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Dieses Buch galt als Referenzwerk zur Diskussion der Weltanschauungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Diskutiert wird der Unterschied zwischen der rein physikalischen Ansicht der Natur, der Nachtansicht, und der bewusstseinsgesteuerten Tagansicht, die die Sinne des Menschen in seinem Gehirn bilden.
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Seitenzahl: 486
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Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht
Gustav Theodor Fechner
Inhalt:
Gustav Theodor Fechner – Biografie und Bibliografie
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht
Erster Teil - Grundzüge
I. Eingang.
II. Historischer Gesichtspunkt.
III. Grundpunkte beider Ansichten einander gegenüber.
IV. Entwicklungsprinzipien der Tagesansicht.
V. Positive Entwicklungsmomente der Tagesansicht gegenüber den Negationen.
VI. Religiöse Ansichten und Aussichten.
VII. Glaubenssätze.
VIII. Das Alte und Neue der Tagesansicht.
IX. Die drei Glaubensprinzipien der Tagesansicht.
X. Zur Theologie der Tagesansicht.
XI. Zur Seelenfrage.
XII. Zur Lehre vom Jenseits.
XIII. Über die Vermittlung des allgemeinen und höheren Geisteslebens mit der Natur.
XIV. Zur Teleologie.
XV. Die Weltfragen der Lust und Unlust. Optimismus und Pessimismus.
XVI. Die Freiheitsfrage.
XVII. Das Kausalgesetz oder Kausalprinzip.
XVIII. Prinzip der Tendenz zur Stabilität als Finalprinzip der Welt.
IX. Was veranlaßt und berechtigt uns, eine Außenwelt anzunehmen, und wiefern ist eine Erkenntnis ihrer Beschaffenheit möglich.
XX. Vermittlung der Tagesansicht mit der naturwissenschaftlichen Auffassung der Natur.
XXI. Grundverhältnis zwischen materiellen und geistigem Prinzip. Dualismus und Monismus.
XXII. Stellung der Tagesansicht zur Monadologie. Synechologische Ansicht der monadologischen gegenüber.
XXIII. Spiritistisches.
XXIV. Ergänzende Bemerkungen zur Begründung der Tagesansicht.
XXV. Schluß.
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Gustav Theodor Fechner
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849612467
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Physiker, geb. 19. April 1801 in Groß-Särchen in der Niederlausitz, gest. 18. Nov. 1887 in Leipzig, studierte seit 1817 zu Leipzig, habilitierte sich an der Universität und erhielt 1834 die ordentliche Professur der Physik. Er lieferte wertvolle Untersuchungen über den Galvanismus, über elektrochemische Prozesse und über die subjektiven Komplementärfarben. Ein Augenleiden veranlasste ihn 1839, sich der Naturphilosophie, Anthropologie und Ästhetik zuzuwenden. Dieser Richtung gehören an seine Schriften: »Über das höchste Gut« (Leipz. 1846); »Nanna, oder über das Seelenleben der Pflanzen« (das. 1848; 3. Aufl., Hamb. 1903); »Zendavesta, oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits« (Leipz. 1851, 3 Bde.; 2. Aufl. von Laßwitz, 1901, 2 Bde.); »Professor Schleiden und der Mond« (das. 1856); »Über die Seelenfrage« (das. 1861); »Die drei Motive und Gründe des Glaubens« (das. 1863). Er veröffentlichte ferner: »Über die physikalische und philosophische Atomenlehre« (2. Aufl., Leipz. 1864) und »Elemente der Psychophysik« (das. 1860, 2 Bde.; 2. Aufl., mit Verzeichnis von Fechners sämtlichen Schriften, 1889, 2 Bde.), sein Hauptwerk, in dem das Verhältnis der psychischen zu den physischen Erscheinungen mit Hilfe der Erfahrung und der Mathematik zu erforschen versucht wird; »In Sachen der Psychophysik« (das. 1877); »Revision der Hauptpunkte der Psychophysik« (das. 1882), in welcher Schrift er die gegen seine Psychophysik gemachten Einwürfe zu widerlegen und die Lehren derselben fester zu begründen suchte. Die Resultate seiner galvanischen Untersuchungen finden sich in den »Maßbestimmungen über die galvanische Kette« (Leipz. 1831) und in dem von ihm allein bearbeiteten fünften Band seiner Übersetzung von Biots »Lehrbuch der Experimentalphysik« (2. Aufl., bas. 1828–29, 5 Bde.); daran reihen sich: »Über die Frage des Weberschen Gesetzes und Periodizitätsgesetzes im Gebiet des Zeitsinnes« (das. 1884); »Über die Methode der richtigen und falschen Fälle in Anwendung auf die Maßbestimmungen der Feinheit oder extensiven Empfindlichkeit des Raumsinnes« (das. 1884); »Über die psychischen Maßprinzipien und das Webersche Gesetz« (in Wundts »Philosophischen Studien«, Bd. 4, das. 1887). Er übersetzte auch Thénards »Lehrbuch der Chemie« (Leipz. 1825–33, 7 Bde.) und gab heraus: »Resultate der bisherigen Pflanzenanalysen« (das. 1829); »Repertorium der neuen Entdeckungen in der Chemie« (das. 1830–33, 5 Bde.); »Repertorium der Experimentalphysik« (das. 1832, 3 Bde.); »Hauslexikon« (das. 1834–38, 8 Bde.); bis 1835 redigierte er das von ihm 1830 begründete »Pharmazeutische Zentralblatt«. Noch schrieb er drei Untersuchungen über die Holbeinische Madonna (Leipz. 1866 u. 1871); »Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwickelungsgeschichte der Organismen« (das. 1873); »Erinnerungen an die letzten Tage der Odlehre und ihres Urhebers« (das. 1876); »Vorschule der Ästhetik« (das. 1876, 2 Tle.; 2. Aufl., das. 1898); »Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht« (das. 1879). – Unter dem Namen Dr. Mises gab er eine Sammlung vortrefflicher humoristischer Aufsätze: »Stapelia mixta« (Leipz. 1824), und mehrere kleine Schriften heraus: »Beweis, dass der Mond aus Jodine bestehe« (Germanien 1821; 2. Aufl., Leipz. 1832)'; »Panegyrikus der jetzigen Medizin u. Naturgeschichte« (das. 1822); »Vergleichende Anatomie der Engel« (das. 1825); »Das Büchlein vom Leben nach dem Tode« (das. 1836; 5. Aufl., Hamb. 1903); »Schutzmittel für die Cholera« (2. Aufl., Leipz. 1837); »Vier Paradoxa« (das. 1846). Eine Sammlung der unter dem Namen Dr. Mises verfaßten älteren kleinen Schriften erschien 1875. Seine eben falls unter diesem Pseudonym erschienenen »Gedichte« (Leipz. 1841) sowie das »Rätselbüchlein« (das. 1850, 4. Aufl. 1874) enthalten viele wahrhaft poetische und sinnige Stücke. Aus seinem Nachlass erschien: »F. und W. Preyer, wissenschaftliche Briefe. Nebst einem Briefwechsel zwischen Vierordt und F.« (Hamb. 1890) und »Kollektivmaßlehre« (hrsg. von Lipps, Leipz. 1897). Seine Biographie schrieben Kuntze (Leipz. 1891) und Laßwitz (2. Aufl., Stuttg. 1902). Vgl. auch Wundt, Gustav Th. F., Rede (Leipz. 1901); Liebe, Fechners Metaphysik, im Umriss dargestellt (das. 1903).
Eines Morgens saß ich im Leipziger Rosental auf einer Bank in der Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine Lücke, welche das Gebüsch ließ, auf die davor ausgebreitete schöne große Wiese, um meine kranken Augen am Grün derselben zu erquicken. Die Sonne schien hell und warm; die Blumen schauten bunt und lustig aus dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgenkonzert drangen die Klänge in mein Ohr. So waren die Sinne beschäftigt und befriedigt. Aber für den ans Denken gewöhnten reicht solche Befriedigung nicht lange, und so spann sich aus der Beschäftigung der Sinne allmählich ein Gedankenspiel heraus, das ich hier nur etwas weiter ausgesponnen und mehr geordnet wiedergeben will.
Seltsame Täuschung, sagte ich mir. Im Grunde ist doch alles vor mir und um mich Nacht und Stille; die Sonne, die mir so glänzend scheint, daß ich mich scheue, ihr mein Auge zuzuwenden, in Wahrheit nur ein finstrer, im Finstern seinen Weg suchender, Ball. Die Blumen, Schmetterlinge lügen ihre Farben, die Geigen, Flöten ihren Ton. In dieser allgemeinen Finsternis, Öde und Stille, welche Himmel und Erde umfängt, schweben nur einzelne, innerlich helle, farbige und klingende, Wesen, wohl gar nur Punkte, tauchen aus der Nacht auf, versinken wieder darein, ohne von ihrem Licht und Klange etwas zu hinterlassen, sehen einander, ohne daß etwas zwischen ihnen leuchtet, sprechen miteinander, ohne daß etwas zwischen ihnen tönt. So heute und so war es von Anbeginn und wird es sein in Ewigkeit. Was sage ich: vielmehr Milliarden von Jahren war es nicht kalt genug, und wie lange wird es dauern, so wird es zu kalt für den Bestand von solchen Wesen sein. Dann wird alles wieder ganz finster und stille sein wie vordem.
