Die therapeutische Haltung - Volker Münch - E-Book

Die therapeutische Haltung E-Book

Volker Münch

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Beschreibung

Die therapeutische Haltung ist ein komplexes Konzept. Sie ist Ergebnis von theoretischen Annahmen, Einflüssen aus der Praxis sowie der Persönlichkeit des Therapeuten. Daraus ergeben sich wichtige ethische Fragen. In der Analytischen Psychologie wird eine unbewusste Verbindung zwischen Therapeut und Patient angenommen. Dem Selbst wird eine archetypische Entwicklungstendenz zugesprochen, was Ressourcen und Möglichkeiten des Patienten betont. Eine jungianische therapeutische Haltung kann die Arbeit des Analytikers sehr bereichern. Mit Fokus auf konkreten Implikationen für die therapeutische Praxis nimmt das Werk die systematische historische, theoretische und klinische Untersuchung dessen vor, was man unter "therapeutischer Haltung" verstehen kann. Zahlreiche Fallbeispiele veranschaulichen Theoriekonzepte und praktische Arbeit.

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Der Autor

 

Volker Münch, Dipl.-Psychologe, Psychoanalytiker in eigener Praxis in München seit 2005, Einzel- und Gruppentherapeut (D3G), Balintgruppenleiter, Dozent am Jung-Institut München und Stuttgart, bei der MAP und dem CIP München. Lehranalytiker und Supervisor, 1. Vorsitzender Jung-Institut München (2016–2017), berufspolitische Funktionen in der DGPT (im Vorstand des BBP-DGPT), Funktionen in der KV und der Landeskonferenz der Berufsverbände. In der DGAP seit März 2020 stellvertretender Vorsitzender und einer der berufspolitischen Sprecher, Vertretung im GK II-Ausschuss. Veröffentlichungen: zahlreiche Artikel in der Zeitschrift »Analytische Psychologie«. 2016 Veröffentlichung des Buches »Krise in der Lebensmitte«. Interessenschwerpunkte: Intersubjektivität, Archetypen, Gruppendynamik, Gesellschaft und Kultur.

Volker Münch

 

Die therapeutische Haltung

Perspektiven der Analytischen Psychologie

 

 

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-036612-1

 

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-036613-8

epub:  ISBN 978-3-17-036614-5

mobi:  ISBN 978-3-17-036615-2

 

 

 

 

»So muss wohl das eigentliche Ziel der Psychotherapie der Sinn für die Dimension des Fiktiven sein.«

(Hillman, 1986, S. 148)

»Individuation aber bedeutet geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale Leistung erhoffen lässt, als wenn die Eigenart vernachlässigt oder gar unterdrückt wird.«

(Jung, 1916, GW 7, § 267)

»Es gehört ein Analytiker dazu, der fähig ist, in seiner Anwesenheit den Patienten auch allein sein zu lassen.«

(Lesmeister, 2017, S. 115)

Geleitwort

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurückblickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine größere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs-Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jung’schen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C. G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jung’schen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jung’schen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüße ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jung’schen Theorie mit der großen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

Verena Kast

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Teil I:    Allgemeines zur therapeutischen Haltung

