Die Stunde des Unsichtbaren - Isolde Kurz - E-Book

Die Stunde des Unsichtbaren E-Book

Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Isolde Kurz

Die Stunde des Unsichtbaren

Seltsame Geschichten

Isolde Kurz

Die Stunde des Unsichtbaren

Seltsame Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962812-18-8

null-papier.de/newsletter

Inhaltsverzeichnis

Die vom Ber­ge Lat­mos

Fa­tum?

Der Iet­ta­to­re – Eine ver­ges­se­ne Ge­schich­te

Das Bild­nis der Un­be­kann­ten

Der alte Schrank

Fluch­gold

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Die vom Berge Latmos

Der In­ge­nieur Fritz Wes­ter­land, nam­haft als Er­bau­er wich­ti­ger Bahn­stre­cken in Klein­asi­en, woll­te vor An­tritt ei­ner lei­ten­den Stel­lung in Chi­na sei­ne Ju­gend­stadt wie­der­se­hen, die er fast zwei Jahr­zehn­te grol­lend ge­mie­den hat­te. Um die Ver­gan­gen­heit mäch­ti­ger zu sei­ner See­le re­den zu las­sen, ver­schmäh­te er es, das Städt­chen vom Bahn­hof aus zu be­tre­ten, wo er ge­wiss war, auf stim­mungs­rau­ben­de Neue­run­gen zu sto­ßen, son­dern stieg an ei­ner frü­he­ren Hal­te­stel­le aus, um über wohl­be­kann­te Berg­pfa­de den Rest der Ent­fer­nung zu­rück­zu­le­gen und durch das alte Tor sei­nen Ein­zug zu hal­ten.

Nach mehr­stün­di­gem Stei­gen spal­te­te sich der Weg in zwei zu An­fang fast gleich­lau­fen­de Wege, die sich spä­ter in wei­tem Bo­gen von­ein­an­der trenn­ten. Der Wan­de­rer er­in­ner­te sich ge­nau der Stel­le, wo es leicht war, sich zu ver­ir­ren, und wähl­te mit Be­dacht den sei­ni­gen. Auf sein Ge­dächt­nis glaub­te er sich ver­las­sen zu dür­fen, und sein Orts­sinn war vor­züg­lich. Wenn er in der ein­ge­schla­ge­nen Rich­tung über einen wal­di­gen Ber­grücken weg einen fla­chen, mit Hei­de be­wach­se­nen Vor­sprung er­reich­te, muss­te er die Stadt im Tale mit Kirch­turm und mit­tel­al­ter­li­chen Mau­er­res­ten ge­ra­de un­ter sich se­hen. Und eben dies war die Stel­le, wo­hin es ihn am meis­ten zog, das Stück Hei­de­land mit dem an­stei­gen­den Bu­chen­wald da­hin­ter, war der Schau­platz un­ver­ge­ss­li­cher Ju­gend­stun­den.

›Un­ter der Lin­den an der Hei­de, wo ich mit mei­ner Trau­ten saß‹ – un­be­wusst sang er es vor sich hin, vom Zau­ber je­ner Tage wie­der er­fasst. – Aber eine Lin­de war es nicht, es war ein mäch­ti­ger Ul­men­baum, ein stren­ger al­ter Baum­kö­nig, sag­te er zu sich selbst, und nun sah er ihn so deut­lich vor sich mit der Aus­sichts­bank dar­un­ter, dass er ihn hät­te mit al­len sei­nen Äs­ten zeich­nen kön­nen. Auf wie viel Fes­te hat­te der Alte her­ab­ge­schaut, still­ver­schwie­ge­ne Lie­bes­fes­te und to­ben­den Über­mut, – zu­letzt auf je­nes Jo­han­nis­feu­er – hier schlug die Erin­ne­rung dem Wan­de­rer eine Kral­le ins Herz, dass er ra­scher aus­schritt wie um den ät­zen­den Ge­dan­ken zu ent­ge­hen.

Der stei­ni­ge Weg hob und senk­te sich, mehr als ein­mal äff­te ihn eine auf­leuch­ten­de Stre­cke von rot­blü­hen­dem Hei­de­kraut, aber der Ort, den er such­te, woll­te nicht kom­men. Hat­te er sich in der Ent­fer­nung ge­täuscht oder wur­de ihm das Stei­gen so viel schwe­rer als in den flü­gel­leich­ten Ta­gen der Ju­gend? Neun­zehn Jah­re la­gen zwi­schen dem Da­mals und dem Heut, neun­zehn Jah­re mit ih­ren Kämp­fen und Er­fol­gen, auch mit man­cher har­ten Schlap­pe, vor al­lem mit dem furcht­ba­ren grund­stür­zen­den Er­le­ben des Krie­ges, den­noch hat­te er sie nie als eine Last auf sei­nen Schul­tern ge­spürt. Er war fast schlan­ker und ge­stähl­ter aus dem furcht­ba­ren Rin­gen ge­kom­men, und die grau­en­vol­len Bil­der wa­ren ihm in den we­ni­gen Frie­dens­jah­ren schon zu ei­nem wir­ren, von der Erin­ne­rung ge­mie­de­nen Traum ver­blasst, über dem die Ju­gend­ge­stal­ten wie lie­be alte Stern­bil­der aufs neue em­por­stie­gen. Er be­griff nicht, wo­her ihm an die­sem Abend die blei­er­ne Mü­dig­keit kam, die all­mäh­lich das Wei­ter­stei­gen als eine hoff­nungs­lo­se Sa­che er­schei­nen ließ.