Wie aber konnte ich auf solch’ absurde Gedanken kommen? Ich kam auch nicht darauf; ich kam nur darauf, daß man darauf gekommen ist, und fand es seltsam, daß man so allgemein darauf gekommen ist. Sind es doch die Gedanken der ganzen denkenden Welt um mich. Wie sehr und um was sie zanken mag, darin reichen sich Philosophen und Physiker, Materialisten und Idealisten, Darwinianer und Antidarwinianer, Orthodoxe und Rationalisten die Hände. Es ist nicht ein Baustein, sondern ein Grundstein der heutigen Weltansicht, daß es so ist, wie ich sagte, daß es ist; glücklich, daß sie doch in etwas stimmt. Was wir der Welt um uns abzusehen, abzuhören meinen, es ist alles nur unser innerer Schein, eine Illusion, die man sich loben kann, wie ich’s noch jüngst gelesen; bleibt aber eine Illusion. Licht und Ton in der äußeren, von mechanischen Gesetzen und Kräften beherrschten, zum Bewußtsein noch nicht durchgedrungenen, Welt über die organischen Geschöpfe hinaus sind nur blinde stumme Wellenzüge, die von mehr oder weniger erschütterten materiellen Punkten aus den Äther und die Luft durchkreuzen, und erst, wenn sie an den Eiweißknäuel unsres Gehirns, ja wohl gar erst, wenn sie an einen bestimmten Punkt desselben antreffen, sich durch den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende tönende Schwingungen umsetzen. Über Grund, Wesen, nähere Bestimmungen dieses Zaubers streitet man; über die Tatsache ist man einig; und von allen Denk- und Erkenntnistheorien, in denen die Philosophie sich eben jetzt erschöpfen und leeren will, als wollte sie noch eine Philosophie gebären, führt keine zu einem Zweifel an der Richtigkeit dieser Tatsache, es sei denn, um den Zweifel für unlösbar zu erklären, oder die Welt in Stäubchen zu zertrümmern, die nur sich selber, aber nicht die Welt erleuchten.
Zwar der natürliche Mensch wehrt sich gegen diese Weisheit. Er glaubt, daß er die Gegenstände um sich sieht, weil es wirklich um ihn hell ist, die Sonne nicht erst hinter seinem Auge zu leuchten anfängt, daß die Blumen, Schmetterlinge so bunt sind, als sie ihm erscheinen, die Flöten, Geigen ihren Ton ihm schenken, nicht umgekehrt von ihm empfangen, kurz, daß es ein Leuchten und Tönen durch die Welt über ihn hinaus und von draußen in ihn hinein gibt. Aber er läßt sich von der Wissenschaft belehren, und glaubt nun um so klüger zu sein, daß er eine Illusion weniger hat. Die Illusion zwar bleibt und spottet seines Wissens wie dieses seiner Illusion spottet. Was von beidem hat endlich recht? Gewiß ist, daß die Illusion nie weichen wird; steht das Wissen, daß es eine Illusion ist, wohl ebenso fest, und ist es nicht vielmehr selbst eine Illusion? Braucht man doch das Sprichwort, daß Ehrlich am längsten währt, nur dahin umzukehren, daß, was am längsten währt, ehrlich ist, um es zu glauben. Naturam furca expellas,usquetamen redibit, wird das nicht auch von der natürlichen Ansicht der Dinge gelten?
Ja müßte nicht jene nächtige Ansicht vor sich selbst erschrecken, wenn ihr der Spiegel vorgehalten wird, meinte sie nur gleich, sie sei es selbst, was sie darin erblickt; und muß doch bei einigem Besinnen jeden ihrer Züge darin wiederfinden. Aber wird sie mit solchen Zügen vor der Welt bestehen können, wenn diese ihrerseits anfängt, sich zu besinnen? Vielmehr, hätte sich die Welt die ganze Unerbaulichkeit dieser Ansicht, die ganze Unwahrscheinlichkeit derselben, die ganze Schwäche ihrer Gründe von jeher so klar dargestellt, als mir in jener Stunde, sie hätte nie zur Weltansicht werden können. Nun ist Klarheit das Letzte in diesen Dingen, das Letzte wird aber auch die Klarheit sein.
In der Tat ist mein Glaube, daß, so sicher als auf die Nacht der Tag, auf jene Nachtansicht der Welt dereinst eine Tagesansicht folgen wird, die, statt sich in Widerspruch mit der natürlichen Ansicht der Dinge zu stellen, vielmehr damit unterbauen und darin den Grund zu einer neuen Entwicklung finden wird. Denn, schwindet jene Illusion, welche den Tag in Nacht verkehrt, so wird natürlicherweise alles Verkehrte, was damit zusammenhängt, und es ist viel, mit schwinden müssen, und die Welt in neuem Zusammenhange, in neuem Lichte, unter neuen positiven Gesichtspunkten erscheinen.
Damit das Licht über uns hinaus in aller Welt gesehen, der Schall gehört werde, muß es ein sehendes und hörendes Wesen dazu geben. Und hat man nicht schon sonst von einem Gott gehört, der in der Welt allgegenwärtig und allwissend waltet, Für die Nachtansicht aber ist seine Klarheit, wenn er überhaupt für sie noch ist, über den Dingen; darum die Welt unter ihm so finster, stumm und öde. Für die Tagesansicht ist die Welt von seinem Sehen durchleuchtet, von seinem Hören durchtönt; was wir selber von der Welt sehen und hören, ist nur die letzte Abzweigung seines Sehens und Hörens; und über allem, was er mehr als wir von der Welt sieht und hört, baut sich in ihm auch höheres als in uns. — Nach der Nachtansicht braucht Gott keines Lichtes, um zu sehen, keines Schalls, um zu hören, umgekehrt das blinde Licht, der taube Schall keines Gottes; und so kommt ihr leicht mit dem einen das andere abhanden und überwächst der Materialismus den Boden; indes nach der Tagesansicht beides, was sich braucht, auch sich fordert und eins das andre hält; damit sinkt der Materialismus unter den Boden. — So ändert sich von der Nachtansicht zur Tagesansicht die ganze Stellung Gottes zur Welt; und wie sich das Verhältnis des allgemeinsten und damit höchsten Geistes zur Welt ändert, ändert sich auch das Verhältnis aller Einzelgeister zu Gott und Welt.
Man fragt verwundert: bist du so kühn, die heutige Weltansicht umstürzen zu wollen? Ist nicht das selbst, daß die Welt bei ihrem übrigen Widerstreite in ersten, letzten und höchsten Dingen doch einig in jener Ansicht ist, die dir beliebt die Nachtansicht zu nennen, Beweis genug, daß sie darin mit Notwendigkeit über die natürliche Ansicht der Dinge hinausgegangen ist?
Es möchte sein, wenn sie nur nicht in allem, was mit dieser Ansicht zusammenhängt, uneins wäre. Also suche ich vielmehr den Grund, daß sie es ist, darin, daß sie in jener Ansicht einig ist. Zerstöre den Knoten, in dem Fäden zusammenlaufen und zusammenhalten, so bleibt allen die Lücke zwischen allen gemein; doch alle fallen auseinander; und wenn alle Welt durch einen fundamentalen Rechenfehler in dem Satze übereinstimmte, daß zweimal zwei fünf ist, so würden die verschiedensten vergeblichen und sich wechselseits dafür erklärenden Versuche gemacht werden, die ganze Weltrechnung in Übereinstimmung damit zu bringen. In solchen Versuchen sind wir heute noch befangen.
Tritt in die Hallen der Philosophen, wo das Welträtsel sich mit seiner eignen Lösung abquält. Was siehst du? Da streiten sich Dinge an sich, Ich und Nichtich, Kraft und Stoff, einfache Wesen, Absolutes, Begriff, Wille, Unbewußtes um den Namen dessen, was aus der Nacht und Stille heraus die Illusion einer leuchtenden tönenden Welt, ja des Raumes und der Zeit selbst, in uns erzeugen soll; und die Weisesten bieten für den Grund der Existenz, der, alles Scheines bar, alle Scheine wirft, doch eben nur jene Namen mit Bestimmungen, die aus der Scheinwelt selbst abstrahiert sind, und toben damit gegeneinander; die Gottesgelehrten aber toben wider sie und sind selber nur einig in dem, was sich am meisten widerspricht.
