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Versteckt im undurchdringlichen Dschungel Südamerikas liegt ein Geheimnis, dessen Entdeckung die Welt für immer verändern könnte … Für einen neuen Auftraggeber, dem Tactical Archaeological Command, begibt sich Jack Reilly nach Kolumbien, denn dort wurde ein weiterer TAC-Agent gewaltsam entführt. Doch hier geht es um mehr als eine bloße Entführung, denn kurz zuvor gelang es dem Agenten, noch eine verschlüsselte Botschaft abzusenden. Ihre Botschaft: "El Dorado existiert!" Ein Geheimnis, auf dass es auch der Drogenbaron Santiago Aguilar abgesehen hat. Nachdem dieser in den Besitz einer über fünfhundert Jahre alten Karte gelangt ist, kennt er nur ein Ziel: die sagenhafte goldene Stadt zu finden. Doch die Legende ist nicht das, was sie zu sein scheint, und wer die goldene Stadt findet, soll ihr nie mehr entkommen … ★★★★★ »Matt James ist DER Mann für schaurige Spannungsunterhaltung!« - Greig Beck, Autor der PRIMORDIA-Trilogie ★★★★★ »Wenn Sie weltumspannende Abenteuer vollgepackt mit abgedrehter Action mögen, werden Sie Matt James' Bücher lieben!.« - Nick Thacker, USA Today Bestseller-Autor ★★★★★ »Matt James' Romane brauchen eine Pause-Taste … es passiert unaufhörlich etwas!« - Lee Murray, Gewinnerin des Bram-Stoker-Awards und Autorin von BEUTEZEIT ★★★★★ »Wenn Sie Spannung, Gänsehaut und Action nonstop suchen, wird Matt James Ihr neuer Lieblingsautor!« - John Sneeden, Bestsellerautor
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Seitenzahl: 438
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This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: THE DORADO DECEPTION. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2021. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
Für Nick Thacker
USA-Today-Bestseller-Autor der Harvey-Bennett-Thriller
Danke, dass du so ein toller Kerl bist.
Deutsche Erstausgabe Originaltitel: THE DORADO DECEPTION Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-857-7
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Bogotá, Kolumbien Heute
Die beiden Männer rannten um ihr Leben. Ihr Auto hatte sich ein paar Straßen hinter ihnen überschlagen. Die beiden bluteten aus verschiedenen Verletzungen, die sie sich bei dem Unfall zugezogen hatten. Hugo war in weitaus besserer Verfassung als sein Partner. Matias hatte einen Schnitt über seinem linken Auge und mehrere an den Armen.
»Hier entlang«, zischte Matias und winkte Hugo durch die Gasse.
Der kleinere Mann huschte auf allen vieren wie ein Eichhörnchen durch die Seitenstraße und stieß mit dem Kopf gegen einen metallenen Mülleimer. Das Geräusch löste ein verärgertes Knurren seines Freundes aus. Er zischte ihn an, leise zu sein, und zog ihn geduckt hinter sich her.
»Warum sind sie überhaupt hinter dir her?«, fragte Hugo schwer atmend.
»Wegen der Dinge, die ich weiß.«
Hugo wollte gerade fragen, was er genau wusste, bekam aber keine Gelegenheit mehr dazu. Ein schwarzer Lieferwagen kam quietschend am Ende der Gasse zum Stehen. Hugo und Matias drehten sich um und sahen, wie ein weiterer Lieferwagen auch das andere Ende der Gasse versperrte. Hugo versuchte, die nächstgelegene Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Das Restaurant hatte schon vor Stunden geschlossen.
Matias drängte Hugo in den Schatten eines Müllcontainers. Er holte zwei große Müllsäcke aus einer nahe gelegenen Mülltonne und warf sie seinem Freund über den Kopf.
»Was machst du da?«, fragte Hugo.
»Dir das Leben retten.«
»Nein, Lorenzo. Ich …«
Matias hob die Hand. »Sie haben dich nicht gesehen. Sie sind wegen mir hier.« Er zog sein Handy aus der Tasche, tippte fieberhaft eine Nachricht an jemanden, nickte und warf das Gerät gegen das Backsteingebäude. Hugo spürte, wie ein Stück des Telefons auf seine Haut traf, als es zerschellte.
Dann stand Matias auf, sehr zu Hugos Leidwesen. »Wir sehen uns wieder, mein Freund.«
Bevor Hugo ihn anflehen konnte, zu bleiben, trat Matias aus den Schatten und warf seine Waffe weg. Er hob die Hände und drehte sich im Kreis, um zu zeigen, dass er in der Tat unbewaffnet war.
»Wo ist Ihr Partner?«, wollte einer der Männer wissen. Der Sprecher war von Hugos Position aus nicht zu sehen.
»Leckt mich am Arsch!«, rief Matias und trat vor. Dabei verdeckte er Hugo mit seinem eigenen Körper.
»Er will Sie sehen«, sagte ein anderer Mann.
»Nun, dann können Sie ihm ausrichten, dass auch er mich am Arsch lecken kann.«
Hugo grinste. Matias konnte wirklich gut mit Menschen umgehen.
Der Neuankömmling gluckste. »Sagen Sie es ihm selbst.«
Das leise Bellen eines schallgedämpften Gewehrs ließ Hugo zusammenzucken. Matias brach augenblicklich auf dem rissigen Asphalt zusammen. Im Scheinwerferlicht des Lieferwagens sah Hugo ein kleines Projektil aus Matias' Brust ragen. Er war angeschossen worden, aber nicht von einer Kugel. Matias war mit einem Betäubungspfeil ausgeschaltet worden. Wer auch immer hinter ihm her war, wollte ihn lebend.
Hugo tat, was sein Freund ihm geraten hatte, und blieb, wo er war. Erst, als die beiden Lieferwagen längst weg waren, richtete sich Hugo auf wackeligen Beinen wieder auf. Er trat aus dem Schatten und vergewisserte sich, dass die Luft rein war, bevor er sein eigenes Telefon zückte.
Wen kann ich anrufen?
Hugo verfügte über mehr Verbindungen als die meisten anderen Menschen, aber zu niemandem, der ihm die Antworten oder die Hilfe hätte geben können, die er jetzt brauchte. Sein Fuß trat auf etwas. Als er den Stiefel zurückzog, sah er, dass es Matias' zerstörtes Handy war. Er bückte sich, hob es auf und bemerkte das Flackern des defekten Displays. Obwohl der Bildschirm zerbrochen war, konnte er die letzte Nachricht des TAC-Agenten lesen. Hugo wusste alles über Matias' derzeitigen Arbeitgeber.
»El Dorado existiert.«
Internationaler Flughafen El Dorado, Bogotá, Kolumbien Einen Monat später
Mitten in der Nacht ins Ausland zu fliegen machte es für Jack Reilly fast unmöglich, die Uhrzeit zu schätzen. Die Sonne stand jetzt fast an ihrem höchsten Punkt. Nach seiner Schätzung musste es auf Mittag zugehen. Er versuchte, seinen linken Arm zu heben und auf die Uhr zu sehen, aber es gelang ihm nicht. Seine überfüllten Seesäcke waren schwer und unhandlich. Sein nächstes Ziel lag vor ihm, und damit auch der zweite Teil seiner Mission – das Treffen mit Hugo Nunez, einem erstklassigen Schmuggler. Der erste Teil von Jacks erstem Auftrag war damit abgeschlossen. Der Spezialagent des Tactical Archaeological Command war in Bogotá angekommen, und zwar in einem Stück.
»Winner, Winner«, murmelte er und übersprang dabei den Teil mit dem Chicken-Dinner.
Jack hatte sich noch nicht daran gewöhnt, mit gefälschten Ausweisen zu reisen. Sein Führerschein und sein Reisepass waren gefälscht, aber die Leute im TAC-Hauptquartier hatten ganze Arbeit geleistet und ihn mit den überzeugendsten Fälschungen ausgestattet, die er je gesehen hatte. Sie enthielten alle Wasserzeichen und Hologramme, die sie haben sollten. Jack fühlte sich eher wie ein Mitglied der CIA als das einer Schutzorganisation.
