Die strategische Falle - Georg Auernheimer - E-Book

Die strategische Falle E-Book

Georg Auernheimer

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Beschreibung

Wo liegen die Ursachen des Ukrainekrieges? Inwieweit ist er ein Stellvertreterkrieg? Was hat er mit jener Dominanz über Osteuropa zu tun, nach der der Westen nach Auflösung der Sowjetunion strebte? Georg Auernheimer skizziert zunächst die internationalen Beziehungen seit 1991 und legt einen besonderen Fokus auf die Jahre nach dem »Euro-Maidan« (2014) als unmittelbare Vorgeschichte des russischen Angriffs. Die Förderung des ­ukrainischen Nationalismus, so eine zentrale These, bot sich den USA als strategische Falle, um Russland aus der Reserve zu locken. Die Missachtung des Minsker Abkommens und die Sabotage der Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 hätten mangelnden Willen zur Verständigung gezeigt. Das Buch skizziert die humanitären Kriegsfolgen und Verheerungen von Teilen des Landes, um daraufhin die globalen Langzeitfolgen des Krieges in den Blick zu nehmen: so die Hochrüstung mit entsprechender Militarisierung der Gesellschaften; das gegenseitige Misstrauen, das die Mechanismen internationaler Verständigung untergräbt; die Kooperation, die gefordert wäre, um eine ökologische Katastrophe noch abzuwenden.

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Kleine Bibliothek 335

Georg Auernheimer

Die strategische Falle

Die Ukraine im Weltordnungskrieg

PapyRossa Verlag

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89438-822-5 (Print)

ISBN 978-3-89438-904-8 (Epub)

© 2024 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln

Luxemburger Str. 202, 50937 Köln

E-Mail: [email protected]

Internet: www.papyrossa.de

Alle Rechte vorbehalten – ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

Umschlag: Verlag, unter Verwendung einer Abbildung © by Andrii | Adobe Stock [489717338]

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Inhalt

Einleitung

1.Der Kampf um die neue Weltordnung

Vorgeschichte zum Krieg (I)

Die große Transformation von der Sowjetunion zur Russischen Föderation

Das Verhältnis der Bundesrepublik und der EU zur Russischen Föderation

Die USA im Kampf um die unangefochtene Vorherrschaft

Die geostrategischen Optionen der USA

2.Vom Euro-Maidan bis zur Invasion Russlands

Vorgeschichte zum Krieg (II)

Die Ukraine – ideal für die Interventionsstrategie der USA

Exkurs: Die Banderisten

Der Euro-Maidan und die Aufrüstung der Ukraine: Vom Protest zum Putsch

Exkurs: Die soziale Lage in der Ukraine zu Beginn des Euro-Maidan

Die Sezession der Krim und der Krieg gegen die »Volksrepubliken«

Der Vertrauensbruch von Minsk: Der hybride Krieg gegen die Russische Föderation

3.Der Stellvertreterkrieg auf ukrainischem Boden

Die Invasion und die verpasste Chance für eine Konfliktbeilegung

Exkurs: Kriegsverbrechen

Der Abnutzungskrieg

Tote, Invaliden, Geflüchtete und ein verheertes Land

Strittige Kriegsziele

4.Wettrüsten und neue Blockbildung

Hochrüstung und die Militarisierung der Gesellschaft

Der hybride Krieg des Westens, die Teilung der Welt, Konfrontation statt Kooperation

Die Überlastung des Planeten, der neue Exterminismus

5.Abschließende Diskussion

Literatur- und Quellenverzeichnis

Einleitung

»Solche Kriege zwischen Großmächten sind für die Stellvertreter nicht selten brandgefährlich.«

Winston Churchill 1920 zum Angriff Griechenlands auf die Türkei, der im geopolitischen Interesse Großbritanniens war.(zit. nach Milton 2022, 214)

Die gängige Erzählung über diesen Krieg geht so: Die Großmacht Russland hat ohne Anlass die machtlose Ukraine angegriffen. Der Angriff lasse sich nur mit dem ererbten Imperialismus des russischen Machthabers erklären. – Es sei ein »unprovozierter Angriffskrieg«, wird in endloser Schleife wiederholt. Eine alternative Darstellung, die eine Erklärung liefern könnte, würde davon ausgehen, dass die osteuropäischen Staaten – oder besser die neuen Eliten dieser Staaten – der Russischen Föderation, dem früheren Kernstaat der Sowjetunion, misstrauten und sich der NATO zuwandten, was man seitens des Westens nicht verweigern wollte – wenn dieser es nicht gar selbst forcierte. Von der Osterweiterung dieses Bündnisses sah sich seinerseits Russland bedroht, was von den Vertretern der NATO-Staaten übergangen wurde. Beiderseitiges Misstrauen hätte demnach wie so oft in der Geschichte zum Krieg geführt. Wir hätten eine Konfliktdynamik vor uns, die niemand mehr unter Kontrolle hatte, und die sich deshalb in eine Tragödie verwandelte.

Nun gab es aber ein Ereignis, das trotz aller Beschönigung seitens westlicher Regierungen und Medien nicht zu leugnen ist und auf einen politischen Akteur hinweist. Ende Februar 2014 wurde die ordnungsgemäß gewählte Regierung der Ukraine weggeputscht, und zwar mit Billigung und Unterstützung der EU und der USA. Die US-Administration zeigte ganz offen ihre Unterstützung für den Staatsstreich und die Übernahme der Macht durch russlandfeindliche Kräfte, was eine Provokation gegenüber der Russischen Föderation bedeuten musste. Es war die zweite Provokation nach 2008, als die USA die Ukraine zur Kandidatur für die Aufnahme in die NATO vorschlugen, was die eigenen Diplomaten als eindeutige rote Linie für die russische Führung bezeichnet hatten. – Also doch kein »unprovozierter Angriffskrieg«? Was sich in den acht Jahren zwischen Putsch und Angriff abspielte, macht das Fragezeichen noch größer.