Zu jener hadesgleichen Welt weisen sie auf einen zugleich allmächtigen, allweisen, allgütigen Gott, der mit unbedingter Freiheit eine Welt schaffen konnte, wie er wollte; und er schuf diese Welt voll Finsternis, voll Geschöpfe, die einander verschlingen, voll Krankheit, Mißwachs, Wassers- und Feuersnot, Übel aller Art; und sie belehren uns, daß ein solcher Gott zu einer solchen Welt und eine solche Welt zu einem solchen Gott nicht passen wolle, sei nur teils Folge unsrer Sünde, teils Fehler unsrer niedrigen Erkenntnis. Denn obwohl allgegenwärtig und allwirksam, so daß ohne ihn kein Haar von unserm Haupte fällt, sei er doch viel zu hoch für uns, als daß wir etwas von ihm wissen können; um so fester aber haben wir an ihn zu glauben, und alle Widersprüche, die uns so erscheinen, uns durch seine Unbegreiflichkeit zu erklären.
Die Naturforscher aber lachen dazu, wissend, daß sie allein es sind, die etwas wissen, und froh der sicheren Wege immer mehr zu wissen. In den Nerven haben sie die sicheren Zeichen und Mittel der Empfindung und im Gehirn das Instrument des Geistes, worüber hinaus die Welt keins hat, keins ist. Ob es zwar Schwingungen in Luft und Äther über die Nerven hinaus gibt, sie wissen, daß Schwingungen nur in phosphorhaltigem Eiweiß Empfindung bedeuten, und neigen dazu, die Psychologie als einen Zweig der Chemie zu betrachten: aus Kohle, Phosphor und Sauerstoff im Protoplasma kommt der Geist. — Mit dem Protoplasma, als gemeinsamen Urstoff von Nerven und Polypen, beginnt eine zweite Schöpfung, die der geistigen Dinge; mit der Erkenntnis des Protoplasma fiel der erste volle Lichtstrahl in die Wissenschaft dieser Dinge; und nachdem die Jünger der Natur verlernt haben, Gott als Schöpfer dieser Dinge anzubeten, beten sie das goldene Kalb des Protoplasma dafür an. — Das Auge scheint zum Zweck des Sehens gemacht, die Naturforscher wissen, daß es nur dazu gebraucht wird, ohne zu irgendeinem Zweck gemacht zu sein. — Bei Philosophen und Theotogen treiben Freiheit und Notwendigkeit wie zwei umeinander kreisende Schmetterlinge ein unermüdliches Wechselspiel miteinander; die Naturforscher wissen, daß, wie alles in der Welt, auch Leben und Empfindung, einer unverbrüchlichen gesetzlichen Notwendigkeit gehorchen; die Welt über Menschen und Tiere hinaus aber tot, empfindungslos ist, weil sie derselben Notwendigkeit gehorcht. — Die geistigen Pferde meinen, daß sie den Wagen der Materie ziehen; die Naturforscher wissen, daß sie vielmehr vom Wagen der Materie fortgeschoben werden.
Ist das nicht wörtlich das Tiefste und Höchste und in geistigen Dingen Exakteste der heutigen Weisheit, wovon jedes schon in sich und jedes mit dem andern streitet. Und alles das fällt mit in jene große Lücke oder hängt so, daß man’s verfolgen kann, damit zusammen.
Stolz auf diese Weisheit voll Torheiten sehen wir mitleidig herab auf die einfache bescheidene Torheit der Neger und Türken und meinen, vergangenen Jahrhunderten weit voraus zu sein, weil sie von diesen Torheiten noch einige weniger hatten. Aber stolzer könnten wir auf unsre Zündhölzchen sein, die noch fortfahren werden, uns zu leuchten, wenn alle jene Irrlichter der Nachtansicht erloschen und versunken sind.
Schon einmal hat die Weltansicht im ganzen und großen gewechselt, wird sie nicht noch einmal wechseln können? Obwohl ich vorblickend meine, sie wird es nicht dadurch, daß sie auf neuer Stufe die früheren negierend aufhebt, sondern daß sie in den erhabensten Gesichtspunkt der heutigen Weltansicht den dafür preisgegebenen Reichtum der früheren aufhebt; dazu aber wird gehören, daß sie jene Nachtansicht aufhebt.
Gedanken dieser Art waren es, die mich in flüchtigem Zuge, sich immer mehr erweiternd und erhöhend, überkamen, als ich an jenem Morgen von der Bank ins Grüne blickte, nicht freilich damals zuerst, jedoch mit neuer Triebkraft, überkamen.
Andern Tages, von derselben Bank ausblickend, fiel mir zu allem vorigen noch folgendes ein:
Mein Auge verträgt bei jedem Rückfall seiner Krankheit nicht Lesen einer nahen Schrift, nicht Sonnenschein der Straße, nicht Sonnenflecke in der Stube. Aber die große ferne Schrift der Firmen zu entziffern, fühlt es als heilsame Übung; in je weitere Ferne es den Blick richtet, so mehr findet es sich erquickt, am meisten von dem Blick in den reinen Himmel, also wendet es sich immer von Zeit zu Zeit dahin. "Womit vergleich’ ich das?" fragt’ ich mich; alles Sinnliche läßt sich doch als Symbol von etwas Geistigem fassen. Und ich meinte, die zugleich Schönste und wahrste Auslegung des Bildes liege darin, daß, wenn den Menschen die irdische Gegenwart und Nähe bedrängt, er seinen Blick nur in die Ferne und Höhe zu richten braucht, um Trost zu finden, so sichereren, in je größere Weite und Höhe ihn richtet. In der Tagesansicht aber fand ich, sie weiter überdenkend, auch den Blick für diese Ansicht geöffnet, indes die Nachtansicht den Menschen bloß auf sie verweist; nur gilt es den Blick erst für die Tagesansicht öffnen.
Und noch eines Gedankens, den nicht der Schreibtisch erst geboren, und seiner Gelegenheit will ich einleitend zu dieser Schrift gedenken. Es war in Saßnitz am Meere, daß ich in den schönen Buchenwald gehen wollte, der von Saßnitz über die Waldhalle nach Stubbenkammer führt. Sie, die ein langes Leben mit mir gegangen, blieb, müde von den Gängen der vergangenen Tage und Jahre zurück, und Sagte: "ich lasse dich nicht gern allein gehen; du könntest dich verirren; ach, und wie wird es sein, wenn ich dich, in vielleicht nicht langer Zeit, ganz allein gehen lassen muß." "Wer weiß es", sagt’ ich, "ob du mich oder ich dich; aber laß uns nicht daran denken." Doch dachte ich daran, als ich allein in den Wald ging; dachte der unendlichen Liebe und Treue, die mich durch so lange Jahre geleitet hat. Die Buchen strebten himmelan, der blaue Himmel wölbte sich darüber, die Sonne warf ihre blitzenden Scheine hinein und vom Meere her ging ein Rauschen durch den Wald. Es war wie ein großer Akkord aus Himmel, Erde und Meer, der innerlich mit anklingen und in Gedanken der Tagesansicht ausklingen wollte. Aber die Gedanken des Herzens wehrten sich dagegen; ich dachte: kann deine Tagesansicht mit allen ihren hohen, weiten, lichten Ansichten und Aussichten auch nur dein eignes Herz in diesem Augenblicke befriedigen, und wozu dann ihre Ansichten und Aussichten, wenn sie das nicht kann, für niemand kann, es niemals kann. Sich eins mit einem andern Herzen fühlen, das ist die Befriedigung des Herzens; dazu braucht es überhaupt keine Weltansicht, und das kann sein trotz jeder Weltansicht; wie überall Platz für zwei Hütten aneinander ist, mag es in der Welt ringsum aussehen wie es will. — Aber alsbald erhob sich über dieser Stimme eine andre Stimme. Darf denn das Herz im Menschen allein seine Befriedigung wollen, besteht er doch nicht bloß aus seinem Herzen; und hat die Tagesansicht mit ihrem Blick ins Weite, Hohe und Lichte nicht auch dem Herzen eine Befriedigung zu bieten? Nicht eine solche gar, die über die nächste, die es für den Augenblick verlangt und vermißt, hinausreicht. Über der Befriedigung, sich eins mit einem andern Menschenherzen zu wissen, das unsre Leiden und Freuden zu den seinen hat, schwebt, nicht streitend damit, sondern schützend und schirmend, die Befriedigung, sich eins mit einem Wesen wissen, das die Leiden und Freuden aller seiner Geschöpfe, damit auch die zweier einander treuen Herzen, zu den seinen hat; und ist das nicht der Gott der Tagesansicht. Zwei Herzen aber, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du, daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird, so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen.
