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Ein großer deutsch-deutscher Schicksalsroman, lebensnah und herzenswarm erzählt Nach einer gescheiterten Beziehung zieht Annabel nach Rügen. Im Hafen von Sassnitz entdeckt sie den alten Kutter »Sturmrose«. Für sie bedeutet er die Hoffnung auf eine neue Zukunft. Sie will das Schiff restaurieren und ein Café daraus machen. Bei den Renovierungsarbeiten findet sie einen Brief: Vor über dreißig Jahren hat die »Sturmrose« einer jungen Frau zur Flucht aus der DDR verholfen. Annabel geht dem bewegenden Schicksal nach und begegnet dabei Christian, dessen Geschichte eng mit dem Kutter verbunden ist. Gemeinsam suchen sie nach der Frau von damals. Annabel ahnt nicht, welche besondere Bedeutung die »Sturmrose« für ihr eigenes Leben hat. **Die berührende Liebes- und Fluchtgeschichte ist Corina Bomanns persönlichster Roman.** Der Bestseller in wunderschöner Neuausstattung.
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Die Sturmrose
CORINA BOMANN ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und hat schon immer geschrieben. Mittlerweile ist sie eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen. Immer wieder begeistert sie ihre Leserinnen mit großen dramatischen Romanen und Heldinnen, die etwas Besonderes erreichen. Ihre Romane werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind internationale Bestseller. Sie wohnt in Berlin.www.corinabomann.de
Von Corina Bomann sind in unserem Hause bereits erschienen:Die Schmetterlingsinsel · Der Mondscheingarten Die Jasminschwestern · Das Zimmer über dem Meer Die Sturmrose · Das Mohnblütenjahr · Sturmherz Agnetas Erbe. Die Frauen vom Löwenhof 1 Mathildas Geheimnis. Die Frauen vom Löwenhof 2 Solveigs Versprechen. Die Frauen vom Löwenhof 3 Sophias Hoffnung. Die Farben der Schönheit 1 Sophias Träume. Die Farben der Schönheit 2 Sophias Triumph. Die Farben der Schönheit 3 Ein zauberhafter Sommer Eine wundersame Weihnachtsreise · Winterblüte · Winterengel
Nach einer gescheiterten Beziehung zieht Annabel nach Rügen. Im Hafen von Sassnitz entdeckt sie den alten Kutter »Sturmrose«. Für sie bedeutet er die Hoffnung auf eine neue Zukunft. Sie will das Schiff restaurieren und ein Café daraus machen. Bei den Renovierungsarbeiten findet sie einen Brief: Vor über dreißig Jahren hat die »Sturmrose« einer jungen Frau zur Flucht aus der DDR verholfen. Annabel geht dem bewegenden Schicksal nach und begegnet dabei Christian, dessen Geschichte eng mit dem Kutter verbunden ist. Gemeinsam suchen sie nach der Frau von damals. Annabel ahnt nicht, welche besondere Bedeutung die »Sturmrose« für ihr eigenes Leben hat. Ein großer deutsch-deutscher Schicksalsroman, lebensnah und herzenswarm erzählt
Corina Bomann
Roman
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Getty Images / © Jeera; Getty Images /© Eric Schallow / EyeEmAutorenfoto: © Nadja KlierE-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-8437-0968-2
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
1. Teil
Annabel
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
2. Teil
Das Schiff
14
15
16
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18
19
20
21
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29
30
3. Teil
Der Brief
31
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33
34
35
36
Epilog
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Die Frau hatte es sich in einem schon etwas ramponierten Sessel am Fenster gemütlich gemacht. Das kurzgeschorene Haar verbarg sie unter einem grünen Tuch, ihr magerer Körper verschwand beinahe unter einem beigefarbenen Leinenkleid. Neben ihr, auf einem kleinen Tisch, stand ein Kassettenrekorder.
Da sie schon seit einer Weile nichts mehr gesagt hatte, streckte sie eine Hand aus und schaltete das leise summende Gerät ab.
Kaum zu glauben, dass ein Kassettenrekorder mittlerweile ein Relikt aus alten Zeiten ist, dachte sie. Damals hatten junge Leute alles dafür getan, um einen zu bekommen. Stundenlang angestanden, Westverwandtschaft bekniet, Verkäuferinnen bestochen. Gegen einen Mangel gekämpft, den man sich mittlerweile gar nicht mehr vorstellen konnte.
Heutzutage hatte jedermann einen MP3-Player oder ein Handy, das ihm Musik vorspielte. Die Läden waren voll davon.
Die Frau konnte der sich immer schneller entwickelnden Technik allerdings nicht mehr viel abgewinnen. Sie mochte es lieber altmodisch. Besonders, wenn es um so etwas Wichtiges ging wie ihr Anliegen, das ihr bereits seit Jahren auf der Seele brannte.
Sprache konnten diese modernen Geräte auch aufnehmen, ja, aber wie gab man sie weiter? Mailte man sie einfach? Das erschien ihr schrecklich unpersönlich. Früher hatte man seinem Freund oder seiner Freundin als Zeichen der Zuneigung noch ein sorgsam aus dem Radio aufgenommenes Mixtape geschenkt. Jetzt mailte man einfach eine Playlist. So veränderte sich eben alles.
Umso mehr hatte es sie gewundert, dass man ihr noch einen Rekorder hatte besorgen können. Ein Freund hatte ihn bei einem seiner Besuche auf den Tisch gestellt.
»Was willst du eigentlich damit?«, hatte er gefragt.
»Ein Denkmal hinterlassen«, hatte sie lächelnd geantwortet, denn dem Freund war nicht klar gewesen, in welcher Lage sie sich befand.
Ihre Welt war in den vergangenen Jahren klein geworden, sie wartete eigentlich nur noch. Auf den richtigen Moment, den richtigen Tag, auf Briefe, auf Besuche. Es hatte unglaublich lange gedauert, bis sie den alles entscheidenden Brief erhalten hatte.
Doch er war gekommen und hatte eine Kette von Ereignissen ausgelöst. Diese Ereignisse waren nun an ihrem Höhepunkt angelangt.
Sie öffnete das Kassettendeck und nahm die Kassette heraus. Im Grunde war das, was sie da geschaffen hatte, auch ein Mixtape. Das Mixtape eines Lebens. Sie hatte nicht alles erzählt, nur den Teil, der wichtig war. Manches Geheimnis musste ein Mensch auch mit ins Grab nehmen.
Sie ließ ihren Blick über den Tisch schweifen, zu dem Papierstapel, der auf der kleinen Kommode lag. Die Kopien hatten ihr geholfen, ihre Erinnerungen zu ordnen.
Und sie hatte einen Brief verfasst. Dieser lag auf dem Stapel, adressiert und frankiert. Sie brauchte ihn nur noch in die Post zu geben.
Dann begann das Warten von vorne. Etwas Zeit hatte sie noch. Nicht viel, aber mit ein wenig Glück würde es reichen, längst Vergangenes endlich zu erklären. Die Wahrheit ans Licht zu holen. Und das, was sie schon viel zu lange hinausgezögert hatte, endlich zu Ende zu bringen.
Der Anblick des Hauses hatte mich schon bei der ersten Besichtigung gefangen genommen. Holundersträucher und Brombeerhecken säumten den vorderen Hof, Rosenranken schlängelten sich an der Veranda hinauf zum kunstvoll verzierten Holzgiebel.
In den vergangenen drei Monaten hatte ich mir ausgemalt, wie es wäre, hier einzuziehen, mit meiner Tochter am Strand spazieren zu gehen und Muscheln zu sammeln, frei vom Ballast der letzten katastrophalen Jahre und einer Vergangenheit, die ich aus Angst verdrängt hatte.
Nun war es so weit. Der Mietvertrag war unterschrieben, die Besitzer erwarteten mich. Ich war aufgeregt wie vor meinem ersten Date.
»Mama, sind wir da?«, fragte es vom Rücksitz her. Leonie, mein kleiner Engel, hatte den Großteil der Fahrt schlafend verbracht, immerhin waren wir bereits in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen. Jetzt gähnte sie und streckte sich.
»Ja, mein Schatz, wir sind da«, antwortete ich und zog den Zündschlüssel. Unter der Motorhaube des Volvos tickte es leise. Obwohl der Wagen schon mehr als fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatte, war die Fahrt von Bremen nach Binz reibungslos verlaufen.
Nachdem meine Ehe gescheitert war, hatte ich ihn gekauft, vorrangig, weil er zuverlässig war und viel transportieren konnte. Jan hätte den Kopf geschüttelt. Doch seine Meinung war nicht mehr wichtig. Ich versuchte, sie hinter mir zu lassen, wie ich auch alle materiellen Dingen in Bremen zurückgelassen hatte.
Ich stieg aus und befreite Leonie aus ihrem Kindersitz.
»Schau mal, das ist unser neues Haus. Ist das nicht ein schöner großer Garten zum Spielen?«
Leonies Augen weiteten sich erstaunt, und sie nickte.