Die Randereignisse um den sogenannten Euro-Maidan verraten das Interesse der USA an dem Konflikt. Alles spricht dafür, dass auf dem Boden der Ukraine ein Krieg zwischen den USA und der Russischen Föderation ausgetragen wird. Dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelt, bestätigen die anscheinend unbegrenzten Waffenlieferungen an die Ukraine, die Ausbildung ukrainischer Soldaten in den USA, Großbritannien und in EU-Staaten, die Hilfe westlicher Geheimdienste und die Satellitenaufklärung sowie die kontinuierlichen Konsultationen des ukrainischen Generalstabs mit den US-Streitkräften. Es ist jedoch ein Stellvertreterkrieg mit nicht ganz klaren Kriegszielen. Die sind ebenso klärungsbedürftig wie die Motive. Ein Systemgegensatz wie in der Zeit des Kalten Krieges fällt als Konfliktursache aus: Die Russische Föderation ist Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft. Um die Feindseligkeiten verständlich zu machen, hat man im Westen einen fiktiven Systemgegensatz zwischen Demokratie und Autokratie in die Welt gesetzt.

Auch über die Kriegsziele der Russischen Föderation wird spekuliert und gestritten. Journalisten, »Osteuropaexperten« und Politiker unterstellen teilweise allen Ernstes, Putin wolle nicht nur die Ukraine »heimholen«, sondern ganz Osteuropa erobern. Die Verfolgung des Kriegsverlaufs und die Analyse der militärischen Strategie Russlands können wahrscheinlich Aufschluss darüber geben, was Motiv und Ziel für den Angriff waren. Seit April 2022 beschränken sich die russischen Streitkräfte im Wesentlichen auf die Verteidigung der von ihnen eroberten Verwaltungsbezirke im Osten und Süden der Ukraine sowie der Krim. Die ukrainische Führung hat ihrerseits klargemacht, dass ihr Ziel die Rückeroberung dieser Oblaste, aber auch der Krim ist. Über die Kriegsziele der westlichen Allianz wird in Denkfabriken, Medien und politischen Foren diskutiert.

Zunächst soll im Folgenden das wirtschaftliche und politische System der Russischen Föderation beleuchtet werden, da dieser große Vielvölkerstaat1, der aus einem historisch einmaligen Transformationsprozess hervorgegangen ist, hierzulande für viele eine Terra incognita zu sein scheint. Viele von uns assoziieren mit ihm noch Merkmale der Sowjetunion. In unserer knappen Skizze gilt das Augenmerk der Rolle Putins im Transformationsprozess; denn dessen Personalisierung und Dämonisierung als Feind weckt kindische Vorstellungen und erklärt nichts.

Im zweiten Unterkapitel wollen wir im historischen Rekurs in Erinnerung rufen, wie widersprüchlich und wandelbar die Beziehung der Bundesrepublik und dann der Europäischen Union zur Sowjetunion und später zur Russischen Föderation war. Die transatlantische Bindung an die USA muss dabei Berücksichtigung finden.

Daraufhin wird auf den Beginn der unilateralen Machtverhältnisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückgeblendet, als die US-Eliten entsprechend der Wolfowitz-Doktrin bestrebt waren, die Supermachtposition künftig um jeden Preis zu behaupten. Im Kampf um die Kontrolle Eurasiens sehen sich die USA nun seit Beginn des 21. Jahrhunderts mit China als wirtschaftlichem Rivalen konfrontiert. Strategisch boten sich unterschiedliche Optionen gegenüber Russland und China an. Die sollen am Schluss des ersten Kapitels erörtert werden.

Leider ist es hier nicht möglich, die Interessen und Motive des britischen Establishments in diesem Krieg zu klären. Großbritannien hat in diesem Drama bisher eine unterbelichtete Rolle gespielt. Boris Johnson hat Selenskyj im April 2022 zum Abbruch der Friedensverhandlungen gedrängt. London steht bei den Finanzhilfen für die Ukraine an dritter Stelle und in vorderster Linie bei Waffenlieferungen. Zudem fällt der regelmäßige mediale Bezug auf »den britischen Militärgeheimdienst« als Informationsquelle für das Kriegsgeschehen auf. Großbritannien ist der einzige Akteur, dessen Motive, so er denn eigenständige hat, unklar sind. Dieser blinde Fleck sei nur angemerkt.

Da unsere These ist, dass die mehrschichtigen inneren Konflikte der Ukraine den Angriffspunkt für die geopolitische Strategie der USA in Eurasien lieferten, werden wir am Anfang des zweiten Kapitels dem Prozess des Nation Building der Ukraine mit seinen Schwierigkeiten breiten Raum geben. In weiteren Abschnitten des Kapitels wird die Vorgeschichte zur Invasion Russlands ab dem Maidan-Aufstand und dem Putsch 2014 alternativ zum westlichen Narrativ dargelegt.