Und geht uns nicht die Welt selbst ringsum mehr zu Herzen und ist mehr nach unserm Herzen, wenn die Sonne ihren Glanz, der Himmel sein Blau, des Meer sein Rauschen uns treulich mit vertraut, die Buche, ehe die Axt sie fällt, um uns zu wärmen, erst aufwärts strebt, um selber Licht und Wärme zu genießen, als wenn uns alles das aus der Welt nur anlügt, wie die Nachtansicht es lügt. Zur Wahrheit, die der Geist verlangt, verlangt das Herz nach Schönheit; kann es aber eine schönere Welt geben, als worin die Schönheit selber zur Wahrheit wird. Und wird sie es auch nach der Tagesansicht nur ganz in Gott für Gott, der alles sieht und hört, so hat doch, wer in seinem Sinne sieht und hört, sein Teil daran.
Mit diesen Gedanken gab sich das Herz zufrieden, und wird sich jedes Herz zufrieden geben können, was die Gedanken der Tagesansicht zu den seinen macht.
Was in dieser Schrift nachfolgt, ist nur die Ausführung der vorigen Gedanken, eine kürzere nach den Hauptzügen in diesem ersten, eine weitere nach einigen Hauptpunkten im zweiten Teile der Schrift.
Nun aber, die Nachtansicht besteht einmal, und kann man sie schon sich und andern dadurch verleiden, daß man sie nur klar in das Auge faßt, so gilt es doch erst, ihre Gründe ebenso zu fassen, um sie auch zu verwerfen. Gründe derselben aber, mindestens Entstehungsgründe, muß es doch geben, sind es auch deshalb noch keine Rechtfertigungsgründe. Welches können sie sein?
Zwar, für die gegenwärtige Welt ist es nicht not, erst noch nach Gründen der Nachtansicht zu fragen; sie besteht, weil sie so lange bestanden hat. Wir gleichen heutzutage jenen Käferarten, die von jeher in finsteren Höhlen lebten, deren Vorfahren schon darin lebten; sie haben keine Augen mehr für das Licht; mag es hinzudringen, sie sehen nichts davon, und sähen sie einen Schein, er führte sie nur irre. Der in den finsteren Höhlen der Nachtansicht erwachsenen, heutigen Welt ist die Tagesansicht ein solches Licht; vergeblich alle Gründe, daß es scheint; willst du aber Gründe hören, daß es nicht scheint, so wirst du nur solche hören, die aus der Nachtansicht erst folgen. Das ist an sich leicht weggefegte Spreu; aber ob man diese Spreu wegfegt, man fegt damit den Boden, der sie getragen hat und immer wieder trägt, nicht weg. Ich sinne dem tieferen Grunde nach, der die Welt bestimmen konnte, sich zu einer solchen Ansicht zu entschließen, und Folgerungen derselben mit Gründen derselben zu verwechseln.
Da liegt’s, das ist der allgemeinere und tiefere Grund der Nachtansicht. Um Gott von der heidnischen Zersplitterung in die Welteinzelheiten zu retten und über deren Niedrigkeit zu heben, hat ihn die Theologie, in Widerspruch zwar mit Sprüchen ihrer eignen Quellen und immer von neuem sich selber widersprechend, von der Welt abdestilliert, hat die Götter in dienende Engel verwandelt, auch diese über die Sterne erhoben. Und nun ist die, nicht nur entgötterte, sondern aus Gott mit einer Gabe mechanischer Kräfte entlassene ja sündhaft von ihm abgefallene, Welt als caput mortuum für die Messungen und Experimente der Physiker, für die Lukubrationen der Philosophen, und für die Scheltworte der Theologen zurückgeblieben. So hat das göttliche Bewußtsein seinen Inhalt von unten, die sinnliche Erscheinung ihren Zusammenhalt von oben verloren, jenes ist bis ins Unfaßliche verflüchtigt, dieses bis auf einige Reste geschwunden.
Eine solche Ansicht der Dinge aber, welche das Dasein in seiner Mitte spaltet, den Weltinhalt aus seinem Gefäße schüttet und damit verschüttet, kann nicht die letzte sein, wie sie auch nicht die erste war; vielmehr ist’s nach der ersten halben die zweite halbe, in die wir geraten sind; die Welt wird aber einst die ganze volle wollen, die nicht sowohl in äußerer Ergänzung der einen durch die andre, als in Erfüllung der einen durch die andre, Gipfelung der einen durch die andre liegt; und als solche bietet sich die Tagesansicht dar.
In der Tat, von vornherein war die heidnische Ansicht, welche Körperliches und Geistiges noch so wenig außer dem Menschen als im Menschen zu scheiden und zu unterscheiden weiß, die natürlichste Ansicht der Dinge. Kein König so mächtig, prächtig und wohltätig als die Sonne, ein Baum nicht minder, nur anders lebend, wachsend, sterbend als ein Mensch. Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht, lenkte damals seinen goldenen Wagen Helios in stiller Majestät; eine Dryas lebt in jedem Baum, und was im Sinne der Nachtansicht nie empfinden wird, empfand. Wenn schon nicht überall gleich entwickelt und mythisch ausgeschmückt, ist dies die Weltansicht, womit wir alle Völker, auf deren unentwickelten Zustand wir noch heute einen Blick werfen können, beginnen sehen. Aber das ist eben erst die eine, sagen wir die untere, Hälfte der vollen Ansicht. Der natürliche Mensch sieht von der Natur doch immer auf einmal nur Bruchstücke, und faßt die selbständig scheinenden auch selbständig in das Auge; die Einigung aller im All und die Klarheit über ihr Verhältnis zum All entgeht ihm; und das ist’s, was die Tagesansicht als volle und ganze über die heidnische Ansicht hinaus hat und hinzuzubringen hat. Sie faßt mit den unverlorenen Stücken auch den Zusammenhang der Stücke in das Auge, und je nach dualistischer oder monistischer Fassung durchdringt und erfüllt sich für sie die Welt mit einer einheitlichen göttlichen Wesenheit oder hebt sich ganz und geradezu in eine gemeinsame Einheit damit auf.
Die christliche und islamitische Lehre hat über die heidnische Auffassung hinausgeführt; aber statt sie bis zur einheitlichen Spitze fortzuführen und darin abzuschließen, sie einfach weggeworfen. Einen zu bereichern unter allen mußte jene Götterwelt vergehen. Sie hat unter einer obersten Stufe, die sie festgehalten und hoch in die Luft erhoben, alle niederen weggezogen und damit in die Nacht der Nachtansicht versenkt. Die Tagesansicht aber hebt sie wieder an den Tag, baut sie der obersten Stufe unter und mißt nun die göttliche Höhe an der Höhe der ganzen Treppe. Und das wollte ich damit sagen, daß es einer künftigen Weltansicht, wofür ich die Tagesansicht halte, beschieden sein werde, den Reichtum einer früheren Weltansicht in den erhabensten Gesichtspunkt der heutigen aufzuheben. Dabei werden freilich Mythen der einen und Dogmen der andern fallen müssen, womit sich jede zur ganzen zu ergänzen, zur vollen zu erfüllen versucht hat, ohne doch damit den Verlust der andern zu ersetzen.
Ein Pendel schwingt erst nach einer Seite, hebt schwach damit an, die Schwingung wird allmählich stärker, reißt alles mit sich fort in ihrer Bahn, erlahmt wieder, stockt endlich; und das Pendel denkt, eine Bewegung, die endlich stockt, kann nicht die rechte Richtung haben; also kehrt es um, hebt wieder schwach an, die Bewegung wird wieder stärker, reißt alles mit sich fort in ihrer Bahn, erlahmt und stockt endlich wieder; und so kommt das Pendel endlich zur Besinnung, daß beide Richtungen gleiches Recht haben; und nach welcher von beiden es fortan schwinge, es weiß in jedem Momente, die Schwingung ist erst mit der Erfüllung von beiden voll. So hat die Weltansicht nacheinander in zwei Richtungen geschwungen; die zweite ist dem Stocken wieder nahe, und damit naht sich auch der Zeitpunkt der endlichen Besinnung.
Immer wird es eine Hypothese bleiben, wovon die Tagesansicht hier ausgeht, obwohl sie auch einen andern Ausgang nehmen könnte, daß die sinnliche Erscheinung über die Einzelgeschöpfe hinaus durch die Welt reicht; indes es aber nicht minder eine Hypothese bleibt, worin die Nachtansicht wurzelt, daß die Welt finster und stumm zwischen den Einzelgeschöpfen ist. Aber die erste Hypothese ist an sich erbaulicher als die andre, stimmt besser mit der natürlichen Auffassung der Dinge, bietet mehr Anhalt und Angriffspunkte zu einer weiten und hohen Entwicklung in positive Bestimmungen und läßt solche den Hauptzügen nach nur in einer einzigen Weise zu, indes es die andre nur teils zu negativen, teils mehr oder weniger widerspruchsvollen Bestimmungen und streitenden Ansichten gebracht hat.
Das ist’s, was ich im folgenden zu zeigen suche, und das ist’s, was der Entwicklung der Tagesansicht dereinst den Sieg über die Nachtansicht verschaffen wird, die, statt es zu einer Fortentwicklung zu bringen, sich nur immer mehr in sich selbst bis zum unausbleiblichen Verfall zerarbeitet.