Vi­el­leicht war es die nahe Ver­wirk­li­chung des lan­ge ge­wünsch­ten und doch ver­scho­be­nen Wie­der­se­hens, die ihm läh­mend in den Glie­dern saß. Ein­mal muss­te ja der letz­te Strich un­ter das Ver­gan­ge­ne ge­macht, ein­mal muss­te das große Fra­ge­zei­chen sei­nes Le­bens aus­ge­löscht wer­den. Aber durch die­sen letz­ten Strich wur­de die Ver­gan­gen­heit selbst ge­tö­tet, mit dem noch im­mer pei­ni­gen­den Fra­ge­zei­chen ver­lösch­te zu­gleich der bes­te In­halt sei­ner Ju­gend, und das war es, was ihn bis­her von der al­ten Hei­mat zu­rück­ge­hal­ten hat­te. Erst der Ruf nach Chi­na mach­te dem Zau­dern ein Ende, jetzt muss­te die­ses Letz­te ge­sche­hen, ehe er in die ferns­te Fer­ne ging.

Thea! Thea! Thea! sag­te er im Ge­hen vor sich hin und schlürf­te be­gie­rig den Klang des Na­mens, den er seit neun­zehn Jah­ren sei­nem Ohr nicht mehr ge­gönnt hat­te. Denn seit die Trä­ge­rin sich von ihm schied, hat­te er es ver­mie­den, ihr auch nur im Mun­de der an­de­ren wie­der zu be­geg­nen. Seit­dem hat­te er wohl mehr als ei­ner Frau na­he­ge­stan­den, aber kei­ne hat­te mehr so wie jene den gan­zen Fritz Wes­ter­land be­ses­sen, son­dern nur ein Stück von ihm. Der viel­um­wor­be­ne, er­folg­rei­che Mann, der sich kei­ne Emp­find­sam­keit mer­ken ließ und das Le­ben zu meis­tern schi­en, ge­hör­te zu de­nen, die nur ein­mal lie­ben.

Auf dem alt­be­kann­ten Pfa­de wan­dernd, leg­te er sich die wun­der­li­che Fra­ge vor: Wenn man all die Stre­cken, die un­se­re Füße ge­mein­sam durch­schrit­ten ha­ben, zu­sam­men­le­gen könn­te, wel­che Mei­len­zahl das wohl er­ge­ben wür­de? Nun tauch­ten alle die Ber­ge und Tä­ler, die sie in lang­jäh­ri­ger Ju­gend­nei­gung sel­ban­der durch­streift hat­ten, vor sei­nem Geis­te wie­der auf, mit al­len ge­mein­sam ge­nos­se­nen Freu­den, be­son­ders der letz­ten und größ­ten ih­rer Freu­den, der Fuß­rei­se über den Gott­hard bis Ita­li­en hin­un­ter, die schon wie ein Vor­schmack der Hoch­zeits­rei­se war, denn wenn auch ein paar gute Ka­me­ra­den teil­nah­men, sie bei­de wa­ren doch im­mer wie un­ter vier Au­gen ge­we­sen. Wie hat­ten sie sich schwei­gend vor den Hei­lig­tü­mern der Kunst ver­stan­den, wenn den an­dern die oft ver­ständ­nis­lo­se Rede über­lief! – Dann aber, dann war das Un­be­greif­li­che, Nie­er­klär­te ge­sche­hen, Theas Ab­fall, dem kein Wink noch Zei­chen vor­an­ging, der ihn wie ein bren­nen­der Me­teor­stein zu Bo­den schlug: erst die ver­säum­te Zu­sam­men­kunft an der Bank un­ter der Ulme, die sie so oft bei­sam­men ge­se­hen hat­te, dann die un­be­ant­wor­te­ten Brie­fe, und der töd­li­che Schmerz, dass er ihre Ver­mäh­lung zu­erst durch Drit­te er­fuhr, ein ver­le­ge­ner Ab­schieds­gruß von ihr, den er nicht er­wi­der­te, und als letz­tes Ende zwi­schen bei­den: das tie­fe, le­bens­lan­ge Schwei­gen. Um die­ses zu bre­chen, be­vor es zum ewi­gen Schwei­gen wur­de, war er nun ge­kom­men, von ei­ner ver­söhn­ten in­ne­ren Mah­nung un­wi­der­steh­lich her­ge­zo­gen. Doch bei der un­ge­wohn­ten Mü­dig­keit, die alle Wan­der­lust aus sei­nen Glie­dern nahm, über­schlich es ihn mit wach­sen­der Ent­täu­schung, als sei sein Kom­men zweck­los und das Ziel, das er sich ge­setzt hat­te, die Auss­pra­che mit ihr, doch nicht mehr zu er­rei­chen.

Bei tief­ge­sun­ke­nem Abend ge­lang­te er end­lich auf eine vom Wald­ge­birg über­türm­te Hoch­flä­che, aber der Ort, den er such­te, war es nicht: kein be­bau­tes Tal öff­ne­te sich in der Tie­fe, viel­mehr ging der Blick in lau­ter be­wal­de­te Schluch­ten, worin schon Dun­kel­heit nis­te­te. Wohl aber stand in der Nähe ei­nes Stein­kreu­zes eine ver­wit­ter­te Bank, die in sol­che Ein­sam­keit nicht zu pas­sen schi­en, und die gan­ze Lich­tung war von ro­tem Hei­de­kraut freund­lich und ein­la­dend wie die Stät­te sei­ner Erin­ne­rung über­blümt. Von plötz­li­cher Schlaf­sucht be­wäl­tigt, ließ er sich auf die Bank sin­ken, und sein Kopf nick­te vorn­über. Gleich­zei­tig mein­te er aus wei­ter Fer­ne einen Glock­en­ton zu ver­neh­men. Er riss sich noch ein­mal in die Höhe und schau­te um­her: es war al­les fremd wie zu­vor, und er schloss aufs neue die Au­gen. Da traf ihn ein ro­ter Strahl des auf­ge­hen­den Mon­des durch den Lid­spalt, dass er auf­blick­te. Doch er wur­de so ver­wirrt wie ei­ner, der sich schla­fend im Bet­te um­ge­dreht hat und beim Er­wa­chen sich in sei­nem Zim­mer nicht zu­recht­fin­den kann, denn er war mit dem Berg­wald im Rücken ein­ge­nickt und hat­te jetzt den Mond im Ge­sicht, der über der Wal­dung auf­stieg, dass er sei­ne Um­ge­bung nicht mehr er­kann­te. In die­ser Be­nom­men­heit fiel ihm ein Baum am Wald­rand in die Au­gen, an dem et­was Wei­ßes wie ein Tä­fel­chen glänz­te. Auch schi­en dort ein Weg vom Berg her­un­ter auf die Lich­tung zu füh­ren. Er hoff­te also et­was wie einen Weg­wei­ser zu fin­den, er­hob sich noch halb­tau­melnd und ging auf die Stel­le zu. Im Mond­schein, der jetzt Hel­le ver­brei­te­te, las er über ei­nem Pfeil, der auf­wärts zeig­te, die Wei­sung: Zum Ber­ge Lat­mos.