Inhalt des dritten Kapitels ist der Kriegsverlauf vom Einmarsch und den sabotierten Friedensverhandlungen bis zum Abnutzungskrieg und zur ukrainischen Gegenoffensive, die spätestens im Herbst 2023 ins Stocken geraten ist. Die verheerenden Kriegsfolgen für die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen wir, soweit Ende 2023 absehbar, verdeutlichen. Die frontnahen Regionen im Osten und Süden der Ukraine werden so zerstört und kontaminiert sein, dass es Jahrzehnte brauchen wird, um sie wieder wirtschaftlich produktiv und lebensfreundlich zu machen. Der Kriegsverlauf ist nur soweit von Interesse, als er die jedenfalls bis Herbst 2023 begrenzten Kriegsziele Russlands verdeutlicht. Von langfristigem Interesse sind die weltweiten Folgen dieses Kriegs.

Wir möchten im vierten Kapitel sichtbar machen, dass der Krieg nicht nur für die Ukraine erschreckende Folgen zeitigen wird. Schon jetzt zeichnet sich eine furchterregende Militarisierung der Gesellschaften ab. Die konfrontative Politik der westlichen Allianz, die auch die VR China ins Visier genommen hat, verhindert die Kooperation der Weltgemeinschaft, die dringend geboten wäre, um die ökologische Katastrophe zu verhindern und das Elend und die Perspektivlosigkeit in einigen Weltregionen zu bekämpfen. Im Fokus unserer Überlegungen stehen die planetaren Belastungsgrenzen, zu deren Überschreitung die Kriege und Kriegsvorbereitungen beitragen. Die Emissionen der angekündigten Rüstungsvorhaben und Manöver konterkarieren alle Anstrengungen zum Klimaschutz. Statt die Gelder und überhaupt die gesellschaftlichen Ressourcen und Kräfte in diese Vernichtungs- und Mordmaschinerien zu investieren, müssten sie internationalen Großprojekten zum Umbau der Wirtschaft und zur Stärkung der Resilienz gegenüber bereits irreversiblen Umweltschäden zugutekommen.

Auf die Frage der möglicherweise zu erwartenden weltweiten Wirtschaftseinbrüche und der sozialen Kosten, die dieser Krieg verursachen kann, gehen wir nicht ein. Denn hier bewegt man sich schnell auf spekulativem Feld. Es ist möglich, dass die G7-Staaten – im Verbund mit weiteren westlichen Ländern – den Wirtschaftskrieg beenden, weil die Bumerang-Effekte auf die eigenen Volkswirtschaften deutlicher zutagetreten. Für die europäische Wirtschaft zeichnet sich eine Rezession ab. Im Übrigen sind aber die internationalen Machtverhältnisse in Bewegung geraten. Und die Staaten im globalen Süden könnten die Rivalität zwischen West und Ost zu ihrem Vorteil nutzen.

Am Schluss setzen wir uns mit zwei analytischen Beiträgen über den Ukrainekrieg auseinander, um abschließend unsere Interpretation zu präzisieren. Das betrifft vor allem die Schuldzuweisungen. Sind die USA nur »mitverantwortlich« für diesen Krieg? Manche werden sagen: Dieser Krieg hätte nie begonnen werden dürfen, auch wenn er provoziert wurde. Auf die Frage von US-Regisseur Oliver Stone, ob er »für die Ukraine in den Krieg ziehen« würde, antwortete Putin im Jahr 2015: »Das wäre das Worst-Case-Szenario« (Stone 2018, 111).

1 Die Vielfalt an Nationalitäten ist zwar in der Russischen Föderation mit den »Russen« als Titularnation nicht mehr so groß wie in der Sowjetunion, aber immer noch beträchtlich. Insofern wäre es angemessener, von »russländisch« anstatt von »russisch« zu sprechen – im Sinne von »rossijskij«, also »Russland« anstatt »Russen« betreffend. Doch wird im Folgenden der allgemeinen Gewohnheit entsprechend und damit der besseren Lesbarkeit halber der Begriff »russisch« verwendet.

1.Der Kampf um die neue Weltordnung

Vorgeschichte zum Krieg (I)

Die große Transformation von der Sowjetunion zur Russischen Föderation

Die Sowjetrepubliken, die in der Sowjetunion, im Groben dem territorialen Erbe des Zarenreichs, vereint waren, hatten das verbriefte Recht auf Austritt aus der Union, was auf Lenin zurückging. Dieses Recht nahmen die baltischen Staaten und Armenien schon 1990 wahr. Im Dezember 1991 gründeten die Staatschefs von Russland, Belarus und der Ukraine, die ebenfalls schon ihre Eigenständigkeit erklärt hatten, in einer Staatsdatscha bei Belowesch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), womit die Sowjetunion als völkerrechtliches Subjekt beerdigt wurde (u. a. mdr.de, 1.9.2022). Die übereilte Auflösung der Union ohne die Vereinbarung von Übergangsfristen und Stufenplänen und ohne die rechtliche Regelung von Minderheitenfragen war folgenreich, weil wirtschaftliche Stränge gekappt wurden und die Nationalitätenfrage später in mehreren Nachfolgestaaten zum Konfliktstoff wurde. Gorbatschow hatte ursprünglich noch eine Übergangsfrist von fünf Jahren nach Austritt aus der Union vorgesehen und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum empfohlen (Krone-Schmalz 2015, 57). Nun aber fanden sich unter anderem etwa 25 Millionen ethnische Russen oder Menschen, die sich als Russen verstanden, plötzlich außerhalb der Russischen Föderation wieder, zum Beispiel rund 1,8 Millionen auf der Krim, die 1991 innerhalb der Ukraine einen Autonomiestatus erhielt.