Der Garten, den ein weißer Lattenzaun vom Hof trennte, war ein kleines Paradies, um das uns jedes Gartenmagazin beneiden würde. Es gab Lauben aus verschiedenen einheimischen Hölzern und Rabatten, deren Bepflanzung beinahe zufällig wirkte. Die Wege führten an dichten Rosenbüschen und einem kleinen Kräutergarten vorbei.
Ich konnte noch immer nicht begreifen, warum das Ehepaar Balder dieses Haus verlassen und in den Süden ziehen wollte.
»Wird Papa uns denn hier auch besuchen?«
Leonies Frage holte mich jäh aus meinen Gartenträumen zurück. Manchen Dingen konnte man nicht entgehen.
Meine Tochter vermisste ihren Vater sehr. Immer wieder hoffte sie darauf, dass er sie besuchen würde – und immer wieder tat es mir in der Seele weh, sie belügen zu müssen, wenn ich ihr versprach, dass er kommen würde. Doch was sollte ich machen? Ihr sagen, dass ihr Vater zwar Unterhalt zahlte, aber nicht daran interessiert war, mit ihr zu sprechen und sie zu sehen?
Die monatlich eingehende Summe auf meinem Konto war das einzige Lebenszeichen von ihm, seit wir uns im Gericht voneinander verabschiedet hatten. Das war ein Jahr her. Er hatte seitdem nicht mal angerufen, um sich nach Leonie zu erkundigen. Auch an ihrem Geburtstag nicht. Er hatte die Zahlung des Unterhalts in die Wege geleitet, und damit war für ihn die Sache erledigt gewesen.
»Vielleicht besucht er uns«, antwortete ich, meine bitteren Gefühle verdrängend, und hoffte, dass Leonie mir mein Lächeln abnahm. Meine Tochter drückte mich und sprang dann aus dem Auto.
Als ich mich umwandte, kam uns der Vermieter entgegen.
August Balder, früher einmal Kapitän eines Handelsschiffes, doch mittlerweile seit zehn Jahren im Ruhestand. Mit dem Karohemd, das er zur Cordhose trug, wirkte er eher wie ein Gärtner, nicht wie ein Seemann.
Glücklicherweise war die Inneneinrichtung des Hauses auch nicht besonders maritim. Ich mochte den schlichten Stil und war deshalb gar nicht unglücklich darüber, dass sie die Möbel zurückließen. In Bremen hatte ich nach dem Auszug aus Jans Haus ebenfalls möbliert gewohnt, es war für mich also kein Problem. Die Sachen, die ich behalten hatte, passten in ein paar Umzugskartons, die schon vor einigen Tagen als Beiladung mit einem Transport vorausgeschickt worden waren und die die Balders freundlicherweise für mich angenommen hatten.
»Ah, da sind ja die beiden Deerns!«, rief er, während er die Gartenpforte öffnete.
»Guten Tag, Herr Balder!«, rief ich und winkte, dann nahm ich Leonie bei der Hand und ging zu ihm.
»Hatten Sie eine gute Reise?« Balder reichte mir die Hand.
»Ja, eine sehr gute sogar!«, antwortete ich. »Sogar der Rügendamm war heute mal leer.«
»Sie haben eine gute Zeit abgepasst.« Der Mann blickte auf seine Armbanduhr. »Der Berufsverkehr ist seit zwei Stunden durch. Sie sind sicher mitten in der Nacht losgefahren, oder?«
»Nicht ganz, aber es war schon ziemlich früh am Morgen.« Ich musste mir eingestehen, dass ich mich ein wenig schwammig fühlte. Nach beinahe sechs Stunden Fahrt dank eines Staus in Hamburg war das auch kein Wunder. Nun war es elf Uhr, und ich hätte mich schon wieder schlafen legen können.
Herr Balder schien diesen Gedanken zu erraten.
»Nun, bald können Sie sich ausruhen. Meine Frau und ich werden gleich nach Hamburg aufbrechen. Von dort aus geht’s nach Fuerteventura!«
»Wie schön! Aber wird Ihnen die Heimat denn nicht fehlen?«, fragte ich, denn so gern ich Urlaub machte, ein Leben auf den Kanaren oder einer anderen Inselgruppe in südlichen Gefilden konnte ich mir nicht so recht vorstellen.
»Das werden wir sehen. Angesichts meines Rheumas werde ich die Kälte hier jedenfalls nicht vermissen. Sie brauchen also keine Angst zu haben, dass wir Sie aus Ihrem Domizil vertreiben. Und wer weiß, vielleicht entschließen Sie sich ja irgendwann, es zu kaufen.«
»Vielleicht«, antwortete ich diplomatisch, denn so schön es hier auch war, Besitz bedeutete immer Verantwortung. Und mein Leben erschien mir im Moment noch ein wenig instabil. Was, wenn ich nach einer Weile feststellte, dass es mir hier doch nicht gefiel? Außerdem war ein großer Kredit für mich nicht drin.
»Na ja, lassen Sie sich ruhig Zeit, Frau Hansen. Es ist ja nicht so, als ob wir saures Bier loswerden wollten. Aber wenn wir es verkaufen würden, dann gern an Sie!«
»Danke, das weiß ich zu schätzen.«
Balder beugte sich zu Leonie hinunter. »Und du, kleines Fräulein? Wir beide kennen uns ja noch gar nicht.«
Meine Tochter, die gerade auf einer ihrer roten, lockigen Haarsträhnen herumkaute, drückte sich näher an mein Bein, erwiderte den Blick des Mannes jedoch unverwandt. Ein verhaltenes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Offenbar mochte sie den alten Seebären, sie traute sich allerdings noch nicht, ihm das zu zeigen.
»Wie ist denn dein Name?«, fragte Balder weiter.
»Leonie«, antwortete sie.
Balder lachte auf. »Leonie also! Wusstest du, dass dein Name von Löwen kommt?«
Meine Tochter riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Sie hatte bisher noch nie nach der Bedeutung ihres Namens gefragt, da waren andere Dinge wesentlich interessanter.
Damit, dass er ihren Namen kannte, hatte er sie für sich gewonnen.
»Ich kann dir was von Löwen erzählen«, fuhr er fort. »Ich war sogar mal in Afrika und habe welche gesehen.«
»August, willst du die Mädchen denn nicht reinbitten?«, ertönte die vorwurfsvolle Stimme von Lucia Balder. Sie stand im Türrahmen. Noch immer steckte ihr Bein in einer Schiene. Sie war auf der kleinen Holztreppe gestürzt, die vom Grundstück hinunter zum Strand führte. Nicht, weil das Holz morsch wäre, sondern weil sie unachtsam gewesen war.
Ich hatte die Treppe selbst gesehen und fand, dass sie tatsächlich ziemlich steil war. Das war vielleicht der einzige Fehler, den dieses Haus hatte. Ich würde Leonie irgendwie davon abhalten müssen, allein dort hinunterzuklettern.
»Wir kommen doch schon!«, entgegnete Herr Balder und ging vor.
Im Haus empfing uns der Duft von Kaffee, Brötchen und Streuselkuchen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass sie mir lediglich die Schlüssel aushändigen würden.
»Guten Tag, Frau Balder«, begrüßte ich die Noch-Hausherrin und gab ihr die Hand. Obwohl sie gehandicapt war, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, selbst zu backen, wie ich deutlich an der Wärme in der Küche merkte. »Wie geht es Ihnen?«
»Immer besser«, antwortete sie und deutete auf ihr Bein. »Mittlerweile habe ich einen Gehgips und kann damit glücklicherweise reisen. Es ist immer so eine Sache mit Plänen, nicht wahr? Man schmiedet sie so sorgfältig, und dann kommt etwas dazwischen.«
Da hatte sie recht, und meist war das, was dazwischenkam, so gravierend, dass der ganze Plan hinfällig wurde. Ich konnte ein Lied davon singen.
»Na, du hast ja mich«, sagte August, während er Kaffee einschenkte. »Notfalls hätte ich dich auch aus dem Flieger getragen.«
»Es ist mir trotzdem lieber, wenn ich auf meinen beiden Beinen stehen kann. Glücklicherweise hat mein Arzt einen Bekannten auf Fuerteventura, der sich um mich kümmern wird, bis ich wieder richtig laufen kann. Und glücklicherweise dauert der Flug auch nicht allzu lange. Aber Sie haben mir noch gar nicht die junge Dame hier vorgestellt. Dass sie Ihre Tochter ist, sieht man sehr deutlich.«
Tatsächlich hatte Leonie einiges von ihrem Vater, aber im Großen und Ganzen sahen die Leute meist nur Leonies grüne Augen und das rote Haar – beides hatte sie von mir. Mit gutem Willen konnte man auch die Nase dazuzählen, aber da war ich mir nicht ganz sicher.
»Das ist Leonie«, stellte ich sie vor. Leonie Löwenherz nannte ich sie manchmal, nach einer längst in der Versenkung verschwundenen Kindersendung.