Hugo war seit Jahren mit Lorenzo Matias befreundet und derzeit einer der Kontakte des TAC-Agenten. Er hatte die Entführung von Matias aus nächster Nähe miterlebt und war die letzte bekannte Person, die ihn gesehen hatte. Die beiden waren zusammen in der Nähe von Bogotá aufgewachsen, bevor Matias in die Vereinigten Staaten gezogen, zur Schule gegangen und schließlich in die Strafverfolgung eingestiegen war. Soweit Jack wusste, war Matias ähnlich wie er für das TAC rekrutiert worden, obwohl Jack bezweifelte, dass Direktor Raegor jemals unangemeldet in Matias' Haus aufgetaucht war und sich eine Tasse dunklen Röstkaffee gegönnt hatte.
Matias ausfindig zu machen war Jacks Hauptaufgabe. Er war einige Wochen nach der Infiltrierung von Santiago Aguilars Organisation entführt worden. Es gab Gerüchte, dass der Drogenbaron auf der Suche nach etwas war, das die Welt verändern würde. Das gehörte zwar nicht zu seinem Auftrag, aber falls Jack etwas mehr Zeit zur Verfügung stehen sollte, würde er Aguilars Organisation in Schutt und Asche legen. Es war ein klassisches ›zwei Fliegen mit einer Klappe‹-Szenario.
Rette die Welt und versaue einem Bösewicht den Tag.
Jack konnte es immer noch nicht fassen. In seinem ersten Auftrag bei der TAC sollte es um einen Vermisstenfall gehen, bei dem auch Piraten und Drogenkartelle eine Rolle spielen würden. Jacks Briefing per Telefonkonferenz mit dem offiziell toten Solomon Raegor und seiner engen Vertrauten Edith »Eddy« Marker war kurz und knapp gewesen. Sie hatten ihm alle Informationen gegeben, die sie ihm geben konnten. Dann hatten sie ihn auf die Reise geschickt und vertrauten darauf, dass Jacks militärische Ausbildung und seine Überlebenskünste ausreichen würden, um ihn am Leben zu erhalten. Er konnte nicht glauben, wie schnell er ins Getümmel geworfen worden war. Andererseits hatte Raegor ihn gewarnt, dass es nicht einfach werden würde.
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Jack den glatzköpfigen Afroamerikaner während der Videokonferenz. »Ich soll mich auf die Suche nach El Dorado begeben?«
»Ja, Jack, wir meinen es sehr ernst.«
Er fuhr sich mit seinen Händen durchs Haar. »Mein erster Einsatz startet mit El Dorado?«
Raegor lächelte. »Ja, das tut er.«
Die letzte Korrespondenz zwischen der TAC und dem vermissten Agenten war eine verschlüsselte Nachricht gewesen, die lautete: El Dorado existiert. Jack war genauso fassungslos gewesen wie alle anderen. Tatsächlich war er es immer noch. Die legendäre Stadt aus Gold war angeblich genau das – nur eine Legende. Es hatte nie einen konkreten Beweis für ihre Existenz gegeben. Gerüchte und haarsträubende Geschichten rankten sich um das verlorene Dschungelreich, aber keine von ihnen passte zu den anderen. Die Ungereimtheiten verrieten Jack, dass es da draußen wahrscheinlich nichts zu finden gab. Er hatte sich während seines gesamten Fluges darüber informiert.
Und doch bin ich hier, dachte er. Er rieb sich das Handgelenk. Jack hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, seine Armbänder nicht mehr zu tragen. Aber das gehörte dazu, wenn man ein Geist war. Wenn er sie trug, konnte er besser identifiziert werden. Und wie viele weiße Amerikaner Ende dreißig trugen in Kolumbien schon indianischen Perlenschmuck?
Die Antwort? Keiner.
Er bezweifelte, dass er nach Südamerika geschickt worden wäre, wenn es dort nichts zu finden gäbe. Matias war Kern der Mission, aber auch, herauszufinden, warum er an die Existenz von El Dorado glaubte, wie er in seinem verschleierten Kommuniqué erklärt hatte.
In Bogotá herrschten derzeit 18 Grad Celsius. Jacks Lederjacke und Jeans sollten vorerst genügen, um sich wohlzufühlen. Er hatte vor, seine ›Firmenkarte‹ zu benutzen, um in der Stadt ein paar Dinge zu kaufen. TAC-Agenten reisten mit leichtem Gepäck. Sie zogen von Ort zu Ort und brachten selten etwas Wertvolles mit. Da sie schnell wieder verschwinden mussten, durften sie nur sehr wenige Beweise zurücklassen. Offiziell existierte das TAC nicht – das musste Jack sich merken.
Selbst jetzt enthielt sein Gepäck kaum etwas Brauchbares. Die Taschen gaben ihm den Anschein eines Reisenden, der vorhatte, noch eine Weile zu bleiben. Er war gewarnt worden, dass die Lösung dieser Aufgabe Wochen dauern könnte.
Eine Doppeltür öffnete sich und gab den Blick auf den Abholbereich frei. Ihm blies die Außentemperatur ins Gesicht, aber er war zu sehr auf den Mann vor ihm konzentriert, um die frische Luft zu bemerken. Der Fremde hielt ein Stück Pappe in der Hand, auf das Jacks Name gekritzelt war. Es war der erbärmlichste Limousinenservice, den er je gesehen hatte.
Mit seinen knapp zwei Metern überragte Jack den Einheimischen und war zudem vierzig oder fünfzig Pfund schwerer. Doch trotz der eher zierlichen Statur des Mannes war er kräftig gebaut, wie ein amerikanischer Pitbull.
»Hugo Nunez?«, fragte Jack und stellte seine Taschen ab.
Die Augen des Mannes leuchteten auf, und er faltete hastig sein Schild in der Mitte zusammen. Er schob es unter seinen linken Arm, trat vor und streckte seine Hand aus. Jack ergriff sie. Anstatt aber mit offenen Armen empfangen zu werden, ließ Hugo seine Hand los und schnappte sich Jacks Habseligkeiten.
Mit leiser Stimme murmelte er: »Wir werden beobachtet.«
Nun, das hat nicht lange gedauert.
Jack ließ sich nichts anmerken. Hätte er es getan, wäre es ein Zeichen an die Beobachter gewesen, dass sie entdeckt worden waren. Das war normalerweise der Zeitpunkt, an dem die Kacke zu dampfen begann. Also blieb Jack ruhig, lächelte, nickte und wirkte sehr zufrieden. Er nutzte sein peripheres Sehvermögen, um die anderen Autos um sie herum zu mustern, konnte aber nichts Interessantes entdecken. Während Hugo seine Taschen in den Kofferraum seines abgenutzten Range Rovers lud, setzte sich Jack lässig eine Sonnenbrille auf, gähnte und streckte sich. Er drehte sich um und drückte knackend den Rücken durch.
Und dann sah er sie.
Zwei Autos hinter ihnen stand ein schwarzer Lieferwagen. Anders als bei den anderen Wagen am Flughafen standen die Insassen nicht neben dem Fahrzeug, um jemanden zu begrüßen. Sie waren stattdessen auf etwas anderes konzentriert – auf jemand anderen.
Jack versuchte, die Beifahrertür zu öffnen, wurde aber aufgehalten.
»Nein, stiegen Sie hinten rein!«, zischte Hugo mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich soll Ihr Fahrer sein.«
Hugo öffnete Jack die Tür und verbeugte sich leicht, um für die Umstehenden eine Show abzuziehen. Jack kam sich lächerlich vor. Er hatte keine Ahnung, warum er wie ein VIP behandelt wurde, aber er musste seinem Kontaktmann vertrauen und seinen Anweisungen folgen.
»Ähm, danke«, sagte Jack und stieg in das laufende Fahrzeug.
»Gern geschehen, Sir«, antwortete Hugo laut.
Hugo eilte um das Heck des Wagens herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Er setzte sich, schlug die Tür zu und öffnete schnell die Mittelkonsole. Jack war überrascht, als der Mann eine geladene Glock-19-Pistole, zwei Reservemagazine und ein Schulterholster hervorholte.