Die Fremd­ar­tig­keit des Wor­tes, das kei­ne ein­hei­mi­sche Orts­be­zeich­nung sein konn­te, er­weck­te in dem Ver­irr­ten die Vor­stel­lung ei­ner na­hen Un­ter­kunft; viel­leicht war es der Name ei­ner Schutz­hüt­te oder ei­nes Ber­ga­syls. Dazu ge­sell­te sich der er­freu­li­che An­blick ei­nes ge­pfleg­ten Wald­wegs, der auf die Nähe ei­ner mensch­li­chen An­sied­lung deu­te­te. Un­ver­züg­lich schlug er die Rich­tung des Pfei­les ein, und schon nach we­ni­gen Schrit­ten wich der Wald­bo­den ei­nem schö­nen Wie­sen­grund mit Park­an­la­gen und flie­ßen­dem Was­ser, das von zwei Sei­ten über künst­li­che stei­ner­ne Trep­pen in ein edel­ge­form­tes Be­cken rann.

Wäh­rend er mit er­staun­ten Au­gen die un­er­war­te­te Fei­er­lich­keit und Groß­heit des Park­ein­gangs in sich auf­nahm, kam ihm von oben her­ab ein Mann in dunklem, kut­ten­ar­ti­gem Ge­wand, bar­häup­tig und mit Fü­ßen, die nackt in kräf­ti­gen San­da­len steck­ten, ent­ge­gen.

Fried­rich Wes­ter­land? frag­te der Be­geg­nen­de in ei­nem Tone, der die Be­ja­hung vor­aus­nahm. Du scheinst mich nicht zu ken­nen?

O ja, ge­wiss, ja­wohl, ent­geg­ne­te der An­kömm­ling mit ei­ner freu­di­gen Be­to­nung, die ihn selbst in Stau­nen ver­setz­te, weil sie über die an­ge­neh­me Emp­fin­dung, in der Berg­wild­nis ei­nem Men­schen zu be­geg­nen, hin­aus­ging, und so pein­lich ihm die falsche Lage war, in der er sich da­bei fühl­te, ver­hin­der­te ihn doch eine ihm ganz un­be­greif­li­che Be­fan­gen­heit, auf­rich­tig aus­zu­spre­chen, dass ihm zwar die Per­sön­lich­keit sehr be­kannt er­schi­en, dass er aber kei­nes­wegs wuss­te, wen er vor sich sah, und dass er nicht ein­mal ahn­te, wo­her die Be­kannt­schaft sich schrieb.

Und wie kommst du zu so spä­ter Stun­de in die­se Ein­sam­keit? frag­te der an­de­re in gü­ti­gem Ton.

Fritz Wes­ter­land er­klär­te, in­dem er die un­mit­tel­ba­re An­re­de mit dem ihm noch frem­den Du ver­mied, dass er die Bahn nach X. auf ei­ner der letz­ten Sta­tio­nen ver­las­sen habe, um über das Ge­birg die Stadt zu Fuße zu er­rei­chen, jetzt aber sehe, dass er ver­irrt sei.

Nach X. fin­dest du die­sen Abend nicht mehr, du bist gänz­lich aus der Rich­te. Es bleibt dir für heu­te nichts üb­rig, als mit ei­nem Nacht­la­ger auf ›Berg Lat­mos‹ vor­lieb­zu­neh­men.

O Sie sind – du bist sehr freund­lich, lie­ber Freund. Aber was be­deu­tet nur die selt­sa­me Be­zeich­nung ›Berg Lat­mos‹, die man zu ver­ste­hen glaubt und doch nicht ver­steht?

Je­ner lä­chel­te ei­gen.

Erin­nerst du dich nicht mehr aus der My­tho­lo­gie der Grie­chen an den ka­ri­schen Hir­ten am Ber­ge Lat­mos, zu des­sen Schlaf die Mond­göt­tin her­un­ter­stieg?

Fritz Wes­ter­land war in sei­nen Schul­jah­ren ein schwa­cher Grie­che ge­we­sen; be­son­ders die vie­len Göt­ter und Göt­tin­nen mit ih­ren zahl­lo­sen Lieb­schaf­ten konn­te er nie so recht aus­ein­an­der­hal­ten. Den­noch däm­mer­te ihm jetzt eine Erin­ne­rung auf, und er sag­te:

En­dy­mi­on!

Siehst du, dein Ge­dächt­nis ist bes­ser, als du sel­ber weißt, ant­wor­te­te der Un­be­kann­te auf den un­aus­ge­spro­che­nen Ge­dan­ken des Gas­tes. Nun, und dar­um nen­nen wir uns: Die vom Ber­ge Lat­mos.

