0,99 €
Die Sünde des jugendlichen, frommen, keuschen Abbé ist seine Liebe zu dem unschuldigen jungen Mädchen Albine. Als sich der Abbé auf sein priesterliches Amt besinnt, verlässt er Albine, die von ihm ein Kind erwartet. Eine Aussprache mit Abbé Mouret führt für Albine ins Leere und es kommt schließlich zum tragischen Ende.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 558
Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Die Teusin lehnte beim Hereinkommen Besen und Staubwedel an den Altar. Sie hatte sich mit dem Einweichen der Halbjahreswäsche aufgehalten. Zum Angelusläuten durchquerte sie die Kirche, hinkte in der Eile stärker und stieß gegen die Bänke. Neben dem Beichtstuhl hing der Strick vom Gewölbe nieder, seine kahle Schäbigkeit lief in einen starken, abgegriffenen Knoten aus. Mit aller Kraft und in gleichmäßigem Zug hing sie sich an ihn, dann ließ sie sich mitschwingen, wogte in ihren Röcken hin und her, mit verrutschter Haube, das breite Gesicht blutbedrängt. Nachdem sie ihre Haube mit einem leichten Klaps zurechtgeschoben hatte, ging die Teusin außer Atem zurück, um vor dem Altar zu fegen. Hier setzte sich der Staub jeden Tag hartnäckig fest, zwischen den schlechtgefügten Dielen der Estrade. Mürrisch und erbost stöberte der Besen in den Ecken. Dann nahm sie die Decke von der Altarplatte und bemerkte geärgert, dass das große Übertuch, an zwanzig Stellen bereits ausgebessert, gerade in der Mitte neu durchgewetzt sei; das doppeltgefaltete Untertuch war ebenfalls so dünn und fadenscheinig, dass man den im bemalten Altarholzwerk eingelassenen geweihten Stein sehen konnte. Sie entstaubte das alte, vergilbte Leinenzeug und fuhr heftig mit dem Federbesen am Altaraufbau entlang, gegen den sie die liturgischen Tafeln aufrichtete.
Hierauf bestieg sie einen Stuhl und entfernte die gelbkattunenen Schutzhüllen vom Kruzifix und den zwei Armleuchtern. Das Kupfer erwies sich fleckgetrübt.
»Ja, ja,« brummelte die Teusin vor sich hin, »die können das Putzen schon vertragen. Mit Tripel müssten sie bearbeitet werden.« Dann machte sie sich auf den Weg zur Sakristei, hinkend und fast auf einem Bein, unter Gliederverrenkungen und einem Gestolper zum Steinerweichen, holte das Messbuch, legte es geschlossen auf das Pult zur Seite der Epistel, die Schnittfläche der Altarmitte zugekehrt. Zwei Kerzen wurden entzündet. Indem sie ihr Kehrzeug fortschaffte, ließ sie den Blick ringsum wandern, um sich zu versichern, dass der Haushalt des lieben Gottes wohlbestellt sei. Die Kirche schlief; einzig der Glockenstrick neben dem Beichtstuhl schwang noch von der Wölbung zum Steinboden nieder in biegsamer Längsbewegung.
Gerade betrat der Abbé Mouret die Sakristei, ein kleines kaltes Zimmer, das nur ein Gang vom Esszimmer trennte.
»Guten Tag, Herr Pfarrer,« sagte die Teusin, ihre Geräte abstellend. »Ah, heut' morgen haben Sie Faulpelz gespielt! Wissen Sie, dass es schon Viertel nach sechs ist?« Und ohne dem lächelnden jungen Geistlichen Zeit zur Antwort zu lassen, fuhr sie fort: »Ich muss mit Ihnen zanken. Wieder ein Loch in der Decke. Das ist Unvernunft! Wir haben nur eine zum Auswechseln, und seit drei Tagen verderb' ich mir die Augen beim Stopfen, und der arme Jesus wird nackt und bloß sein, wenn Sie so weitermachen.«
Immer noch lächelte der Abbé Mouret. Fröhlich sagte er: »Jesus benötigt gar nicht so viel Wäsche, gute Teuse; ihm ist allzeit warm, und ein fürstlicher Empfang ist immer ihm bereitet, wenn man ihn innig liebt.« Dann fragte er, zu einem kleinen Röhrbrunnen gehend:
»Ist meine Schwester schon auf? Ich habe sie noch nicht gesehen.«
»Fräulein Desiderata ist schon längst unten,« antwortete die Dienerin, vor einem alten Küchenkasten kniend, der die geweihten Kleider barg. »Sie ist schon bei ihren Hühnern und Stallhasen ... gestern erwartete sie Küken, die nicht auskriechen wollten. Die Aufregung können Sie sich denken!« Sie unterbrach sich mit der Frage: »Das goldene Messgewand, nicht wahr?«
Der Priester, der sich, ein Gebet auf den Lippen, die Hände gewaschen hatte, nickte zustimmend mit dem Kopf. Die Pfarrei besaß nur drei Messgewänder, ein violettes, ein schwarzes und eines aus Goldstoff. Des letzteren bediente man sich auch an den Tagen, wo weiß, rot oder grün vorgeschrieben war; so gelangte es zu außerordentlichem Ansehen, und die Teusin nahm es voller Sorgfalt aus dem mit blauem Papier belegten Fach, wohin es nach jeder Zeremonie gebreitet wurde, legte es auf den Kasten und entfernte vorsichtig die schützenden Leinenstreifen von den Stickereien. Ein Goldlamm schlummerte auf goldenem Kreuz, von breiten Goldstrahlen umgeben. Das in den Falten berstende Gewebe franste in kleinen Büscheln aus. Die erhaben gestickten Verzierungen zergingen und lösten sich auf. Im Haus gab es seinethalben eine ständige Besorgnis, ängstliche Fürsorglichkeit angesichts dieser fortschreitenden Auflösung. Fast täglich musste der Pfarrer es anlegen. Und wie es ersetzen, wie die drei Gewänder beschaffen, deren Amt es versah, wenn die letzten Goldfäden zerschlissen sein würden!
Die Teusin breitete über das Messgewand die Stola hin, Manipel, Gürtel, Chorhemd und Achseltuch. Aber ihr Mundwerk stand nicht still trotz eifriger Bemühungen, die Manipel kreuzweise über die Stola zu legen und die Gürtelschnur in so kunstvollen Windungen anzuordnen, dass sich das gesegnete Zeichen des hochheiligen Namens Maria bildete. »Diese Gürtelschnur taugt nicht mehr viel,« murmelte sie. »Sie sollten sich entschließen, eine neue zu kaufen, Herr Pfarrer. Wenn ich Hanf hätte, könnt' ich Ihnen sogar selbst eine weben.«
Der Abbé Mouret gab keine Antwort. Auf einem kleinen Tisch stellte er den Kelch bereit, einen großen alten Kelch aus vergoldetem Silber mit Bronzefuß, dem rohhölzernen Schranke entnommen, der geweihte Gefäße und Linnen, heilige Öle, Messbücher, Kerzenhalter und Kreuze barg. Über den Kelch legte er ein frisches Reinigungstuch, stellte auf das Tuch den Hostienteller aus vergoldetem Silber, der eine Hostie enthielt, und verhüllte diese mit kleiner leinener Kelchdecke. Als er den Kelch verschleierte, mit in zwei Falten gepresstem Goldstoff, dem gleichen, aus dem das Messgewand bestand, rief die Teusin:
»Halt, es ist kein Messtuch im Beutel. .. Gestern Abend habe ich alle Reinigungstücher sowie die Kelchdecken und die gebrauchten Meßtücher mitgenommen, um sie zu waschen, für sich, versteht sich, nicht mit der anderen Wäsche ... Ich vergaß zu sagen, Herr Pfarrer; gerade habe ich die Lauge angesetzt. Sie ist schön kräftig; besser als das letzte Mal.«
Und während der Priester ein Messtuch in den Beutel gleiten ließ und auf die Umhüllung den Beutel tat, den ein goldumgebenes Goldherz schmückte, fing sie aufgeregt wieder an:
»Dabei fällt mir ein, bald hätte ich's vergessen, dieser Bengel von Vinzenz ist nicht gekommen. Wollen Sie, dass ich die Messe bediene, Herr Pfarrer?«
Streng sah sie der junge Priester an.
»Ach! Das wäre keine Sünde,« fuhr sie fort mit gutmütigem Lächeln. »Einmal habe ich sie schon bedient, die Messe, zur Zeit von Herrn Caffin. Ich bediene sie doch sicher besser als Schlingel, die ein Heidengelächter loslassen wegen einer Fliege, die in der Kirche summt ... Gehen Sie mir, wenn ich auch eine Haube trage, sechzig Jahre alt bin und turmdick, so habe ich doch mehr Hochachtung vor dem lieben Gott als diese Lausebengels, die ich neulich wieder hinter dem Altar beim Bockspringen ertappte.«
Der Priester sah sie immer noch an und schüttelte abweisend den Kopf.
»Ein rechtes Nest, dieses Dorf,« schalt sie. »Nicht einmal hundertfünfzig Seelen. An manchen Tagen, so wie heute, ist nicht ein Mensch im ganzen Artaud aufzutreiben. Bis zu den Wickelkindern ist alles in den Weinbergen! Wenn ich nur wüsste, was da wohl viel zu tun ist in den Weinbergen! Disteldürre Weinstöcke, die in Kieseln wachsen! Ein Land für Wölfe, meilenweit von jeder Straße! Wenn nicht ein Engel herabsteigt zum Messedienen, Herr Pfarrer, bleibe nur ich Ihnen übrig, auf mein Wort! Oder eines der Kaninchen von Fräulein Desiderata, mit Verlaub.«
Gerade in diesem Augenblick aber öffnete Vinzenz, der jüngere Brichet, die Sakristei-Tür. Sein rotes Borstenhaar, seine kleinen, grau schillernden Augen waren der Teuse ein Ärgernis.