»Hier«, sagte er, »nehmen Sie das.«
Jack widersprach nicht. Er schlüpfte aus seiner Jacke und schlang sich das Holster um beide Schultern. Er warf einen kurzen Blick auf die Pistole und stellte fest, dass sie in gutem Zustand war. Auch die Magazine schienen in einwandfreiem Zustand zu sein. Er zog seine Jacke wieder an und stellte die einzige Frage, auf die er eine Antwort benötigte.
»Was zum Teufel ist hier los?«
»Die sind der Grund, warum Sie hier sind«, sagte Hugo und fuhr den Wagen vom Bordstein.
Jacks Gesicht muss widergespiegelt haben, was er fühlte. Verwirrung.
»Das letzte Mal, als Lorenzo Matias gesehen wurde – und zwar von mir – war er bewusstlos und wurde in exakt einen solchen Transporter geladen.« Hugo deutete mit dem Daumen über seine Schulter.
»Oh, Scheiße«, sagte Jack und drehte sich um.
»Ja, mein Freund. In der Tat, ›Oh Scheiße‹.«
Jack grinste. »Ihr Englisch ist gut.«
Hugo zuckte mit den Schultern. »Ich habe mit vielen Amerikanern zu tun …«
Wirklich? Jack ließ die Bemerkung unbeantwortet. Dafür war er nicht hier.
»Wie ist Ihr Spanisch?«, erkundigte sich Hugo.
Jack wackelte mit der Hand hin und her. »Ich kenne die Grundlagen.«
»Immerhin.«
Erstaunlicherweise raste Hugo nicht wie von der Tarantel gestochen davon. Er hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den belebten Flughafenstraßen und wartete geduldig, bis er an der Reihe war. Dann bog er vorsichtig in die El Dorado Avenue ein und blieb auf der langsameren, äußeren Spur. Jack wollte gerade vorschlagen, dass sie verduften sollten, aber Hugo erklärte ihm seine Beweggründe.
»Sie wissen nicht, dass ich es weiß«, sagte er. »Sie verfolgen mich schon seit einiger Zeit, aber sie hatten keinen Grund, darüber hinauszugehen.« Jack sah, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht bildete. »Außerdem habe ich ein paar weniger höfliche Freunde, denen sie Rechenschaft ablegen müssen, falls sie mir etwas antun.«
Während einige Leute Drogen und sogar Menschen durch die losen Grenzen Kolumbiens schmuggelten, handelte Hugo Nunez mit allem anderen. Zu seinen Waren gehörten Kleidung, Tiere, medizinischer Bedarf, Elektronik und sogar Waffen. Aber niemals Drogen oder Menschen. Jack wusste nicht, warum Hugo Nunez noch ein Gewissen besaß, aber das tat er, und Jack respektierte den Mann dafür.
Der Grund, warum er noch im Geschäft war, bestand darin, dass er Käufer in einflussreichen Positionen hatte. Einige von ihnen befanden sich angeblich in der Regierung des Landes, obwohl Jack bezweifelte, dass man ihnen etwas anhängen konnte. Die zivilen Unruhen hatten revolutionäre Typen auf den Plan gerufen. Sie waren zwar nicht ganz so dreist wie die Milizen in der afrikanischen Kongoregion, aber nahe dran. Nicht jeder ›Staat‹ in Südamerika wurde von einem korrupten Gouverneur geführt, aber einige, besonders in den kleineren, ländlichen Gebieten, wo die Medien weniger präsent waren.
Jack verfolgte nervös, wie sich der Lieferwagen an ihre Fersen heftete. Aber Hugo schien es nicht zu stören. Sein Vertrauen in die Situation war zwar beruhigend, kam ihm aber auch unglaublich dumm vor. Wäre Jack der Mann am Steuer gewesen, hätte er das Gaspedal durchgedrückt und versucht, sie abzuhängen.
»Also«, sagte Hugo und beäugte Jack im Rückspiegel, »Sie haben doch bestimmt Hunger, oder?«
»Hunger?«, fragte Jack.
»Ja, Hunger. Wie Essen.«
»Äh, klar, Essen.« Ein Mittagessen war das Letzte, was Jack im Moment wollte. Aber was konnte er tun? Er war der Gnade seines Fahrers ausgeliefert. »Ja, ich könnte etwas zu essen vertragen.«
Hugo lächelte breit. »Sehr gut. Ich kenne einen Ort am Rande der Stadt. Da können wir uns entspannen und es uns gut gehen lassen.«
Der Lieferwagen fiel etwas zurück, verfolgte sie aber immer noch.
Vielleicht eskortieren sie uns nur aus der Stadt? Jack hoffte, dass dies der Fall war.
Hugo setzte den Blinker und fuhr an einem schweren hydraulischen Kranwagen vorbei. Er war mit einem dicken Auslegerarm und allem Drum und Dran ausgestattet. Mit seiner knallgelben Lackierung stach er wie ein wunder Daumen hervor. Es war ein Ungetüm von einem Fahrzeug und es musste verdammt viel Spaß machen, es zu bedienen.
Eine Abrissbirne wäre auch nicht schlecht.
Der Highway stieg etwas an und umging einige belebt aussehende Kreuzungen. Jack schätzte, dass sie sich jetzt etwa neun Meter über dem Boden befanden – Tendenz steigend.
»Wohin fahren wir?«, erkundigte er sich und stellte sich dabei vor, wie er eine riesige Steinkugel in die Seite eines Abbruchhauses schwang.
»Zum Abuelita's.«
Die Antwort verwirrte Jack. »Wir fahren zum Haus Ihrer Großmutter?«
Hugo lachte laut auf und schnaubte zweimal. »Nein, mein Freund, Sie irren sich. Das Abuelita's ist ein Lokal. Fabelhaftes Essen! Ich erledige einen Teil meiner Geschäfte dort.«
»Wie ist der Kaffee?«, fragte Jack und gähnte.
»Schrecklich, aber es wird Ihnen trotzdem guttun.«
Er zuckte mit den Achseln. »Soll mir reichen.«
»Gut, wir sind gleich …«
Jack hörte ihm nicht mehr zu, weil er zu seiner Linken etwas Schreckliches wahrnahm.
»Oh Scheiße.«
Das Dach des Range Rovers explodierte nach innen und gab den Blick auf den Haken des Kranwagens frei. Er landete mit einem Knall direkt zwischen Jacks gespreizten Beinen und verankerte sich im Boden. Es gelang ihm gerade noch, seine untere Körperhälfte aus dem Weg zu räumen. Jack warf einen Blick nach links und sah das Unmögliche. Jemand saß hinter der Steuerung des mobilen Baukrans. Der Mann zog an einem Hebel und schockierenderweise hob der Range Rover vom Boden ab, während er noch in Bewegung war.
»Verdammte Scheiße!«, rief Jack und griff nach seiner Pistole.
Hugo schrie irgendwo auf der anderen Seite des Kranhakens aus Leibeskräften. Seine Schreie und das kreischende Metall der Decke des Geländewagens waren kaum voneinander zu unterscheiden. Ihr ständiges Auf und Ab brachte Jack dazu, nach seiner Waffe zu tasten, und er tat das Einzige, was er konnte – er klammerte sich an sein Leben.
Der Haken verrutschte und hätte sie fast wieder auf den Highway fallen lassen, was Jack auf eine Idee brachte. Er wartete, bis sich der schaukelnde Geländewagen ein wenig beruhigt hatte, und schob seine Hand in seine Jacke. Schnell zog er seine Glock hervor und richtete sie auf den Kranführer. Er gab vier Schüsse in rascher Folge ab. Die Schüsse aus nächster Nähe dröhnten in seinen Ohren, aber leider traf keine der 9-mm-Kugeln ins Ziel. Sie zertrümmerten lediglich das Beifahrerfenster hinter der Fahrerseite und prallten am Stahlrahmen der Kabine des Kranführers ab. Der andere Mann duckte sich und seine Brust drückte gegen einen der Steuerhebel. Der Range Rover schwenkte seinerseits nach links. Sie schwebten über den sie noch immer verfolgenden Lieferwagen hinweg und verfehlten sein Dach nur um wenige Zentimeter.
Jack wurde auf dem Rücksitz herumgeschleudert wie eine Stoffpuppe in einem Wäschetrockner. Es gab keinen Teil von ihm, der nicht gegen etwas Starres und Unbewegliches stieß. Sein Hinterkopf zauberte ein Spinnwebenmuster auf das andere Beifahrerfenster, und er glaubte, sein Blut zu spüren.