Eine überlegte, dem Gemeinwohl verpflichtete Politik bestimmte auch die wirtschaftspolitische Transformation nicht. Der Übergang von der Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft wurde in allen ehemaligen Sowjetrepubliken von westlichen Beratern und Think Tanks mitgestaltet, wobei die US-amerikanischen Berater einen strikt marktradikalen Kurs vertraten, wie Putin 2015 im Interview Oliver Stone erzählte (Stone 2018, 44). Auch IWF und Weltbank nahmen starken Einfluss auf die Transformation, noch vor der Privatisierung zum Beispiel auf die staatliche Preisgestaltung. So sollte der Staat den Landwirtschaftsbetrieben etwa weniger für Getreide bezahlen (Krone-Schmalz 2015, 62). Zur Agenda von IWF und Weltbank gehörte vor allem die Privatisierung der Staatsbetriebe, und zwar ungeachtet volkswirtschaftlicher Schlüsselfunktionen. Diese wurden auf verschiedene Weise sehr schnell in Privateigentum überführt (Hofbauer 2014). Sie wurden verkauft oder versteigert, häufig an Führungskräfte aus dem eigenen Haus (sog. Insider-Privatisierung). Allein in Russland wurden 14.000 Unternehmen versteigert (Jaitner 2023, 72). »Industrielle Herzstücke wurden in aller Regel von staatlichen Agenturen in einem Bieterverfahren an westliche Konkurrenten oder andere Kapitalgesellschaften verkauft« (Hofbauer 2014, 45). Das große Angebot führte zu einem Unterbietungswettbewerb. Die teilweise auch ausgegebenen Anteilsscheine oder Volksaktien waren bald im Besitz von kapitalkräftigen Käufern oder Investmentfonds. In der Petrogasbranche erwarben findige Jungunternehmer Unternehmensanteile im Tausch gegen Kredite an den finanzschwachen Staat.

Die Methoden der Privatisierung waren nach dem Osteuropa-Experten Hannes Hofbauer oft von »mafiösem Charakter« (2014, 46). Selbst Joseph Stiglitz, ehemaliger Chef-Volkswirt der Weltbank, hat in Bezug auf Russland von »Raubritter-Privatisierung« gesprochen (NZZ, 30.11.2002). Er kritisiert, die Transformation sei »robber barons« überlassen worden (1999, 42). Die Destruktion der politischen Ordnung, die mit dem Wechsel der Wirtschaftsform einherging, führte zu anarchischen Verhältnissen. Ein »völliger Rückzug des Staates aus der Ökonomie« wie speziell in Russland unter Jelzin (Jaitner 2014, 85) verleitete zu Diebstahl und Raub. Es fehlte der Rahmen für politische Aushandlungsprozesse, staatliche Kontrollmechanismen waren vor allem im Russland der 1990er Jahre außer Kraft gesetzt. Hans-Henning Schröder registrierte in einem Kommentar zu den Ereignissen des Jahres 1993 eine »Paralyse der politischen Führung« (1993, 1303). »Ministerien, Zentralbehörden und Einflussgruppen verschiedener Couleur verfolgen unabhängig voneinander ihre Eigeninteressen« (1304). Russische Oligarchen, die nur ihre persönliche Bereicherung im Sinn hatten, konnten »politische Schlüsselpositionen« besetzen (Jaitner 2014, 87). Michail Chodorkowski zum Beispiel, der den Erdölförderungs- und Petrochemiekonzern Jukos an sich gerissen hatte, wurde 1993 stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gab es »keine Trennung mehr zwischen Oligarchie und Politik« (ebd.).

Mit dem Zusammenbruch des planwirtschaftlichen Systems kam es zu einer Hyperinflation, die die Sparguthaben der breiten Masse entwertete. In allen früheren RGW-Staaten – also in Staaten, die einst dem sowjetisch geführten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe angehört hatten – sank die Produktion von Industriegütern je nach Land bis 1993 um 40 bis 70 Prozent (Hofbauer 2014, 43). Es kam zur allgemeinen Verelendung, während gleichzeitig eine dort zuvor unbekannte soziale Ungleichheit entstand. Das galt auch für die Ukraine. Für die Oligarchen in Russland, die vor allem die Öl- und Gasreserven und andere Rohstoffe zur Quelle ihres Reichtums machten, war der abgewertete Rubel kein Geschäftshindernis. Im Gegenteil, die Konvertibilität mit dem Dollar war vorteilhaft für den Export. Die russische Wirtschaft stützte sich zeitweise fast nur noch auf den Export von Öl, Gas und Kohle, so dass sie wie die Ökonomie vieler Entwicklungsländer ins Stadium des Extraktivismus zurückfiel (Jaitner 2014, 88). Ende der 1990er Jahre war die Armut in den Ländern Osteuropas, gemessen an internationalen Kriterien, von vier Prozent auf 45 Prozent angestiegen (Stiglitz 1999).