»Oh, du Spitzbube!« rief sie. »Wetten könnte ich, dass er geradewegs von irgendeiner Untat kommt ... So eil' dich, Strick, da der Herr Pfarrer ja Angst hat, ich könnte den lieben Gott verschandeln!«
Als er den Jungen sah, hatte der Abbé Mouret das Achseltuch genommen, küsste das Kreuz in der Mitte und legte es sich einen Augenblick auf den Kopf, dann, es auf den Kragen seiner Sutane zurückschlagend, schlang er und band die Schnüre, die rechte über die linke. Darauf zog er das Chorhemd, Symbol der Reinheit, an, mit dem rechten Arm zuerst. Vinzenz, hingekauert, kroch um ihn herum, ordnete das Chorhemd zurecht und gab Acht, dass es überall gleichmäßig, zwei Finger breit von der Erde, hänge. Sodann reichte er dem Priester die Gürtelschnur, der sich fest damit die Lenden gürtete, um dadurch die Stricke zu versinnbildlichen, die den Erlöser fesselten auf seinem Leidenswege.
Eifersüchtig, gekränkt, stand die Teusin da und versuchte sich still zu verhalten; die Zunge brannte ihr aber dermaßen, dass sie gleich wieder loslegte: »Bruder Archangias war da ... nicht ein einziges Kind wird heute wohl zur Schule kommen. Wie ein Windstoß ist er auf und davon, um im Weinberg diese Brut bei den Ohren zu nehmen ... Es wäre gut, wenn Sie mit ihm sprächen – ich glaube, er hat Ihnen etwas zu sagen.«
Der Abbé Mouret gebot ihr Schweigen mit der Hand. Er hatte die Lippen zum Reden nicht mehr aufgetan. Nun sprach er die vorgeschriebenen Gebete beim Anlegen der Armbinde, die er küsste, bevor er sie an seinen linken Arm streifte, unterhalb des Ellenbogens, zum Zeichen des Bemühens um gute Werke und beim Kreuzen der seine Würde und Machtvollkommenheit darstellenden Stola über der Brust, nachdem er auch diese geküsst hatte. Die Teuse musste Vinzenz beim Befestigen des Messgewandes behilflich sein; sie zog es mittels dünner Schnüre zusammen, um ein Rückwärtsgleiten zu verhindern.
»Heilige Jungfrau! Ich hab' die Kännchen vergessen,« stotterte sie, zum Schrank hastend. »Da, geh her, schnell, Bub!«
Vinzenz füllte die Kännchen, grobe Glasgefäße, währendem sie sich beeilte, ein sauberes Wischtuch aus einer Schublade zu nehmen. Der Abbé Mouret, den Kelch in der linken Hand bei der Verkröpfung haltend, die Finger der rechten Hand auf dem Beutel, neigte sich tief, ohne das Barett abzunehmen, vor einem Christus aus schwarzem Holz, der neben dem Küchenkasten hing. Der Junge beugte sich ebenfalls; dann, vorausgehend, die mit dem Reinigungstuch zugedeckten Krüge tragend, trat er heraus aus der Sakristei, gefolgt von dem Priester, der gesenkten Blickes in tiefer Andacht schritt.
Ganz leer und weiß lag die Kirche an diesem Maimorgen. Unbewegt hing der Strick wieder neben dem Beichtstuhl. Das ewige Licht im farbigen Glase glühte als roter Funke rechts vom Allerheiligsten an der Wand. Vinzenz trug die Kannen zur Kredenz, trat dann zurück und kniete an den Stufen links unten nieder, während der Priester, nach Begrüßung des Allerheiligsten durch Kniebeugung auf den Fliesen, zum Altar hinaufging und das Messtuch ausbreitete, in dessen Mitte er den Kelch stellte. Darauf schlug er das Messbuch auf und stieg wieder herunter. Eine weitere Kniebeugung ließ ihn zusammensinken; er bekreuzte sich, faltete die Hände vor der Brust und ließ das große Gottesdrama beginnen, mit liebesblassem, glaubensbleichem Antlitz.
»Introibo ad altare Dei.«
»Ad Deum qui lactificat juventutem meam,« krähte Vinzenz, der, auf den Hacken sitzend, die Antworten der Einleitung verschluckte und interessiert das Hin und Her der Teuse in der Kirche beobachtete.
Voller Unruhe sah die alte Dienerin nach einer der Kerzen. Ihre Besorgnis schien sich zu verdoppeln, indessen der Priester, tief geneigt, mit neuerlich gefalteten Händen das Confiteor hersagte. Sie blieb stehen, auch sie schlug sich die Brust, doch belauerte sie mit gesenktem Kopf fortwährend die Kerzen. Die tiefe Stimme des Priesters und das Gestotter des Ministranten lösten sich noch einige Zeit ab.
»Dominus vobiscum.«
»Et cum spiritu tuo.«
Und der Priester, die Arme ausbreitend, dann die Hände faltend, begann in gerührter Zerknirschung:
»Oremus ...«
Die Teusin war nicht mehr zu halten. Sie schlich hinter den Altar, fiel über die Kerze her und putzte sie mit der Spitze ihrer Schere. Die Kerze tropfte. Schon zwei große Wachstränen waren überflüssigerweise geronnen. Als sie zurückging und die Bänke zurechtstellte, sich vergewisserte, dass die Weihwasserbecken nicht leer seien, betete der Priester mit leiser Stimme oben am Altar, die Hände am Saume des Altartuches gefaltet. Er küsste den Altar.
Hinter ihm lag die Kirche in morgendlicher Fahlheit. Die Sonne reichte erst bis zum Dachfirst. Fröstelnd zog das Kyrieeleison durch diesen kalkweißen stallartigen Raum, an dessen niederer Decke die getünchten Balken freilagen. Drei hohe Fenster mit klargläsernen, in der Mehrzahl gesprungenen oder herausgefallenen Scheiben, taten sich auf vor kreidiger Tageshelle. Das grelle Licht von draußen fiel herb herein und zeigte mitleidslos das ganze Elend der Gottheit dieses weltverschollenen Dorfes. Im Hintergrund, über der großen, niemals geöffneten Tür, wo Unkräuter die Schwelle verstellten, zog sich eine Brettergalerie, zu der man auf einer Müllerleiter gelangte, von Mauer zu Mauer; sie krachte unter den schweren Tritten an Feiertagen. Das Beichtgestühl neben der Treppe, mit klaffender Täfelung, war zitronengelb gestrichen. Der kleinen Pforte gegenüber stand das Taufbecken, ein alter Weihwasserbehälter auf gemauertem Unterbau. Weiterhin zur Rechten und zur Linken, der Mitte zu, klebten zwei magere Altäre, von Holzbalustraden umgeben. Der Heiligen Jungfrau war der linke zugeeignet, hier stand eine Mutter Gottes aus vergoldetem Gips, die königlich über kastanienbraunen Haaren eine geschlossene Goldkrone trug; auf dem linken Arm saß ihr ein Jesusknabe, nackt und lächelnd, dessen kleine Hand die bestirnte Weltkugel hochhielt. Sie wandelte auf Wolken, geflügelte Engelsköpfe zu Füßen. Der rechte Altar, wo die Totenmessen gelesen wurden, war mit einem Christus aus bunter Papiermasse bestanden, der das Gegenstück zur Jungfrau Maria bildete. Die Christusfigur, von der Größe eines zehnjährigen Kindes, schien in schauerlichem Todeskampf erstarrt, das Haupt bog sich zurück, die Rippen traten heraus, der Bauch war eingefallen, die Gliedmaßen verzogen und blutbespritzt. Da war noch die Kanzel, ein viereckiger Kasten, den man auf einer fünfstufigen Trittleiter bestieg, gegenüber einer in einem Gehäuse aus Nussbaumholz eingeschlossenen Gewichtuhr, deren dumpfes Ticken die ganze Kirche erschütterte, wie das Klopfen eines unter den Steinplatten irgendwo verborgenen Riesenherzens. Das ganze Schiff entlang befleckten die scharfe Weiße der Mauern die vierzehn Stationen des Kreuzweges, vierzehn rohbemalte Schildereien, in Schwarz gefasst, mit dem Gelb, Blau und Rot der Leidensgeschichte.
»Deo gratias,« blökte Vinzenz am Ende der Epistel.
Das Liebesmysterium, die Abschlachtung des heiligen Opfertieres, bereitete sich vor. Der Ministrant nahm das Messbuch, trug es nach links zur Evangelienseite, und trug dabei Sorge, die Blätter des Buches nicht zu berühren. Jedes Mal, wenn er am Allerheiligsten vorüberkam, machte er eine schräge Kniebeugung, die ihn ganz krumm zog. Wieder rechts angelangt, blieb er mit gekreuzten Armen stehen, während des Ablesens des Evangeliums. Der Priester schlug ein Kreuz über dem Messbuch und bekreuzte sich dann selbst: an der Stirn, um zu bestätigen, dass er sich niemals schämen würde des göttlichen Wortes; auf den Mund, um zu bestätigen, wie er ständig bereit sei, seinen Glauben zu bekennen; über dem Herzen, um darzutun, sein Herz sei einzig Gott zugewandt!
»Dominus vobiscum,« sagte er, sich in Versunkenheit zu der kalten Weiße der Kirche wendend.