Keine Zeit dafür, dachte er und machte sich bereit. Er würde nur noch eine Chance bekommen.
Jack wartete darauf, dass der Kranführer die Steuerung wieder unter seine Kontrolle brachte. Als ihm das gelungen war, schwenkte er sie wieder herum. Dieses Mal aber war Jack besser vorbereitet.
Der Range Rover befand sich wieder an seinem ursprünglichen Platz – rechts neben dem Kranwagen. Jack setzte sich auf und umklammerte seine Pistole fest mit beiden Händen. Er hob die Waffe und feuerte zwei weitere Geschosse in das Führerhaus des Krans. Eine der beiden Kugeln traf den Kranführer in die Brust. Die Wucht riss den Oberkörper des Mannes nach hinten. Er prallte schnell von seinem Sitz ab und fiel nach vorne, wo er direkt auf das Armaturenbrett sank. Dankenswerterweise kehrte der Geländewagen zusammen mit Jack und Hugo langsam auf die Straße zurück, aber sie wurden gleichzeitig zum Heck des gelben Kranwagens zurückgedreht.
Die Reifen auf der Fahrerseite des Range Rovers streiften den verfolgenden Lieferwagen hart genug, dass er in einer Funkenexplosion auf die Seite kippte. Die Kollision hätte beinahe auch Jack und Hugo aus dem Wagen geschleudert. Das hätte eine schreckliche Erfahrung für sie werden können, denn dann hätten sie beide das gleiche Schicksal geteilt. Jack zuckte zusammen, als ein schnell fahrender Sattelschlepper gegen das Dach des unbeweglichen Lieferwagens krachte und ihn wie eine Blechdose plattdrückte.
Sie schwebten weiter auf der linken Seite des Kranwagens entlang und wurden kurz schwerelos, als sie abgeworfen wurden. Jack hörte, wie der Motor ansprang, und als sie aufschlugen, gerieten sie ins Schleudern. Aber als die durchdrehenden Reifen Halt fanden, rasten sie los und schossen im Zickzack durch den Verkehr.
Über das Rauschen der Luft und die Autohupen hinweg rief Jack: »Ich schätze, Sie sind wohl doch nicht so unantastbar, was?«
Hugo knurrte und packte das Lenkrad fester. »Ja, dank Ihnen und Ihren Freunden«, erwiderte er. »Ihr Amerikaner … ständig bringt Ihr eure Probleme mit, wohin ihr auch geht.«
Jack wusste nicht, wovon der Mann sprach, aber er wollte Hugo seinen kleinen Sieg gönnen. Die beiden Männer sprachen erst wieder, als sie sicher die Innenstadt von Bogotá hinter sich gelassen hatten. Jack gluckste leise, als Hugo auf den Parkplatz eines heruntergekommenen Einkaufszentrums einbog. So wie es aussah, gab es nur noch ein paar Geschäfte, die hier betrieben wurden. Eines davon war …
»Das Abuelita's?«, fragte Jack völlig erstaunt darüber, dass Hugo nach dem, was sie gerade überlebt hatten, immer noch zum Mittagessen anhalten wollte. Vielmehr hätten sie für ein paar Tage untertauchen sollen. Aber was immer sie auch taten, Jack musste Raegor im Hauptquartier kontaktieren und berichten, was passiert war. Es konnte kein Zufall sein, dass er nur wenige Minuten nach seiner Ankunft angegriffen worden war.
Der TAC-Maulwurf? Jack war sich nicht sicher, aber jemand versorgte die bösen Jungs definitiv mit Informationen. Raegor war zu Recht paranoid. Wenn jemand gegen das TAC arbeitete, dann musste Jack das bestätigen. Vielleicht musste er die Person sogar töten. Sein erster Verdächtiger war Lorenzo Matias. Er war spurlos verschwunden, und nur Hugo wusste, was geschehen war. Das war eine der ersten Fragen, die Jack dem Schmuggler stellen würde.
Was geschah in dieser Nacht?
Und dann war da noch Hugo selbst. Hatte er Matias verraten? Wie Raegor gesagt hatte, wussten nur wenige Leute im TAC, wo der Agent gewesen war und was er untersucht hatte. Die einzige andere Person, die etwas wusste, war Hugo.
»Was?« Die Reaktion des Einheimischen lenkte Jacks Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Hugo zuckte mit den Schultern und öffnete seine Tür. »Dieses ganze Abenteuer hat mich noch hungriger gemacht.«
Da er nichts anderes zu tun hatte und ohnehin nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte, folgte Jack Hugo aus dem zerstörten Range Rover. Zum Glück war es kein neueres Modell. Dennoch war ein Fahrzeug dieser Marke und dieses Modells an einem Ort wie Kolumbien ein wertvolles Gut. Der leistungsstarke Motor und die robuste Konstruktion waren perfekt für Expeditionen ins Gelände.
»Das mit dem Auto tut mir leid«, sagte Jack und legte Hugo sanft die Hand auf die Schulter. Er würde dem Einheimischen einen Vertrauensvorschuss gewähren. Das Leben von Jack und Matias war nicht das Einzige, was auf dem Spiel stand, wenn die Dinge derart unschön blieben.
Hugo tätschelte Jacks Hand und sah zu ihm auf. »Ist schon okay«, antworte er und zwinkerte ihm zu. »Ich habe noch zwei Weitere davon.«
Wie ein Gespenst erschien auf magische Weise ein Junge von nicht mehr als vierzehn Jahren. Erst als Jack das Klingeln bemerkte, wurde ihm klar, dass der Junge aus dem Inneren des Abuelita's gekommen war. Ohne weiter darüber nachzudenken, reichte Hugo dem Jungen seine Schlüssel und brabbelte etwas auf Spanisch vor sich hin. Jack verstand genug von der Sprache, um sich in der Stadt zurechtzufinden, aber bei weitem nicht genug, um ein verständliches Gespräch zu führen. Hugo, so schien es, sprach die Sprache in Lichtgeschwindigkeit.
Er winkte Jack nach vorne. »Kommen Sie. Jetzt essen wir etwas.«
»Und was macht der Junge mit Ihrem Auto?«
»Oh, machen Sie sich wegen Juan keine Sorgen.« Hugo lächelte. »Er wird ihn irgendwo deponieren, wo er das Interesse einiger skrupelloser Leute wecken wird.«
»Sie wollen ihn sich klauen lassen?« Jack kratzte sich am Kopf und folgte Hugo ins Haus. »Aber wird die Polizei ihn denn nicht zwangsläufig zu Ihnen zurückverfolgen?«
Hugo stieß ein Lachen aus. »Nein, mein Freund, so funktioniert das hier unten nicht. Außerdem«, sein Lächeln verwandelte sich in ein verschmitztes Grinsen, »ist der Besitzer dieses Fahrzeugs vor sechs Jahren gestorben.« Bei dem Wort ›gestorben‹ malte Hugo Anführungszeichen in die Luft.
Verstehe, dachte Jack beeindruckt, Hugo hat die Registrierung gefälscht. Kluger Mann.
Das Abuelita's war ähnlich wie ein Diner zu Hause eingerichtet. In dem malerischen Speisesaal standen acht Tische – die allesamt leer waren. Im hinteren Teil des Raums befand sich ein Tresen mit einer Kuchentheke und einer Kasse. Es war ein einfacher Ort, und es roch herrlich.
Jack sog die Luft ein. Es duftete nach fettigem Fleisch und verbranntem Kaffee. Ein Teil seiner aufsteigenden Unruhe legte sich, als sie sich an den mittleren Tisch setzten. Ohne ein Wort zu sagen, schlurfte eine kleine, hagere alte Frau aus dem Kücheneingang. Sie trug ein einfaches Kleid und eine schmutzige, abgenutzte Schürze.
»Abuelita?«, mutmaßte Jack und deutete auf die ältere Frau.
Hugo nickte und setzte zu einer weiteren Runde blitzschnellen Spanischs an. Abuelita zuckte nicht einmal und schenkte dem Amerikaner auch keine Aufmerksamkeit. Wie Hugo zuvor bemerkt hatte, wickelte er hier regelmäßig Geschäfte ab. Die Matriarchin war es offenbar gewohnt, dass Fremde hereinkamen und sich zu Hugo setzten.