Die­ses ›Da­rum‹ war dem Fra­ger voll­kom­men un­ver­ständ­lich, aber wenn er wei­ter­frag­te, ge­riet er in Ge­fahr, sich eine Blö­ße zu ge­ben. Also schwieg er und dach­te, wer die ›Wir‹ sein möch­ten, zu de­nen je­ner sich sel­ber rech­ne­te.

Vi­el­leicht ist es ein Ge­ne­sungs­heim im Wal­de, sag­te er sich, oder eine Er­zie­hungs­stät­te, wie man sie neu­er­dings in die Ein­sam­keit zu ver­le­gen liebt.

Je län­ger er ne­ben dem gast­li­chen Beglei­ter hin­schritt, de­sto be­kann­ter er­schi­en ihm des­sen Ge­sicht und We­sen, das ein mit Scheu ge­misch­tes Ver­trau­en ein­flö­ßte. Er sah ihn mit­un­ter for­schend von der Sei­te an, bald woll­te ihm die­ser, bald je­ner Zug ein ge­mein­sa­mes Er­leb­nis we­cken, aber er fand den Fa­den nicht, der aus die­sem Irr­gar­ten führ­te. Der an­de­re moch­te im glei­chen Le­bensal­ter ste­hen wie er selbst, doch in sei­nen Schul- und Hei­ma­terin­ne­run­gen kam die­ses Ge­sicht nicht vor. Sie muss­ten sich also auf spä­te­ren Le­bens­we­gen be­geg­net sein, aber die­se lie­fen bei Fritz Wes­ter­land so ver­schlun­gen, dass je­des Su­chen aus­sichts­los war, wenn ihm nicht eine plötz­li­che Er­kennt­nis vom Him­mel fiel.

Durch sie­ben hän­gen­de Gär­ten geht der Weg ins Haus, er­klär­te sein Füh­rer, wäh­rend sie zu­sam­men die brei­te stei­ner­ne Mit­tel­trep­pe hin­an­stie­gen, wir ha­ben sie­ben stu­fen­för­mi­ge Er­hö­hun­gen des Ber­ges da­für aus­genützt. Der ers­te ist der Gar­ten der Ver­hei­ßung, weil er zu­erst den ru­he­su­chen­den Wan­de­rer auf­nimmt und ihm ein si­che­res Ob­dach ver­spricht. Die­ser, den wir jetzt be­tre­ten ha­ben, heißt der Gar­ten des Ge­den­kens.

Eine hohe Mo­sa­ik­wand, die bo­gen­för­mig in den Berg ein­ge­wölbt und von der hö­her­füh­ren­den Trep­pe durch­bro­chen war, schloss die Platt­form nach oben ab und stütz­te zu­gleich den nächs­ten dar­über­lie­gen­den Gar­ten. Sie hat­te zur Rech­ten und Lin­ken der stei­ner­nen Trep­pe Ni­schen von mä­ßi­ger Tie­fe, worin männ­li­che und weib­li­che Stein­fi­gu­ren, bild­nis­haft und doch über das Men­sch­li­che hin­aus er­ho­ben, in idea­ler Ge­wan­dung stan­den. Da­zwi­schen si­cker­te aus Lö­wen­mäu­lern Was­ser in schön ge­schweif­te Be­cken. Schmä­le­re Trep­pen führ­ten in schö­ner Schwin­gung auf seit­li­che Gar­ten­ter­ras­sen hin­über, die zwi­schen hoch­stäm­mi­gen Wun­der­pflan­zen al­ler­hand sym­bo­li­sches Bild­werk aus grau­em Sand­stein tru­gen.

Mehr und mehr be­trof­fen von der Er­ha­ben­heit und dem Reich­tum die­ser An­la­gen, de­ren Be­sit­zer er sich als einen men­schen­freund­li­chen Na­bob vor­stel­len muss­te, konn­te der Wan­de­rer sich der Fra­ge nicht ent­hal­ten, wem denn der ›Berg Lat­mos‹ ge­hö­re.

Nimm an, dass ›Berg Lat­mos‹ eben­so dir ge­hört wie ir­gend­ei­nem an­dern, der hier Auf­nah­me sucht, war die Ant­wort. Wir, die das Haus be­woh­nen, sind nur sei­ne Hü­ter.

Der Be­su­cher schwieg be­schämt, er mein­te eine un­ge­heu­er­li­che Dumm­heit ge­sagt zu ha­ben.

Hier ge­dul­de dich ein we­nig, Fried­rich Wes­ter­land, ich muss die Brü­der auf dein Kom­men vor­be­rei­ten.