»Et cum spiritu tuo,« antwortete Vinzenz, der wieder hingekniet war. Nach dem Sprechen des Offertoriums enthüllte der Priester den Kelch. In Brusthöhe hielt er kurz die Patena mit der Hostie, die er Gott darbrachte, für sich, für die Gegenwärtigen, für alle Gläubigen unter Lebendigen und Toten. Hierauf ließ er sie bis zum Rand des geweihten Tuches gleiten, ohne sie anzurühren, und nahm dann den Kelch, den er sorgfältig mit dem Reinigungstüchlein säuberte. Vinzenz war zur Kredenz gegangen, um die Krüge zu holen, die er nacheinander bot, erst den Krug mit Wein, dann den Krug mit Wasser. Jetzt brachte der Priester für die ganze Welt den halbgefüllten Kelch dar, den er in die Mitte des geweihten Tuches zurückstellte, wo er ihn mit dem Kelchdeckel verschloss. Und nach erneutem Gebet trat er zurück, um sich Wasser in dünnem Geriesel über das Äußerste von Daumen und Zeigefinger gießen zu lassen, sich dieserart von jeder Sündfleckigkeit reinigend. Als er sich die Hände an dem Reinigungstuch getrocknet hatte, entleerte die wartende Teusin die Kannenschale seitlich vom Altar in einen Zinkeimer.
»Orate, fratres,« hob der Priester mit lauter Stimme wieder an, den leeren Bänken zugekehrt, die Hände ausstreckend und wieder faltend, in einer Menschen, die guten Willens sind, sammelnden Bewegung. Und sich zum Altar wendend, murmelte er mit leiser Stimme weiter. Vinzenz plärrte einen langen lateinischen Satz und verwirrte sich in ihm. Da begann es gelb durch die Fenster zu flammen. Die Sonne folgte dem Ruf des Priesters zur Messe. Schon zog sie goldene Bänder über die Wand zur Linken, den Beichtstuhl, den Altar der Jungfrau und die große Uhr. Durch den Beichtstuhl ging ein Knacken; die Gottesmutter in einer Gloriole, in Krone und goldenem Mantel schimmernd, lächelte mit bemalten Lippen zärtlich das Jesuskind an; die warm bestrahlte Uhr begann schneller zu ticken. Es war, als ob die Bänke belebt würden vom tanzenden Sonnenstaub. Die kleine Kirche, der geweißte Stall, war wie angefüllt von wohlig erwärmter Menge.
Von draußen vernahm man die leisen Geräusche fröhlichen Erwachens rings im Land, lustvolles Säuseln der Gräser, Tautropfen, die von den Blättern fielen, Vögel, die ihr Gefieder glätteten und zu ersten Flügen sich bereiteten. Selbst die Scholle schien mit der Sonne eindringen zu wollen: eine mächtige Eberesche hob sich und zwängte ihr Geäst durch die zerborstenen Scheiben, reckte ihre Knospen vor, als ob sie hineinschauen wollte; und das Gras des Vorplatzes machte Miene, durch die Ritzen der großen Türe einzudringen. Einzig die große Christusfigur blieb beschattet inmitten dieser immer höher anflutenden Lebenswoge, und trug Tod und Todesmühen seines ockerbeschmierten, blutlackbespritzten Leibes hinein. Ein Sperling ließ sich am Rande einer der ausgebrochenen Scheiben nieder, sah sich um und flog davon; kam aber fast umgehend wieder zurück und ließ sich stillen Fluges zwischen den Bänken vor dem Altare der Jungfrau nieder. Ein zweiter Sperling folgte. Bald drangen von allen Zweigen der Eberesche Sperlinge ein und spazierten friedlich, hüpfenden Ganges, über den Steinboden.
»Sanctus, sanctus, sanctus, dominus, deus, sabaoth,« sagte der Priester mit halber Stimme und beugte sich leicht nach vorn.
Vinzenz ließ das Glöckchen dreimal tönen. Die Sperlinge aber, von dem plötzlichen Klingeln erschreckt, entflogen mit einem derartig lauten Geflatter, dass die Teusin schimpfend aus der Sakristei zurückkam, wohin sie sich gerade begeben hatte.
»Die Landstreicher! Alles werden sie versudeln ... Ich könnte wetten, Fräulein Desiderata hat ihnen wieder Brotkrumen gestreut.«
Der inhaltsschwere Augenblick rückte näher. Leib und Blut eines Gottes sollten sich auf dem Altar vergegenwärtigen. Der Priester küsste das Tuch, faltete die Hände, und schlug ein über das andere Mal das Kreuz über Hostie und Kelch. Die kanonischen Gebete entrangen sich immer inniger seinen Lippen, verzückt, demütig und dankbar. Seine Haltung und Bewegung, die Schwankungen seiner Stimme drückten aus, wie nichtig er sich vorkam, welche Rührung er darüber empfand, zu so Großem ausersehen zu sein. Vinzenz kniete hinter ihm; er fasste das Messgewand mit der linken Hand, unterstützte es leicht und bereitete sich zum Klingeln. Und er, die Ellenbogen auf den Altarrand gestützt, hielt die Hostie zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände und sprach über sie die Worte der Weihe: »Hoc est enim corpus meum.« Dann, nach einer Kniebeuge, hob er sie langsam in die Höhe, so hoch er vermochte, den Blick fest auf sie gerichtet, dieweil der Ministrant sich zu Boden warf und dreimal läutete. Hierauf weihte er den Wein: »Hic est enim calix,« die Ellenbogen neuerdings auf dem Altar, sich vor dem Kelch neigend und ihn erhebend, nun diesem mit den Augen folgend, mit der Rechten den Knauf umpressend, mit der Linken den Fuß haltend. Der Ministrant gab drei letzte Klingelzeichen. Das große Mysterium der Erlösung hatte sich erneuert, das anbetungswürdige Blut war aufs Neue geflossen.
»Wartet nur, wartet,« schalt die Teuse und versuchte, mit drohend geballten Fäusten den Sperlingen Angst zu machen. Mit der Angst der Spatzen aber war es vorbei, mitten im schönsten Geklingel waren sie zurückgekommen und flatterten frech über die Bänke hin. Das wiederholte Schellen trug sogar zu ihrer Belustigung bei. Sie antworteten mit kleinen Schreien, die die lateinischen Worte gleich perlendem Gelächter freier Gassenbuben übertönten. Die Sonne wärmte ihre Federn, die liebe Armseligkeit der Kirche entzückte sie. Sie fühlten sich hier zu Hause wie in einer Scheune, deren Luke man zu schließen vergessen hatte, kreischten, prügelten sich und balgten sich um aufgefundene Körner. Einer wippte auf dem goldenen Schleier der lächelnden Jungfrau; ein anderer streifte neugierig die Röcke der Teusin, die außer sich geriet über diese Unverfrorenheit. Der in Andacht aufgelöste Priester am Altar starrte die Hostie, die er zwischen Daumen und Zeigefingern hielt, an, nahm nichts wahr von der unaufhaltsam ins Kirchenschiff einflutenden lauen Maifrühe, von den Vögeln, dem Laubgrün und den höher wogenden Sonnenströmen, die bis zu den Füßen des Kalvarienberges kreisten, wo die fluchbeladene Natur sich im Todeskampf wand.
»Per omnia saccula saeculorum,« sprach er.
»Amen,« fiel Vinzenz ein.
Nach beendetem Vaterunser brach der Priester die Hostie über dem Kelch in der Mitte durch. Hierauf löste er von einer der Hälften ein weniges und ließ es in das kostbare Blut fallen, um die nahe Einigung mit Gott anzudeuten, der er durch die Kommunion teilhaftig würde. Mit erhobener Stimme sprach er das Agnus Dei, sagte leise die drei vorgeschriebenen Gebete und legte das Bekenntnis seiner Unwürdigkeit ab; und die Arme, aufgestützt auf den Altar, die Patena unter dem Kinn, nahm er von beiden Teilen der Hostie gleichzeitig zu sich. In inniger Betrachtung faltete er die Hände in Gesichtshöhe, sammelte darauf in das Messtuch mit Hilfe der Patena die köstlichen abgebröckelten Bestandteile der Hostie und streute sie in den Kelch. Gleichermaßen strich er mit dem Zeigefinger ein Teilchen vom Daumen. Und sich mit dem Kelch bekreuzigend, die Patena wiederum unter dem Kinn, trank er das heilige Blut in drei Malen, ohne die Lippen vom Kelchrand zu lösen, und bis zum letzten Tropfen das göttliche Opfer aufsaugend.
Vinzenz war aufgestanden, um nochmals die Messkrüge von der Kredenz zu holen. Da öffnete sich die Türe des Verbindungsganges zum Pfarrhaus weit und schlug gegen die Mauer, ein schönes zweiundzwanzigjähriges Mädchen von kindlicher Miene trat herein, sie verbarg etwas unter der Schürze.