Sie steht wahrscheinlich auf seiner Gehaltsliste, folgerte Jack. Das machte Sinn. Die Gegend hatte zu kämpfen, und ein Lokal wie dieses hätte schon vor Jahren geschlossen werden müssen, wie alles andere in der Umgebung auch. Und doch war es noch in Betrieb, obwohl es bis auf Jack und den Schmuggler leer war.
»Also«, begann Jack, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, »Matias.«
»Was ist mit ihm?«
»Erzählen Sie mir, was in der Nacht seines Verschwindens geschah.«
Hugo schien nicht sonderlich erpicht darauf zu sein, darüber zu sprechen, aber er nickte.
»Lorenzo rief mich an und bat mich, ihn zu treffen. Er sagte, es sei dringend, aber er wollte nicht am Telefon darüber sprechen.«
»Wieso nicht?«, fragte Jack.
»Er sagte, er werde überwacht.«
Jacks Augen weiteten sich. »Wirklich? Von wem?«
Hugo zuckte mit den Schultern. »Wer schon?«
»Aguilar?«
»Ja, Aguilar. Lorenzo schien nervös zu sein – mehr als sonst. An der Geschichte war mehr dran als das, was er mir erzählte. Er klang verängstigt, als hätte er den Teufel persönlich gesehen.«
»Wie war er denn vorher?«
Hugo lachte und schlug sich einmal mit der Faust auf die Brust. »So wie ich! Fuerte! Stark! Ich kenne ihn schon seit vielen, vielen Jahren und habe ihn noch nie so verängstigt erlebt.«
»Und Sie glauben, es war Aguilar, der ihm Angst gemacht hat?«
»Das tue ich.«
Sie wurden für einen Moment von Abuelita unterbrochen. Sie brachte ihnen das Essen. Jack hatte erwartet, etwas Ausgefallenes zu sehen. Stattdessen sah er nur zwei Tassen mit schwarzem Kaffee und zwei gewöhnlich aussehende Frühstücksburritos.
»Gracias«, bedankte sich Jack.
Wie schon zuvor schenkte sie Jack keine Beachtung und schlurfte zurück in die Küche. Auch wenn das Essen fad aussah, gab es an dem Duft nichts auszusetzen. Es schadete auch nicht, dass er jetzt einen Bärenhunger verspürte. Sein Schlafrhythmus war derzeit durcheinander, was bedeutete, dass auch seine Essgewohnheiten durcheinandergeraten waren.
Er widmete sich zuerst dem Kaffee und hoffte, dass er schnell wirken würde. Als er vorsichtig daran nippte, stellte er fest, dass er unglaublich weich und röstig war – und kaum bitter. Er war köstlich! Hugo hingegen musste fast würgen, als er einen Schluck nahm. Es war klar, dass er und Jack nicht den gleichen Geschmack teilten.
Etwa nach der Hälfte vieler weiterer Nachfüllungen setzte Jack das Gespräch fort. »Erzählen Sie mir von Aguilar.«
Hugo ließ seine Gabel fallen. Wenn es ihm bereits unangenehm gewesen war, über Matias zu sprechen, schien er jetzt geradezu versteinert. Hugo musste etwas Schreckliches zugestoßen sein. Und es war offensichtlich, dass Aguilar irgendwie dafür verantwortlich gewesen war.
»Santiago Aguilar hat meine Schwester ermordet.«
Und da haben wir es auch schon.
Jack lehnte sich zurück, während Hugo erzählte.
Zwei Jahrzehnte zuvor hatte sich Valentina Nunez mit einem jungen Mann namens Santiago getroffen, sehr zum Leidwesen ihrer Eltern und ihres älteren Bruders Hugo. Aguilars Familie war wohlhabend, und er hatte Valentina ein Leben gezeigt, von dem sie immer geträumt hatte. Sie reisten ins Ausland und besuchten üppige Partys. Sie lernten einige sehr einflussreiche Leute kennen – sowohl ehrenwerte als auch weniger ehrenwerte. Aguilars Privatleben war nicht so geordnet, wie es nach außen den Anschein hatte. Er konsumierte regelmäßig Drogen, vor allem Kokain. Valentina entwickelte ebenfalls ein Interesse daran. Im Laufe der Monate wurde sie immer mehr zu einem Schatten ihrer einstigen Schönheit. Als sie neunzehn Jahre alt wurde, verließ sie Aguilar für immer und setzte nie wieder einen Fuß in das Haus der Nunez. Einige Jahre später erreichte sie per Telefonanruf die Nachricht von ihrem Tod. Die Polizei teilte ihnen mit, dass sie an einer Überdosis gestorben sei und man sie auf der Straße herumirren gesehen habe, bevor sie zusammengebrochen war.
Aber Hugo wusste, was wirklich geschehen war.
»Aguilar und Valentina waren in der Nacht, in der sie starb, zusammen – ich weiß es! Er hat ihre Leiche entsorgt, um zu verhindern, dass er verdächtigt wird. Er hat sie weggeworfen, als wäre sie ein Stück Dreck!«
Jack wollte sich nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, ob Aguilar tatsächlich für Valentinas Tod verantwortlich war oder nicht. Allerdings trug er zweifellos Schuld daran. Letztendlich aber war Hugos kleine Schwester die Schuldige gewesen. Sie hatte ihre eigenen Entscheidungen getroffen.
Und sie hat dafür mit ihrem Leben bezahlt.
»Mein Beileid für Ihren Verlust.« Jack hob seinen Becher. »Auf Valentina.«
Hugo wischte sich die Nase ab und stieß mit Jacks Tasse an. »Danke, mein Freund. Sie erinnern mich an Lorenzo.« Er lächelte. »Valentina hätte Sie beide gemocht, glaube ich.«
Beide leerten ihren Kaffee und knallten ihre Tassen auf den Tisch. Abuelita antwortete auf den Ruf und kam mit einem Nachschlag herbeigeeilt. Und wieder einmal sah sie Jack nicht einmal an.
»Was ist mit ihr los?«, fragte Jack, der es ganz genau wissen wollte.
»Abuelita?«
»Ja, sie beachtet mich überhaupt nicht, seit ich hier reingekommen bin.«
Hugo verstand. »Oh, ja. Nun, Abuelita mag keine Amerikaner.«
»Wieso denn nicht?«
Hugo lächelte. »Ihr gebt ein lausiges Trinkgeld.«
Beide Männer lachten. Es war erfrischend. Aber Jack hatte noch eine Mission zu erfüllen.
»Hören Sie, Hugo, ich weiß, es ist ein heikles Thema, aber ich muss mehr über Aguilar wissen.«
Hugo nickte und holte tief Luft. Er schaufelte sich eine Gabel von seinem Burrito in den Mund und sprach weiter. »Ja, natürlich. Wir haben doch noch einen Job zu erledigen, nicht wahr?«
»So ist es«, antwortete Jack und lächelte. Hugo besaß eine bewundernswerte Entschlossenheit.
»Lorenzo rief mich an, weil Aguilar etwas gefunden hatte – etwas, das so groß war, dass es die Geschichte verändern würde.«
»El Dorado«, sagte Jack.
»Ja – nun, nein. Lorenzo hat mich gewarnt, dass Aguilar eine Karte gefunden hätte, nicht die Stadt aus Gold selbst.«
»Eine Karte?« In Jacks Kopf schrillten die Alarmglocken. Warnung! Warnung! Warnung! Eine wichtige Information ist im Anmarsch! »Was für eine Karte?«
Hugo beugte sich vor und grinste. »Die Art, die zu einem Schatz führt.« Er hob eine Hand, um weitere Fragen zu unterbinden. »Kommen Sie. Lassen Sie uns diese Diskussion in meinem Büro fortsetzen.«
»Ihr Büro?«
Hugo sah ihn verwirrt an. »Ein Geschäftsmann braucht doch ein Büro, oder?«
Jack stand auf, aber nicht, bevor er seinen nachgefüllten Kaffee geleert hatte. Das Koffein zeigte bereits seine Wirkung. Was immer auch Abuelita für ein Gebräu zusammengerührt hatte, war ein weniger bitterer Blonde Roast mit der anregenden Wirkung einer kubanischen Sorte. Jack vibrierte regelrecht – sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie durchquerten die Küche und hielten auf eine Tür zu, die zu einem Vorratsraum führte. Hugo versuchte nicht, sie zu öffnen. Stattdessen holte er einen Schlüsselbund hervor und schloss die Tür auf.