Wladimir Putin, der im August 1999 von Jelzin zum Nachfolger gekürt und von der Duma im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt, dann im Dezember 1999 zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt wurde, leitete einen radikalen Kurswechsel ein, zähmte die politische Macht der Oligarchen und stärkte die Zentralgewalt. Das Vermögen von Oligarchen, die sich eindeutig illegal bereichert hatten, wurde beschlagnahmt. Sie setzten sich vor allem nach Großbritannien und Israel ab (Baud 2023, 205). Putin schuf Ansätze einer Sozialpolitik, unter anderem mit einem »Fonds für nationale Wohlfahrt«. Zunächst einmal sorgte er im Jahr 2000 nach seinem Amtsantritt für die pünktliche Auszahlung von Löhnen und Gehältern, die damals nicht selbstverständlich war (Krone-Schmalz 2015, 80). Die Armutsrate wurde bis 2015 um zwei Drittel gesenkt und das Durchschnittseinkommen angehoben. Dieser Linie verdankt Putin bis heute ein hohes Ansehen und hohe Zustimmungswerte in der Gesellschaft (Baab 2023, 51). Er baute außerdem demokratische Elemente in das politische System ein, das er zu einem parlamentarischen System transformierte, in dem er sich auf eine Regierungspartei stützt (Schulze 2020, 35). Bei Jelzin und seinen Anhängern hatte nach Jaitner »ein tiefes Misstrauen gegen jegliche parlamentarische Initiative und Unabhängigkeit« bestanden (2023, 87). Für den im Westen als Demokraten gefeierten Jelzin war die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive eine »zerstörerische Doppelherrschaft« gewesen (89).

Der Politikwissenschaftler Dieter Segert (2023) unterscheidet für die Russische Föderation folgende Phasen der Systemtransformation: Die Formierung einer kapitalistischen Klasse setzt er schon in der Zeit der Perestroika an. Ihr folgte die Phase der wirtschaftlichen Depression im Übergang zur Marktwirtschaft mit einem massiven Rückgang des Bruttosozialprodukts aufgrund der Deindustrialisierung – das Produktionsniveau von 1989 sollte erst um 2007 wieder erreicht werden – mit Massenarmut, sozialer Verunsicherung, Armut der öffentlichen Hand und »institutionalisierter Gesetzlosigkeit«. Eine Folge waren sinkende Geburtenraten und Emigration. Auf dem Land sicherte allein die Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft das Überleben. Ab dem Jahr 2000 erholte sich in Phase drei die Wirtschaft nach der Entmachtung der Oligarchen und einer Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen, was auch die Stärkung der Funktion der Zentralbank verlangte. Die Erdöl- und Erdgasindustrie wurde wieder verstaatlicht. Der Staat ist an Schlüsselunternehmen des Industrie- und Finanzsektors beteiligt. Öffentliche Institute halten zwei Drittel der Bankvermögen, was wiederum die Regulationsfunktion stärkt. Die öffentlichen Ausgaben haben wieder mehr wirtschaftliches Gewicht erhalten. Die Einkommen der Bevölkerung der Russischen Föderation hängen bis zur Hälfte vom Staat und staatlichen Transfers ab (Vercueil 2023, 46). Der Staat nimmt wieder stärker seine Regulationsfunktion wahr, greift stärker in die Wirtschaft ein (ebd.). Nach wie vor gibt es aber eine große regionale Ungleichheit.

Peter Schulze, der die politische Entwicklung der Russischen Föderation im Fokus hat, sieht jeweils mit der Amtsübernahme durch Putin und mit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine neue Phase eingeleitet. Denn mit jener Rede von 2007 habe die Unterwerfung unter den Westen geendet (2020, 35). Putin ist es gelungen, die Macht der Oligarchen und »roten Direktoren« (Jaitner 2023, 112ff.), die nach der zweiten Privatisierungswelle Mitte der 1990er Jahre zeitweise das bedrohliche Ausmaß eines »state capture« (126) angenommen hatte, einzuschränken. Dabei handelte es sich aber um einen Deal: staatliche Sicherung der Vermögenswerte gegen politische Abstinenz. Er habe den Oligarchen gesagt, so Putin, dass diese »alle äquidistant zur Regierung sein müssten« (Stone 2018, 31). Politische Stabilität stellte er her, indem Teile der Gesellschaft auf allen Ebenen in »Räte« eingebunden werden – für Jaitner ein »staatlich regulierter Korporatismus« (2023, 146).2

Als grundlegende Schwäche der Russischen Föderation verbleibt die wirtschaftliche Dominanz der Rohstoff- und Petrogasförderung und daneben auch der Rüstungsindustrie. Die Wirtschaft des Landes lässt sich als »rentenbasiertes Akkumulationsregime« kennzeichnen (Vercueil 2023).3 Der Rohstoffreichtum ist für die Russische Föderation in ähnlicher Weise ein Fluch wie für viele Länder des globalen Südens (Stichwort: Extraktivismus). Putin brachte 2016 das Problem auf den Punkt: »Man kann Wirtschaftsakteure nur schwer dazu bewegen, in neue Industrien zu investieren, die weniger profitabel sind als die Erdöl- und Erdgasbranche« (Stone 2018, 147). Die Wertschöpfung ist in wenigen Wirtschaftszweigen konzentriert (Vercueil 2023, 46). Über die Möglichkeiten der staatlichen Finanzpolitik entscheidet das Aufkommen an Devisen und damit die Exportwirtschaft (41). Dabei entfallen 60 Prozent der Ausfuhren auf fossile Energieträger (Jaitner 2023, 152). Bis 2019 sank jedoch der Anteil der Einkünfte aus Öl und Gas am Staatshaushalt auf 39 Prozent (Kronauer 2022, 39). Und der Anteil fossiler Energieträger am BIP betrug 2021 nur 15 Prozent (Baud 2023, 224). Die Petrogas-Rente hat zentrale Bedeutung. Gazprom und Rosneft sind die wichtigsten Finanziers des Staates. Das begünstigt eine »Ökonomie der Gunstbezeigungen« (Vercueil 2023, 48). Die Öl- und Gasförderung verlangt außerdem weder innovationsfreudige Unternehmer noch Fachkräfte der Weltspitze. Ein Problem sind die Kapitalabflüsse über Exportunternehmen, zum Teil zur persönlichen Bereicherung im Ausland gebunkert. Der Ökonom Lutz Brangsch sieht nach wie vor »Hemmnisse für eine Belebung der nichtextraktiven Sektoren der Wirtschaft. Diese liegen innerhalb des Landes in der politisch-institutionell befestigten Macht des Finanzsektors und der Rohstoffwirtschaft begründet« (Brangsch 2022).