Freilich die Aufgabe ist groß. Als St. Christoph ein Kind, das einst die Welt zu tragen bestimmt war, vorerst über den Fluß zum nächsten Ufer tragen sollte, erschwerte ihm nicht das seine Aufgabe, daß die Wellen gegen seinen Fuß anliefen und ihn zu hemmen drohten, sondern daß das Kind, je länger der Gang, so schwerer für ihn wurde. So ist es nicht die zu durchwatende Flut leicht ins Meer der Vergessenheit verrinnender Einwürfe, was dem die Aufgabe erschwert, der die Tagesansicht, heut’ noch ein Kind, ans Ufer der Zukunft bringen will, sondern daß sie auf dem Wege dazu durch ihre wachsende Entwicklung seine Kräfte zu überwachsen droht, indes sie aber auch seine Kräfte dazu stärkt.
Soviel Negationen und Widersprüche in der Nachtansicht zusammen- und von ihr auslaufen, soviel Positionen in und von der Tagesansicht aus. Ist beides wahr, daß die sinnliche Erscheinung über uns hinaus nicht bloßer Schein, sondern objektiv durch die Welt ausgebreitet ist, und daß sie in einem einheitlichen Bewußtsein sich zusammenschließt und gipfelt, so ist auch noch andres damit wahr. Hat doch der menschliche Geist an sinnlicher Erscheinung und Zusammenschluß derselben in einem einheitlichen Bewußtsein nicht genug; vielmehr welcher Stufenbau geistigen Lebens schiebt sich dazwischen ein; wieviel weniger kann der göttliche Geist daran genug haben, nachdem er in seiner Weite und Höhe den menschlichen selbst einschließt; denn das ist zu den beiden vorigen Hauptwahrheiten die dritte. Indem unser ganzes Sinnesleben vom allgemeinen übergriffen ist, ist es doch nicht aus seinem Zusammenhange herausgefallen, und so ist auch unsre Bewußtseinshöhe von der allgemeinen nur überstiegen, ohne daraus herausgefallen zu sein, unser ganzes bewußtes Leben also im allgemeinen mit beschlossen. Mit jedem Versuch, es anders zu fassen, durchlöchert, zerbricht oder entteert man den Geist der Welt, der zugleich die Welt des Geistes, aber in einheitlicher Zusammenfassung ist, und zerreißt den Faden natürlicher Betrachtung. Wie der Körper des Menschen Teilwesen der ganzen äußerlich erscheinenden materiellen Welt ist, so der zu diesem Körper gehörige, sich selbst innerlich erscheinende, Geist des Menschen Teilwesen des nicht minder sich selbst erscheinenden geistigen Wesens, was zum Weltganzen gehört, und die Einheit des menschlichen Geistes nur ein untergeordneter Bruchwert der Einheit des göttlichen Geistes.
Auch erfüllt sich im Grunde damit nur das schöne Wort, dem die, die es so gern gebrauchen, doch keine Folge geben, zur folgenreichen Wahrheit: daß wir in Gott leben und weben und sind und er in uns, und daß er um alle unsre Gedanken weiß wie wir selber. Kann das auch wohl ein Geist dem andern äußerlich gegebenüber?
Schon meinte man, mit dem einigen Gott über das Heidentum hinaus zu sein; doch läßt man die Menschengeister als kleine Götzen neben Gott bestehen, unbekümmert, daß neben einem unendlichen Geiste kein Raum mehr für endliche Geister bleibt. Abgefallene Geister bevölkern unter Gott die Hölle, endlich hat man es gar umgekehrt, und statt den menschlichen Geist im Verhältnis der Ein- und Unterordnung zum göttlichen zu denken, vergöttert man den menschlichen, indem man den göttlichen zu einer Illusion im menschlichen macht.
Wohl hat es einen berühmten Philosophen und Theologen gegeben, der das Wesen der Religion in das Gefühl der Abhängigkeit von Gott setzte, und doch Gott über uns hinausstellte als ein Wesen, von dem der Mensch nichts wahrhaft wissen kann, als daß es einig, unendlich, ewig ist. Wie aber kann ein inniges, warmes, herzliches, wirksames Gefühl der Abhängigkeit von einem Wesen zustande kommen, von dem man nichts weiß, als daß es Eigenschaften hat, die wir nicht haben, und zu dem keine Brücke des Verständnisses führt. Wie ganz anders aber gestaltet sich das Gefühl der Abhängigkeit von Gott, wenn wir uns als wissende und wirkende, doch immer seinem höheren Wissen und Wirken untergeordnet bleibende Momente in Gott erkennen und fühlen. Damit aber, daß wir wissen, wir sind etwas in ihm, wissen wir auch etwas von ihm, und an dieses Wissen weiß sich andres zu knüpfen.
Als wesentliche, sich wechselseits fordernde, bedingende und haltende Momente oder als Grundpunkte der Tagesansicht, worauf alle Entwicklung derselben zu fußen hat, und wo zwischen sie sich zu halten hat, betrachte ich hiernach die Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt über die Geschöpfe hinaus, den Zusammenhang und Abschluß derselben in einer höchsten bewußten Einheit und den dazwischen vermittelnden Gesichtspunkt, daß unser eignes Bewußtsein dem ganzen, d. i. göttlichen, Bewußtsein zugleich ein- und untertan ist.
Hiergegen betrachte ich als im Grunde ebenso verbindlich zusammenhängende Momente der Nachtansicht — nur daß sie sich dieses Zusammenhanges nicht leicht klar bewußt wird: die Nacht der sinnlichen Erscheinung über Menschen und Tiere hinaus, die Überhebung Gottes, falls noch an Gott geglaubt wird, über die sinnlich erscheinende und geschöpfliche Welt, und die äußerliche Gegenüberstellung des Menschen gegen Gott oder gar Überhebung des Menschen über Gott als einer bloß menschlichen Idee. Mit der Nacht der sinnlichen Erscheinung über Menschen und Tiere hinaus hängt dann das begriffliche Getriebe zusammen, was sich in diese Nacht einzubohren, ja sie zu durchbohren sucht, um damit hinter das Wesen der Dinge zu kommen; es ist ein Suchen des Grundes des Spiegelbildes hinter dem Spiegel.
Die Tagesansicht ist nicht eine unter andern Ansichten, sondern steht mit ihrem positiven Ausgangspunkt, Inhalt und Abschluß als eine allen gegenüber, die sich in der Nachtansicht als der gemeinsamen Wurzel von Negationen und Widersprüchen begegnen. Ebensowenig ist die Nachtansicht eine unter andern Ansichten; sie ist überhaupt weder eine einheitliche noch positive Ansicht; man kann sie nur mit einem Namen nennen, als wenn sie eine Sache wäre, wie man von einem Geiste, der verneint, Gott gegenüber spricht; indes es als einen und Einigenden bloß den positiven Gott gibt. Auch treffen die obigen Grundpunkte der Nachtansicht, obschon im Wesen zusammenhängend, nichts weniger als überall zusammen; da sich ihre unerbaulichen Konsequenzen nur durch Inkonsequenzen heben, wie Schulden ohne Vermögen nur durch Schulden, die Wachsen, statt abzunehmen, bezahlen lassen. Ganz ohne Gesichtspunkte der Tagesansicht geht es etwa nur bei den krassesten Materialisten und Sozialdemokraten.
Die drei festen Grundpunkte der Tagesansicht sind, wie sie selbst unter sich zusammenhängen, zugleich Ansatz- und Anhaltspunkte einer in sich zusammenhängenden und in sich einstimmigen Entwicklung. Den Kern und Keim, gleichsam das punctum saliens, dieser Entwicklung bietet jener zwischen oben und unten vermittelnde Gesichtspunkt, daß unser Gegenüber gegen Gott nicht ein äußeres, wie das des Teiles gegen den Teil, der Stufe gegen die Stufe, sondern ein inneres, wie das des Teiles gegen das Ganze, der Stufe gegen die Treppe, ist. Denn hiernach ist Gottes Wesen uns nicht mehr ganz unfaßlich; wir selber sind ein Hauch, ein kleiner Bruchteil, eine kleine Stufe und Probe davon. Nicht nur von dem Bestande, sondern auch von den inneren Verhältnissen des göttlichen Wesens ist uns damit in unsern eignen inneren Verhältnissen etwas unmittelbar zugänglich; und von hier aus stehen erweiternde und steigernde Gesichtspunkte zu Gebote, nicht zwar, Gottes Dasein zu erschöpfen, aber in der Erkenntnis seiner Daseinsweise und seiner Beziehungen zu uns und allen Geschöpfen weiter vorzudringen und höher aufzusteigen, Gesichtspunkte der Verallgemeinerung, Analogie, des Zusammenhanges, der Auseinanderfolge und Abstufung. Mit den Schlüssen auf die göttliche Daseinsweise aber hängen solche auf unsre jenseitige Daseinsweise zusammen, sofern unser jetziges Dasein selbst nur ein Teil, eine untere Stufe unsres ganzen in Gott beschlossenen Daseins ist und seine Fortsetzung darin zu suchen hat. Und nachdem die ganze Welt über uns hinaus zur göttlich beseelten geworden ist, erweitert sich auch der Kreis und erhöht sich der Stufenbau individuell beseelter Wesen über uns hinaus und hinauf.