Ich schwöre, dachte Jack, wenn das ›Büro‹ dieses Kerls nichts weiter ist als eine schmutzige Besenkammer …
Die Tür schwang auf. Dahinter befand sich eine schmutzige Besenkammer, mit Reinigungsmitteln und allem Drum und Dran. Jack seufzte, war aber neugierig, als Hugo ihn hineinführte. »Schnell, weg von den neugierigen Blicken.«
»Aber es ist doch sonst niemand hier. Wer könnte uns schon sehen …«
Er wurde an seinem Hemd hineingezerrt. Hugo schloss die Tür hinter ihnen und tauchte die beiden in Dunkelheit. Ein hörbares Klicken verkündete, dass das Schloss von der anderen Seite wieder verriegelt worden war. Abuelita … seltsamerweise wurde um ihn herum ein leises Brummen hörbar, und der Boden sackte unter ihnen weg. Jack rechnete damit, zu fallen, aber der Abstieg vollzog sich in einem langsamen Tempo, und so fuhren er und Hugo hinab.
Was zum Teufel?
Jack schätzte, dass sie drei Stockwerke zurückgelegt hatten, bevor sie anhielten. Die Besenkammer war in Wahrheit also ein Fahrstuhl. Der Aufzug hielt einen knappen Meter über dem Boden an und Jack und Hugo mussten hinunterspringen, um auszusteigen. Dann ging Hugo zur nächstgelegenen Wand und drückte einen großen roten Knopf. Mit einem hydraulischen Zischen und dem Summen von Maschinen stieg der falsche Boden wieder an die Decke hinauf. Die Hebevorrichtung erinnerte an einen überdimensionalen Scherenlift. Die Technik war beeindruckend.
»Falls es Sie interessiert, nein, das ist nicht mein Werk.«
Jack drehte sich um und sah den Einheimischen an. »Wer hat ihn gebaut?«
»Keine Ahnung. Dieser Ort wurde vor Jahren geräumt. Ich habe davon gehört und bin eingezogen.« Er grinste. »Dann habe ich die benachbarten Geschäfte aufgekauft und meinen Betrieb erweitert.«
»Das kann ich sehen.«
Der Keller unter dem Abuelita's war viel zu groß. Wenn er richtig vermutete, erstreckte er sich unter den anderen Geschäften, die an das Einkaufszentrum angeschlossen waren. Die Betonwände waren eingerissen worden, um die Erweiterung zu ermöglichen. Jack konnte von seinem Standort aus die verschiedenen Farben der einzelnen Räume erkennen.
Er und Hugo waren auch nicht allein. Sechs weitere Personen waren fleißig bei der Arbeit. Zwei sortierten Waffenteile, während die anderen vier offenbar eine neue Lieferung abluden. Durch ein Loch an der Rückseite des Hauptraums konnte Jack sehen, wie die Dinge hereingebracht wurden.
»Ich habe überall Tunnel«, erklärte Hugo. »Wir wechseln unsere Ladedocks, um Interessierte von unserer Fährte abzubringen, und bringen alles rein, was wir brauchen.«
Die Munition war es, die Jacks Aufmerksamkeit erregte. Ein großer Teil davon sah alt und abgenutzt aus. Er sah eine Kiste mit AK-47-Sturmgewehren und sogar ein paar Raketengranaten. Letztere beunruhigten Jack.
»Raketenwerfer, wirklich?«
Hugo hustete und starrte angestrengt in die andere Richtung. »Die sind für einen … schlechten Tag.«
Jack verdrehte die Augen. »Sie sind wirklich ein Pirat, nicht wahr?«
Hugo fand das nicht lustig. »Nein, ich bin ein Revolutionär.«
Jack verschränkte die Arme und lehnte sich gegen eine Kiste. »Wenn es läuft wie eine Ente und quakt wie eine Ente …«
»Ich stehle von denen, die es nicht verdient haben, wie Aguilar. Dann helfe ich denen, die es verdienen.«
»Wissen Sie was, Sie haben recht. Sie sind kein Pirat.« Jack lachte. »Sie sind Robin Hood!«
Hugo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Und Sie können mein Little John sein. Zusammen könnten wir …«
»Danke«, unterbrach ihn Jack und hob eine Hand, »aber ich muss mich um meinen eigenen Mist kümmern.«
»In Ordnung«, antwortete Hugo und gab Jack ein Zeichen, ihm zu folgen.
Er wurde in eine kleine, notdürftig errichtete Kabine in der rechten Ecke des Lagers geführt. Die Wände waren so hoch wie Jack, bis zur Decke fehlte aber über ein Meter. Dennoch boten sie den beiden Männern einen relativ privaten Ort, um ihr Gespräch fortzusetzen. Während sie sich unterhielten, ließ Jack seinen Blick durch das Lagerhaus schweifen und musterte alles, was er sah. Er nahm das Inventar des Raumes und alles, was er für die nächste Etappe seiner Reise brauchen würde, in sich auf – was immer auch als Nächstes folgen mochte.
»Also«, begann Jack und setzte sich, »Sie sagten etwas von einer Karte.«
Hugo ließ sich hinter einem kleinen Schreibtisch nieder und holte eine Flasche von Gott-weiß-was aus einem Regal hinter ihm. Hugo schenkte Jack einen kleineren Schluck und sich selbst einen größeren ein und zwinkerte ihm zu, als er ihm das Glas reichte. Die Flüssigkeit war klar und roch nach Anis.
»Aguardiente?«, fragte Jack.
Hugo lächelte. »Ja, sehr gut, mein Freund.«
Jack nahm einen Schluck. Der Beweis folgte auf der Stelle – es brannte wie die Hölle.
Aguardiente oder Schnaps war sowohl in Mittel- als auch in Südamerika ein traditionelles Getränk. Lokale Schnapsbrenner waren dafür bekannt, unglaublich starke Varianten des Getränks herzustellen.
Das muss eines von ihnen sein.
Jack rümpfte die Nase wegen der Dämpfe – jedoch nicht wegen des Duftes. Es roch herrlich, war aber viel zu stark, als dass Jack es ohne Eis hätte genießen können. Wenn überhaupt, dann brauchte er etwas Eis, um ihn zu verdünnen. Hugo nippte lässig daran und beobachtete Jack dabei aufmerksam. Es war offensichtlich, dass er Jack dabei zusehen wollte, wie er sich ein wenig wandt, bevor sie zum Geschäftlichen kamen. Um es hinter sich zu bringen, kippte sich Jack das Gebräu hinunter und biss die Zähne zusammen. Seine Reaktion auf den Schnaps war minimal, was ihm ein anerkennendes Nicken von Hugo einbrachte. Aber Jack konnte es nicht ewig zurückhalten. Er hustete, und seine Augen tränten.
Auch das schien Hugo glücklich zu machen.
»Nichts für Sie?«, fragte er.
Jack schüttelte den Kopf. »Und auch nicht für mein Auto.«
Hugo beugte sich vor. Sein Blick war ernst geworden. »Was wissen Sie über Diego de Ordaz?«
»Den spanischen Entdecker?« Jack zuckte mit den Schultern. »Nur das, was in den Geschichtsbüchern steht. Er war der erste Fremde, der auf die Legende von El Dorado stieß, richtig?«
»Im frühen 16. Jahrhundert, richtig. Jahre zuvor war Ordaz auch an der Eroberung der Azteken durch Cortés in Mexiko beteiligt.« Hugo lehnte sich zurück und verschränkte die Finger hinter seinem Kopf. »Aguilars Karte soll von Ordaz selbst gezeichnet worden sein.«
Das ließ Jack aufhorchen. Er setzte sich aufrechter hin. »Wirklich?«
»Ja, aber …«
Jacks Schultern sanken. »Aber, was?«
»Wir haben keine Kopie.«
Ach ja, richtig …
»Matias?«, fragte Jack. »Hat er ein Foto davon gemacht?«
Hugo zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Falls ja, hat er sein Handy zerstört, bevor er es mir zeigen konnte.«
Beide Männer wirkten niedergeschlagen. Der einzige Hinweis, den sie auf El Dorado hatten, war eine Karte, die angeblich ein längst verstorbener Konquistador gezeichnet hatte. Eine zweifelhafte Spur. Aber immerhin eine Spur, und besser als alles andere, was ihnen derzeit zur Verfügung stand. Jack konnte sich nicht sicher sein, aber er musste darauf vertrauen, dass Aguilar wusste, was er tat. Der Mann glaubte, dass die Karte echt war, hatte Millionen von Dollar für sie ausgegeben, und wer weiß wie viele Millionen in den letzten drei Jahren mehr, um seine Suche voranzutreiben. Wenn das der Fall war, dann musste auch Jack daran glauben, dass sie echt war.