Die Russische Föderation war damit nach Jaitner (2023) Teil der Semiperipherie im Weltsystem geworden.4 Nur in den Bereichen Raumfahrt, Militär- und Nukleartechnologie ist Russland derzeit konkurrenzfähig. Unterhalb des politökonomischen Establishments habe sich eine neue Mittelschicht bilden können, wobei die Gesellschaft von hoher sozialer Immobilität gekennzeichnet sei (75).

Die politische Kultur der Russischen Föderation ist nachhaltig durch das System Jelzin in den 1990er Jahren geprägt worden, der damals Entscheidungen von historischer Tragweite eigenmächtig herbeiführte und alle Kräfte ausschaltete, die die von ihm und einer Gruppe von »Reformern« favorisierte Variante der Transformation, nämlich eine deregulierte Marktwirtschaft, nicht mittragen wollten. Nach Felix Jaitner erstickte Boris Jelzin die Keime der Demokratiebewegung, die in der Phase der Perestroika entstanden war. Eigenmächtig unterstellte er im August 1991 alle Exekutivorgane der UdSSR dem Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), also der Russischen Teilrepublik. Eigenmächtig wurden auch die schon erwähnten Belowescher Vereinbarungen mit den Staatschefs von Belarus und der Ukraine getroffen. »Fest steht«, so Jaitner, »dass die Republikpräsidenten in keiner Weise autorisiert waren, eine Entscheidung von dieser Tragweite zu treffen« (2023, 58). Es handelte sich nicht um ein institutionalisiertes Gremium. Und keine Regierung, kein Parlament hatte entsprechende Vollmachten erteilt. Eigenmächtig löste Jelzin dann als Präsident der Russischen Föderation im September 1993 per Dekret das Parlament, den Obersten Sowjet, auf. Und als sich Widerstand regte, ließ er das Parlament beschießen und die Mandatsträger festnehmen. Die Gegner seiner neoliberalen »Reform« waren keineswegs Vertreter irgendeiner Art von Reaktion, die zum alten System zurück wollten, sondern lediglich Befürworter einer staatlich regulierten und sozial orientierten Marktwirtschaft (87). Auf ihre Ablehnung stieß die wirtschaftliche »Schocktherapie« mit ihrer mangelnden Rechtssicherheit.

Konsequenterweise stärkte Jelzins Verfassungsreform, die er ohne jeden zivilgesellschaftlichen Dialog durchzog, die Macht des Präsidenten auf Kosten der parlamentarischen Initiative und Kontrolle (91). Man muss allerdings feststellen, dass Praktiken wie die Auslagerung von politischen Entscheidungen in nicht demokratisch legitimierte Gremien, die Jaitner kritisch anmerkt, heute keine Eigenarten Russlands mehr sind; denn solche Praxis ist leider auch in Westeuropa gängig geworden. Das bedeutendste russische Gremium dieser Art ist der Nationale Sicherheitsrat. Die unter Jelzin durchgeführte Verfassungsreform gibt dem Präsidenten große Macht. Er kann jedem Gesetzesvorhaben seine Zustimmung versagen, was das Parlament als Legislative in Frage stellt. Jelzin hat öffentliche Partizipation auf ein Minimum reduziert und damit das politische Leben gelähmt.

Das System stützt sich nach Brangsch (2022) hauptsächlich auf drei Machtsäulen: den Sicherheitsapparat, die ökonomischen Eliten der großen privaten und staatlichen Konzerne sowie die Finanzwirtschaft und die Zentralbank, deren neoliberale Finanzpolitik schwer mit einer innovationsorientierten Industriepolitik zu vereinbaren sei. Einen zweiten Kreis der Macht bildeten die regionalen Eliten, die »ein unwägbarer Faktor« seien. Insgesamt macht Brangsch ein spannungsreiches Machtgefüge aus. »Modernisierung durch Repression« ist nach ihm die gewählte Scheinlösung. Der Systemkritiker Boris Kagarlitzki prangert Wahlfälschungen sowohl bei der Verfassungsänderung im Jahr 2020 als auch bei Regional- und Dumawahlen an (2023, 127).