Kaum dass der Füh­rer dies ge­spro­chen hat­te, war er weg und nir­gends mehr zu se­hen. Der Gast be­trach­te­te auf­merk­sam die Stand­bil­der in den Ni­schen; sie er­in­ner­ten ihn, aber nur von fer­ne, an die Len­ker und Len­ke­rin­nen sei­ner Ju­gend, de­nen er, wie so man­chen Spä­te­ren, den Dank für ihre Wohl­ta­ten schul­dig ge­blie­ben war. Da der Bru­der noch im­mer nicht zu­rück­kam, setz­te er sich auf den Rand ei­nes Be­ckens, das der Vor­der­sei­te ei­nes mit Blu­men über­schüt­te­ten of­fe­nen Säu­len­baus vor­ge­la­gert war, die fla­che, vor­sprin­gen­de Stu­fe mit sei­nem dunklen Was­ser be­spü­lend. Ein sil­ber­ner Strahl stieg dar­in auf, der sich in drei Strah­len teil­te und beim Zu­rück­fal­len eine durch­sich­tig-wei­ße Geis­ter­li­lie bil­de­te, vom Mond­licht glei­ßend be­schie­nen. Als der Spring­quell für einen Au­gen­blick ver­sieg­te und die Flä­che sich glät­te­te, war es dem Be­schau­er, als tauch­te aus grün­gol­de­ner Däm­me­rung ein von trie­fen­dem Haar über­flos­se­nes Frau­en­haupt em­por und ein Ober­kör­per, der sich ihm ent­ge­gen­reck­te, aber kraft­los zu­rücksank. Dann stieg die Li­lie wie­der auf, und das wal­len­de Was­ser ver­lösch­te das Bild. Es war nicht das Haupt, das er so lan­ge ge­liebt hat­te und um des­sent­wil­len er aus­ge­zo­gen war. Un­säg­li­che Weh­mut über­wäl­tig­te ihn, und Trä­nen stürz­ten aus sei­nen Au­gen, sie gal­ten sei­ner Ohn­macht, ein neu­es Glück, das ihn such­te, zu fas­sen und fest­zu­hal­ten. Ein Vo­gel warf sei­nen kur­z­en Abend­ge­sang wie eine Auf­for­de­rung in die tie­fe Stil­le. Fritz Wes­ter­land stand auf und blick­te sich nach dem Sän­ger um, der un­ter dem Säu­len­dach zu nis­ten schi­en. Da­bei ent­deck­te er im In­nern des Tem­pel­chens ein schön durch­bro­che­nes Mar­mor­ge­län­der, das ihm ent­ge­genglänz­te. Er fand eine Trep­pe im Bo­den, stieg meh­re­re Stu­fen hin­un­ter, wo­bei er in einen dunklen Gang ge­riet, der sich nach ab­wärts senk­te, an ei­ner Ecke scharf um­bog und in noch tiefe­rer Fins­ter­nis wei­ter­führ­te, bis an ei­ner zwei­ten Ecke ein Strom von Licht her­ein­fiel und vor dem Er­staun­ten sich der Gar­ten des Pa­ra­die­ses auf­tat: ein Wie­sen­grund mit tau­send Blu­men be­stickt, der auf eine zau­be­ri­sche Früh­lings­land­schaft nie­der­sah, weiß­stäm­mi­ge Bir­ken im ers­ten zar­ten Len­zes­schmuck hü­gel­an stei­gend wie jun­ge Bräu­te, die zur Kir­che ge­hen, und schön ge­ord­ne­te Bee­te von leuch­ten­der Blu­men­fül­le un­ter ei­nem Him­mel der Ver­klä­rung. Un­mög­lich, bei die­sem An­blick nicht an Ju­gend und Lie­be zu den­ken.

Ein Tö­nen weh­te ihn an, worin Ju­bel und Weh zu­sam­men­klan­gen: Liebs­ter!

Thea! Thea! Wo bist du? – rief er au­ßer sich. – Hier bin ich, hier, ant­wor­te­te es wie aus ei­ner Äols­har­fe. Er sah zwei Au­gen vor sich, und lang­sam bil­de­ten sich sei­ner er­schaf­fen­den Sehn­sucht aus der durch­hell­ten Luft Züge und Ge­stalt der Ein­zi­gen.

Du! Du! End­lich! hauch­te er mit ver­sa­gen­dem Atem, ohne sich zu rüh­ren.

End­lich! End­lich! kam es eben­so zu­rück.

Kein Wort wei­ter, kein Kuss, kei­ne Umar­mung, nur die Au­gen, die in­ein­an­der fest­hin­gen, durs­tig, un­er­sätt­lich, wie um neun­zehn Jah­re der Ent­beh­rung nach­zu­ho­len, ein end­lo­ses Ge­gen­über. Sie re­de­ten nicht mit Lau­ten der Spra­che zu­ein­an­der, aber sie ver­stan­den ei­nes das an­de­re.

Thea! Thea! Thea! – Fried­rich! Mein, mein Fried­rich!

Thea hat­te nie die un­ter den Freun­den bräuch­li­che Ab­kür­zungs­form sei­nes Na­mens ge­liebt, weil ihr je­der Buch­sta­be kost­bar war, denn in je­dem web­te es wie ein Teil von ihm. Fritz Wes­ter­land, den alle such­ten, ge­hör­te der Welt, ihr Fried­rich ge­hör­te nur sei­ner Thea.

Wie jung du ge­blie­ben bist, Thea, und wie schön!

Auch du bist jung, Fried­rich, weißt du es nicht? Dies ist ja der Gar­ten der Ju­gend.

Und doch sehe ich et­was Neu­es in dei­nen Zü­gen, Thea. Es steht dir schön, aber ich kann­te es frü­her nicht.

Der Schmerz, Fried­rich.

Lei­dest du Schmer­zen, Thea?

Du kannst fra­gen, Fried­rich? Ver­lo­re­ne Lie­be, ver­lo­re­nes Le­ben.

Ach warum, Thea, warum muss­te das ge­sche­hen? Lieb­test du den an­de­ren?

Nie­mals.

Und doch, Thea?

Du kennst das Mit­leid nicht, das die tiefs­te Schwä­che des Frau­en­her­zens ist?

Mit­leid habe ich für die Hilflo­sen, für die stam­meln­de Kind­heit und das ge­brech­li­che Al­ter; sonst ken­ne ich nur die Ehr­furcht vor der Kraft.

Aber das Un­glück, Fried­rich?

Von dem Un­glück hal­te ich mich fer­ne, gleich­falls aus Ehr­furcht.

Das Herz der Frau emp­fin­det an­ders, Fried­rich. Wenn ein Ero­be­rer ihr Kro­nen bringt und sie sieht den Bet­tel­mann am Wege ste­hen, – Fried­rich, er kann sie mit ei­nem Bli­cke zwin­gen, in sei­ne Köt­ze zu sprin­gen wie im Mär­chen, das wir zu­sam­men la­sen.