»Wir brauchen diese Karte«, sagte Jack.
»Ja, aber wie?«
Jack entwickelte schnell einen Plan, aber fürs Erste war er völlig verrückt. Er stand auf und schaute durch die Plexiglasfenster der Kabine. Er erstellte in Gedanken eine Checkliste der Dinge auf, die er brauchen würde, und war froh, das meiste davon hier zu sehen.
Jack warf einen Blick über seine Schulter und grinste Hugo an. »Wir werden sie stehlen.«
Östliches Kolumbien
Der Dschungel um die Ausgrabungsstätte war dicht und größtenteils unzugänglich. Hinter jeder Ecke lauerten Gefahren und drohten, aus dem Dickicht herauszuspringen und einen zu ihrer nächsten Mahlzeit zu machen. Das gefährlichste Raubtier in diesem Gebiet war der mächtige und lautlose Jaguar. Aber in diesem Regenwald gab es auch Kreaturen, die auf zwei Beinen liefen und Sturmgewehre trugen. Vor diesen Jägern war Jorge Gonzalez auf der Flucht.
Aguilars Gefangene – und genau das war Jorge, ein Gefangener – entkamen nur sehr selten. Und wenn doch, hörte man nie wieder etwas von ihnen. Jorge hatte keine Ahnung, wie viele von ihnen es in Sicherheit geschafft hatten – wenn überhaupt. Er hatte auch keine Ahnung, wo er sich befand oder wohin er ging. Vor ein paar Monaten war er zu der Ausgrabungsstätte gebracht worden. Wo sich diese genau befand, konnte Jorge nicht sagen. Aguilars Männer hatten ihm eine Kapuze über den Kopf gezogen, bevor sie ihn in ein Boot verfrachtet hatten.
Im Moment spendete nur der Mond ein fahles, spärliches Licht. Er war mehrmals gestürzt, über Baumwurzeln gestolpert und hatte sich den Knöchel an einem losen Stein verstaucht. Er hielt inne, um zu Atem zu kommen, blickte zurück und rechnete mit einer Bewegung. Doch außer dem Schwanken der Äste und dem Rascheln der Sträucher war nichts zu hören. Es war, als hätte sich der ganze Dschungel schlafen gelegt.
Das bedeutet, dass sie ganz in der Nähe sind, dachte er.
Seine Verfolger, zwei der Wachmänner der Ausgrabungsstätte und zudem gut bezahlte Söldner, waren im Guerillakrieg geübt und ihm zweifellos auf den Fersen. Aguilars Männer kannten die Gegend gut. Für Jorge ein Grund mehr, sich wieder in Bewegung zu setzen. Doch seine Kräfte hatten ihn schon längst verlassen. Aguilar hielt seine Gefangenen, insbesondere diejenigen, die sich ihm offen widersetzten, absichtlich in einem schlechten Zustand. Jorge war unterernährt und überanstrengt. Er war schon erschöpft gewesen, bevor seine gefahrvolle Reise zurück in die Zivilisation begonnen hatte.
Seiner Schätzung nach befand sich Jorge noch meilenweit vom nächsten Dorf entfernt. Das hing natürlich davon ab, ob er in der richtigen Richtung unterwegs war oder nicht. Jorge hatte auf sein Bauchgefühl vertraut und sich in Richtung der Bäume westlich des Geländes begeben. Jetzt hatte er keine Ahnung mehr, in welcher Richtung er unterwegs war. So oder so würde Jorge ein paar Tage brauchen, um die kleine Gemeinde zu erreichen, die er suchte. Wenn er etwas zu essen fand und weit genug vor Aguilars Männern blieb, war Jorge zuversichtlich, es schaffen zu können. Trotzdem betete er wie von Sinnen.
»Lieber Gott, bitte, lass mich meine Familie wiedersehen«, flüsterte er schlotternd.
Er schüttelte heftig den Kopf und blinzelte. Was er noch mehr brauchte als Essen, war Ruhe.
»Noch nicht«, sagte er und sah auf. Ein Regentropfen fiel ihm ins Gesicht. Dann noch einer.
Normalerweise war es eine schlimme Sache, in der kolumbianischen Wildnis in einen Sturm zu geraten. Aber Jorge sah es als ein Zeichen des Allmächtigen, dass er über ihn wachte. Der herannahende Regenschauer würde wie ein Schleier wirken und seine Spuren verwischen.
Jorge legte seine zitternde Hand auf einen umgestürzten Baumstamm und sprang vorsichtig über ihn hinweg. Als er den morschen Baumstamm hinter sich gelassen hatte, stach ihm etwas in die Seite. Er versuchte, seinen Sturz abzufangen, stellte aber schnell fest, dass sich kein Boden unter seinen Füßen befand. Jorge fiel und krachte einen Herzschlag später ungeschickt auf den Boden des Dschungels. Der Donnerschlag, der um ihn herum ertönte, ging dabei fast unter.
Jorge rollte etwa sechs Meter weit, bevor er mit dem Gesicht nach unten auf die Erde liegenblieb. Unter Schmerzen drehte er sich auf den Rücken, setzte sich auf und blickte an seinem Oberkörper hinunter. Jorge konnte nichts sehen, aber spüren. Eine zähflüssige, warme Flüssigkeit überzog seine Hand. Er zählte zwei und zwei zusammen. Der einzelne Donnerschlag war nicht natürlichen Ursprungs gewesen. Es war der Knall eines Schusses gewesen.
Jemand hatte auf Jorge Gonzalez geschossen.
Unfähig, sich aufzurichten, blieb er auf dem Rücken liegen und schob sich durch das dichte Laub, in der Hoffnung, ein hoffentlich geeignetes Versteck zu finden. Als er sich an einer Stelle niederließ, betastete er seine Wunde und stellte fest, dass sie näher an seiner Seite als an seinem Bauch war. Das war die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht lautete, dass sie immer noch sein Todesurteil bedeuten würde, wenn er den Blutfluss nicht eindämmen konnte.
Er stützte sich lautlos auf seine Ellbogen und lauschte. Um ihn herum war es wieder still geworden. Nichts rührte sich. Also würde er hier so lange ausharren, wie er konnte. Er betete noch einmal und bat Gott, die Verfolger mögen an seinem Versteck vorüberziehen. Vielleicht, wenn er Glück hatte, würden sie aufgeben und zur Ausgrabungsstätte zurückkehren.
Jorge versuchte, sein Gewicht zu verlagern, und hielt inne. Blitze erhellten den Himmel über ihm. In ihrem Licht entdeckte er eine Anomalie auf dem Boden neben ihm. Diese Unregelmäßigkeit war nicht natürlichen Ursprungs. Die Erhebung auf dem Dschungelboden war eine Leiche.
Im Licht eines zweiten Blitzes wurde Jorge klar, was dem Toten zugestoßen war. Wie er schien der Mann versucht zu haben, Aguilars Gewahrsam zu entkommen. Und wie bei Jorge war auch auf diesen Mann geschossen worden – ihm allerdings in den Kopf. Und er war nicht der Einzige. Mehrere Leichen in jedem Stadium der Verwesung lagen um Jorge herum. Einige waren viel frischer als andere, und ein paar von ihnen schienen schon länger tot zu sein.
Er war über ein Massengrab gestolpert!