»Dreizehn sind es!« rief sie. »Alle Eier waren gut!« Und sie lüpfte ihre Schürze und ließ eine Brut kleiner Küken sehen, die flaumig und mit schwarzen Tupfenaugen durcheinander krochen:
»Seht doch! sind sie nicht süß, die Kleinen! ...«
»Oh, das Weiße steigt den anderen auf den Rücken! Und das Gefleckte da will schon mit den Flügeln schlagen! ...«
»Die Eier waren wirklich gut. Nicht ein einziges taubes!«
Die Teusin, die trotz allem bei der Messe half, und dem Vinzenz die Kanne für die Waschungen reichte, drehte sich um und sagte ganz laut:
»Seien Sie doch still, Fräulein Desiderata! Sie sehen doch, wir sind noch nicht zu Ende.«
Kräftiger, ländlicher Geruch schlug durch die geöffnete Türe herein, ein Hauch, der Gärendes, drängend Erblühendes in die Kirche blies, in die Sonnenwärme, die auch den Altar jetzt überstrahlte. Desiderata blieb einen Augenblick stehen, beglückt über das junge Leben in ihren Armen, sah Vinzenz zu, wie er den Wein der Reinigung einschenkte, sah ihren Bruder diesen Wein trinken, auf dass nichts von der geheiligten Speise in seinem Mund zurückbliebe. Sie stand noch da, als er zurückschritt, den Kelch in beiden Händen, um sich über Daumen und Zeigefinger Wein und Wasser der Reinigung gießen zu lassen, das er ebenfalls trank. Die Glucke aber suchte ihre Küken und wollte gackernd in die Kirche hinein. So entfernte sich Desiderata, mütterlich mit den Küken kosend, in dem Augenblick, wo der Priester mit dem Reinigungstuch sich die Lippen trocknete und darauf den Rand und das Innere des Kelches damit abwischte. Dies bildete das Ende der Dankbezeugungen gegen Gott. Der Ministrant trug zum letzten Male das Messbuch nach rechts hinüber. Der Priester legte auf den Kelch das Messtuch, die Patena und die Kelchdecke zurück; dann presste er wiederum das Gewebe in zwei tiefe Falten und ordnete den Beutel obenauf, der jetzt das Messtuch enthielt. Sein ganzes Sein war von glühender Dankbarkeit erfüllt. Er bat den Himmel um Sündenvergebung, um die Gnadenmöglichkeit eines fleckenlosen Wandels, den Verdienst des ewigen Lebens. Er blieb hingenommen von diesem Liebeswunder, von dieser immerwährenden Aufopferung, die tagtäglich ihn speiste mit dem Fleisch und Blut seines Erlösers. Nach Verlesen der Gebete wendete er sich und sagte:
»Ite, missa est.«
»Deo gratias,« antwortete Vinzenz.
Nach erneuter Wendung und Küssen des Altars trat er zurück, die linke Hand unter der Brust, die rechte Hand erhoben, segnete er die von Sonnenfrohsinn und Spatzengelärm erfüllte Kirche.
»Benedicat vos omnipotens Deus, Pater et Filius, et Spiritus sanctus.«
»Amen,« sagte der Ministrant, sich bekreuzend.
Heller schien die Sonne, und die Spatzen wurden immer zudringlicher. Während der Priester von der linken Tafel das Evangelium des heiligen Johannes ablas, das die Unendlichkeit des Logos verkündet, flammte die Sonne über den Altar, ließ die falschen Marmorfüllungen erblassen und schlang das Schimmern der zwei Kerzen auf, deren kurze Dochte nur noch als dunkle Flecken sichtbar blieben. Das sieghafte Gestirn tauchte in seinen Glanz Kreuz, Leuchter, Messkleid und Kelchmantel, all dies vor seinen Strahlen erbleichende Gold. Und als der Priester den Kelch nahm, das Knie beugte und den Altar verließ, um in die Sakristei zurückzugehen, bedeckten Hauptes unter Vortritt des Ministranten, der Kannen und Meßtücher zurücktrug, blieb das Gestirn Alleinherrscher in der Kirche. Nun lagerte sich die Sonne über das Altartuch und ließ die Türe des Tabernakels in Pracht erglühen zur Feier der Maienfruchtbarkeit. Wärme hob sich von den Fliesen. Die getünchten Mauern, das große Marienbild, selbst der große Christus schienen saftreich zu erbeben, als sei das Tote überwunden von ewig neuer Erdjugend.
Die Teusin löschte eilig die Kerzen. Aber sie musste sich aufhalten mit dem Verjagen der Sperlinge. So fand sie, als sie das Messbuch zur Sakristei zurücktrug, den Abbé Mouret nicht mehr vor; nach der Handwaschung hatte er die geweihten Gerätschaften aufgeräumt. Nun stand er schon im Esszimmer und nahm als Frühmahlzeit eine Tasse Milch zu sich.
»Sie sollten wirklich Ihrer Schwester verbieten, Brot in die Kirche zu streuen,« sagte die Teuse beim Eintreten. »Im vergangenen Winter kam ihr zuerst dieser nette Einfall. Sie meinte, die Spatzen frören, und der liebe Gott könne sie recht gut füttern. Sie werden sehen, das Ende vom Liede wird sein, dass sie uns bei ihren Hühnern und Kaninchen schlafen lässt.«
»Dann frieren wir wenigstens nicht,« gab der junge Priester lustig zur Antwort. »Immer müssen Sie zanken, Teusin. Gönnen Sie doch unserer armen Desiderata die Liebe zu ihrem Getier. Andere Freuden kennt sie nicht, die liebe Einfalt.«
Die Dienerin pflanzte sich mitten im Zimmer auf.
»Oh, Sie!« begann sie wieder, »Ihnen wäre es gleich, wenn sogar Elstern in der Kirche nisteten. Sie haben für nichts Augen und finden alles vollkommen. Ihre Schwester kann froh sein, dass Sie sie aufgenommen haben beim Austritt aus dem Seminar. Vaterlos, Mutterlos. Ich möchte wissen, wer ihr erlauben würde, in Stall und Hof so herumzuwirtschaften, wie sie es tut!«
Dann geriet sie in Rührung und sagte sanfter:
»Das muss wahr sein, schade wär's, sie zu hindern. Sie ist ganz ohne Falsch, kaum wie ein Zehnjähriges, und doch ist sie eines der kräftigsten Mädchen hier herum. Wissen Sie, ich muss sie am Abend noch zu Bett bringen und ihr vor dem Einschlafen Geschichten erzählen wie einem kleinen Kindchen.« Der Abbé Mouret trank stehend seine Tasse aus, die Finger etwas gerötet von der Kühle des Esszimmers, eines großen, mit Fliesen belegten Raumes, der grau gestrichen war, und als einzige Einrichtung Tische und Stühle enthielt. Die Teusin nahm eine Serviette fort, die sie über eine Tischecke gebreitet hatte zum Frühstück.
»Wäsche verbrauchen Sie wenig,« knurrte sie. »Man könnte meinen, Sie dürften sich nicht hinsetzen, Sie wären immer im Begriff fortzugehen ... Ach! Wenn Sie den Herrn Caffin gekannt hätten, den armen seligen Herrn Pfarrer, dessen Nachfolger Sie sind! Das war ein verwöhnter Mann! Dem wäre es nicht bekommen, wenn er stehend gegessen hätte ... Er war aus der Normandie, aus Canteleu wie ich. Oh, danken tue ich es ihm nicht, dass er mich in dieses Wolfsland gebracht hat. Guter Gott, wie haben wir uns gelangweilt in der ersten Zeit! Der arme Herr Pfarrer hat recht ärgerliche Geschichten erleben müssen bei uns ... Ei, Herr Mouret, haben Sie denn vergessen, Zucker in ihre Milch zu tun? Hier liegen ja die zwei Stücke.«
Der Priester stellte seine Tasse hin.
»Ja, mir scheint, ich hab's vergessen,« sagte er.
Achselzuckend sah die Teusin ihn an. Sie knüpfte eine Schwarzbrotschnitte in die Serviette, die gleichfalls auf dem Tische verblieben war. Als sie darauf sah, dass der Pfarrer sich zum Gehen anschickte, lief sie zu ihm hin, warf sich vor ihm auf die Knie und rief:
»Halt, nicht einmal Ihre Schuhbänder sind gebunden; ich weiß nicht, wie Ihre Füße diesen Bauernschuhen Stand halten. Sie zartes Kerlchen sehen aus, als seien Sie nicht schlecht verwöhnt worden früher! ... Na, der Bischof wird wohl gewusst haben, was er tat, als er Ihnen die armseligste Pfarre des Departements gab.«
»Aber nein,« sagte der Priester, wiederum lächelnd, »ich selbst habe mir das Artaud ausgesucht ... Sie sind heute Morgen arg griesgrämig, Teusin. Geht's uns denn nicht gut hier? Wir haben alles Notwendige und leben in paradiesischem Frieden.«
Da hielt sie an sich, musste lachen und gab zur Antwort:
»Ein Heiliger sind Sie, Herr Pfarrer ... Kommen Sie und sehen Sie sich an, wie kräftig meine Lauge ist. Das ist besser, als wenn wir uns zanken.«
Er musste ihr nachgeben, denn sie hätte ihn nicht fortgelassen, bevor er ihrer Lauge nicht Beifall spendete. So verließ er das Esszimmer; im Gang stolperte er über Schuttgebröckel.
»Was bedeutet denn das?« fragte er.
»Nicht das geringste,« gab die Teusin zur Antwort mit beängstigender Miene. »Nur dass das Pfarrhaus zusammenfällt. Aber das macht Ihnen ja nichts aus; Sie haben alles, was Sie brauchen ... Ach Gott, an Rissen ist wahrlich kein Mangel; sehen Sie sich die Decke an. Ist sie noch nicht genügend gesprungen? Wenn wir nicht einen dieser Tage verschüttet werden, schulden wir unserem Schutzengel eine gehörige Kerze. Wenn es Ihnen recht ist, letzten Endes ... Gerade wie mit der Kirche. Vor zwei Jahren schon hätten die zerbrochenen Scheiben ersetzt werden müssen. Im Winter gefriert der liebe Gott. Außerdem kämen die spitzbübischen Spatzen dann nicht herein. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich sie eines schönen Tages eigenhändig mit Papier verkleben werde.«
»Ja, das ist ein Gedanke,« murmelte der Priester, »man könnte Papier einkleben ... Was die Mauern angeht, die sind fester, als man glaubt. In meinem Zimmer hat der Boden nur gerade am Fenster nachgegeben. Das Haus wird uns alle überleben.«
In dem kleinen Schuppen neben der Küche angelangt, begeisterte er sich über die ausgezeichnete Lauge, um der Teusin Vergnügen zu machen; sogar den Finger musste er hineinstecken und schmecken. Darauf wurde die entzückte Alte mütterlich. Sie schimpfte nicht mehr, sondern lief nach einer Bürste mit den Worten:
»Sie wollen doch wohl nicht ausgehen mit Kotspritzern von gestern auf der Sutane! Hätten Sie sie abends herausgehängt, wäre sie sauber ... Sie ist noch gut, die Sutane. Aber heben Sie sie ordentlich auf, wenn Sie über Feld gehen – die Disteln zerreißen alles.« Und sie ließ ihn sich herumdrehen wie einen Jungen, bearbeitete ihn von Kopf bis zu den Füßen mit leidenschaftlichen Bürstenhieben.
