den Luftzug, der durch die geöffnete Haustür nach oben wehte. Hinter ihr hörte sie ein leises Knarren, sie musste unbedingt die Scharniere ölen. Erschrocken drehte sich um und sah gerade noch, wie ihre Wohnungstür geschmeidig ins Schloss fiel.

Das Licht auf dem Flur erlosch. Marie wusste nicht, ob sie hysterisch lachen oder einfach nur schreien sollte. Wenigstens war sie angezogen und hatte ihr Handy bei sich. Sie tastete im Dunkeln zum Lichtschalter und überlegte, wer alles einen Ersatzschlüssel zu ihrer Wohnung hatte. Ihr zukünftiger Ex-Mann, der seinen Schlüssel so lange behalten würde, bis die Eigentumsverhältnisse geklärt waren. Maries beste Freundin verwahrte das Exemplar, das Bernadette ihr bei einer der letzten Streitereien vor die Füße geworfen hatte. Doch Nicole ließ sich aktuell in Thailand warmes Öl über die Stirn gießen und meditierte ihren stressigen Agenturalltag weg. Marie stöhnte. Als Erstes würde sie syltrakete absagen müssen. Sie öffnete den Sperrbildschirm ihres Handys und tippte eine kurze Entschuldigung mit dem Versprechen, sich morgen wieder bei ihm zu melden. Dann sah sie die vielen Likes und Kommentare unter ihrem letzten Post. Der Account wohnkatze schrieb: Süße, so schön! Die Followerin versah ihren Beitrag mit Herz-Emojis. Landleben40 wollte wissen, von welcher Marke Maries cooler Strickpullover war, und myherzensdach erkundigte sich nach dem Pflegemittel für den schönen Parkettboden. Marie kam eine Idee. Vielleicht war Frau Budden noch wach? Ihre Putzfrau hatte einen Schlüssel, und für fünfzehn Euro die Stunde konnte die Frau ruhig mal vom anderen Ende der Stadt nach Winterhude fahren, auch um diese Uhrzeit. Doch bei Frau Budden sprang nur die Mailbox an, und Marie hatte keine Festnetznummer gespeichert.

Sie könnte auch bei Lisa und Malte schlafen … Als ihr dieser Gedanke kam, fiel ihr plötzlich das stimmungsvolle Meer aus Kerzen ein, das in ihrer Wohnung vor sich hin brannte. Die Lichter auf dem vierarmigen Silberleuchter auf dem Esstisch waren schon fast heruntergebrannt, als Marie festgestellt hatte, kein Eis mehr zu haben. Dazu die vielen flackernden Teelichter auf den Beistelltischen neben dem Sofa. Was, wenn der Wunsch nach Gemütlichkeit im kalten November ihr jetzt die Bude abbrannte? Marie spürte Panik in sich aufsteigen. Es nützte nichts, sie würde einen Schlüsseldienst rufen müssen. Hoffentlich brauchte der nicht so lange.

Im Internet fand sie einen Notdienst und gab am Telefon ihren Namen und ihre Adresse durch. Man bereitete sie auf eine längere Wartezeit vor, da es einige Notfälle in dieser Nacht gegeben habe. Marie zwang sich, Ruhe zu bewahren, obwohl sie die brennenden Kerzen extrem nervös machten. Die Liedliste hinter ihrer Wohnungstür wechselte von gechilltem Pop zu coolem, modernem Jazz. Leise summte sie einen Standard mit, um sich abzulenken. Vielleicht half ja auch eine Instastory, dann wäre sie zumindest nicht mehr so allein mit ihrer Sorge. Außerdem machte es ihr Spaß, sich in kleinen selbst gedrehten Videos ab und an persönlich an ihre Follower zu wenden. Sie öffnete die Kamera ihres Smartphones, hielt es für einen besseren Aufnahmewinkel schräg nach oben, sodass sie leicht von unten in die Linse schaute, wählte einen Filter, der ihre Haut frischer aussehen ließ, und strich sich betont cool eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das Treppenhauslicht ging wieder aus. Sie reckte sich nach dem Schalter. Ihr blieben nach der Zeitschaltuhr exakt drei Minuten Helligkeit.

«Hey, ihr Süßen da draußen. Ich bin so blöd. Hab mich ausgesperrt.» Sie rollte mit den Augen, war aber penibel darauf