Politische Passivität oder »fatalistische Haltung« (Brangsch) bestimmt seit der Ära Jelzin das Bild. Man erinnere sich: Bei Jelzins Angriff auf das Parlament im Jahr 1993 gingen die Massen nicht auf die Straßen, um ihre Volksvertretung zu verteidigen. Für Kagarlitzki ist die gesellschaftliche Passivität »zur Grundlage des politischen Systems geworden« (2023, 126). Kleine oppositionelle Minderheiten würden unterdrückt. Massenproteste wie zwischen 2011 und 2013 sind seit langem nicht mehr zu registrieren. Irritierend wirkte bei der Revolte von Prigoschins Söldner-Truppe im Juni 2023 das Ausbleiben von spontanen Demonstrationen in Moskau, St. Petersburg und anderen großen Städten, sei es gegen oder auch für die Meuterei. Aber die Reaktionen Putins auf die Revolte warfen auch ein irritierendes Licht auf das politische System, nicht nur auf die politische Kultur. Putin, der zunächst am 24. Juni 2023 in einer Fernsehansprache erklärt hatte, die Rebellen hätten »Russland verraten«, ließ Prigoschin unbehelligt nach Belarus ausreisen und verfügte eine Amnestie für die sonstigen Beteiligten. Damit nicht genug, gewährte er Anfang Juli Prigoschin und den Offizieren der »Wagner-Gruppe« Gnade und stellte ihnen in einem Gespräch neue Aufgaben. Dabei hatte Russlands Geheimdienst FSB anfangs ebenfalls von verbrecherischen und verräterischen Befehlen Prigoschins gesprochen, fügte sich aber dann der neuen Linie. Wer oder was im August 2023 den Absturz des Privatjets von Prigoschin und damit seinen Tod verursacht hat, ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Es ist aber hier auch nicht das, was hier interessiert. Befremden muss die Ausschaltung der Justizorgane. Das erinnert an Zeiten der absoluten Monarchie, so gewiss diese Art der Konfliktlösung größeres Blutvergießen verhindert und die Lage beruhigt haben mag. Putin liefert das Bild des aufgeklärten Fürsten. Ein Oberst namens Andrej Besrukow soll, auch im Hinblick auf die unklare Rolle einiger hoher Militärs, in einer TV-Diskussion kritisch bemerkt haben, dem Staat fehle »ein System der realen Verantwortung von oben bis unten« (zit. nach: der Freitag, 29.6.2023).

Auffallend kann man finden, dass Putin nichts einwendet, als Oliver Stone im Gespräch meint, er sei quasi der »Chief Executive Officer« des Unternehmens Russland (141f.). Nach Ansicht der Politologin Tatjana Stanowaja vom Carnegie Center in Moskau »sind alle in Putins Umgebung Vollzugsbeamte« (freitag.de, 6.4.2022). Aufmerksamkeit verdient die Bemerkung des Chefkommentators von Moskowski Komsomolez, Michail Rostowski, zur Revolte des Wagner-Chefs Prigoschin im August 2023: Die Machtvertikale in Russland funktioniere nur, »wenn es eine von allen anerkannte Autorität an der Spitze der Machtpyramide gibt.« Das begründet er nicht, wie im Westen üblich, mit typisch russischer Tradition. Sein Argument ist, andernfalls sei »die Handlungsfähigkeit des Staates unter den Bedingungen der außerordentlichen Angriffe von Seiten des Westens in Frage gestellt« (jW, 26.8.2023).

Jaitner bemerkt eine »reaktionäre, großrussische Kultur- und Geschichtspolitik«, verbunden mit der Propagierung religiös-konservativer Werte und innerer Repression (2023, 157). Vertretern linker Alternativen wird, nicht anders als im Westen, nach Möglichkeit kein öffentliches Forum geboten. Die letzten Jahre wurden auch Haftstrafen verhängt. Nikolai Platoschkin, der einen »Neuen Sozialismus« propagiert, wurde 2020 zu fünf Jahren Haft verurteilt und so zum Schweigen gebracht. Am 26. Juli 2023 wurde der Marxist und Chefredakteur eines linken Online-Magazins, Boris Kagarlitzki, verhaftet. Auch ihm drohten zunächst fünf Jahre Haft, im Dezember 2023 kam er gegen eine Geldstrafe frei. Der Vorwurf: »Öffentlicher Aufruf zum Terrorismus, Rechtfertigung von Terrorismus und Propaganda für Terrorismus über Medien und das Internet«.5

Das Verbot mancher NGOs, die ausländisches Geld erhalten, muss vor dem Hintergrund westlicher Destabilisierungsversuche gesehen werden. Jacques Baud verweist auf die Finanzierung durch die USA, speziell seitens des National Endowment for Democracy, und Großbritannien und auch auf ausgewanderte Oligarchen als Sponsoren (2023, 208). Gabriele Krone-Schmalz meint: »Denn eine Gesellschaft, die sich eingebettet fühlt und nicht umzingelt, kann sich viel freier und unbeschwerter entfalten« (2015, 86). Etwas Nachsicht verdient sogar die »nationalistische, imperiale Rhetorik«, die Jaitner hervorhebt (170), wenn man die Demütigungen Russlands nach 1991 berücksichtigt. Eine Folge des »neoliberalen Transformationsprozesses« sei die Konjunktur »national-konservativer Ideen« (171). Bei Putin und seinem Kreis finden solche Ideen anscheinend großen Anklang. Die ideologische Orientierung im Kreml scheint aber insgesamt widersprüchlich zu sein.6 Putin selbst hegt Sympathien für den reaktionären Zaren Alexander III. (1845-1894), was auch nahelegt, dass er repressive Maßnahmen als Mittel der Innenpolitik durchaus für angebracht hält. Außenpolitisch betrieb jener Zar keine expansive Politik. Auch Putin setzte von Anfang an auf Entspannung, allein schon um sein ambitioniertes innenpolitisches Programm durchsetzen zu können. Schon in seinen ersten beiden Amtsjahren trat die Russische Föderation dem Angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), dem Atomwaffensperrvertrag und dem START-II-Vertrag bei.