»So, so, das genügt,« sagte er und ergriff die Flucht. »Sie geben auf Desiderata Acht, nicht wahr? Ich will ihr sagen, dass ich ausgehe.«
In diesem Augenblick rief eine helle Stimme: »Sergius!«
Desiderata kam freudegerötet und ohne Hut angelaufen, ihre schwarzen Haare waren im Nacken zu mächtigem Knoten verschlungen, Hände und Arme bis zum Ellenbogen mit Unrat beschmiert. Sie säuberte ihr Federvieh. Als sie ihren Bruder, mit dem Brevier unter dem Arm, im Begriff sah, auszugehen, lachte sie noch lauter, hielt die Hände auf den Rücken, um ihn nicht anzurühren, und küsste ihn gerade auf den Mund.
»Nein, nein,« stammelte sie, »ich würde dich schmutzig machen ... Oh, was für ein Spaß! Wenn du wiederkommst, musst du die Tiere ansehen.« Damit lief sie davon. Der Abbé Mouret sagte, um elf Uhr wäre er zum Essen zurück. Er war schon auf dem Wege, da rief ihm die Teusin, die ihn bis zur Schwelle begleitet hatte, noch letzte Ermahnungen nach.
»Vergessen Sie nicht, mit dem Bruder Archangias zu sprechen ... Gehen Sie auch bei den Brichets vorbei; die Frau war gestern da, immer wieder wegen der Heirat. Herr Pfarrer, hören Sie doch! Ich habe die Rosalie getroffen. Sie wünscht sich nichts Besseres, als den langen Fortunat zu heiraten, sie schon. Sprechen Sie mit dem alten Bambousse, vielleicht hört er auf Sie, jetzt ... und kommen Sie nicht erst um Mittag zurück, wie neulich. Um elf Uhr, nicht wahr? Aber der Priester sah sich nicht mehr um. Sie ging ins Haus zurück und sprach durch die Zähne:
»Als ob er auf mich hörte ... Das ist kaum sechsundzwanzig und will immer nach dem eignen Kopf handeln. Der Wahrheit die Ehre, was die Heiligkeit angeht, nimmt er es auf mit einem Sechzigjährigen; aber er kennt das Leben nicht, er weiß von nichts; für den Kleinen ist es nicht schwer, vernünftig zu sein wie ein Cherub.
Als der Abbé Mouret fühlte, dass die Teusin nicht mehr hinter ihm sei, blieb er stehen und freute sich, endlich allein zu sein. Die Kirche war auf einer sanft zum Dorf sich senkenden kleinen Anhöhe errichtet; sie erstreckte sich wie eine verlassene Schäferei mit großen Fenstern und lustigen roten Dachziegeln. Der Priester sah sich um und warf einen Blick auf das Pfarrhaus, graues Gebäude, das an der Flanke des Kirchenschiffes klebte. Dann, als fürchte er sich eingeholt zu werden von dem nie versiegenden Redestrom, der ihm seit früh in den Ohren klang, stieg er nach rechts in die Höhe und fühlte sich erst sicher vor der großen Eingangstüre, wo man ihn von der Pfarre aus nicht sehen konnte. Die kahle Vorderseite der Kirche, von Sonne und Regen zermürbt, war von einem schmalen, käfigartigen Gemäuer überragt, in dessen Mitte sich eine Glocke dunkel abzeichnete; das Strickende verlor sich in den Dachsparren. Sechs zerbrochene Stufen, an beiden Enden halb eingegraben, führten zu der verbogenen, zersprungenen Tür, die staub- und rostzerfressen, mit Spinnweben überzogen, so kläglich in ihren morschen Angeln hing, dass es schien, als ob der nächste Windstoß sie umreißen müsste. Den Abbé Mouret rührte diese Ruine; oben auf dem Treppenabsatz lehnte er sich an einen der Türflügel. Von dort aus konnte er mit einem Blick die ganze Landschaft umfangen. Die Hand vor den Augen, hielt er suchend Umschau am Horizont.
Im Mai brach ein mächtiges Wachstum aus dem steinigen Grund. Riesige Lavendelstauden, Wacholderbüsche, ganze Züge wilder Kräuter erkletterten die Stufen, und grüne Sträuße sprossten sogar aus dem Dachschiefer. Das erste Saftschwellen drohte die Kirche zu entwurzeln und im Getriebe starrer Pflanzlichkeit fortzudrängen. In dieser morgendlichen Stunde sprossender Anspannung schwirrte es von Wärme, und ein treibendes Schweigen durchzitterte das Gestein. Dem Abbé Mouret wurde nichts bewusst von der Glut dieser mühevollen Geburten; die Schwelle schien ihm zu schwanken, und so lehnte er sich gegen den anderen Türflügel. Zwei Meilen weit erstreckte sich das Land, begrenzt von einer gelben Hügelkette, die mit schwarzen Nadelhölzern hier und da bestanden war; trauriges Gebiet vertrockneter Heide, wo Felsgeäder den Boden durchgrätete. Das Wenige urbaren Landes breitete sich wie Lachen von Blut, rote Felder mit dünn gereihten Mandelbäumen, grauhäuptige Oliven, Weinspaliere, die knorrig das Land bestreiften. Es sah aus wie nach einer großen Feuersbrunst, die über die Höhen Asche verkohlter Wälder streute, die Wiesen versengte und ihren Glanz, ihre wütende Glut in den Vertiefungen zurückließ. Kaum dass hin und wieder das Blassgrün eines Getreidefeldes Zartheit antönte. Nichts als Wildnis, soweit das Auge reichte, verdurstend, ohne jegliches Wassergerinsel, aufstiebend in großen Staubwolken beim leisesten Lufthauch. Und ganz in der Ferne sah man durch eine Bresche im Hügelgürtel feuchtfernes Grün, einen schmalen Streifen nachbarlicher Täler, befruchtend durchspült von der Biorne, eines vom Seiller Pass sich ergießenden Flusses. Geblendet ließ der Priester den Blick zum Dorf hinabgleiten, dessen wenige Häuser kreuz und quer unterhalb der Kirche standen. Elende Häuser aus Backstein und Fachwerk, ohne Straßenanlagen einen schmalen Weg entlang gestellt. Es waren ihrer dreißig; die geschwärzte Erbärmlichkeit mancher erstickte fast im Mist, andere größere sahen anheimelnd aus unter rosigen Schindeldächern. Kleine, den Felsen abgetrotzte Gartenwinkel wiesen Gemüsebeete, von bunten Hecken durchzogen. Zu dieser Stunde war das Artaud wie ausgestorben. Keine Frau, zeigte sich am Fenster, nicht ein einziges Kind wälzte sich im Staub; nur das Auf und Ab einer Schar Hühner war zu sehen, die im Stroh scharrten und sich, rastlos auf der Suche, bis zu den Schwellen der Häuser vorwagten, deren offenstehende Türen der Sonne willig Einlass gewährten. Ein großer schwarzer Hund saß aufrecht am Eingang des Dorfes, als hielte er Wache.
Mattigkeit überkam nach und nach den Abbé Mouret. Die steigende Sonne umspielte ihn so lau, dass er sich gegen die Kirchtüre sinken ließ, überwältigt von friedlichem Glücksgefühl. Er dachte an das Artaud, dieses Dorf, das aufgeschossen war wie eine der verschrobenen Pflanzenwucherungen des Tales. Alle Einwohner waren untereinander verwandt, alle trugen den gleichen Namen, so dass sie von der Wiege an einen Beinamen bekommen mussten, der Unterscheidung wegen. Ein Vorvater, Artaud genannt, kam eines Tages und siedelte sich in der Heide an wie ein Ausgestoßener; dann hatten die Seinigen sich vermehrt mit der hartnäckigen Lebensfähigkeit der Pflanzen, die aus den Felsen ihre Kräfte ziehen. Seine Familie wurde ein Stamm, eine Gemeinschaft, deren verwandtschaftliche Verknüpfungen sich im Nebel der Jahrhunderte verloren. Sie vermischten sich in schamlos nahen Heiraten. Kein Beispiel wäre dafür anzuführen gewesen, dass ein Artaud sich mit einer Frau aus einem anderen Dorf verehelicht hätte; nur die Mädchen heirateten manchmal nach auswärts. Verbunden mit diesem Erdenwinkel kamen sie zur Welt und starben, in ihrem Unrat stetig wuchernd, mit der Einfalt von Bäumen, die aus ihrem Gesäme neu erwachsen, ohne eine klare Vorstellung von der Weite der Welt zu gewinnen über die gelben Felsen hinaus, hinter denen sie ihr Leben fristeten. Und doch gab es auch bei ihnen Arme und Reiche; weil Hühner verschwanden, wurden die Hühnerställe nächtlicherweile mit schweren Vorhängeschlössern gesichert; ein Artaud brachte eines Abends hinter der Mühle einen anderen Artaud um. Eingeschlossen von dieser trostlosen Hügelumschnürung bildeten sie ein Volk für sich, eine aus der Scholle geborene Rasse, eine Menschheit von dreihundert Köpfen, die lebte wie zu Anbeginn der Zeiten.