Freilich solange die Nachtansicht noch auf der Welt lagert, gelten alle solche Betrachtungen und Schlüsse, die ganz neue, weite und hohe lichtbeschienene Welt, die sich dadurch an Stelle früherer Phantastereien, Mythik und Mystik eröffnet, selbst für solche, weil sich auf dem Grunde der Nachtansicht nichts davon bietet, mit ihren abstrusen Gangweisen nichts davon stimmt. Hab’ ich’s doch erfahren, und wird’ es noch erfahren. Aber Geduld, sie werden ihre Zeit finden; es ist nur noch nicht Tag.
Jene Weisen, von uns aus über uns hinaus zu schließen, sind im Grunde nur dieselben, mit denen wir überall vom Hier aufs Dort, vom Heute aufs Morgen schließen und womit alle Erfahrungswissenschaft vom Gegebenen aufs Nichtgegebene schließt. Wer freilich mag leugnen, daß sie einzeln genommen um so unsicherer werden, je weiter hinaus und höher hinauf sie vom Gegebenen aus ins Nichtgegebene führen. Also läßt die Nachtansicht sie nach den ersten Schritten fallen, um nur noch zu fordern und auf nichts zu fußen; wogegen die Tagesansicht, was den einzelnen an Sicherheit abgeht, durch die Zusammenstimmung aller und die Zustimmung praktischer Gesichtspunkte zu ergänzen sucht, um hiermit da, wo kein strenges Wissen möglich ist, demselben doch so nahe als möglich zu kommen. Als fest im Sinne der Tagesansicht aber hat nur das zu gelten, was widerspruchslos mit den Grundpunkten zusammenhängt und wozu die Gesichtspunkte von allen Seiten stimmen; das ist aber gerade das Allgemeinste und Wichtigste.
Hiernach wird die Tagesansicht zwar noch in ihrem Aus- und Aufbau schwanken, doch nicht ins Unbestimmte zerfahrer können, wenn sie nur wie eine zwar biegsame doch an beiden Endpunkten und in der Mitte festgehaltene Linie ihre drei Grundpunkte als feste Haltepunkte festbehält. Es werden auf dem Grunde der Tagesansicht neue Fragen entstehen, die sich auf dem Grunde der Nachtansicht gar nicht darbieten, und neue Rätsel, die noch der Lösung harren, aber eben nur solche, welche auf Grund der Ansicht entstehen können, nicht solche, welche sie untergraben. Es werden danach neue Sekten und Spaltungen sich bilden können, doch keine bis in den Grund und bis zur Spitze reichenden Zerspaltungen. Die Philosophie wird mit dem Ausblick in die Tagesansicht auf einen neuen Boden treten und neue Wandlungen beginnen, ihre Streitigkeiten auf dem alten Boden der Nachtansicht aber mit dieser selbst versinken. Die Naturwissenschaft wird ihre bisherigen sicheren Wege in Durchforschung der materiellen Welt fortgehen, aber sich dem darüber aufsteigenden Glauben in geistigen Dingen vielmehr unterbauen als dagegen setzen. Die Theologie endlich wird zu ihrem Glauben auch Prinzipien des Glaubens in der Tagesansicht finden.
Alles Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unsrer Natur nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze Welt reicht und von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durchs Endliche verfolgt, ins Unbegrenzte von Raum und Zeit reichen, ist Glaubenssache; daß es Atome und Undulationen des Lichtes gibt, ist Glaubenssache; der Anfang und das Ziel der Geschichte sind Glaubenssache; sogar für die Geometrie gibt es Glaubenssachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen für die Parallelen. Ja, streng genommen, ist alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch fest steht. Ein jedes Wissen um das was ist, setzt sich fort in Glauben und muß sich darein fortsetzen und endlich damit abschließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fortschritt und Abschluß des Wissens selbst gebe. Doch kann ein Glaube besser gestützt und selbst besser sein als der andre. Der beste Glaube endlich der, der am widerspruchslosesten in sich, mit allem Wissen und allen unsern praktischen Interessen besteht, und als solcher wird er auch die Zukunft für sich haben, indem er die Widersprüche zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, die seither bestanden und ringsum bestehen, vielmehr versöhnt als teilt.
Also reichen auch alle Erfahrungsschlüsse nicht hin, die Tagesansicht in ihren höchsten und letzten Sätzen mit der Sicherheit des pythagoräischen Lehrsatzes abschließend zu begründen. Was an der letzten Sicherheit noch fehlt, ist Glaubenssache. Genug doch, wenn das, was noch Glaubenssache bleibt, in jener günstigsten Weise das, was sich wissen läßt, einerseits abschließend ergänzt, anderseits zu seiner Stütze behält.
Wie wenig gibt es überhaupt dessen, was wirklich erwiesen oder bewiesen ist, vom Wichtigsten sogar, woran wir uns zu halten haben. Was ist von der ganzen Religion bewiesen? Nichts. Was auch nur davon, daß dein Bruder, dein Nachbar, dein Hund eine Seele hat? Nichts. Oder daß dem, was du von einem Baume siehst, ein Baum draußen entspricht, daß die Sonne morgen wie heute aufgehen wird, daß Alexander gelebt hat? Nichts von alledem ist in strengem Sinne bewiesen, noch beweisbar; doch müssen wir an all’ das und dergleichen glauben; wir leben, wohnen sozusagen ganz in einer Welt des Glaubens, können die nächsten und vollends die letzten Schritte nicht tun ohne Glauben. Also wären Prinzipien des Glaubens sogar wichtiger als des Wissens, wenn nicht zu den Prinzipien des Glaubens selbst gehörte, sich auf das Wissen zu stützen, soweit es reicht, nur nicht allein darauf zu stützen; doch liegt darin von den Glaubensprinzipien der Tagesansicht eins. Nun aber reicht das Wissen nirgends soweit, daß wir damit ausreichten; und so ist ein zweites Glaubensprinzip der Tagesansicht, zu glauben, was wir brauchen, wozu als drittes noch das historische Prinzip des Glaubens tritt. An diesen Prinzipien hat man die Lehre der Tagesansicht zu messen, denn sie ist eben eine Glaubenslehre. Aber freilich, wie kann man sie danach messen, wenn man, statt Glaubensprinzipien überhaupt anzuerkennen, als Theologe im Glauben nur ein Geschenk von oben, als Philosoph nur ein Prinzip der Unsicherheit sieht.
Der Nichtphilosoph verschmäht in der Tat prinzipiell den Glauben, will ihn durch das Wissen ersetzen, strebt nach absolutem Wissen. Nun haben sich ganze Berge absoluten Wissens nebeneinander mit ihren Gipfeln weit auseinander erhoben, alle in gewaltigen Geburtswehen begriffen, nur ist noch keine lebensfähige Maus daraus hervorgekommen. Und so sagt eine Maus dagegen: eine Maus kann absolut nichts als von sich selber wissen; zu wissen, daß man nichts als dies weiß, ist das einzige gewisse Wissen. Aber damit ist es nun eben bei der Maus geblieben.
In der Tat, indes der Tagesphilosoph das Wissen, daß dem Menschen ein unmittelbares Wissen nur von sich selber möglich ist, zum Ausgangspunkte alles vermittelten Wissens und darauf gestützten Glaubens macht, sucht die Nachtphilosophie dem Wissen das Auslaufen in den Glauben teils dadurch zu ersparen, daß sie diesen Ausgangspunkt ganz aufgibt, um das Wissen nur von absoluten Standpunkten aus zu entwickeln, die vom an sich selbst Gewissen nur zum Gewissen führen, bisher doch bloß zum Streit darüber geführt haben, teils daß sie sich in diesen Ausgangspunkt ganz einsperrt, um sich nur in die, das Ding an sich nichts angehenden, Formen des Menschengeistes zu vertiefen, indes der Mensch doch selbst ein Teil des Dinges an sich ist. Insofern sie aber den Glauben praktisch braucht, läßt sie ihn auch nur aus praktischem Gesichtspunkte neben dem Wissen oder als Korrektiv seiner Trostlosigkeit und Leere, nicht als Fortsetzung und Vollendung des Wissens, gelten. Solchergestalt unvermögend, sich in der Philosophie recht zusammenzufinden, haben sich Glauben und Wissen in Theologie und Naturwissenschaft vollends mit dem Erfolg geschieden, daß die eine die Natur aus Gott, die andre Gott aus der Natur ganz ausgeschieden hat. Der letzte Erfolg von all’ dem aber ist, daß keine von den dreien mit der andern, und die Philosophie am wenigsten in sich selbst zufrieden ist.