»Ein schöner Name«, entgegnete Frau Balder, während sie meiner Tochter die Hand reichte. »Und ein hübsches Mädchen. Wenn sie mal groß ist, werden Sie sich den Schwiegersohn aussuchen können.«
»Das überlasse ich lieber ihr, denn sie muss mit ihm leben. Mein Anspruch ist nur, dass er sie glücklich macht.«
Leonie schmiegte ihre Wange wie ein Kätzchen an meine Hand. Glücklicherweise wusste sie noch nicht, dass die Sache mit den Schwiegersöhnen alles andere als leicht war. Jan hatte meinen Eltern gefallen – und wozu hatte es geführt? Gut, sie hatten ihn nicht für mich ausgesucht, aber manchmal fragte ich mich, ob sie nicht vielleicht doch ein bisschen Kritik an ihm hätten üben sollen.
»Dann wird Ihr Schwiegersohn Sie dafür lieben«, schaltete sich Herr Balder ein. »Aber setzen Sie sich doch. So früh, wie Sie losgefahren sind, können Sie sicher eine kleine Stärkung gebrauchen.«
Eine halbe Stunde später waren wir satt und zufrieden und die Balders bereit zum Aufbruch.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass wir Ihnen ein paar unserer Bücher dalassen«, sagte Herr Balder, als er mir die Schlüssel in die Hand drückte. Das Wichtigste war mittlerweile besprochen, ich wusste, wie die Heizung funktionierte, wo der Hauptwasserhahn war und der Sicherungskasten.
»Nein, es stört mich absolut nicht«, entgegnete ich.
»Was Sie davon nicht haben wollen, können Sie ruhig weggeben«, setzte Frau Balder hinzu. »Alles, was wir brauchen, wartet schon in unserem neuen Haus.« Ein Lächeln huschte bei diesen Worten über ihr Gesicht. Ich konnte gut verstehen, dass sie sich auf ihren persönlichen Neuanfang freute.
Wir reichten uns die Hand. Es war also so weit. Plötzlich klopfte mir das Herz bis zum Hals. Diese Art von freudiger Aufregung hatte ich zuletzt verspürt, als die Balders mich als Mieterin angenommen hatten.
»Und denken Sie dran: Das, was Sie in der ersten Nacht in einem neuen Haus träumen, geht in Erfüllung«, sagte Frau Balder scherzhaft, während sie nach ihren Krücken griff.
»Ich dachte, das gilt nur für neue Betten«, entgegnete ich.
»Nein, das gilt auch für neue Häuser«, sagte sie mit einem Augenzwinkern und ließ sich von ihrem Mann in den Wagen helfen.
Vom Türrahmen aus beobachtete ich, wie Herr Balder anschließend den letzten Koffer in seinen Wagen lud und einstieg. Der Motor sprang an, und wenig später rollte der Mercedes vom Gehöft. Der Platz unter dem Carport gehörte nun meinem Volvo.
Als die Balders fort waren, senkte sich Stille auf das Haus. In den Bäumen rauschte der Wind, und Spatzen hüpften auf dem sonnenbeschienenen Hof umher.
Leonie blätterte noch immer konzentriert in dem Löwenbuch, das Herr Balder ihr geschenkt hatte. Ich betrachtete sie lächelnd, dann ging ich in jedes der vier Zimmer.
Vom Schlafzimmer aus hatte man den besten Blick auf den Naturgarten. Eine riesige Hundsrose zeigte ihre aufbrechenden Blüten, die schon bald alles mit ihrem Duft erfüllen würden. Etwas weiter hinten befand sich eine Hecke aus weißen Dünenrosen, neben einem schmalen Weg, der in ein grünes Labyrinth führte, in dessen Zentrum auf einer kleinen Terrasse hübsche weiße Gartenmöbel standen.
Wie ich feststellte, waren die Matratzen und das Bettgestell nagelneu. Ein Doppelbett, viel zu groß für mich. Schon in Bremen hatte ich mich in meinem Ehebett verloren gefühlt, seit Jan es vorgezogen hatte, »Überstunden« zu machen. Überstunden bei seinen Kolleginnen, Überstunden mit Frauen, die er auf irgendwelchen Messen kennengelernt hatte. Zuletzt hatte ich gar nicht mehr gewusst, wie es sich anfühlte, mit einem Menschen zusammen im Bett zu schlafen.
Vom Wohnzimmer aus sah man auf den Wald, der das Grundstück schützend umarmte, gleichzeitig aber den Blick auf das Wasser versperrte. Nur vom Dachboden aus konnte man das Meer sehen.
Ich ließ die beiden anderen Zimmer links liegen – eines davon würde ich für Leonie noch etwas verändern müssen – und erklomm die Treppe zum Dachboden.
Der Raum hier oben war ausgebaut worden, hatte aber nie einen richtigen Zweck erfüllt. Vielleicht hatten ihn die Balders frei gehalten, damit ihr Sohn notfalls einziehen konnte.
Ich stellte mich mitten in den Raum, der von naturbelassenen Stützpfeilern in gleichmäßige Quadrate eingeteilt wurde, und vor meinem geistigen Auge erschien das Büro, das ich mir hier einrichten würde. In einer Ecke würde es auch ein kleines »Büro« für Leonie geben, wenn sie mal nicht in die Kita ging. Sie mochte es, wenn ich sie vor einen Tisch setzte und behauptete, das sei ihr Büro. Dann blieb sie stundenlang auf ihrem Platz, genauso wie ich, wenn ich an einem Auftrag arbeitete, und malte Pferde und Prinzessinnen.
Besonders freute es mich, dass es Platz für einen richtigen Zeichentisch gab. Den hatte ich in meinem kleinen Büro in Bremen nicht gehabt.
So verteilte ich im Geiste Möbel über die riesige Fläche und stellte mir auch vor, wie ich hier oben eine kleine Eröffnungsparty für meine Kundschaft geben würde. Sicher, für einige würde die Reise nach Rügen etwas weit sein – aber vielleicht konnte ich sie mit dem Meer locken. Den idealen Platz für ein Buffet hatte ich immerhin schon.
Und dort unter dem Fenster, von dem aus man jenseits der Bäume das gischtgekrönte Meer sah, würde mein Schreibtisch stehen …
Das Paradies, ging es mir erneut durch den Sinn. Das hier ist wirklich das Paradies. Und ich war sicher, dass sich von nun an alles ändern würde. Dass alles besser werden würde.
»Was meinst du, wo soll ich das Poster aufhängen?«
Leonie kaute auf ihrem Zeigefinger herum, wie immer, wenn sie angestrengt überlegte. Mit ihren fünf Jahren hatte sie bereits ausgeprägte Vorstellungen davon, wie ihr Zimmer aussehen sollte. Deshalb überließ ich es ihr, zu entscheiden, welcher Wandschmuck wohin sollte. Auch wenn das eine Weile dauern würde.
Leonie musterte eine Wand nach der anderen. Die Möbel, die hier standen, waren nicht gerade farbenfroh, die Balders hatten den Raum als Gästezimmer genutzt. Etwas Abhilfe würde ich mit ihrem Prinzessinnen-Bettzeug, ihrer Kuscheldecke und ihren Plüschtieren schaffen können – und natürlich mit ihren Postern, auf denen sich vorwiegend pink gekleidete Prinzessinnen, Elfen und Einhörner tummelten. Alles andere mussten wir aus der Innenstadt von Binz holen, über der unser Haus auf einer Anhöhe thronte.
»Da!«, entschied meine kleine Prinzessin schließlich und deutete auf die Wand über dem Bett.
»Sehr wohl!«, entgegnete ich und hängte es auf.
Ich hatte gerade den letzten Klebestreifen befestigt, als mein Handy klingelte. Ich fischte es vom Tisch und sah die Nummer eines neuen Kunden, bei dem ich mich noch während des Packens um einen Auftrag beworben hatte. Besonders gut standen meine Chancen nicht, denn unter den Mitbewerbern hatten sich drei große, renommierte Werbeagenturen befunden. Sein Anruf ließ meinen Puls in die Höhe schnellen. Wegen einer Absage machte er sich doch sicher nicht solche Mühe!
»Annabel Hansen«, meldete ich mich.
»Hartmann vom ›Meerblick‹«, meldete sich mein Gesprächspartner, und mir fiel auf, dass dies ein ziemlich guter Adelsname wäre. Doch adlig war Joachim Hartmann natürlich nicht.
»Hallo, Herr Hartmann, schön, von Ihnen zu hören!«, entgegnete ich und verfiel in erwartungsvolles Schweigen. Nun komm schon, schrie es in mir, lass die Katze aus dem Sack!
»Hallo, Frau Hansen, sind Sie gut in Binz angekommen?«
»Ja, danke. Wir sind seit heute Morgen am Auspacken.« Ich warf einen Blick zu Leonie, die gerade damit beschäftigt war, ihre kleinen Spielfigürchen auf dem Fensterbrett zu verteilen.
»Das freut mich. Hätten Sie denn morgen vielleicht Zeit, einmal kurz vorbeizuschauen? Wir würden gern mit Ihnen über das neue Projekt reden.«
»Heißt das, Sie geben mir den Zuschlag?« Ich war von den Socken. Nur schwerlich konnte ich mich davon abhalten, nicht in Jubel auszubrechen. Mein erster Auftrag im neuen Haus! Ich war sicher, dass es mir Glück bringen würde.