Lähmend hing noch der Schatten der Seminare über dem Abbé Mouret. Jahrelang kannte er die Sonne nicht. Auch jetzt noch sah er sie kaum; geschlossenen Auges spähte er nach Seelischem, und für die fluchbelastete Natur hatte er nur Verachtung. Lange Zeit träumte er, in Stunden der Sammlung, wenn er sich in Betrachtungen löste, von einer wüsten Einsiedelei, irgendeinem Bergversteck, wo nichts Lebendiges, kein Geschöpf, keine Pflanze, keine Flut ihn von der Anschauung Gottes abzuziehen vermöchte. Eine Wallung reiner Liebesbegeisterung war es, Abscheu vor jeder sinnlichen Empfindung. Dort, vom Licht abgewandt, sich abtötend, hätte er seine Auflösung erwartet, das Aufgehen in herrlicher Seelenweiße. Ganz weiß erschien ihm der Himmel, in lichtvoller Weiße, als wenn Lilien ihm entschneiten, als ob alle Reinheit, alle Unschuld, alle Unberührtheit weiß aufleuchteten. Sein Beichtvater aber zankte ihn aus, als er ihm seine Einsamkeitsgelüste, seinen Drang nach göttlicher Klarheit darlegte; Er rief ihn auf, zu kämpfen für die Kirche, zur Notwendigkeit des Priestertums. Nach Empfang der Weihen später war der junge Priester auf seinen eigenen Wunsch nach Artaud gekommen in der Hoffnung, sich hier der erträumten Vernichtung aller menschlichen Schwächen hingeben zu können. Inmitten dieses Elends, auf diesem unfruchtbaren Boden hoffte er seine Ohren den Geräuschen der Welt zu verschließen und in heiligem Schlummer dahinzuleben. Und wirklich, seit mehreren Monaten lebte er lächelnd dahin; kaum dass eine Unruhe vom Dorf her ihn einmal trübte, kaum dass er einen heißen Sonnenbiss im Nacken spürte, wenn er seine Straße zog, ganz dem Himmel zugetan, ohne die nicht endenden Wehen zu vernehmen, inmitten derer er wanderte.
Der große schwarze Hund, der das Artaud bewachte, entschloss sich, zum Abbé Mouret heraufzusteigen, zu dessen Füßen er sich dann aufrecht wieder niederließ. Der Priester aber dämmerte weiter in der Morgenlieblichkeit. Am Abend des vorhergehenden Tages hatte er die Exerzitien des Marianischen Rosenkranzes begonnen. Die große Freudigkeit in seinem Innern schrieb er gnädiger Fürbitte der Jungfrau bei ihrem göttlichen Sohne zu. Wie nichtig ihm die irdischen Güter erschienen! Wie erfüllte es ihn mit Dankbarkeit, arm sein zu dürfen. Als er die Weihen empfing, überließ er sein ganzes Vermögen seinem älteren Bruder; Vater und Mutter hatte er an dem gleichen Tage verloren, infolge eines Unglücksfalles, dessen ganzer Schrecken sich ihm noch nicht enthüllt hatte. Von irdischen Beziehungen war ihm nichts als die Schwester verblieben. Aus einer Art frommen Zärtlichkeit für ihre Einfalt hatte er sich ihrer angenommen. Die liebe Unschuld war so kindlich, so kleinmädchenhaft, dass sie ihm angetan erschien mit der Reinheit jener Armen im Geist, denen evangelische Worte das Himmelreich zusprechen. Seit einiger Zeit jedoch begann sie ihn zu beunruhigen. Sie wurde zu kräftig, zu üppig, zu viel Leben ging von ihr aus. Doch es kam kaum zu einem Unbehagen. Er verbrachte seine Tage in dem verinnerlichten Zustand, in den er hineingewachsen war, als er alles aufgab, um sich ganz hingeben zu können. Er verschloss dem Sinnenleben die Tür, versuchte der Natur des Leibes zu entrinnen und war nichts als eine in Beschaulichkeit selige Seele. Die Natur bedeutete ihm Fallstrick und Unflat; er setzte seine Ehre darein, ihr Gewalt anzutun, sie gering zu achten, sich zu entflecken von aller irdischen Unsauberkeit. Vor der Welt ist der Gerechte sinnlos. Er betrachtete sich als Erdverbannten. Nur die himmlischen Güter zog er in Betracht und begriff nicht, wie einige Stunden vergänglicher Freuden eine Ewigkeit aus Glückseligkeiten aufwiegen sollten. Seine Vernunft führte ihn irre und betrog ihn; seine Wünsche logen. Und nahm er zu an Tugend, war es vor allem seiner Demut, seines Gehorsams wegen. Der Letzte von allen wollte er sein, allen dienstbar, auf dass der Tau der Göttlichkeit auf sein Herz wie in starren Sand niederrieselte; er nannte sich schwach und schandbedeckt, bis ins Tiefste unwürdig, von der Erbsünde erlöst zu werden. Demütig sein heißt glauben, heißt lieben. Er war in nichts mehr von sich abhängig, blind, taub, irgendein Ding ohne Willen, Gottes Eigentum. Aus dieser Erniedrigung, in die er sich tief vergrub, trug ein Hosianna ihn weit hinaus über Glück und Macht, in den Glanz eines endlosen Glücks. So waren dem Abbé Mouret im Artaud die Entzückungen klösterlichen Lebens beschieden, die er einst so glühend erwünschte beim jedesmaligen Lesen der Nachfolge Jesu. Nichts in ihm kannte Kampf. Vom ersten Kniefall an war er fehlerfrei, ohne Widerstand, ohne Erschütterungen; es war, als ob der Blitzstrahl der Gnade sein Fleisch-Bewusstsein endgültig vernichtet habe. Verzückung in Gottes Nähe, der einige junge Priester teilhaftig werden; glückselige Stunde, wo alles schweigt, wo im großen Schweigen die Begierden nichts mehr sind als ein maßloser Hang nach Reinheit. An keiner Kreatur wollte er Tröstung gewinnen. Wenn man glaubt, dass eines alles umfasst, ist man unerschütterlich, und er glaubte an die Allheit Gottes, glaubte, dass seine eigene Demut, sein Gehorsam, seine Keuschheit alles seien. Er erinnerte sich, von der Versuchung reden gehört zu haben als von einer schrecklichen Qual, die selbst die Heiligsten befällt. Hierüber musste er lächeln. Ihn hatte Gott niemals verlassen. Im Glauben wandelte er wie in einem Panzer, der ihn gegen die kleinste schlimme Regung schützte. Mit acht Jahren, entsann er sich, weinte er in einem Winkel aus Liebe; er war sich nicht bewusst zu lieben; er weinte, weil er irgendwo in der Weite jemanden liebte. Diese Weichheit war ihm geblieben. Später hatte er Priester werden wollen, um dieser übermenschlichen Liebessehnsucht zu genügen, die einzig ihn quälte. So erfüllte er sein Wesen, seine Veranlagung, seine Jünglingsträume und Jungmännerwünsche. Sollte die Versuchung an ihn herantreten, er erwartete sie mit der ihm eignenden Kaltblütigkeit des unwissenden Seminaristen. Der Mann in ihm war getötet; er fühlte es und war dessen froh, glücklich, sich besonders zu wissen als entmanntes Wesen, von der Art abweichend, durch die Tonsur gezeichnet als Lamm des Herrn.
Währenddessen überschien warm die Sonne das große Kirchentor. Goldfliegen schwirrten um eine große Blume, die zwischen zweien der Vorplatzstufen hervorwuchs. Gerade als der Abbé Mouret, etwas betäubt, sich zum Gehen anschickte, stürzte der große schwarze Hund mit wildem Gebell auf das Gitter des kleinen, links von der Kirche gelegenen Friedhofes zu. Gleichzeitig schrie eine harte Stimme: Oh, du Taugenichts, die Schule schwänzest du, und dann findet man dich auf dem Kirchhof ... leugne nicht! Seit einer Viertelstunde beobachte ich dich.«
Der Priester trat näher. Er erkannte Vinzenz, den ein Bruder der christlichen Schule rau bei den Ohren nahm. Der Junge hing über einer Schlucht, die den Kirchhof der Länge nach durchschnitt, in deren Tiefe der Mascle floss, ein Strom, dessen weißschäumende Flut sich zwei Meilen weiter in die Biorne ergoss.
»Bruder Archangias!« sagte der Abbé sanft, um den erbosten Mann zur Nachsicht zu bewegen. Der Bruder aber ließ nicht locker.
»Ach, Sie sind es, Herr Pfarrer,« grollte er. »Denken Sie sich nur, dieser Bengel steckt immer auf dem Kirchhof. Was er für schlimme Streiche hier aushecken kann, ist mir unklar. Loslassen sollte ich ihn, damit er sich den Schädel da unten zerschlüge. Recht geschähe ihm das.«
Der Junge gab keinen Laut von sich, klammerte sich im Gestrüpp fest und kniff duckmäuserisch die Augen zu.
»Nehmen Sie sich in acht, Bruder Archangias,« begann der Priester wieder, »er könnte ausgleiten.« Und eigenhändig half er Vinzenz beim Heraufklettern. »Nun sag' mal, kleiner Freund, was treibst du denn hier? Man darf doch nicht auf Kirchhöfen spielen!«
Der Lausbube machte die Augen auf, zog sich vorsichtig aus der Nähe des Bruders zurück und suchte Schutz beim Abbé Mouret.