Sollte ich hiernach der heutigen Philosophie ein Standbild errichten, so würde ich sie als Penelope darstellen, in doppelter Hinsicht. Einmal insofern, als sie ihr selbstgewebtes Gewebe auch immer selber wieder auflöst, und dann, weil sie viele Freier hat, von denen sie noch keiner heimgeführt hat. Sie zechen miteinander, treiben Kampfspiele miteinander, ohne einander tot zu machen, und warten des Tages, der alle zusammen erlegt.
Und hältst du dich denn mit deiner Tagesansicht einer Welt gegenüber für den allein Weisen? Aber wie sollte der Tag die Kraft haben, die Nacht zu überwinden, wenn er sich zu bescheiden dazu fühlte?
Doch gebe ich es jeder Kritik preis, daß hier die ganze heutige Weisheit von allgemeinsten, höchsten und letzten Dingen in den einen Topf der Nachtansicht zusammengeschüttet wird, um sie in eins wegzuschütten. War nicht zuvor viel Gutes herauszulesen? Aber wie ließ sich über der Arbeit des Herauslesens der Topf im ganzen handhaben. Und was tut’s; das Gute geht nicht deshalb unter, daß es mit weggeschüttet wird, sondern findet sich von selber wieder in den neuen Topf mit ein.
Noch eins. Überall begegnet sich die Tagesansicht mit der Frage über den Zusammenhang zwischen materiellem und geistigem Gebiet, Leib und Seele, geht aber, statt von irgendeiner, selbst noch fraglichen, Lösung der Frage nach Grund und Wesen dieses Zusammenhanges, vielmehr von fraglosen Tatsachen der Beobachtung in und an uns selbst aus und verallgemeinernd, erweiternd, steigernd darüber hinaus nach Maßgabe als das Gebiet der Betrachtung sich verallgemeinert, erweitert, steigert, um damit zu den kleinen Tatsachen in uns die damit zusammenhängenden größeren über uns hinaus zu finden. Nur um diese ist es ihr zu tun, mag man dann die größeren über uns hinaus wie die kleineren in uns selber deuten. Wogegen das vielköpfige Ungeheuer der Nachtphilosophie von den Gedanken ihrer vielen Köpfe über die Frage nach Grund und Wesen jenes Zusammenhanges ausgeht, und daher auch nicht darüber hinausgekommen ist.
Gibt es zwei Elektrizitäten oder nur eine? Wollte man von dieser Frage und ihrer Entscheidung aus in die Elektrizitätslehre hineinkommen, man würde nicht weit, oder vielmehr zu gar nichts kommen. Hingegen hat sich die Elektrizitätslehre zwar nicht ohne die Frage, aber weder auf Grund der Frage noch ihrer Entscheidung — vielmehr ist die Frage noch heute nicht entschieden — entwickelt, und ist damit vom kleinen Bernsteinstückchen, was Spreublättchen anzog, zur Elektrisiermaschine, galvanischen Säule, dem Blitzableiter und dem Telegraphennetze, was die Erde umspannt, gelangt. So kann die Tagesansicht die Frage, ob Geist und Materie, Leib und Seele im Grunde nur ein Wesen oder zweierlei Wesen sind, vorerst unentschieden lassen, und doch Tatsachen, die unabhängig von dieser Frage sind, nach Erfahrung und Erfahrungsschluß verfolgen. Und so stellt auch dies ganze Buch die Frage, ob Dualismus oder Monismus, dahin, um nur in einem der letzten Abschnitte in einige Betrachtungen darüber einzugehen, die man entscheidend finden mag oder nicht; weder die Grundpunkte noch Folgerungen der Tagesansicht werden wesentlich davon betroffen.
(Gott, die sinnliche Erscheinungswelt, die Seelenfrage, die Erde, das Jenseits, das Übel in der Welt.)
1. Gott.
Der Glaube an einen einigen Gott, dessen Bewußtsein das menschliche ebenso an Weite überreicht, als an Höhe übersteigt, beherrscht von oben herein die ganze Tagesansicht und wird durch die zwei andern wesentlichsten Punkte derselben von unten gestützt. Die sinnliche Erscheinung über Menschen und Tiere hinaus kann ja nicht im Leeren schweben, es bedarf eines Subjektes, eines übergreifenden Bewußtseins dafür. Entsprechend der Weite des geistigen Unterbaues wächst die geistige Höhe, und so steigt über den kleinen Bergen oder Pyramiden des menschlichen Bewußtseins die sie einschließende mit höchster Spitze, über allem einzelnen Trachten der Geschöpfe ein höchstes Trachten, auf, und fällt der Ausbau der Tagesansicht von oben herab mit dem Ausbau der Lehre von Gott zusammen. Das System der Tagesansicht wird hiermit ganz theokratisch.
Die Nachtansicht aber ist zwar sozusagen der Einheit und Erhabenheit Gottes zuliebe entstanden, und dem Glauben wird in Erinnerung daran geboten, noch daran festzuhalten. In ihren Wissenskonsequenzen aber führt sie, wie ein abgefallener Engel, nur davon ab, und indem diese Konsequenzen endlich den Glauben überwachsen haben, sind wir dahin gekommen, wo wir heute stehen; nicht mehr wissend, wie den Glauben noch zu halten, wie ihm noch zu helfen. An sich ist es der Nachtansicht natürlich, statt im göttlichen, vielmehr im menschlichen, Bewußtsein das höchste von Bewußtsein, was es gibt, zu sehen. Denn da sie keine Mittel kennt, auf ein, das menschliche an Weite überreichendes Bewußtsein zu schließen, woher sollten ihr die Mittel kommen, auf ein höheres darüber hinaus zu schließen; hängt doch eins verbindlich mit dem andern zusammen.
Und so sucht die Philosophie des Unbewußten das Band der Geister statt in einem übergreifenden allgemeinen Bewußtsein in einem untergreifenden allgemeinen Unbewußtsein, dem sie mystische Eigenschaften beilegt, welche an die des Bewußtseins erinnern, nur nicht die des Bewußtseins sein sollen. Die Philosophie des Begriffes spricht von einem Geiste der Menschheit, der Geschichte als einem Bande und konnte ohne Anhaltspunkte in der Wirklichkeit dazu nicht davon sprechen, doch sucht das verknüpfende Bewußtsein nur in den einzelnen Maschen, die Philosophie der Monaden gar nur in den Atomen des Bandes, und für die materialistische Leere liegt das Band der Seelen in der Materie zwischen den Seelen. Die Tagesansicht aber streitet mit diesen philosophischen Richtungen der Nachtansicht zu sehr im ganzen, um darüber noch im besonderen damit zu streiten.
Laß das verknüpfende Bewußtsein unsres eignen Geistes beiseite, so kannst du freilich auch noch eine Psychologie aus Anschauungen, Erinnerungen, Phantasien, Begriffen, Bestrebungen, Lust und Unlust und einem dunklen Mutterstock, der alles das hervortreibt, ohne um etwas davon zu wissen, zusammenbauen, und wirst damit eine Psychologie des Menschen gleich der heutigen Völkerpsychologie haben, welcher der Gedanke an ein, alles Einzelbewußtsein verknüpfendes, Bewußtsein fern liegt; hast aber auch in der heutigen Völkerpsychologie nichts mehr als in einer solchen Psychologie des Menschen. Es ist Uhlands totes Pferd mit allen Sehnen, Adern, Nerven des schönsten Pferdes, doch bleibts ein totes Pferd, und so sehr eine Anatomie desselben zu schätzen, hat man doch das anatomierte nicht mit dem lebendigen zu verwechseln.
Zwischen den einzelnen Menschen gibt es allgemeinere und höhere Beziehungen derselben in Kirche, Staat, Wissenschaft, Kunst usw.., vermittelt durch Sehen, Hören, Rede, Schrift usw. Nach der Tagesansicht nun hat nicht bloß der Mensch ein Wissen um diese Beziehungen, sondern ein allgemeineres und höheres der Geist über ihm, indem er das ganze Gespinst der Vermittlungen dieser Beziehungen unmittelbar und in Zusammenhang erfaßt. Indem es aber der Nachtphilosoph nur für eine Illusion in ihm selber hält, daß es überhaupt ein Sehen und Hören in der Welt über ihn hinaus gibt – Licht und Schall zwischen den Menschen sind ihm ja bloß tote Schwingungen materieller Punkte; er selber ist es nur, der sieht und hört – gelten ihm leicht auch alle dadurch vermittelten Beziehungen als Illusionen in ihm selber, die er nur aus sich in die Welt hineinsieht, die Annahme eines Gottes aber für die höchste von allen, indem der Mensch ein Bewußtsein vom Gesamtzusammenhange der Dinge, was er nur in sich hat, außer sich und über sich hinaus sucht.