»Ja, wir geben Ihnen den Zuschlag. Von allen Angeboten hat uns das Ihre am meisten überzeugt. Morgen würde ich gern ein paar Details mit Ihnen besprechen, bevor ich auf Reisen gehe. Sie hätten dann auch genug Zeit für die Kampagne.«
»Morgen passt prima«, entgegnete ich schnell, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wo ich Leonie lassen sollte. Der Kita-Platz war erst ab Montag frei, der nächste Tag war ein Freitag. Aber vielleicht hatte sie nichts gegen einen kleinen Stadtbummel.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich meine Tochter mitbringe? In die Kita kann sie erst ab Montag.«
»Kein Problem«, entgegnete Hartmann. »Wäre Ihnen elf Uhr recht?«
»Ja, sehr!« Ich lächelte in mich hinein. Das neue Haus brachte mir anscheinend wirklich Glück.
Als ich aufgelegt hatte, war mir, als würde ich auf Wolken schweben. Ich hatte mir innig gewünscht, die Werbekampagne mit dem »Meerblick«-Hotel in Sassnitz machen zu dürfen. Nicht nur, dass Joachim Hartmann gut bezahlte, auch die Lage des Hotels war einzigartig. Es thronte förmlich über dem Hafen von Sassnitz, in dem man das Ein- und Auslaufen der Schiffe beobachten konnte. Sogar ein U‑Boot sollte es dort geben. Ich war nicht sicher, ob Leonie das spannend finden würde, aber sie war sehr begeisterungsfähig.
Außerdem war das »Meerblick« so was wie das Lieblingsprojekt von Joachim Hartmann, der in den vergangenen Jahren eine eigene Hotelkette aufgebaut hatte. Er hatte einen berühmten Innenarchitekten engagiert, um das Haus aufzumöbeln. Alles, was er nun noch brauchte, war eine passende Werbekampagne, die den Besuchern klarmachte, dass sie bei ihm eine Unterkunft wie in keinem anderen Hotel der Gegend bekommen würden.
»Mami, Mami!«, rief es plötzlich aufgeregt aus der Küche. Leonie hatte sich während des Telefonats unbemerkt aus dem Zimmer geschlichen.
Alarmiert zuckte ich zusammen, wie immer, wenn sie nicht da war, wo ich sie zuletzt gesehen hatte, und dann nach mir rief. Es war zwar Quatsch, aber jedes Mal hatte ich Angst, dass ihr irgendwas passiert sein könnte.
Mit klopfendem Herzen stürmte ich in die Küche.
Leonie hatte den geblümten Überrock ihres Kleides hochgerafft und zeigte auf eine Katze, die sich durch die offene Haustür gewagt hatte. Das graugestromte Tier erschrak bei meinem Anblick und machte sich klein, während es mich mit seinen gelbgrünen Augen musterte.
Hatten die Balders ihre Katze hier vergessen?
»Guck mal, die Mieze!«, rief Leonie begeistert aus. »Können wir die behalten?«
Kaum hatte sie das gesagt, nutzte die Katze die Gelegenheit zur Flucht. Ihr schlanker Körper verschwand blitzschnell durch die Tür ins Freie.
»Miezi!«, rief Leonie und rannte ihr, ohne lange zu überlegen, hinterher.
»Leonie!«, rief ich und lief meiner Tochter nach.
Als wir auf dem Hof ankamen, war die Katze natürlich nicht mehr zu sehen.
»Wo ist sie nur?«, fragte Leonie, während sie mit ihren Blicken die Büsche absuchte.
»Sie taucht bestimmt irgendwann wieder auf«, sagte ich, denn auch wenn ich nicht auf dem Land aufgewachsen war, wusste ich doch, dass Katzen zu bestimmten Orten immer zurückfanden – besonders dann, wenn sie dort nichts zu suchen hatten. »Komm, gehen wir rein und machen mit dem Zimmer weiter. Vielleicht besucht sie uns dann wieder.«
Obwohl an diesem Tag alles perfekt gelaufen war, konnte ich nicht einschlafen. Während ich dem Wind lauschte, der gegen Abend aufgefrischt war und nun die Bäume zauste, musste ich immer wieder daran denken, was Frau Balder bei ihrer Abreise gesagt hatte: dass sich erfüllen würde, was man in der ersten Nacht träumte.
Ich war nicht abergläubisch, denn wenn es danach gehen würde, hätte ich jetzt Straßenbahnfahrerin sein müssen – genau das hatte ich geträumt, als ich mit Jan in unsere gemeinsame Wohnung gezogen war.
Aber irgendwie fürchtete ich mich davor, dass sich etwas Negatives in meine Träume schleichen könnte. Etwas, was ich nicht haben wollte. Nichts sollte mir meine guten Gedanken an einen Neuanfang nehmen.
Als meine Lider schwer wie Blei wurden und keinem noch so ängstlichen Gedanken mehr standhielten, fand ich mich in einer Küche wieder. Einer sehr alten, unmodernen Küche, die zudem auch noch ziemlich klein war. Eine Neubauwohnung in den Achtzigern, das wusste ich nach einem Blick auf den Abreißkalender an der Wand, der den 17. September 1985 zeigte. Über einer Wäschespinne hingen Geschirrtücher, die hintersten, die bereits trocken waren, wirkten merkwürdig steif. Etwas klapperte in der Küche, während im Wohnzimmer der Fernseher lief. Ich vernahm eine näselnde Männerstimme, die offenbar Nachrichten vorlas.
Ich selbst saß an einem Tisch. Die blaugepunktete Wachstuchtischdecke war an den Ecken schon ein wenig gebrochen, kleine Schnitte verunzierten das Muster. Meine Mutter rutschte hin und wieder mit dem Brotmesser vom Schneidebrett ab, was dazu führte, dass wir alle zwei Monate ins Kaufhaus gingen und versuchten, neues Wachstuch zu bekommen. Das war manchmal sehr schwierig, besonders dann, wenn es schon länger keine Ware mehr gegeben hatte und nicht mal mehr Tischdecken mit hässlichen Mustern übrig waren.
Es war seltsam, dass mir das gerade jetzt einfiel, wo ich doch eigentlich ein Bild malen wollte. Vor mir stand ein Tuschkasten, dessen Farben schon fast aufgebraucht waren. Das Wasser, mit dem ich den etwas ramponierten Plastikpinsel mit den schwarzen Borsten auswusch, hatte einen seltsamen Schlammton angenommen – kein Wunder, denn ich hatte mich an fast allen Farben bedient. So machte ich das immer, wenn ich etwas malte, ich achtete darauf, dass auch alle Farben auftauchten, die ich hatte.
Ich – das war mein Ich vor etwa neunundzwanzig Jahren. Ein Mädchen mit rotem Haar und Sommersprossen, kaum älter als meine Tochter jetzt.
Ich war so vertieft in meine Malerei, dass ich nicht merkte, wie meine Mutter zur Küchentür hereinkam.
»Bella, jetzt ist aber Schluss mit Malen, gleich kommt das ›Sandmännchen‹.«
»Nur noch ein bisschen«, bat ich sie, ohne von meinem Bild aufzublicken.
»Du kannst morgen weitermalen«, sagte meine Mutter und begann dann, das Malzeug einzuräumen.
Ich sah sehnsüchtig dem Tuschkasten und dem Wasserglas nach, nahm dann das Bild an mich.
»Lass es lieber liegen, die Farben sind noch nicht trocken«, sagte meine Mutter, doch ich wollte es nicht hergeben. Es war mein Meisterwerk, das beste Bild, das ich je gemalt hatte, davon war ich überzeugt. Mama lenkte schließlich ein und ließ es mich ins Wohnzimmer mitnehmen, wo sie mich auf einen mit grobem rotem Stoff bezogenen Sessel bugsierte.
Manchmal, wenn wir spielten, war er mein Thron, auch wenn eine der Lehnen an der Seite schon etwas abgeschabt war.
Ich kuschelte mich mit dem Bild in den Sessel und spürte, wie mein Körper plötzlich schwer wurde. Meine Augen fielen zu, dabei war heute der Tag, an dem eine Geschichte von Fuchs und Elster beim »Sandmännchen« gezeigt wurde. Aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Das »Sandmännchen«-Lied, das in diesem Augenblick anhob, entfernte und verzerrte sich, und dann wurde alles dunkel.
Als ich wieder wach wurde, blitzte mir Blaulicht in die Augen. Sonst war alles dunkel, nur dieses Licht war da. Im Sekundentakt riss es Personen und Fahrzeuge aus der Finsternis. Ich hörte Stimmen, doch die waren weit entfernt. Was vor sich ging, begriff ich nicht, also schloss ich die Augen und hoffte, dass ich bald wieder einschlafen würde, um etwas anderes zu träumen. Etwas Schönes … Denn ich war überzeugt, dass die Fahrzeuge und das blaue Licht nur Teil eines Traumes waren – oder vom »Polizeiruf 110«, den Mama sich manchmal anschaute …
Augenblicklich fuhr ich hoch. Schweißnass hing das Nachthemd an meinem Körper, und mein Herz raste. Ich hörte das Raunen des Windes und das Rauschen der Bäume. In der Ferne brandete das Meer ans Ufer. Obwohl ich wusste, wo ich war und dass das, was ich gesehen hatte, weit zurücklag, brauchte ich eine Weile, um die Bilder abzuschütteln.