»Ihnen will ich es sagen,« murmelte er und wendete ihm seine pfiffige Miene zu. »In den Dornen ist ein Grasmückennest unter einem Felsvorsprung. Seit mehr als zehn Tagen belauere ich das ... Weil die Jungen nun ausgekrochen sind, bin ich heute Morgen hergegangen, nachdem ich die Messe bedient hatte...«
»Ein Grasmückennest!« sagte Bruder Archangias. »Warte nur!« Er ging zur Seite, nahm ein Stück Erde von einem Grab und schleuderte es ins Gebüsch. Aber er verfehlte das Nest. Ein zweites Wurfgeschoß traf die gebrechliche Wiege und warf die Vogeljungen in den Strom. Sich die Hände abklopfend, fuhr er fort: »So, jetzt wirst du es vielleicht unterlassen, dich wie ein Heide hier herumzutreiben ... die Toten werden dich bei den Füßen ziehen in der Nacht, wenn du noch einmal auf ihnen herumtrampelst.«
Vinzenz lachte auf, als das Nest sich überschlug, dann sah er sich mit dem Achselzucken eines Geistesstarken um: »Oh, ich fürchte mich nicht,« sagte er. »Die Toten, die rühren sich nicht!«
Der Kirchhof hatte wirklich nichts Furchterregendes. Er nahm sich aus wie ein kahles Feld, auf dem sich die schmalen Wege unter den wuchernden Gräsern verloren. Kleine Erhöhungen des Erdreichs nahm man hin und wieder wahr. Ein einziger aufrechter, ganz neuer Stein in der Mitte, der Grabstein des Abbé Caffin, hob sich weiß ab. Sonst sah man nur zerbrochene Kreuze, vertrocknete Buchsbaumzweige, alte gesprungene, mit Moos überzogene Steinplatten. Kaum zweimal im Jahr gab es ein Begräbnis. Fast vermochte man zu übersehen, dass der Tod auf diesem verwilderten Gebiet hauste, von dem die Teusin allabendlich eine Schürze voll Kräuter holte für Desideratas Kaninchen. Eine riesenhafte Zypresse, die neben der Türe wuchs, warf einsam ihren Schatten über das verwahrloste Feld. Drei Meilen in der Runde war diese Zypresse zu sehen, und im ganzen Land gab man ihr den Namen: die Einsiedlerin. »Es wimmelt hier von Eidechsen,« berichtete Vinzenz, der die rissige Kirchenmauer betrachtete. »Lustig wäre es ...«
Mit einem Sprung aber zog er sich aus dem Bereich des Bruders zurück, der den Fuß hob. Der Bruder machte den Pfarrer auf den schlechten Zustand des Gitters aufmerksam. Es war vollkommen vom Rost zerfressen, eine Angel war ausgehoben und das Schloss zerbrochen.
»Das müsste ausgebessert werden,« sagte er. Der Abbé Mouret lächelte ohne zu antworten. Dann wendete er sich an Vinzenz, der sich mit dem Hund herumzerrte: »Sag', Kleiner!« fragte er, »weißt du, wo der Vater Bambousse heute Morgen arbeitet?« Der Junge suchte mit einem Blick den Horizont ab. »Er wird wohl bei seinen Oliven sein,« antwortete er, nach links zeigend. »Packan kann sie führen, Herr Pfarrer. Der weiß sicher, wo sein Herr steckt.« Dann klatschte er in die Hände und rief: »Packan! Packan!«
Der große schwarze Hund blieb einen Augenblick schweifwedelnd stehen und suchte in dem Gesicht des Knaben zu lesen. Dann machte er sich mit Freudengebell auf den Weg zum Dorf. Der Abbé Mouret und Bruder Archangias gingen ihm nach. Hundert Schritte weiter machte Vinzenz sich aus dem Staub und schlich sich vorsichtig zur Kirche zurück, umsichtig und bereit, sich hinter einen Busch zu flüchten, sollten sie den Kopf wenden. Mit Schlangengewandtheit glitt er zurück auf den Kirchhof, jenem Paradies, wo es Nester, Eidechsen und Blumen gab. Während Packan auf der staubigen Straße ihnen vorauslief, sagte Bruder Archangias zu dem Priester: »Lassen Sie's gut sein, Herr Pfarrer, diese Kröten sind Teufelssamen. Um sie Gott wohlgefällig zu machen, müsste man ihnen das Rückgrat zerbrechen. Ohne Glauben leben sie wie ihre Väter. Seit fünfzehn Jahren bin ich nun hier; nicht einen einzigen Christen habe ich heranwachsen sehen. Kaum sind sie aus meinem Griff, adieu; sie denken nur an ihr Land, ihre Weinstöcke und Oliven. Keiner setzt einen Fuß in die Kirche. Rohlinge sind sie, die sich mit ihren Kieseln herumschlagen! Stockschläge müssen sie haben, Herr Pfarrer, nur Stockschläge!« Er holte Atem und fügte hinzu mit einer wilden Bewegung: »Sehen Sie, die Leute im Artaud sind wie das Gestrüpp, das die Felsen zerfrisst. Eine Generation genügte, um das ganze Land zu vergiften. Das krallt sich fest, vermehrt sich, lebt allem zum Trotz. Feuer müsste vom Himmel fallen wie auf Gomorra, um das Land zu säubern.«
»Man darf nie an den Sündern verzweifeln,« äußerte der Abbé Mouret; seelenruhig wandelte er mit kleinen Schritten dahin.
»Ach was, die da sind des Teufels,« nahm der Bruder noch heftiger das Wort. »Ich war ein Bauer wie sie. Bis zu meinem achtzehnten Jahre habe ich die Erde bebaut. Und später im Institut musste ich fegen, Kartoffeln schälen, alle groben Arbeiten verrichten. Ihre schwere Arbeit mach' ich ihnen nicht zum Vorwurf. Im Gegenteil, Gott hat eine Vorliebe für die in Niedrigkeit Lebenden. .. Die Leute im Artaud führen sich aber auf wie das Vieh, sehen Sie! Nicht besser wie ihre Hunde sind sie, die auch nicht zur Messe kommen und sich um die Gebote Gottes und der Kirche nicht kümmern. Sie lieben ihre Brocken Erde so, dass sie am liebsten mit ihnen Unzucht treiben möchten!«
Packan blieb mit erhobenem Schweif stehen und setzte sich wieder in Trab, nachdem er sich versichert hatte, dass die beiden Männer ihm immer noch folgten. »Ja, es kommt wirklich zu beklagenswerten Ausschreitungen,« sagte der Abbé. »Mein Vorgänger, Abbé Caffin ...« »Dieser Jammermann,« unterbrach ihn der Bruder. »Er wurde uns aus der Normandie geschickt, nach einer garstigen Geschichte. Hier hat er es sich lediglich angelegen sein lassen, ein löbliches Leben zu führen; alles ging, wie es wollte.«
»Nicht doch, der Abbé Caffin hat sicherlich getan, was er vermochte; allerdings muss man zugeben, dass seine Bemühungen fast ohne Nutzen blieben. Auch die meinen sind zumeist erfolglos.« Bruder Archangias zuckte die Achseln. Wortlos ging er kurze Zeit und warf seinen hageren großen Körper hin und her. Die Sonne strahlte auf seine verbrannte Nackenhaut, sein hartes, messerscharfes Bauerngesicht war beschattet.
»Hören Sie, Herr Pfarrer,« fing er endlich wieder an, »ich bin zu gering, um Ihnen Vorschriften machen zu dürfen; allein ich bin fast doppelt so alt wie Sie und kenne mich hier aus, und das berechtigt mich, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie mit Güte nichts erreichen werden ... Der Katechismus genügt, merken Sie sich das. Gott hat für die Ungläubigen keine Gnaden. Er lässt sie brennen. Daran halten Sie sich.«
Und da der Abbé Mouret den Kopf senkte und nichts erwiderte, fuhr er fort: »Auf dem Land wird man der Religion abtrünnig, weil sie zum alten Weib geworden ist. Man hatte Ehrfurcht vor ihr, solange sie sich als unnachsichtige Herrin gebärdete ... Ich weiß nicht, was euch in den Seminaren beigebracht wird. Die Pfarrer von heute weinen wie die Unmündigen mit ihren Pfarrkindern. Gott hat ein ganz anderes Ansehen bekommen ...
Ich möchte einen Eid darauf leisten, Herr Pfarrer, dass sie ihren Katechismus nicht mehr auswendig können?«
Den Priester verletzte dieser Wille, der so rau sich ihm aufzudrängen suchte; er hob den Kopf und sagte mit einiger Kühle: »Lassen Sie's gut sein, Ihr Eifer ist sicher lobenswert, aber hatten Sie mir nichts zu sagen? Sie waren in der Pfarrei heute Morgen, nicht wahr?«
Grob antwortete Bruder Archangias: »Ich hatte Ihnen zu sagen, was ich Ihnen eben sagte ... Die Leute leben hier im Artaud wie die Schweine. Gestern erst erfuhr ich, dass Rosalie, Vater Bambousses Älteste, schwanger ist. Sämtlich warten sie das ab, um sich zu verheiraten. Seit fünfzehn Jahren hab' ich keine gekannt, die nicht im Heu gewesen wäre vor der Trauung. Und lachend erklären sie dann, das sei nun mal so Sitte hierzulande!«
»In der Tat,« murmelte der Abbé Mouret, »es ist ein großes Ärgernis ... Gerade bin ich auf dem Weg zum Vater Bambousse, um diese Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Es wäre jetzt wünschenswert, die Hochzeit fände so bald als möglich statt ... Der Vater des Kindes soll Fortunat, der älteste Brichet, sein. Unglücklicherweise sind die Brichets arm.«
»Die Rosalie!« fuhr der Bruder fort, »gerade achtzehn ist sie. Das ist auf der Schulbank schon gefallen. Es sind noch nicht vier Jahre her, da kam sie noch zu mir. Sie war schon damals lasterhaft. Jetzt ist ihre Schwester Katharina bei mir, ein Mädel von elf Jahren, die noch schamloser zu werden verspricht als die ältere Schwester. In allen Ecken trifft man sie mit dem Tunichtgut Vinzenz. Gehen Sie mir, man mag ihnen die Ohren noch so lang ziehen, das Weib regt sich schon in ihnen. Sie tragen die Verdammnis in den Röcken. Geschöpfe, die auf den Mist gehören in ihrem stinkenden Unwert! Wenn man gleich nach der Geburt allen Mädeln den Hals umdrehte, so wäre das eine tüchtige Entlastung.« Hass, Abscheu vor dem Weib ließen ihn fluchen wie ein Fuhrmann. Der Abbé Mouret, der ihm mit ruhigem Gesicht zugehört hatte, musste schließlich über seine Heftigkeit lächeln. Er rief Packan, der in ein benachbartes Feld abgebogen war.