Thea! Thea! Ich kann dich so nicht re­den hö­ren. Lass mich lie­ber dich an­schaun und das Ge­sche­he­ne ver­ges­sen.

Ver­giss es, Ge­lieb­ter.

Nur das eine musst du mir noch sa­gen, wann es ge­sche­hen ist, Thea, das Un­be­greif­li­che. Ich ahn­te ja nichts von al­lem.

Weißt du nicht mehr un­se­re letz­te Jo­han­nis­nacht?

Als ob ich die ver­ges­sen könn­te!

Wir tanz­ten um den flam­men­den Holz­stoß, die Mäd­chen mit lan­gen far­bi­gen Schlei­ern. Du warst ein wil­der Tän­zer an je­nem Abend. Stier­hör­ner trugst du auf dem Kopf und schwar­zes Sei­den­ge­we­be eng auf dem Leib, über das du einen ro­ten Man­tel ge­schla­gen hat­test. Ein jun­ger Sieg­fried warst du. Alle Mäd­chen blick­ten dir nach, wenn du dich durch die Rei­hen schlangst.

Und ich sel­ber sah nur die Eine.

Die Glut war noch kaum ge­sun­ken, da tra­test du zu mir und botst mir die Hand, um als die ers­ten durch die Flam­me zu sprin­gen. Mein blau­er Schlei­er und dein ro­ter Man­tel feg­ten zu­sam­men über das Feu­er, dass uns ein lan­ger Schre­ckens­schrei der Zuschau­er be­glei­te­te, aber mit ei­nem Sieg­friedss­prung brach­test du mich heil hin­über, und kein Fä­ser­chen mei­nes Ge­wan­des war ver­sengt. Ich hat­te nicht dar­an ge­zwei­felt.

Weil du und ich wie die zwei Flü­gel ei­nes Vo­gels wa­ren.

Nein, die Ge­schick­lich­keit war nur dei­ne. Ein Rausch des Le­bens hat­te dich er­fasst, du sprangst wie­der und wie­der, und im­mer trugst du einen der far­bi­gen Schlei­er mit dir. Alle wa­ren sie be­reit, dir zu fol­gen, kei­ne zö­ger­te auch nur se­kun­den­lang. Kaum dass die an­de­ren jun­gen Män­ner sich gleich­falls zu dem Sprung ent­schlos­sen, da tra­test du schon mit zwei Beglei­te­rin­nen vor, an je­der Hand eine, und trotz dem War­nungs­ruf der Al­ten sprangst du mit bei­den heil durch die Flam­men.

War es das, was dich ver­letz­te, dass ich auch mit den an­dern sprang?

Nein, o nein, ich sah dir mit Stolz und Freu­de zu. Aber da war et­was, das mir zu­raun­te, dass du mei­ner nicht be­dür­fest, dass du der jun­ge Sieg­fried seist, der Son­nen­sohn, dem al­les zu­fällt und für den es nichts Ver­sag­tes gibt. Und im Dun­kel der ho­hen Ulme, Fried­rich, stand ein an­de­rer, ei­ner, der mein be­durf­te, der we­nigs­tens glaub­te, mei­ner zu be­dür­fen, und der mir die­sen Glau­ben bei­brach­te.

Der dia­bo­li­sche Gei­gen­mann?

Du magst ihn so nen­nen. Du konn­test sei­ne Mu­sik nicht lie­ben, du, der du nur Son­ne und Klar­heit liebst. Mir sprach sie von der Nacht­sei­te des Le­bens, wo der an­de­re Teil mei­nes We­sens wur­zelt, von all den Din­gen, von de­nen ich zu dir nicht spre­chen durf­te. Und von ei­nem großen Lei­de, das auf ihm lag. Er geig­te mir das Herz ent­zwei, er geig­te sich in alle mei­ne Träu­me. Seit Mon­den war es so, du sahst es nicht in dei­ner Si­cher­heit. Je­ner Abend soll­te mich von dem Bann er­lö­sen, ich such­te Schutz in dei­ner Nähe, aber ge­ra­de je­ner Abend riss uns von­ein­an­der.

Sen­ta und der Hol­län­der! sag­te Fried­rich bit­ter.

Er war ein großer Künst­ler, Fried­rich, aber ein kran­ker Mensch.

Als einen großen Ko­mö­di­an­ten kann­ten ihn alle.

Er war kein Ko­mö­di­ant, nur ein Op­fer sei­nes Wahns. Aus den Tö­nen, die er form­te, floss es in sei­ne Ein­bil­dung hin­über und füll­te sie mit dä­mo­ni­schen Schre­cken oder mit wil­der bac­chan­ti­scher Lus­tig­keit. Und in mir war et­was, das die­ses Ra­sen von Pol zu Pol ver­stand. So glaub­te ich, sei­ner großen Kunst das Op­fer mei­nes Glückes brin­gen zu müs­sen.

Und an je­nem Abend?

Du konn­test dich vom Zau­ber des Feu­ers nicht tren­nen, ich war zu Hau­se er­war­tet, so brach­te er mich al­lein durch den Wald. Und er sprach mir von dir, mein Fried­rich.

Der Elen­de, er hat mich bei dir ver­leum­det.

Nie, o nim­mer­mehr. Kei­ner hat je­mals schö­ner von dir ge­spro­chen. Du seist der Glück­lich­ge­bo­re­ne, sag­te er, der den Rhyth­mus des Siegs schon in den Glie­dern tra­ge, der Mann der Tat, der Rei­che in sich selbst, der kei­nes an­dern be­dür­fe. Es wa­ren mei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken, die er mir zu hö­ren gab. Hat­te er sie mir, hat­te ich sie ihm un­wis­send ein­ge­ge­ben? Dann sprach er vom Rech­te des Un­glücks und dass die große Kunst sich vom großen Schmerz näh­re. Und er nann­te mich das Schäf­chen des ar­men Man­nes. Da ward sei­ne dunkle Ge­walt mäch­ti­ger über mir. An je­nem Abend, Fried­rich, ha­ben wir uns für im­mer ver­lo­ren.