1     Eine erste Annäherung

1.1     Was unterscheidet eine therapeutische Begegnung von einer Alltagsbegegnung?

2     Allgemeine Definitionen der therapeutischen Haltung

2.1     Berufsrecht und Verpflichtungen

2.2     Therapeutische Kompetenzen und Ressourcen

2.3     Therapeutische Haltung in der Psychoanalyse

2.3.1   Selbstpsychologie

3     Die Geschichte der therapeutischen Haltung

3.1     Post-Paternalismus

3.2     Die intersubjektive Wende und die Analytische Psychologie

3.3     Patientenbeispiel 1 (Frau Z.): Ein intersubjektives Verständnis von therapeutischer Haltung

4     Die Ausbildung zum Psychoanalytiker

4.1     Die Auswirkungen der Generationalität

4.2     Therapeutische Haltung und theoretische Selbstverortung

4.3     Die weitere Entwicklung nach der Ausbildung

4.4     Spezielle Aspekte der therapeutischen Haltung

4.4.1   Der äußere und innere Rahmen

4.4.2   Abstinenz, Asymmetrie und Neutralität – noch gültig?

4.4.3   Das Begehren des Analytikers

4.5     Patientenbeispiel 2 (Frau C.): »Übertragungsliebe«

4.6     Intersubjektivität – eine Haltung oder viele Haltungen?

Teil II:  Die therapeutische Haltung in der Analytischen Psychologie

5     Was ist anders an der therapeutischen Haltung?

5.1     Das Setting in der Analytischen Psychologie

5.2     Amplifikation oder Deuten – ein weiterer Unterschied zur klassischen psychoanalytischen Methodik

5.3     Der Beginn der Behandlung

5.3.1   Patientenbeispiel 3 (Herr U.): Verwicklung am Beginn

5.4     Finalität

5.5     Individuation und Wachstumsorientierung

5.5.1   Patientenbeispiel 4 (Frau N.): Selbstannahme

5.6     Die Symbolsprache der Alchemie

5.6.1   Exkurs: Komplexe

5.7     Die Gegensatzspannung

5.7.1   Die Übertragungs- und die Realebene

5.8     Therapeutische Haltung und Typologie

6     Therapeutische Haltung und die Methoden der Analytischen Psychologie

6.1     Aktive Imagination

6.6.1   Patientenbeispiel 5 (Herr A.): Innere Bilder

6.2     Die therapeutische Haltung zu Träumen

6.2.1   Die subjektstufige Interpretation

6.2.2   Patientenbeispiel 6 (Herr J.): »Hilfreiche Geister«

6.2.3   Patientenbeispiel 7 (Herr F.): Archetypische Symbole in einer Traumserie

7     Übertragung und archetypische Übertragung

7.1     Der Heilerarchetyp

7.2     »Nach-unten-Wachsen«

7.3     Die Animus-Psychologie nach Giegerich

7.4     Die Problematik des Numinosen

7.5     Eine alternative Sicht des Ödipuskomplexes

7.6     Die archetypische Figur des »Tricksters«

7.6.1   Patientenbeispiel 8 (Frau C.): Eine freudsche

und

jungianische Haltung

7.7     Therapeutische Misserfolge

8     Spiritualität

Teil III: Die therapeutische Haltung als Ausdruck der Behandlungsethik

9     Die Veränderung unserer Haltung zur therapeutischen Haltung

9.1     Beispiel Traumatherapie

9.2     Therapeutische Haltung als Prozess

10  Abschied vom Ideal: Fehlerkultur

10.1   Offenheit und Respekt gegenüber dem Unbewussten

10.2   Allgemeine Gefährdungen

10.2.1 Die Aufrechterhaltung einer professionellen Haltung

10.3   Herausforderungen für die therapeutische Haltung

10.3.1 Patientenbeispiel 9 (Frau L.): Grenzen und Möglichkeiten

10.4   Gefährdungen der Haltung in Lehrtherapie, -analyse und Supervision

10.5   »Wilde Therapie«

11  Der therapeutische Alltag

11.1   »Rein in die Sitzung, raus aus der Sitzung«

12  Die analytische therapeutische Haltung in der heutigen Welt

12.1   Die Folgen der Einbindung in das kassenärztliche System

12.2   Die Veränderung der Konzepte von Heilung, Veränderung, Ganzheit

12.3   Die politische Dimension therapeutischer Arbeit

13  Selbstfürsorge für die Aufrechterhaltung einer therapeutischen Haltung

13.1   Die Haltung des Körpers

14  Abschließende Gedanken

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Zunächst: Dem Autor ist als Jungianer die Verortung in lediglich einer psychoanalytischen Schule wesensfremd. Dies mag zunächst als Widerspruch erscheinen, lässt sich aber bereits relativieren, wenn ich betone, dass die therapeutische Haltung jenseits ihrer Grundpfeiler, von denen zu reden sein wird, mit und für jeden Patienten zu anderen Interventionen und einer anderen Beziehungsgestaltung führt. Die Vielfalt der Patienten erfordert m. E. auch eine breite Kenntnis der Vielfalt der therapeutischen Methoden und Zugänge, die aus persönlicher Erfahrung oder aus der Ausbildung oder der Berufstätigkeit danach stammen können. Die zugespitzte These: Wenn therapeutische Haltung als etwas angesehen wird, was sich nicht nur im Innenleben des Therapeuten, sondern auch in der Ausgestaltung seiner Interventionen und in seiner Resonanzfähigkeit zeigt, also in der therapeutischen Praxis, gibt es so viele Haltungen wie Therapeuten. Jedoch können, wie gesagt, Grundzüge sowie die Schwächen und Stärken der unterschiedlichen Gewichtungen hinsichtlich dessen, was jemand unter seiner therapeutischen Haltung versteht, ausgemacht werden. Auch soll dadurch deutlicher werden, was eine spezifisch jungianische therapeutische Haltung ausmacht.