»Ei, sehen Sie wohl!« rief Bruder Archangias und deutete auf eine Kinderschar, die sich unten in einer Schlucht erging, »hier also sind die Taugenichtse, die die Schule versäumen unter dem Vorwand, ihren Eltern im Weinberg helfen zu müssen! ... Sie können sicher sein, dass die liederliche Katharina mitten darunter ist. Es macht ihr Spaß, Abhänge hinab zu rutschen; Sie werden sehen, wie die Röcke ihr über dem Kopf zusammenschlagen. Da! hab' ich es nicht gesagt! ... Auf heute Abend, Herr Pfarrer ... Wartet nur, wartet, ihr Schlingel!«
Damit rannte er davon, die unsauberen Beffchen flatterten ihm über die Schulter, und die lange, schmierige Sutane entwurzelte die Disteln. Der Abbé Mouret sah zu, wie er sich mitten unter die Kinderbande stürzte, die nach allen Seiten auseinanderstob, wie eine Schar erschreckter Spatzen. Es war ihm aber gelungen, Katharina und irgendeinen Bengel bei den Ohren zu bekommen. Er führte sie in der Richtung des Dorfes ab, hielt sie fest mit seinen großen, behaarten Händen und überhäufte sie mit Scheltworten.
Der Priester setzte seinen Weg fort. Bruder Archangias gab ihm des öfteren Anlass zu eigenartigen Skrupeln: in seiner Gewöhnlichkeit und Derbheit kam er ihm vor wie der wahrhafte Gottesmann, ohne irdische Bande, dem Himmel gegenüber botmäßig, demütig, herb gegen die Sünde aufgerichtet. Und er war verzweifelt, sich nicht mehr seiner Körperlichkeit entäußern zu können, nicht hässlich und ekelhaft zu sein, bedeckt mit dem Ungeziefer mancher Heiligen. Wenn der Bruder ihn durch zu rohe Worte in Harnisch brachte, ihn durch irgendwelche zu hitzige Grobheiten verletzte, warf er sich hinterher seine Empfindlichkeit und seinen angeborenen Stolz vor, wie ernstliche Verfehlungen. Müsste er nicht aller Menschenschwachheit abgestorben sein? Auch diesmal lächelte er traurig, als er bedachte, wie er sich fast über die heftigen Belehrungen des Bruders erzürnt hätte. Stolz war's, sagte er bei sich, der ihn zu Fall bringen wollte und ihm Verachtung gegen die Schlichtheit eingab. Aber gegen seinen Willen fühlte er sich erleichtert, allein zu sein, mit kleinen Schritten zu wandern, im Brevier zu lesen, von der harten Stimme befreit, die ihm seinen Traum reiner Zärtlichkeit trüben wollte.
Die Straße wand sich zwischen Felsstürzen, wo die Bauern hie und da vier, fünf Meter kreidigen Grund gewonnen hatten, der mit alten Olivenbäumen bestanden war. Leise knirschte unter den Schritten des Abbés der Sand. Traf ein wärmeres Wehen sein Antlitz, hob er manchmal die Augen vom Buch, um ausfindig zu machen, woher diese Liebkosung käme; aber sein Blick blieb verschleiert, streifte, ohne zu sehen, über den Horizont hin, über die verbogenen Linien dieser Passionslandschaft, die dürr und sonnenohnmächtig lag in der Hingestrecktheit einer glühenden und unfruchtbaren Frau. Er zog den Hut tiefer in die Stirne, um den lauen Lüften zu entgehen, nahm seine Lektüre wieder auf; wobei seine Sutane im Staub hinter ihm eine kleine Wolke aufwirbelte, die dicht über dem Boden zog.
»Guten Tag, Herr Pfarrer,« sagte ein vorübergehender Bauer. Hackenschläge den Feldflächen entlang scheuchten ihn aus seiner Sammlung. Er wandte den Kopf und sah in den Weinspalieren große knochige Greise, die ihn grüßten. Die Leute aus dem Artaud trieben mit der Erde Unzucht, wie Bruder Archangias sagte. Hinter dem Blätterwerk wurden schweißtriefende Stirnen sichtbar, keuchende Leiber richteten sich langsam auf – ein heißes Bemühen um Befruchtung, das er mit seinem stillen Schreiten tiefsten Unwissens durchwandelte. Keinerlei Erregung der großen Liebesarbeit, die die Pracht des Morgens erfüllte, rührte sein Fleisch.
»Holla! Packan, man frisst die Leute doch nicht!« rief lustig eine kräftige Stimme, und suchte den Hund zu beschwichtigen.
Der Abbé Mouret hob den Kopf. »Sie sind es, Fortunat,« sagte der Abbé und trat an den Rand des Feldes, auf dem der junge Bauer arbeitete. »Gerade wollte ich mit Ihnen reden.« Fortunat stand im gleichen Alter wie der Priester. Ein stattlicher Bursche war er, dickfellig und dreist, gerade damit beschäftigt, ein Stück steiniger Heide urbar zu machen.
»Um was handelt es sich, Herr Pfarrer?« fragte er.
»Es handelt sich um das, was sich zwischen Rosalie und Ihnen zugetragen hat,« gab der Priester zur Antwort. Fortunat musste lachen. Er fand es sehr merkwürdig, dass ein Geistlicher sich um so etwas kümmerte. »Gewiss, doch,« murmelte er. »Sie wollte es ja gern. Gezwungen habe ich sie zu nichts. Umso schlimmer, wenn der Vater Bambousse sie mir nicht geben will. Sie haben selbst gesehen, wie sein Hund mich eben beißen wollte, er hetzt ihn auf mich.«
Der Abbé Mouret wollte weiterreden, als der alte Artaud, Brichet genannt, dessen er erst jetzt ansichtig wurde, aus dem Schatten eines Busches auftauchte, hinter dem er mit seiner Frau beim Essen saß. Er war klein, altersdürr und von bescheidenem Gebaren. »Sicher hat man Ihnen Lügengeschichten erzählt, Herr Pfarrer,« rief er. »Der Junge will ja gern die Rosalie heiraten. Die Kinder sind miteinander gegangen. Niemand kann dafür. Andere haben's ebenso wie sie gemacht und lebten darum später nicht weniger ehrbar zusammen. Die Angelegenheit hängt von uns nicht ab. Mit Bambousse müssen sie sprechen. Er will nichts von uns wissen, weil er Geld hat.«
»Gewiss, zu arm sind wir,« jammerte die Mutter, eine große, weinerliche Frau, die nun ihrerseits erschien. »Wir besitzen nichts als dieses Stückchen Land, auf das der Teufel Steine hageln lässt, so wahr ich hier stehe; davon leben können wir nicht. Ohne Sie, Herr Pfarrer, wäre das Dasein nicht auszuhalten.«
Mutter Brichet war die einzige Betschwester des Dorfes. Nach der Kommunion strich sie um die Pfarrei, weil sie wusste, dass die Teusin ihr immer ein paar Brote aufhob vom letzten Backtag. Manchmal sogar zog sie mit einem von Desiderata geschenkten Huhn oder Kaninchen ab.
»Ärgernisse ohne Ende,« nahm der Priester den Faden wieder auf. »Die Hochzeit muss so schnell als möglich stattfinden.«
»Aber sofort, wenn's den anderen recht ist,« sagte die Alte, sehr beunruhigt, der Geschenke wegen. »Nicht wahr, Brichet, wir sind keine so schlechten Christen, dass wir dem Herrn Pfarrer zuwider sein wollen.« Fortunat grinste. »Ich will gleich,« erklärte er, »und die Rosalie auch ... Ich habe sie gestern getroffen, hinter der Mühle. Wir sind gar nicht böse miteinander, im Gegenteil. Wir sind stehengeblieben und haben Spaß gemacht ...« Der Abbé Mouret fiel ihm in die Rede:
»Es ist gut, ich will mit dem Vater reden. Er ist da drüben bei den Oliven, glaube ich.« Der Priester entfernte sich, da fragte ihn die Mutter Brichet nach dem Verbleib ihres jüngeren Sohnes Vinzenz, der seit früh unterwegs sei, um die Messe zu bedienen. Der Bengel habe die Ermahnungen des Herrn Pfarrers arg nötig. Und sie begleitete den Priester einige hundert Schritt, klagte über ihr Elend, den Mangel an Kartoffeln, über den Frost, der die Oliven zugrunde richtete, über die Hitze, die die spärliche Ernte versengte. Sie verließ ihn mit der Versicherung, ihr Sohn Fortunat spreche morgens und abends seine Gebete.