Aber warum kein Wort, kein Ab­schied, warum die ver­säum­te Zu­sam­men­kunft?

Weil mein Herz ge­spal­ten war, weil ich dir nicht mehr ins Auge se­hen konn­te.

Und dann? Wie ward es dann?

Dann ward es wie es wer­den muss­te: ich war an einen Geis­tes­kran­ken ge­fes­selt, des­sen Ir­re­sein ich vor der Welt ver­ber­gen muss­te und der mich selbst an die Gren­ze des Irr­sinns trieb.

Arme, un­glück­li­che Thea!

Ich war es durch zehn lan­ge Jah­re, ehe ich Wit­we ward.

Und jetzt, Thea, jetzt?

Jetzt ste­he ich am Ziel und bin glück­li­cher, als ich je­mals noch zu hof­fen wag­te, denn ich habe dich und mei­ne Ju­gend wie­der­ge­se­hen.

Aufs neue blick­ten sie sich lan­ge und schwei­gend in die Au­gen. Die blas­se Ge­stalt wur­de im­mer bläs­ser. Am Ende frag­te sie:

Du trägst kei­nen Ring, Ge­lieb­ter?

Ich konn­te mich nie mehr zu ei­nem dau­ern­den Bund ent­schlie­ßen.

Tu es, Fried­rich. Dein Herz ist nicht ge­schaf­fen, um al­lein zu sein.

Der große Ver­lust hat mich für im­mer zum Ein­sa­men ge­macht.

Es gibt Bes­se­re als mich, Fried­rich, und Wei­se­re. Ich weiß, dass du ge­liebt bist, und du wirst noch glück­lich wer­den.

Er schüt­tel­te lei­se das Haupt.

Was ist die­ser Berg Lat­mos, wo wir uns ge­fun­den ha­ben, für ein Ort? Ist es ein Schloss? Ist es das dei­ne? frag­te er.

Ich kam hier­her als Ver­irr­te und wur­de auf­ge­nom­men wie du.

Ist denn der Berg Lat­mos ein Asyl?

Für sol­che, die vom Lei­den Er­lö­sung su­chen.

Also eine Heil­stät­te?

Er ist auch die­ses.

Und die sie­ben Gär­ten, von de­nen mein Füh­rer sprach?

Durch den Gar­ten der Ver­hei­ßung tra­test du ein und den Gar­ten des Ge­den­kens hast du durch­wan­dert. Jetzt stehst du in dem der Ju­gend, der der schöns­te ist von al­len, du hast dich noch kein ein­zi­ges Mal nach sei­nem Ro­sen­wald und Schwa­nen­wei­her um­ge­schaut.

Weil du mir al­les bist, Ju­gend und Ro­sen­wald und Schwa­nen­wei­her.

Jetzt aber, Fried­rich, wird der Bru­der kom­men, der mich in den nächs­ten, in den des Schwei­gens, führt.

Wer ist der Bru­der, sag’ es mir, Ge­lieb­te. Sein An­ge­sicht scheint mir be­kannt, und doch weiß ich mich nicht auf ihn zu be­sin­nen.

So er­scheint er al­len, die er zu füh­ren kommt.

Ist er Arzt? – Leh­rer? – Pries­ter?

Eine Ve­rei­ni­gung von al­len drei­en.

Wie hei­ßen die Gär­ten, die auf den des Schwei­gens fol­gen?

Des Er­wa­chens und des Er­ken­nens. Der letz­te, sie­ben­te, wird nicht ge­nannt.

Wird der Bru­der uns durch alle füh­ren?

Das zu fra­gen ist uns nicht ge­stat­tet.

Noch nie hat mir ein Mensch so tie­fes Ver­trau­en ein­ge­flö­ßt wie die­ser Bru­der.

Du darfst dich ihm ganz er­schlie­ßen. Aber nie­mals wirst du ihm et­was von dir sa­gen kön­nen, was er nicht schon wüss­te.

Die wei­ße Ge­stalt war jetzt so blass, dass ihre Um­ris­se kaum noch er­kenn­bar blie­ben, und ihre Stim­me klang wie eine hin­ster­ben­de Flö­te. Als der Bru­der zu ih­nen trat, sank sie ohn­mäch­tig in sei­ne Arme.

Sie will jetzt ein­schla­fen, las­sen wir sie al­lein, sag­te die­ser.

Wird sie denn wie­der auf­wa­chen? frag­te der Be­su­cher angst­voll.

Sie wird, das ist ganz ge­wiss.

Fried­rich woll­te ihm hel­fen, die Hin­ge­sun­ke­ne zu tra­gen, die der Bru­der leicht wie eine Fe­der auf­hob, aber die­ser wehr­te ab:

Berüh­re sie nicht, du wür­dest sie er­we­cken. Sie braucht jetzt nichts an­de­res mehr als Ruhe.

Du hast uns bei­den die tiefs­te Wohl­tat er­wie­sen, Bru­der. Wie kann ich dir dan­ken?

Dan­ke mir nicht, denn zum Hel­fen sind wir da.

Der Bru­der be­schleu­nig­te sei­nen Gang mit der ohn­mäch­ti­gen Frau auf den Ar­men, aber Fried­rich Wes­ter­land folg­te ihm auf den Fer­sen eine neue Trep­pe hin­an, bis sich eine bron­ze­ne Tür im Ge­stein öff­ne­te, um den Bru­der ein­zu­las­sen.