Am allerwichtigsten für die Ausbildung einer therapeutischen Haltung erachte ich die Praxis selbst, sie macht uns gründlich und schonungslos mit unseren Stärken und Schwächen vertraut. Neben den Begegnungen also mit meinen Analytikerinnen und Analytikern, Lehrern und Ausbildern haben mich meine Patienten geprägt und sie tun dies bis heute. Dafür danke ich Ihnen allen! Besonders möchte ich mich bei meinen Patientinnen und Patienten für das Vertrauen und die Bereitschaft zur Veröffentlichung ihrer Fallvignetten in diesem Buch bedanken. Therapeutisches Arbeiten, dass nicht auch Befriedigung verschafft, kommt schnell an seine Grenzen. Letztlich neige ich innerhalb der psychoanalytisch rezipierten Theorien vor allem den Vorstellungen der Intersubjektivisten zu. Sie sind neben dem jungianischen Zugang, den ich ebenso als unentbehrlich für das therapeutische Arbeiten erachte, immer in Ergänzung und Erweiterung der freudstämmigen psychoanalytischen Theorien verstanden, eine wertvolle Quelle der Erkenntnis.

Das Anerkennen des Leidens der Patienten sowie der Wille, diesen dienen zu wollen, sollte Richtschnur für therapeutisches Handeln sein, doch nicht als Selbstzweck. Mitgefühl und Respekt vor anderen Menschen, die ihre Welt in das eigene Praxiszimmer bringen und einem so immer auch ein Geschenk machen, sind als zentral anzusehen, quasi eine »Conditio sine qua non« therapeutischen Arbeitens. Dazu gehört jedoch auch der Respekt vor den eigenen Grenzen und vor Patienten, denen ich trotz allen Bemühens nicht helfen kann.

Als problematisch erschien mir immer der zuweilen sichtbar werdende unbewusste Leitsatz, den Patienten auf die Psychoanalyse projizieren und der zu lauten schien, dass ein Mehr an Regression und wiederholtem Leid in der therapeutischen Beziehung zu einer umso nachhaltigeren Veränderung führen sollte. Diese Erwartungen tragen sowohl Patienten wie auch Psychoanalytiker nicht selten noch in sich. Nicht nur meine Erfahrung zeigt, dass eine Abstinenz, die in der Absicht praktiziert wird, dass der Patient seine kindliche Not erneut spüren möge, oft ins sprichwörtliche Leere geht. Die Arbeit an der Struktur, die einen resonanten, lebendigen und empathischen Therapeuten erfordert und die nicht in Anwendung einer Technik praktiziert werden kann, sondern authentisch sein sollte, ist oft Voraussetzung für den Aufbau einer Fähigkeit, die eigene Geschichte mit Abstand zu betrachten und dann auch affektiv ausfüllen und betrauern zu können. Auch Hilgers (2018) mahnt einen entspannten und professionellen Umgang mit sich und den therapeutischen Herausforderungen an und fragt sich, wie der Beruf des Psychotherapeuten mit Leidenschaft ausgeübt werden kann.

Übertragung und Wiederholungszwang entfalten ihren Sog nämlich in der Regel auch ungeachtet dessen, wie sehr sich der Therapeut um Abstinenz oder auch Resonanz bemüht. Über die Unterscheidungen und Grenzen dieser verschiedenen Sichtweisen, die die therapeutische Haltung prägen, wird im Weiteren ausführlich zu sprechen sein.

Ein Kollege überschrieb seine Abschlussarbeit an einem jungianischen Ausbildungsinstitut mit den Worten, dass er bemüht ist, »Psychoanalyse und Jung in einen fruchtbaren Kontakt« zu bringen – dies soll auch Leitmotiv der theoretischen Selbstverortung des folgenden Textes sein. Dem vielschichtigen Begriff der »therapeutischen Haltung« nähere ich mich dabei von einem allgemein-psychologischen Gedanken aus an: Was unterscheidet eigentlich eine psychotherapeutische von einer »normalen« Beziehung, also einer nicht psychotherapeutischen? Gleichzeitig versuche ich die Historie und auch die Historizität des Begriffs der therapeutischen Haltung anhand der Entwicklung der Behandlungstheorien zu skizzieren, mit einem Schwerpunkt auf der Darstellung der aktuellen intersubjektivistisch geprägten psychoanalytischen Theorien im Allgemeinen sowie der Theorie der Analytischen Psychologie Jungs im Besonderen. Diese weisen bei näherer Betrachtung viele interessante Berührungspunkte auf.