Man sagt etwa: aber Kirche, Staat, Wissenschaft, Kunst usw., kurz alle Einrichtungen, wodurch sich höhere geistige Beziehungen in der Welt aussprechen, entstehen doch nur durch die Menschen, und so behält der Mensch als Schöpfer und Zentrum von allen die höchste Bedeutung über allen. – Und freilich konnten alle jene Einrichtungen nicht ohne die Menschen, doch ebensowenig allein durch die Menschen entstehen; und um eine wahre Gemeinschaft zwischen den Menschen dadurch herzustellen, bedarf es über die einzelnen hinaus noch eines Wesens, das die Beziehungen zwischen ihnen einheitlich zusammenfaßt. Wenn die Menschen nicht durch den Boden unter ihren Füßen, das Meer unter ihren Schiffen, die Luft, durch welche die Worte und das Licht, durch das die Blicke hin- und wiedergehen, zusammenhingen, nicht abgesehen von ihren gegenseitigen Beziehungen gemeinsame Einwirkungen von der Natur um sich und den Gestirnen über sich empfingen, so würden weder Kirche, noch Staat, noch Wissenschaft usw. haben entstehen, noch heute bestehen können. Der Himmel, die Sonne, der Mond, der Blitz, der Donner, welche den Menschen die erste Religion einflößten, waren eher als die Menschen dazu da, und ehe sich eine Sprache durch die Menschen bilden konnte, mußten Dinge und Beziehungen der Dinge da sein, die zur Bezeichnung derselben aufforderten. Das Wahre ist: eine schon vor Dasein aller Menschen mit göttlichem Geiste erfüllte Welt erzeugte den Menschen, ohne ihn aus ihrem Verbande zu entlassen, wirkte fortbildend in diesen ihren Sproß und Teil hinein; er wirkt auf sie zurück; es ist ein in sich zusammenhängendes wechselwirkendes Getriebe von oben herab, von unten herauf und nach allen Seiten, wodurch sich die Welt unter dem Einfluß eines allgemeinen Geistes auswirkt, der alles in Zusammenhang erfaßt und erhält.
Nun mag man immerhin unter allen Teilen der, doch noch nicht das Ganze ausmachenden, irdischen Welt, denen überhaupt ein unterscheidbares Bewußtsein beizulegen, den Menschen die höchste Bedeutung beilegen, nur nicht eine höhere als dem Ganzen, dessen Teilwesen sie zugleich nach geistiger und materieller Seite sind, wie man in den Spitzen eines Bauwerkes die höchsten Teile des Bauwerkes sehen kann, aber doch nur, sofern sie durch die Höhe des Unterbaues in die Höhe gehoben sind und tief unter der Bedeutung des ganzen Bauwerkes bleiben. Aber freilich, nachdem das kopernikanische Weltsystem uns nicht mehr glauben läßt, daß die Sonne sich um die Erde dreht, meint man immer noch, daß die Erde samt der Sonne sich um die Menschen dreht.
Auch die Knoten im Netze meinen wohl, sie sind die Hauptsache im Netze, aber das ganze Netz will mehr sagen, als alle seine Knoten. Entfalte die Knoten, so sind sie selber kleine Netze, und das ganze Netz der Welt ist nur ein ausgefalteter Knoten.
Wenn der Nachtphilosoph nach tiefsinnigster Begründung, daß sich von Gott nichts wissen läßt, doch findet, daß er ihn braucht, also nicht fallen lassen will, so erklärt er ihn für ein praktisches Postulat, von dem aber theoretisch alles wieder abzuziehen ist, was in praktischem Interesse davon auszusagen ist. Man kann ja wohl von Liebe, Güte, Weisheit Gottes usw. sprechen, um überhaupt von ihm zu sprechen und sich damit dem gemeinen Verständnis anzubequemen, nur muß man sich philosophisch immer der Unangemessenheit davon bewußt bleiben: denn Liebe, Güte, Weisheit usw. sind ja auch menschliche Eigenschaften, und Gott ist über alle menschlichen Eigenschaften oder wenigstens alles menschliche Wissen von seinen Eigenschaften erhaben.
Nach der Tagesansicht ist er es freilich auch; aber nicht, weil und sofern er darüber hinweg ist, sondern weil er die höchsten und besten menschlichen und geschöpflichen Eigenschaften überhaupt zugleich in sich und unter sich hat, und in einer für uns unerreichbaren Höhe abschließt. Die Bibel prägt dem Menschen ein: liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst; die Tagesansicht aber führt ihm auch die Umkehrung davon zu Gemüte: die Liebe Gottes geht über alles und er liebt alle wie sich selbst, weil er eben Teilwesen seines eignen Wesens darin liebt. Näher aber können sie ihm nicht sein, und näher kann uns Gott nicht sein und können uns unsre Nebenmenschen nicht sein, als wenn wir alle gemeinsam Teil an ihm selber haben, und er uns alle zum Ganzen ergänzt. Das zu wissen und zu fühlen, ist Gottseligkeit; an jedem Gedanken und Gefühl aber, das davon abführt, hängt etwas von Gottlosigkeit.
2. Die sinnliche Erscheinungswelt.
Widerstrebt es dir, Gott im Sinne der Tagesansicht in die Welt versenkt zu denken? Aber fasse nur die Tagesansicht selbst erst anders als mit den Eulenaugen der Nachtansicht. Vielmehr hast du danach die Welt in Gott heraufgehoben zu denken, indem du die ganze sinnliche Erscheinung der Welt in Gott aufgehoben denkst, und hinter ihr nach nichts weiter fragst; denn gibts auch wohl noch ein Dahinter? Es ist Gottes Fuß, was du für einen Schemel unter seinen Füßen hältst, ja gar noch darunter wegziehst, weil er ihn nicht brauche. Du selbst sprichst heute von einem in der Welt allgegenwärtigen, allwissenden und allwirksamen Gott und dann wieder von einem ganz überweltlichen Gott, und hörst sogar nicht auf, dir selbst zu widersprechen; und weisest endlich den Widerspruch damit ab, Gott sei in gewissem Sinne das eine und das andre. Dasselbe meint die Tagesansicht auch; nur daß sie es in einem klareren Sinne meint. Damit, daß Gott nicht neben Licht und Schall in der Welt allgegenwärtig und allwissend ist, sondern das Licht ihm dient, alles in der Welt zu sehen, was sichtbar ist, alles zu hören, was hörbar ist, ist Gott noch nicht in die Sinnlichkeit der Welt versunken, sondern hoch über alles steigt der göttliche Gedanke auf. Denke dir einen Menschen, der bloß Augen hätte, zu sehen, oder bloß Ohren zu hören; wie ärmlich, niedrig wären die Gedanken des übrigens Tauben oder Blinden. Gottes Gedanken aber fußen nicht nur auf dem Sehen und Hören aller Menschen, sondern auch dem Sehen und Hören alles dessen, was darüber hinaus ist. Beziehungen über Beziehungen dazwischen türmen sich in ihm höher und höher auf, um sich in höchster Höhe abzuschließen, und wie ein König seine Minister, und diese ihre Amtleute, und diese ihre Diener zur Ausführung seiner Befehle haben, nicht alle freilich führen sie recht aus, so greift in umgekehrter Richtung Gottes oberster Wille mittelst des Willens und der Triebe seiner höheren und niederen Geschöpfe durch das Weltgetriebe; indes er die Zügel immer oben in der Hand behält; es ist nur alles innerlich in ihm, was dort äußerlich.
Diesen Schwung der Betrachtung zu dämpfen, tritt der Physiolog – und hat der Physiolog nicht das Recht, über Sehen und Hören mitzusprechen – mit der Frage herzu: wenn es über Menschen und Tiere hinaus überhaupt noch ein Sehen und Hören und darüber gar ein Denken geben soll, wozu du dir einen sehenden, hörenden, denkenden Gott einbildest, wo sind denn über Menschen und Tiere hinaus die Augen und Ohren und das Gehirn dazu. Ginge es ohne das und dergleichen, wozu wären die Sinneswerkzeuge und Gehirne der Geschöpfe und die Geschöpfe selber da? Wozu der Aufwand von Kunst in ihrer Einrichtung? Es muß eben ohne das nicht gehen. Wenn es aber ohne das nicht geht, wird es auch ohne das nicht sein.
Nun, das Meer ist groß und einfach, unzählige vielgestaltete Becher und Eimer schöpfen mittelbar und unmittelbar daraus; aber sie machen das Wasser nicht, sondern schöpfen es eben nur daraus, um es nach mannigfacher Verwendung wieder darein zurückfließen zu lassen. Also sind auch die Sinneswerkzeuge der Geschöpfe und die Geschöpfe selbst nicht dazu da, das Sehen und Hören erst zu machen, sondern aus dem allgemeinen Quell des Sehens, Hörens sich in besonderer Weise anzueignen und in besonderer Weise zu verwenden und zu verwerten.