Zuerst hatte Jorge geglaubt, der aufziehende Sturm wäre ein Segen Gottes gewesen. Jetzt war ihm klar, dass es sich um eine Vorahnung seines Abschieds von dieser Welt handelte. Das Böse existierte im kolumbianischen Regenwald, und es war nicht der Teufel.
Es war Santiago Aguilar.
Irgendwo über seinem Kopf brach ein Ast. Jorges Verfolger waren ganz in der Nähe. Wenn er lange genug stillhielt, würden sie vielleicht annehmen, er wäre einer der Toten. Wenn nicht, würde er ganz sicher bald einer von ihnen sein.
Hugos LagerhausBogotá, Kolumbien
Hugo sprang auf und schritt in seinem malerischen Büro hin und her. »Aguilar bestehlen? Das ist eine schreckliche Idee!«
Jack zuckte mit den Schultern. »Ich habe auch nicht behauptet, dass sie besonders gut ist.«
»Nein, Jack, Sie verstehen es nicht.«
Der TAC-Agent streckte seine Hände aus. »Dann klären Sie mich auf.«
Hugo hielt auf halbem Weg inne und stemmte seine geschlossenen Fäuste auf den Schreibtisch. Die Aussicht, Aguilar gegenüberzutreten, gefiel ihm nicht, was Jack nicht im Geringsten überraschte. Doch wenn sie die Karte wollten, mussten sie nahe an den Mann herankommen – nahe genug, um ihm eines seiner wertvollsten Güter zu stehlen.
»Aguilars Lager befindet sich in einer abgelegenen Gegend im Südosten des Landes. Es wird von allen Seiten von schwer bewaffneten Söldnern bewacht und ist von tückischem Terrain umgeben.«
Jack zuckte mit den Achseln. »Nichts, womit ich nicht zurechtkomme.«
Jacks Draufgängertum überraschte Hugo.
»Vertrauen Sie mir.« Jack lächelte. »Ich kenne mich mit Leuten wie Aguilar aus.«
»Wie das?«
Jack musste vorsichtig sein, was er dem Schmuggler erzählte. Wenn er zu viele Informationen preisgab, konnte das auf ihn zurückfallen.
»Ich habe den größten Teil meines Erwachsenenlebens in der Terrorismusbekämpfung gearbeitet.« Seine Spezialität war es, sich schnell zu bewegen und dabei sehr leise zu sein.
Hugo riss die Augen auf, aber zum Glück drängte er Jack nicht zu weiteren Einzelheiten.
»Nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, beunruhigt mich sonderlich«, erklärte Hugo. »Es sind vielmehr die Leute, die seine Einrichtung betreiben.« Seine Augen bohrten sich in Jack. »Sie tun es nicht freiwillig.«
Oh, Scheiße, dachte Jack. Er wusste, was Hugo meinte, aber er musste die Frage trotzdem stellen.
»Sklaven?«
»Bis zu einem gewissen Grad, ja.« Er beruhigte sich so weit, um sich zu setzen, und atmete dabei tief durch. »Die meisten seiner Gefangenen sind Leute, die dumm genug waren, sich mit ihm anzulegen. Andere schulden ihm einfach nur Geld. Er lässt sie bis zur Erschöpfung schuften und tötet diejenigen, die nicht mehr weitermachen können. Das Gelände soll uneinnehmbar sein. Wird das ein Problem für Sie sein?«
»Nein, denn ich werde nicht allein sein.« Jack beugte sich vor. »Sie werden mich begleiten.«
»Auf keinen Fall! Ich habe mich in diese Sache schon mehr eingemischt, als ich sollte.«
»Was ist mit der Rache an Valentina?«
Hugo öffnete den Mund, um etwas zu antworten, brachte aber keinen Ton heraus. Er klappte den Mund zu und stieß sich wieder von seinem Schreibtisch ab. Er wollte zur Tür, wurde aber aufgehalten.
»Wir müssen dieses Monster zur Strecke bringen, Hugo.«
»Wieso?« Hugo starrte durch das Plexiglas. »Sie haben – wie nennen Sie es noch gleich – mit dieser Sache nichts zu schaffen.« Er drehte sich um und sah Jack an. »Wieso sollten Sie sich einer solchen Gefahr aussetzen, wenn Sie es nicht müssen?«
Das war eine gute Frage. Warum sollte Jack so etwas tun? Die Antwort war allerdings ziemlich einfach.
»Weil es das Richtige ist.«
Hugo biss sich auf die Lippe und dachte darüber nach. Sein innerer Kampf war deutlich zu erkennen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als Aguilar für seine Beteiligung an Valentinas Tod unter die Erde zu bringen.
»Hören Sie«, sagte Jack und stand auf, »wir brauchen diese Karte. Wenn Aguilar in den Besitz dessen kommt, von dem wir glauben, dass es da draußen existiert, dann ist das Spiel vorbei. Er wird unendlich viel Geld in der Tasche haben. Außerdem … wollen Sie wirklich, dass ein Mann wie er als Entdecker von etwas bekannt wird, das für die Geschichte Ihres Landes so wichtig ist?«
Hugo starrte Jack an. »Nein, natürlich nicht.« Er seufzte. »Wenn wir das tun wollen, dann müssen wir es richtig angehen. Und wir werden etwas Hilfe brauchen.«
Jacks Augenbrauen wanderten nach oben. »Verstärkung – von wem?«
»Die Antwort wird Ihnen vielleicht nicht gefallen.«
Jack wandte seinen Blick nicht von dem Schmuggler ab. Er wartete auf eine Erklärung.
»Ich kenne zwei Brüder, die uns gerne helfen werden, aber sie sind nicht so … ehrenhaft … wie ich.«
»Was soll das denn heißen?«
»Im Gegensatz zu mir sind Miguel und Manuel Arroyo in der Tat Piraten.« Er runzelte die Stirn. »Das sind echte Schurken. Aber sie machen sich auch nichts aus Aguilar.«
Wenigstens haben wir einen gemeinsamen Feind.
»Okay, wenn Sie glauben, dass wir sie brauchen, dann soll es so sein!« Er klopfte Hugo auf die Schulter. »Klingt nach einer Menge Spaß!«
»Ja«, antwortete Hugo nervös, »uns stehen schöne Zeiten bevor …« Er drehte sich um und öffnete die Tür. »Nehmen Sie sich an Ausrüstung, was Sie brauchen. Ich werde dafür sorgen, dass meine Männer Sie gut behandeln und alle notwendigen Vorkehrungen treffen.«
Hugo rief den Männern ein paar Worte auf Spanisch zu. Jeder von ihnen rief oder winkte ihm zu, um seine Anweisungen zu bestätigen. Zumindest nahm Jack an, dass es sich um Anweisungen handelte.
Ich muss wirklich mehr Spanisch lernen. Die einzige Fremdsprache, die er fließend beherrschte, war Arabisch, da er während seiner Militärzeit viel Zeit in der Region verbracht hatte.
»Können wir den Arroyos vertrauen?«, fragte Jack, der Hugo dicht folgte.
»Mehr oder weniger«, antwortete Hugo. »Sie sind Geschäftsleute. Solange sie bezahlt werden, werden sie wahrscheinlich nicht versuchen, uns zu töten.«
»Das ist nicht sehr beruhigend.«
Hugo blieb stehen und sah ihn an. »Das ist mehr, als die meisten Ihnen anbieten werden. Ich kenne Männer und Frauen, die Ihnen gerne helfen werden, Ihnen aber sofort die Kehle durchschneiden werden, sobald Sie sie bezahlt haben. Andere würden Sie auf der Stelle umbringen und ausrauben.«
»Und die Arroyo-Jungs werden es nicht tun?«
»Sie haben noch nie versucht, mich zu töten.«
»Auch das ist nicht sehr beruhigend.«
Hugo zuckte mit den Schultern und lief weiter. »Willkommen in der kolumbianischen Unterwelt, Jack Reilly. ›Angenehm‹ gibt es hier nicht.«
Jack seufzte und dachte an den großen gelben Kranwagen zurück. »Ja, das habe ich bemerkt.«
»Meinen Sie den Vorfall auf der Autobahn?« Hugo gluckste. »Das, mein Freund, war nichts im Vergleich zu den Dingen, die ich gesehen habe.«
Wovon redet er?