Viele wollen die Motive für den Angriff auf die Ukraine in prominent vertretenen Ideen wie der von der Eurasischen Union oder der »Russischen Welt« (Russki Mir) sehen (Kronauer 2018, 142f.). Das mag nahe liegen, wenn man solchen Ideen einen hohen Stellenwert gibt, aber diese Erklärung wird durch den Langmut und die wiederholten Dialogangebote der russischen Führung auf die Provokationen des Westens in Frage gestellt. Hätte Putin aufgrund der unterstellten imperialen Ansprüche die Ukraine erobern wollen, dann hätte er sie vor der massiven Aufrüstung des Nachbarlandes durch die USA angreifen müssen, noch besser vor der zweiten Welle der NATO-Expansion. 2022 war der günstige Zeitpunkt für einen Eroberungskrieg verpasst. Der Politikwissenschaftler John Mearsheimer von der University of Chicago: »Einige betonen zum Beispiel, dass er gesagt habe, die Ukraine sei ein ›künstlicher Staat‹ oder kein ›echter Staat‹. Solche undurchsichtigen Äußerungen sagen jedoch nichts über die Gründe für seinen Kriegseintritt aus. Dasselbe gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als ›ein Volk‹ mit einer gemeinsamen Geschichte … Es gibt keine Beweise dafür, dass Putin am 24. Februar, als er seine Truppen in die Ukraine schickte, die Absicht hatte, die Ukraine als unabhängigen Staat abzuschaffen und sie zu einem Teil Russlands zu machen« (Mearsheimer 2022). Dass die Stärke der Invasionstruppen im Februar 2022 dafür untauglich gewesen wäre, wurde von mehreren Militärs festgehalten. Jacques Baud ist überzeugt, dass Putin die Ukraine nicht erobern wollte. Ja, mehr noch, er zeigt als Militärexperte an der Folge der Ereignisse und militärischen Aktivitäten kurz vor dem 24. Februar 2022 sogar auf, dass bis dahin kein Angriff geplant war. Kagarlitzki: »Der Kreml war nicht bereit für den Krieg« (2023, 129). Er registriert übrigens »das völlige Fehlen patriotischer Begeisterung« (ebd.).

An dieser Stelle einige Worte über John Mearsheimer, weil er im Folgenden zum Ukrainekrieg mehrfach zu Wort kommen wird, und über Jacques Baud, weil sein Urteil als militärischer Beobachter besonderes Gewicht hat. Mearsheimer, ein angesehener US-Wissenschaftler, vertritt in der Politikwissenschaft den Offensiven Neorealismus – »Realismus« deshalb, weil Idealvorstellungen über politische Verhältnisse suspendiert werden. Vertreter der realistischen Schule gehen zum Beispiel davon aus, dass es in allen Gesellschaften immer »Eliten« geben wird. Mearsheimers Forschungsfeld sind jedoch internationale Beziehungen. Dort sieht er, ausgehend von der Anarchie des internationalen Systems, alle Mächte ihre Interessen auf Kosten von Rivalen verfolgen. Vor allem zwischen den jeweiligen Großmächten herrschen Konkurrenzverhältnisse im Kampf um größtmögliche Sicherheit und Hegemonie. Das Forschungsinteresse ist auf strukturelle Bedingungen wie militärische und wirtschaftliche Macht gerichtet. Daher decken sich die Ergebnisse oft mit marxistischen Analysen. »How States think. The Rationality of Foreign Policy«, der Titel eines Buchs von Mearsheimer, verrät viel über seinen Ansatz. Der Realismus hat ihm zu einem nüchternen Blick auf die schonungslose Machtpolitik der USA verholfen. Seine Kritik daran ist nicht moralisch grundiert, sondern von der Sorge getragen, dass die Machtbalance außer Kontrolle gerät. Schon 2014 warnte er deshalb vor der massiven Einmischung in der Ukraine.

Jacques Baud, Schweizer Oberst, arbeitete als für den Warschauer Pakt zuständiger Analyst für den Schweizer Nachrichtendienst. Bei den Vereinten Nationen war er für die Bekämpfung der Proliferation von Kleinwaffen zuständig. Einen Einblick in die Vorgänge in der Ukraine seit dem Maidan-Aufstand gewährte ihm seine Beteiligung an einer dortigen NATO-Mission. Als Chef der NATO-Einheit, die 2015 die Waffenlieferungen an die Aufständischen im Donbass zu überwachen hatte (Baud 2023, 142), ist er ein äußerst wichtiger Zeitzeuge. Aufgrund seiner Tätigkeit bei der UNO und seines Studiums in Internationaler Sicherheit und Internationalen Beziehungen war es für ihn vermutlich nicht schwer, dabei die größeren Zusammenhänge zu sehen. Als Schweizer konnte er unvoreingenommener als andere den Konflikt analysieren.

Das Verhältnis der Bundesrepublik und der EU zur Russischen Föderation

Der Übergang zur Marktwirtschaft in der neu geschaffenen Russischen Föderation weckte sogleich neue Erwartungen bei der deutschen Wirtschaft, die zu allen Zeiten – außer während des Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion (1941-1945) – wirtschaftliche Beziehungen zu Russland bzw. zur Sowjetunion unterhalten hatte. Schon Ende 1992 vereinbarte Bundeskanzler Helmut Kohl mit Boris Jelzin den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wobei man auch Joint Ventures zwischen deutschen und russischen Unternehmen ins Auge fasste (Kronauer 2018, 55).

Die Beziehung war von deutscher Seite spätestens seit der Oktoberrevolution immer listenreich gewesen. Man wollte gute Geschäfte miteinander machen, wurde aber auch die verführerische Idee nicht los, bei günstiger Gelegenheit den fremden Laden zu übernehmen, das Schiff zu entern. Schon in der ersten Phase des Imperialismus liebäugelte man im Deutschen Reich ungeachtet der guten Geschäfte, die man im Zarenreich vor allem bei den Anfängen der Ölförderung machte, mit der Idee, die dortigen »Randstaaten«, vor allem die Ukraine, in ihren nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterstützen.7