Der Traum war ein alter Bekannter von mir. Mittlerweile waren Jahre vergangen, seit ich ihn zuletzt geträumt hatte, doch nun war er zurück und bescherte mir die gleiche Panik, die ich immer fühlte, wenn er mich heimsuchte.
Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte ich beinahe ständig von dem Abend geträumt – dem letzten Abend mit meiner Mutter. Ich konnte mich nicht mehr an viel erinnern, was sie anging, doch das letzte Zusammensein mit ihr hatte sich ebenso wie das Datum in mein Gedächtnis eingebrannt. Alle Versuche von außerhalb, das damals Geschehene zu tilgen, waren erfolglos gewesen. Ja, nicht mal ich selbst hatte es geschafft, es zu verdrängen. Von Zeit zu Zeit kam es wieder hoch und erinnerte mich daran, dass es unter der Fassade der erwachsenen Annabel, die alles im Griff hatte, eine kleine Annabel gab, die nicht wusste, warum sie von ihrer Mutter verlassen worden war. Die kleine Annabel, der man ständig eingetrichtert hatte, dass sie von ihrer Mutter verlassen worden war, bis sie es geglaubt hatte.
Und was sagte die erwachsene Annabel dazu? Ich hatte mir schon lange keine Gedanken mehr darüber gemacht, ob meine Mutter mich wirklich zurückgelassen hatte oder ob das alles eine Lüge der Parteifunktionäre war.
Aber warum hatte ich nach der Wende nicht darüber nachgedacht?
Und warum tat ich es gerade jetzt?
Ich starrte an die Decke. Mein Herz tobte. Auch das letzte Herzrasen lag eine Weile zurück. Eine Freundin hatte mir geraten, in so einem Fall die Fenster zu öffnen und die Bettdecke wegzuschieben. Doch ich brauchte etwas anderes.
Mit pochendem Herzen schlich ich auf Zehenspitzen durch den Flur. Es war dumm, aber in diesem Augenblick wusste ich, dass ich erst einschlafen konnte, wenn ich es fand. Das Bild.
Über die Jahre war es stets mit mir gereist, verborgen in einer Mappe. Niemand außer mir wusste davon. Egal, wo ich hingezogen war, stets hatte ich es versteckt. Und nie den Mut gefunden, es wegzuwerfen. Es war das einzige Zeugnis meines alten Lebens.
Ich ging ins Wohnzimmer und fand mit traumwandlerischer Sicherheit die Kiste, in der ich es verstaut hatte. Ich hätte nicht sagen können, in welchem Karton sich mein rotes Kleid oder der Wecker mit den Katzenohren befand – doch ich wusste genau, wo ich das Bild versteckt hatte. Mit weichen Knien und zitternden Händen zog ich die Kiste hervor und öffnete sie.
Zunächst musste ich mich durch viele andere Dinge wühlen, Schals, Beutelchen mit Haarklammern, ein Schächtelchen mit alten Stempeln, die ich zum Verzieren von Grußkarten benutzte. Zuunterst lagen einige alte Arbeitsproben. Und dann fand ich es.
Die Mappe, in der ich das Bild aufbewahrte, war genauso alt wie ich. Das wusste ich, weil jemand die Jahreszahl meiner Geburt auf die mittlerweile verblichene Pappe geschrieben hatte. Der ursprüngliche Sinn dieser Mappe war mir unbekannt, aber auf dem Namensfeld stand der Name Silvia Thalheim. Er war wegradiert worden, oder zumindest hatte man es versucht. Das Schwarz des Bleistifts war verschwunden, doch der Eindruck des Stiftes war geblieben. Wahrscheinlich würde er bleiben, bis die Mappe eines Tages weggeworfen wurde.
Ein Schauer lief über meinen Rücken, als ich die Gummis der Mappe zurückschob und sie öffnete. Sie enthielt nur dieses eine Bild. Eine verblassende Darstellung eines Mädchens vor einer Windmühle. Das Mädchen stand in einem Feld voller Blumen und hielt einen Luftballon in der Hand. Ihr Körper war ein simples, rot angemaltes Dreieck, die Haare waren gelb wie die überdimensionale Sonne über den Windmühlenflügeln. Dieses Bild hatte ich an dem Abend gemalt, bevor alles anders geworden war. Zögernd strich ich über die Mühle, zog die Hand aber schnell zurück, als etwas Farbe vom Papier bröckelte.
Es war das letzte Bild, das ich in unserer Küche gemalt hatte, das letzte Bild, das meine Mutter gesehen hatte, bevor sie aus meinem Leben verschwand und einen tiefen Riss in mir hinterließ.
»Mami«, hörte ich es da aus dem Gang rufen. »Mami, wo bist du?«
Augenblicklich kehrte ich ins Hier und Jetzt zurück. Leonie war wach. Rasch ließ ich die Zeichnung wieder in der Kiste verschwinden und erhob mich.
»Hier bin ich, mein Schatz«, rief ich, als ich das Zimmer verließ. Meine Tochter sah mich mit großen Augen an.
»Was hast du da gemacht?«, fragte sie, während sie ihr rosa Kuschelhäschen an sich drückte.
»Ich konnte nicht schlafen und hab mal in den Kisten nachgesehen.«
»Was hast du gesucht?«, fragte sie. Auch wenn sie erst fünf war, konnte ich ihr nichts vormachen, sie durchschaute mich immer wieder.
»Nichts Bestimmtes«, antwortete ich und hob sie auf meine Arme. »Ich wollte nur nachgucken, ob ich auch nichts vergessen habe.«
Ich hasste es, meine Tochter anzulügen, aber von dem Bild konnte ich ihr nicht erzählen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Irgendwann würde ich es tun – allerdings … Was sollte ich ihr erzählen? Das, was damals geschehen war, verschwand im Nebel. Ich verdrängte es und war damit so erfolgreich, dass ich selbst nicht mehr wusste, was passiert war. Und ich hütete mich, daran zu rühren.
»Willst du mit in mein Bett?«, fragte ich Leonie, in der Hoffnung, sie von ihren Fragen abzubringen.
»Au ja!«, rief sie begeistert aus. Mein Plan ging auf. Ich trug sie in das viel zu große Bett, das ich frisch bezogen hatte, und sang ihr ein Schlaflied vor. Und ich hielt sie im Arm, als ihre Augen zufielen und ihr Atem gleichmäßig und schwer wurde.
Leonie bei mir zu haben beruhigte mich ein wenig. Ihre Wärme gab mir Sicherheit und Zukunft und ein Gegengewicht zu dem, was mich manchmal im Schlaf einholte und verunsicherte.
Wieder einschlafen konnte ich trotzdem nicht. Die Traumbilder hielten sich hartnäckig in meinem Verstand. Für gewöhnlich schaffte ich es, sie schnell zu verdrängen und zur Tagesordnung überzugehen. Doch diesmal war es etwas anderes. Ich lauschte dem Wind, dem Atem meines Kindes und meinem Herzschlag. Die Stimmen der Vergangenheit wisperten mir unablässig zu. Offenbar hatte ich doch nicht alles in Bremen zurückgelassen. Aber konnte man das denn überhaupt, die eigene Geschichte zurücklassen? Zumal sie nichts mit Bremen und Jan zu tun hatte, sondern mit meiner eigenen Familie … Fragen drängten sich in den Vordergrund.
Wenn damals alles anders gekommen wäre, wäre ich dann hier? Wenn meine Mutter geblieben wäre, würde ich dann noch immer in Leipzig leben? Hätte ich vielleicht einen vollkommen anderen Weg eingeschlagen als den, der hinter mir lag?
Und was, wenn sie plötzlich zurückgekehrt wäre, um mich abzuholen. Hätte ich dann die Hansens verlassen können – oder wollen?
Meine Erfahrungen und nicht zuletzt meine Adoptiveltern hatten mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt war. Ich war zufrieden – aber dennoch nagte der Zweifel manchmal an mir und ich spürte die alte Zerrissenheit. Vielleicht hätte alles noch viel besser kommen können, wenn es damals diesen Riss in meinem Leben nicht gegeben hätte? Ich atmete tief durch und versuchte, das Wirrwarr zu ordnen. Mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Ich mochte den Gedanken an den Neuanfang, ich mochte dieses Haus. Und ich liebte meine Tochter über alles. Gegen nichts in der Welt wollte ich sie eintauschen. Das, was damals mit meiner Mutter passiert war, lag weit zurück, redete ich mir ein und wollte mich lieber auf den Berg von Wünschen konzentrieren, die ich besonders im vergangenen Jahr oftmals zurückgestellt hatte.
Ich wünschte mir wieder Nähe zu einem Mann, nicht nur, aber auch in sexueller Hinsicht. Ich wünschte mir einen Partner, der mich in den Arm nahm, mich tröstete, wenn etwas schieflief, sich mit mir freute, wenn etwas klappte, und der mir half, wenn mir die Dinge über den Kopf wuchsen.