Blei­be hier und ruhe auch du, sag­te der Hel­fer, die Schwel­le mit sei­ner Last be­tre­tend.

Fried­rich hasch­te nach sei­nem ent­schwe­ben­den Rock­flü­gel.

Ist denn Hoff­nung für sie, Dok­tor? frag­te er.

Der an­de­re wand­te sich noch ein­mal um:

Un­se­re Hoff­nung steht bei der bes­ten Hoff­nung, lä­chel­te er ge­heim­nis­voll.

Fried­rich Wes­ter­land stand al­lein vor ei­ner stei­ner­nen Mau­er, über die Sinn­grün und Myr­ten nie­der­hin­gen. Von ei­ner Tür war nichts mehr zu se­hen. Und auch der Gar­ten war kein Gar­ten mehr, son­dern ein hoch­ge­wölb­ter Kup­pel­saal mit leuch­ten­dem De­cken­ge­mäl­de, das den tief­blau­en Nacht­him­mel mit den in Gold ge­mal­ten Ge­stal­ten des Tier­krei­ses dar­stell­te.

Wo habe ich sol­che De­cken­bil­der schon ge­se­hen? grü­bel­te er und konn­te die Ant­wort nicht fin­den. Aber plötz­lich sah er sich als Jüng­ling mit Thea und den an­dern Rei­se­ka­me­ra­den im Schlos­se von Man­tua, das er seit­dem nicht wie­der be­sucht hat­te, und hör­te Thea sa­gen: Eine sol­che De­cke muss auch ein­mal über un­se­rem Schlaf­zim­mer sein – und ver­nahm sei­ne ei­ge­ne Stim­me, die zur Ant­wort gab: Du sollst es nicht schlech­ter ha­ben, als Isa­bel­la von Este.

Ein kö­nig­li­ches Bett mit schwe­ren, weit zu­rück­ge­schla­ge­nen Fal­ten stand nach herr­schaft­li­chem Brauch, nur mit dem Kop­fen­de die Wand be­rüh­rend, frei im Raum, sonst war kein an­de­res Gerät­stück vor­han­den. Ehe er in den köst­li­chen sei­de­nen Kis­sen ver­sank, öff­ne­te er noch ein­mal weit die Au­gen, denn oben fiel der Schein des Mon­des auf ein wun­der­vol­les Ge­mäl­de, das er taghell er­leuch­te­te. Es war die Mond­göt­tin, in wei­ße, durch­sich­ti­ge Schlei­er gehüllt, wie sie mit der gol­de­nen Si­chel auf der Stirn, die eine Hand aus­ge­streckt, mit der an­de­ren die Fa­ckel hal­tend, aus dunk­ler Bläue zu dem schla­fen­den Hir­ten nie­der­schweb­te. Das gan­ze Ge­mäl­de war leicht wie eine Zeich­nung auf die Wand ge­haucht, die spinn­web­dün­nen Schlei­er der Se­le­ne, von zar­ten Gold­fä­den ein­ge­säumt, lie­ßen eine gött­lich er­ha­be­ne, über­sinn­lich keu­sche Nackt­heit durch­schei­nen, vom Bo­den reck­ten sich ge­heim­nis­vol­le tro­pi­sche Blu­men von traum­haf­ter, aber durch­sich­tig zar­ter Far­benglut steil em­por, um mit weit ge­öff­ne­ten Kel­chen das Mond­licht zu trin­ken, der schö­ne Schlä­fer aber lag halb­aus­ge­streckt, mit ei­nem Arm un­ter dem Kopf, auf ro­ter De­cke, und sein Hund mit gelb­li­chem Zot­tel­haar bell­te auf­ge­regt der Licht­ge­stalt ent­ge­gen. Wie von ei­nem jä­hen Blitz in­ner­lich er­hellt, ver­stand Fried­rich Wes­ter­land mit ei­nem­mal die Be­deu­tung der Sage, und sei­ne Lip­pen mur­mel­ten: Im Traum ent­hüllt sich das Ver­bor­ge­ne –, noch ehe er die In­schrift un­ter dem Bild ge­le­sen hat­te: Som­nio pa­tent oc­cul­ta. Dann ver­sank er in die Kis­sen, wäh­rend ihm die Züge Theas mit de­nen der Mond­göt­tin ver­schmol­zen.

Er er­wach­te an ei­nem Licht­schein, der durch sei­nen Lid­spalt fiel. Wie ist das mög­lich? dach­te er, der Mond steigt über dem Wald em­por, ge­nau so wie im Au­gen­blick, wo ich mich er­hob, um den Berg Lat­mos zu be­tre­ten. Ich habe also eine Nacht und einen vol­len Tag durch­ge­schla­fen.

Die tie­fe Er­qui­ckung, die er emp­fand, mach­te die­se An­nah­me sehr wahr­schein­lich. Aber da er sich nun im Bett auf­stütz­te, griff er statt ei­nes wei­chen Pfühls an har­tes Holz. Als er sich vollen­de auf­rich­te­te, fand er sich auf ei­ner zer­morsch­ten Holz­bank in der Nähe ei­nes stei­ner­nen Kreu­zes sit­zend, und hin­ter ihm stand der ent­laub­te und halb­ver­kohl­te Stamm ei­ner vom Blitz ge­spal­te­nen Ulme. Un­ten im Tale aber schwan­gen die Glo­cken wie im Au­gen­blick sei­nes ers­ten Ein­schla­fens auf die­ser Bank und ver­kün­de­ten, eine um die an­de­re, die zehn­te Stun­de. Der Mond hob, so­bald er hö­her ge­stie­gen war, ein Häu­ser­ge­brei­te mit Kirch­turm und Schloss­rui­ne aus der nächt­li­chen Er­trun­ken­heit.

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