Doch die Gewissheit, dass ich nicht alles einfach so abschütteln konnte, nagte in diesem Augenblick kräftiger denn je an mir. Ich musste zugeben, dass mir der Mut fehlte, mich mit dem zu befassen, was am 17. September 1985 passiert war. Es hatte viele Erklärungsversuche gegeben, man hatte versucht, mich zu beeinflussen, bis ich selbst nicht mehr wusste, was richtig und was falsch war. Lange schon hätte ich einen Schlussstrich unter all das ziehen können, ich hätte herausfinden können, was damals wirklich geschehen war. Aber die Angst und die Enttäuschung steckten mir tief in den Knochen. Viel zu tief, auch in diesem Augenblick.
Lange grübelte ich nach, bis sich ein Geräusch in mein Bewusstsein drängte. Das Meer am Morgen. Ich hörte sein Rauschen wie die Rufe eines sehnsüchtigen Geliebten. Wie gern sah ich die Sonne über dem Wasser aufgehen – allerdings hatte ich nur selten die Gelegenheit dazu gehabt.
Wenn wir im Urlaub waren, hatte mich das Zusammensein mit Jan oft daran gehindert, oder wir hatten so lange geschlafen, bis der Strand bereits übervoll mit Menschen war. Und in Hamburg, wenn ich früh zur Schule gefahren war, hatte mich der Sonnenaufgang über der Alster nicht interessiert.
Doch nun überkam mich das unbändige Verlangen, das Meer am Morgen zu sehen.
Ich blickte zu Leonie, die sich an mich gekuschelt hatte wie ein müdes Kätzchen. Ihre Finger zuckten ein wenig, als würde sie im Traum nach etwas greifen. Vorsichtig löste ich mich von ihr und deckte sie sorgfältig zu. Bis sie erwachte, würde ich zurück sein.
Als ich aus dem Bett heraus war, band ich meine Haare zusammen und schlüpfte in meinen Trainingsanzug. Es war schon eine Weile her, dass ich wirklich gejoggt war. Genau genommen hatte ich meine letzten Runden gedreht, bevor ich mit Leonie schwanger geworden war. Vielleicht konnte ich diese alte Gewohnheit hier wieder aufnehmen. Es musste herrlich sein, am Strand entlangzulaufen und den Wind in Haaren und Lunge zu spüren.
Bevor ich aus dem Schlafzimmer schlüpfte, warf ich einen Blick zurück auf Leonie. Sie regte sich ein wenig, kuschelte sich tiefer in die Bettdecke ein und schien meine Abwesenheit nicht zu bemerken. Anfangs hatte ich immer Bedenken gehabt, sie im Schlafzimmer allein zu lassen, aber wenn Leonie wach wurde und ich nicht da war, wusste sie, dass ich irgendwo im Haus war. Es war nicht so, dass ich sie verlassen würde. Allein der Gedanke daran brach mir das Herz. Und ich hoffte, das wusste sie.
Als ich vor die Tür trat, wurde ich von den ersten Morgengesängen der Vögel begrüßt. Im Hintergrund rauschte leise die See. Ein kleines Stück dunkelblaue Nacht war noch da, doch der Morgen drängte von Osten über das Meer und brachte den neuen Tag.
Die Luft war noch etwas kühl und durchsetzt mit Algengeruch, aber das gefiel mir sehr. Es war etwas ganz anderes, als mit dem Rauschen von Straßenverkehr zu erwachen oder mit dem Krach der Müllabfuhr, die keine Rücksicht darauf nahm, dass man vielleicht noch bis spät in die Nacht gearbeitet hatte und keinen Grund sah, schon um sechs Uhr morgens aus dem Bett zu springen.
Minutenlang stand ich auf dem Hof und schaute mich um, fast ein wenig ungläubig darüber, dass wir jetzt hier waren. Mein Paradies. Genau das würde es werden. Auch wenn mich die Schatten der Vergangenheit noch immer nicht losließen. Das hatte mir der Traum deutlich gezeigt.
Endlich löste ich mich von dem Anblick der Bäume und ging in den Garten. Tau nässte meine Knöchel und vertrieb die Schwere aus meinen Knochen, die ich immer dann spürte, wenn ich in der Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte.
Ich ging an den Rosen vorbei, deren Blüten halb geschlossen waren und auf denen ebenfalls Tau glitzerte.
Unwillkürlich musste ich an früher denken, an den Garten meiner Eltern – ich nannte sie so, weil es nach jener schicksalhaften Nacht nur noch sie gegeben hatte.
Ich hatte damals gerade irgendein Märchen gelesen, in dem es um eine Prinzessin ging, die ein Diadem aus Tautropfen besitzen wollte. Ich wusste, dass das nicht ging, aber ich war für eine Weile besessen davon, einen Garten zu haben, in dem es wie von Diamanten glitzerte. Immer, wenn wir in der Datsche am Stadtrand waren, besprengte ich einen Teil des Gartens mit Wasser und wartete, dass die Abendsonne den richtigen Stand hatte. Dann setzte ich mich ins nasse Gras und sah zu, wie die Wassertropfen zu glitzern begannen.
Das würden sie hier auch tun, und so bald wie möglich würde ich Leonie meinen Palast aus Tautropfen zeigen.
Aber nun ließ ich die üppigen, duftenden Rosen hinter mir und strebte der kleinen Pforte zwischen den Büschen zu, die zu der Strandtreppe führte.
Treppen hatten mir schon immer Respekt eingejagt, also betrat ich die Stufen langsam und vorsichtig. Das dichte Gestrüpp schloss sich schließlich über mir und ließ die Nacht für einen Moment zurückkehren. Doch dann breitete sich vor mir der felsige Strand aus und empfing mich mit rotem Morgenlicht, das hinter dem Kreidefelsen aufstieg.
Überwältigt von dem Anblick blieb ich einen Moment lang stehen und schaute aufs Wasser, das mit gleichförmigem Gesang an den Strand brandete.
Bis auf ein paar Möwen, die träge auf dem Wasser schwammen, war ich ganz allein. Zu meiner Rechten erstreckte sich der Steinstrand, zu meiner Linken entdeckte ich die Stadt mit ihren Strandbars und den Hotels und Pensionen an der Promenade. Die Beleuchtung der Seebrücke, an der die Ausflugsschiffe anlegten, verglomm allmählich. Nicht mehr lange, und der Tag würde sie in die verdiente Ruhepause schicken.
Obwohl die Strandpromenade sehr reizvoll aussah, entschied ich mich für den Steinstrand. Ich begann langsam mit dem Joggen, denn ich war ziemlich aus der Form, wie mir meine Lunge schon nach wenigen Metern deutlich zeigte. Aber nach einiger Zeit wurde es besser und ich fand meinen Rhythmus.
Zunächst hatte ich noch Sand unter den Füßen, doch je weiter ich lief, desto felsiger wurde der Untergrund. Schließlich ragten große Steinblöcke vor mir auf. Einige lagen halb im Wasser und waren dicht mit Algen bewachsen, viele von ihnen hatten am unteren Teil dicke Salz- und Sandkrusten.
Ich verharrte kurz, ging dann eine Weile zwischen ihnen entlang, stellte mich schließlich auf einen der Steine und blickte hinaus aufs Meer. Der Wind trocknete die Schweißperlen auf meiner Stirn. In der Ferne, umgeben von Dunst, fuhr ein Frachtschiff in Richtung Sassnitz. Die Sonne ließ seine weißen Aufbauten strahlen.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich mir sehnlichst gewünscht hatte, mit einem Boot weit rauszufahren, all meinen Sorgen davon. Doch diese Sehnsucht spürte ich jetzt nicht. Auch wenn einige meiner Sorgen nach wie vor existierten.
Als ich mich zur Seite wandte, entdeckte ich etwas auf den Steinen. Zunächst hielt ich es für eine vergessene rosa Badehose – zuweilen verloren Schwimmer Kleidungsstücke unter Wasser, und erst viel später wurden sie wieder angeschwemmt. Dann waren sie meist voller Algen und kaum noch als das erkennbar, was sie eigentlich waren.
Doch als ich vom Stein herunterstieg und näher trat, sah ich, dass es sich um einen Strauß rosafarbener Wildrosen handelte. Die Blüten waren noch ziemlich frisch, lange konnten sie noch nicht hier liegen.
Wer hatte sie abgelegt? Und warum?
Bereitete hier jemand einen romantischen Heiratsantrag vor?
Dieser Gedanke versetzte mir einen kleinen Stich. Aber immerhin nur das.
Noch vor einigen Monaten wären mir bei der Vorstellung die Tränen gekommen.
Nachdem ich herausgefunden hatte, dass mein Mann schon lange nicht mehr mein Mann war, war für mich eine Welt zusammengebrochen. Ich hatte das Glück anderer nicht ertragen können. Wohin ich mit Leonie auch floh, überall schien es von verliebten Paaren nur so zu wimmeln. Ich neidete den anderen ihr Glück und hasste mich selbst dafür.
Ich betrachtete die Rosen eine Weile und berührte sie vorsichtig. Die Blätter waren kühl und zart wie Seide und verströmten einen berauschend süßen Duft. Es war dieselbe Sorte Wildrosen, die ich in meinem Garten hatte. Wahrscheinlich wucherten sie hier überall.
Und wenn ich nun wartete, ob jemand herkam?
Nein, das Glück eines anderen Paares wollte ich mir nicht anschauen. Es war ihr Leben, und ich sollte mich auf meines konzentrieren.
In Sassnitz herrschte reger Betrieb. Eine Invasion von Wohnwagen schob sich durch die Altstadt. Auf der Suche nach der richtigen Abbiegung, die mich zum »Hotel Meerblick« führen würde, begegneten mir mindestens fünfzehn von ihnen. Die Campingsaison hatte ganz eindeutig begonnen.
Nachdem ich mich gründlich verfahren hatte, suchte ich, im Halteverbot stehend, auf meinem Handy nach einer Wegbeschreibung. Das war nicht besonders professionell – aber ich hätte auch nicht gedacht, dass es in Sassnitz Schleichwege gab, die nicht mal ein Navi fand.
»Sind wir schon da?«, fragte Leonie. Sie war unruhig. Ehrlich gesagt, war ich es auch, denn mittlerweile war es zehn vor elf – viel Zeit, das Hotel zu finden, hatte ich nicht mehr.
»Noch nicht, Schatz, aber bald«, antwortete ich abwesend.
Nach einer erneuten Ehrenrunde sah ich schließlich die kleine Gasse und konnte rechtzeitig abbiegen. Der Rest war ein Kinderspiel. Nachdem ich die etwas steile und ziemlich schmale Straße hinter mir gelassen hatte, sah ich es.
Schon im Internet hatte es grandios ausgesehen, doch in der Realität war es einfach nur imposant. Ich parkte meinen Wagen auf dem einzigen freien Besucherparkplatz und stieg aus. Mit Leonie an der Hand marschierte ich über den gepflasterten Weg zum Eingang, vor dem ein Mann in roter Livree stand. Er grüßte uns freundlich und hielt uns die große Glastür auf, auf der in goldenen Lettern »Hotel Meerblick« stand.
Und nicht nur der Portier vermittelte mir das Gefühl, eine Reise ins 19. Jahrhundert angetreten zu haben. Das Foyer des Hotels war im Jugendstil eingerichtet worden. Schwere, gemütliche Ledersessel luden die Gäste zum Verweilen ein, die Rezeption schien aus den ersten Tagen des Hotels zu stammen. Das Holz mit seinen schönen Intarsien war sorgfältig restauriert worden. Sogar das alte Schlüsselbrett gab es noch.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Dame am Empfang, deren Kostüm ebenfalls rot war, aber keineswegs antiquiert wirkte.
»Ich habe einen Termin mit Herrn Hartmann, um elf.« Ich blickte auf die alte Standuhr hinter der Rezeption. Drei Minuten nach elf. Mist!
»Einen Moment, ich rufe ihn an«, erklärte die Frau lächelnd und griff nach ihrem Telefon.
Während sie versuchte, den Chef zu erreichen, schaute ich auf Leonie. Sie war vollkommen gefesselt vom Anblick der alten Möbel und des Kronleuchters, der wie eine überdimensionale glitzernde Traube über unseren Köpfen hing.
»Können wir so einen auch haben?«, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden.
»Nein, mein Schatz, dazu ist unser Haus leider zu klein.«
»Und gibt’s die denn nicht in kleiner?«, fragte sie weiter. Bevor ich antworten konnte, wandte sich die Empfangsdame wieder an mich.
»Herr Hartmann erwartet Sie in seinem Büro im zweiten Stockwerk. Einfach mit dem Fahrstuhl nach oben und dann dem Gang bis zum Ende folgen.«
Ich bedankte mich und ging mit Leonie zum Fahrstuhl. Diesem entstieg gerade ein älteres Paar. Die Frau hatte zartrosa gefärbtes Haar und strahlte beim Anblick von Leonie.
»Was für ein reizendes Mädchen!«, rief sie begeistert aus, doch bevor ich durch höflichen Small Talk noch mehr Zeit verlor, bedankte ich mich freundlich und verschwand im Fahrstuhl.
Nervös blickte ich in den Spiegel, der von einem verschnörkelten goldenen Rahmen umgeben war. Wenn ich in meinem blauen Kostüm unterwegs zu meinen Kunden war, kam ich mir immer seltsam fremd vor. Das war allerdings kein schlechtes Gefühl. Ich zeigte der Welt, dass hier nicht eine gescheiterte Ehefrau stand, die manchmal nicht wusste, was sie zuerst anpacken sollte. Hier stand eine Geschäftsfrau, die wusste, was sie tat. Und die es gut überspielen konnte, wenn das mal nicht der Fall war.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen »Pling«. Kühle Luft strömte mir entgegen. Entweder war die Klimaanlage ein wenig zu hoch aufgedreht, oder hier zog es. Doch bis zum Ende des Ganges schafften wir es hoffentlich, ohne uns eine Erkältung einzufangen.
Ich klopfte und wurde von einer Frauenstimme hereingebeten.
Die Dame hinter dem Schreibtisch trug eine rosafarbene Bluse zum schwarzen Rock und das dunkle Haar zu einem Knoten aufgesteckt. Sie warf uns beiden einen fragenden Blick zu.
»Guten Morgen, mein Name ist Annabel Hansen.«
»Die Werbefachfrau«, kam sie mir zuvor und setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. »Wenn Sie bitte einen Moment warten würden?«
Die Sekretärin verschwand hinter einer altertümlichen Flügeltür, die sie ein wenig offen stehen ließ. Ich streichelte Leonie über die Locken und warf dann einen Blick nach draußen. Was für eine herrliche Aussicht auf den Hafen!
»Mami, wann gehen wir in die Stadt?«, fragte Leonie, die mit der Aussicht nur wenig anfangen konnte.
»Nachher«, versprach ich. »Ich muss jetzt nur noch mit dem Besitzer des Hotels sprechen, dann gehen wir und kaufen ein Eis.«
Leonies Augen leuchteten auf. Eis liebte sie über alles. Und es war das beste Mittel, sie zur Geduld anzuhalten.
»Hier.« Ich zog ein Bilderbuch hervor, auf dem eine Nixe abgebildet war, deren Schuppen grün und blau glitzerten. »Schau mal, was die kleine Meerjungfrau gerade so anstellt.«
Leonie lächelte mich verschmitzt an. »Aber die Geschichte ist immer dieselbe.«
Sie war fünf Jahre alt, man konnte ihr nicht mehr weismachen, dass sich die Geschichte in einem Buch verändern würde.
»Das stimmt, aber vielleicht fällt dir zu den Bildern noch eine andere Geschichte ein«, gab ich zurück. »Wenn ein Buch zu Ende ist, heißt das ja noch lange nicht, dass die Geschichte zu Ende sein muss.«
»Ein kluger Gedanke«, sagte eine Männerstimme hinter mir.
Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich hatte nicht gehört, dass er hereingekommen war. Als ich mich umwandte, sah ich einen hochgewachsenen blonden Mann Anfang fünfzig. Sein Gesicht war schmal und markant, sein schlanker Körper steckte in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug. Die Farben der Krawatte und des Einstecktuchs waren identisch und unterstrichen seine blauen Augen, mit denen er mich anstrahlte.
»Joachim Hartmann«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand entgegen. Natürlich waren seine Fingernägel perfekt manikürt. Es war mir beinahe peinlich, ihm die Hand zu geben, denn in letzter Zeit trug ich meine Nägel kurz und unlackiert, ein Nagelstudio hatte ich schon seit einem Jahr nicht mehr von innen gesehen und in meinen Nagellackfläschchen trockneten die Reste mittlerweile an.
»Annabel Hansen«, stellte ich mich vor, straffte mich und erwiderte seinen Händedruck fest und selbstbewusst. Wahrscheinlich störten ihn meine kurzen Nägel gar nicht. Außerdem war ich hier, um mit ihm zu arbeiten, nicht, um ihn mit meinem Aussehen zu beeindrucken. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Herr Hartmann.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite.« Seine Stimme hörte sich noch wesentlich voller an als am Telefon. »Ich nehme an, das ist Ihre Tochter?«
»Ja, Leonie.« Als ich ihren Namen nannte, flammte kurz ein Lächeln auf.
Schon die ganze Zeit über hatte sie den Mann vor uns fixiert. Vielleicht wurde aus ihr ja mal eine tolle Kriminalbeamtin, Leute beobachten konnte sie jedenfalls. Und sie wusste in Windeseile, wen sie mochte und wen nicht. Bei Hartmann wirkte sie ein wenig skeptisch, das erkannte ich daran, wie sie auf dem Zeigefinger herumkaute.
»Guten Tag, Leonie«, sagte er und reichte ihr die Hand. Es schien ihn nicht zu stören, dass ihre Rechte durch das Fingerkauen vollgesabbert war. Leonie zögerte noch eine Weile, doch da ich ihr beigebracht hatte, Leuten die Hand zu geben, wenn sie das auch taten, legte sie ihre in seine.
»Guten Tag«, sagte sie schüchtern.
»Ein sehr höfliches Fräulein«, stellte Hartmann fest und strahlte mich an. »Und nach dem Aussehen ganz die Frau Mama.«
Es wäre zwecklos gewesen, ihm zu erklären, wie viel sie von ihrem Vater hatte. Außerdem gehörte es nicht hierher. Für gewöhnlich trennte ich Beruf und Privatleben strikt, nur wenn ich Leonie zu einem Termin mitnehmen musste, weil die Kita geschlossen war oder der Babysitter keine Zeit hatte, berührten sich diese beiden Bereiche kurz.
»Na, dann kommen Sie doch in mein Büro. Ihre Tochter können Sie gern mitnehmen, an der Seite gibt es einen kleinen Tisch für sie.«
Der Tisch war nicht für ein Kind gedacht, aber glücklicherweise war Leonie groß genug, um daran zu sitzen.
»Hier hast du deine Malstifte«, erklärte ich, während ich in meine Tasche griff. Diese war der Überlebenskoffer für jede Situation. Für mich enthielt sie ein Buch, falls ich irgendwo warten musste, und für Leonie hatte ich Buntstifte, ein Malbuch und einen kleinen Zeichenblock dabei, falls sie keine Lust hatte, die Kleider der Prinzessinnen zu gestalten. »Bleib schön hier sitzen, es dauert nicht lange.«
Leonie nickte gehorsam, dann machte sie sich an die Arbeit.
Nun hatte ich Gelegenheit, die Einrichtung von Hartmanns Büro zu bewundern. Es war überraschend modern und kontrastierte mit den alten Stuckdecken, die liebevoll restauriert worden waren.
Der Standort des schweren Schreibtisches war gut gewählt. Von hier aus konnte Joachim Hartmann nicht nur den gesamten Raum und bei geöffneter Tür auch das Vorzimmer überblicken. Wann immer ihn die Arbeit anstrengte oder anödete, konnte er auch einen Blick aus dem Fenster werfen.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte er und deutete überraschenderweise nicht auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, sondern auf die lederne Sitzecke unterhalb der Fenster. »Stefanie bringt uns gleich einen Kaffee.«
Das tat die Sekretärin tatsächlich, kurz nachdem wir uns in den bequemen Sesseln niedergelassen hatten. Und es war nicht irgendein Kaffee, sondern ein Latte macchiato, wie ihn ein professioneller Barista nicht besser hinbekommen hätte.
Halt, stopp, sagte ich mir. In diesem Hotel gibt es bestimmt einen Barista, die Sekretärin ist sicher nicht zum Kaffeekochen da.
Diskret schloss sie die Tür hinter sich und überließ uns unseren Verhandlungen.
»Nun, wie ich am Telefon schon sagte«, begann Hartmann, während er mit einem langen Löffel das Kakaoblatt auf seinem Milchschaum zerstörte. »Von allen Kampagnen, die eingereicht wurden, hat mir Ihre am besten gefallen. Ich kann nur hoffen, dass Sie niemals ins Hotelgewerbe einsteigen, schon gar nicht hier, das würde meinen Ruin bedeuten.«
Er lachte auf. Ein wenig gekünstelt, denn wahrscheinlich wusste er, dass ich niemals ein Hotel eröffnen würde. An ein Café hatte ich tatsächlich schon einmal gedacht, aber bisher hatte mich die Arbeit in der Werbeagentur immer davon abgehalten.
»Keine Sorge, mein Metier ist die Werbung, und das beherrsche ich hoffentlich recht gut.«
»Sie beherrschen es perfekt.«
Hartmann sah mich an. Nicht wie jemand, der gerade einen Auftrag vergab, sondern wie jemand, der sein Gegenüber näher kennenlernen wollte. Das verwirrte mich ziemlich, denn seit Jan hatte mich nur selten ein Mann so angesehen. Und nie hatte ich diesen Blick auf die erwartete Art und Weise erwidert. Auch jetzt tat ich es nicht, obwohl Hartmann durchaus attraktiv war. Aber wahrscheinlich suchte er nur Bestätigung, an einer geschiedenen Frau mit Tochter hatte jemand wie er sicher kein Interesse.
Ich schaltete also in den Profimodus und begann, ihm meine Ideen noch einmal darzulegen und ihm dann konkrete Beispiele für Werbemaßnahmen zu nennen. Der Hotelchef hörte mir aufmerksam zu, und allmählich verschwand auch der verbindliche Blick.
Während ich sprach, sah ich aus dem Augenwinkel heraus immer wieder kurz nach Leonie, doch sie war darin vertieft, irgendetwas mit einem grellrosa Stift auszumalen.
Als ich mit meinen Ausführungen am Ende war, lächelte Hartmann mich an.
»Die beste Wahl, die ich treffen konnte«, sagte er noch einmal und gab mir dann mit seinem Händedruck grünes Licht.
»Was machen Sie eigentlich kommendes Wochenende?«, fragte er mich dann. Beinahe verschluckte ich mich an dem Rest meines Kaffees.
In der Selbstbeschreibung hatte ich angegeben, geschieden zu sein. Doch warum ging er davon aus, dass ich Interesse an ihm hatte?
Allerdings musste ich aufpassen, denn solange der Vertrag zwischen uns nicht unterschrieben war, konnte er seine Zusage jederzeit zurückziehen. War er so ein Typ? Hatte er mich vielleicht doch nur ausgesucht, weil er glaubte, ein Techtelmechtel eingehen zu können?
Ich lächelte, um meine Unsicherheit zu überspielen, dann antwortete ich: »Am Wochenende kommen meine Eltern zu Besuch, sie wollen unser neues Haus in Augenschein nehmen.«
Das war eine faustdicke Lüge, aber besser das als Verwicklungen, auf die ich keine Lust hatte.
»Oh«, entgegnete er, offenbar hatte er sich ausgerechnet, dass ich nichts vorhatte. Ich betrachtete ihn prüfend. Würde das Auswirkungen auf meine Arbeit haben? Wenn ja, dann war es vielleicht besser, wenn er es sich überlegte. Ich mochte geschieden und jung sein, aber das hieß nicht, dass ich mich mit Kunden einließ. Genau das schien ihm mein Blick zu sagen, denn nun wirkte er ein wenig verlegen.
»Nun, dann vielleicht ein anderes Mal«, sagte er wie zu sich selbst.
»Vielen Dank für den Kaffee und den Auftrag. Sie werden es nicht bereuen, mir den Zuschlag gegeben zu haben«, sagte ich schnell und überging seine Bemerkung. Ein anderes Mal kam nicht in Frage. Wenn mich die vergangenen Jahre mit Jan eines gelehrt hatten, dann die Weisheit, dass man sich nicht mit erfolgreichen, schnell gelangweilten Geschäftsmännern einlassen sollte.
Als ich mich zum Gehen wandte, streifte mein Blick noch einmal die Fenster und die grandiose Aussicht auf den Hafen. Ein Segelschiff zog träge vorbei, die Fischkutter schaukelten auf dem Wasser. Das U‑Boot lag wie eine große schwarze Zigarre am Kai.
Und da sah ich es. Für einen Moment war ich wie erstarrt. Auf einmal war eine Stimme in meinem Hinterkopf, die mir sagte, dass ich näher heranmusste. Dass ich es sehen musste.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Joachim Hartmann, der meinen Blick und mein Erstarren mitbekommen hatte.
»Ja, natürlich«, antwortete ich schnell und machte mich daran, Leonies Malzeug wieder einzusammeln. »Ich hatte nur eben einen Gedanken.«
Ich lächelte und verabschiedete mich dann.
»Mami, wo wollen wir denn hin?«, fragte Leonie. Sie war beinahe schon ein bisschen zu schwer, um getragen zu werden, doch um schneller voranzukommen, hatte ich sie kurzerhand hochgehoben und lief nun die steil abfallende Straße zum Hafen hinunter. Ein paar Autos fuhren an uns vorbei, bei einigen jaulte der Motor protestierend. Doch einen Gehweg gab es nicht, auf den wir uns hätten flüchten können, also hielt ich mich so gut es ging auf der rechten Seite.
Am Hafen angekommen, setzte ich Leonie wieder ab. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die Frage meiner Tochter nicht beantwortet hatte.
»Ich möchte nur mal kurz zum Hafen gehen«, sagte ich, während ich ihre Hand in meiner barg.
»Zum U‑Boot?«, fragte sie und blickte in die Richtung, in der der schwarze Stahlkoloss aus dem Wasser ragte. Während der Fahrt hatten wir darüber gesprochen.
»Nein, zu einem anderen Schiff. Du wirst schon sehen!«
Im Hafen wimmelte es um diese Zeit von Fischerbooten. Einige Besatzungen luden Fischkisten aus, andere überprüften die Takelage. Auf einem Ausflugsdampfer fegte ein Mann den Schmutz vom oberen Deck, während das nebenan liegende Schwesterschiff sich bereitmachte, die noch etwas magere Touristenschar anzusteuern, die am Steg wartete.