Die Nicht-Verortung in nur einer Theorie bedeutet nicht, keinen Standpunkt zu haben. Dies ist auch ein häufig zu beobachtendes Missverständnis in der Rezeption von intersubjektivistisch geprägten Behandlungsansätzen wie dem von Orange, Atwood und Stolorow (2001) und ihren Kollegen (s. die Kritik von Bohleber, 2012). Denn die Kontextualisierung und die Annahme, dass sich therapeutische Beziehungen im Moment ihres Entstehens etablieren und konstellieren, also eine soziale, wenngleich oft zunächst unbewusst motivierte Konstruktion darstellen, erweitert den Blick über das starre Denken in Kausalitäten zwischen zwei getrennt gedachten Entitäten eines Subjekts und eines Objekts.

Obschon diese Unterscheidung für unseren Alltag oft praktisch zu sein scheint, ist sie es nicht mehr, wenn wir uns mit psychodynamischen Aspekten beschäftigen. Die Verbundenheit von zwei Menschen oder mehreren, in der Analytischen Psychologie auch konzipiert als die Teilhabe am kollektiven Unbewussten, tritt immer deutlicher in unser Bewusstsein (vgl. Maffesoli, 2014). Damit aber können wir dieses Konzept, da wo es gebraucht wird, für unser therapeutisches Arbeiten nutzen: Gerade dann, wenn Ablösung und Individuation nicht recht gelingen will, sind oft die unbedachten Defizite und Bedürfnisse, aber auch die Talente zur Wahrnehmung kollektiv-unbewusster, oft archetypisch verfasster Themen am Werke. Therapeutische Prozesse lediglich in Form von Autonomiegewinnung und Unabhängigkeit zu denken, wird in seiner Einseitigkeit und auch in seiner problematischen Nähe zum westlichen Lebensmodell zunehmend in Frage gestellt (vgl. Rohde-Dachser, 2018; Illouz, 2016).

Durch diesen Wandel der theoretischen Fundierung und auch der gesellschaftlichen und berufspolitischen Realitäten wird die therapeutische Haltung zum hinterfragenswerten Konstrukt und auch in seiner sozialen Bedeutsamkeit, beispielsweise als Vorbild für den Umgang mit komplexen sozialen Problemen, immer wichtiger. Der Komplexität des Themas werden m. E. aber vor allem die Konzepte der Analytischen Psychologie in der Nachfolge Jungs gerecht, auch deshalb sollen sie hier im Mittelpunkt stehen.

Bezüglich der mittlerweile zahlreichen Optionen, geschlechts- oder genderbezogene Schreibweisen zu wählen, habe ich nach langem Überlegen zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung meiner jahrzehntelangen Gewohnheit der vornehmlichen Verwendung der männlichen Form, die meiner Perspektive entspricht, nachgegeben – man möge es mir nachsehen und darin keinerlei Geringschätzung für andere Geschlechter und Schreibweisen sehen.

Ich möchte Beate Freyer, Barbara Gollwitzer und Christine Makowski sowie natürlich meiner Lektorin Frau Stefanie Reutter und dem Herausgeber Prof. Ralf T. Vogel ganz herzlich für die Durchsicht des Manuskriptes, ihre Unterstützung und die zahlreichen wertvollen Hinweise danken!

 

 

 

 

Teil I:   Allgemeines zur therapeutischen Haltung

1          Eine erste Annäherung

 

 

 

Was können und wollen wir eigentlich unter einer therapeutischen Haltung verstehen? Dies wird teils kontrovers, teils zu wenig diskutiert. Da ein Schwerpunkt dieses Buches eine Darstellung der Sicht der Analytischen Psychologie Jungs ist, werde ich die in dieser Perspektive gängige Vorgehensweise des Umkreisens und Assoziierens auch im Fortgang der Kapitel zugrunde legen und anwenden. Die Sicht der Analytischen Psychologie soll schwerpunktmäßig im zweiten der drei Teile des Buches im Vordergrund stehen.

In einer ersten Sichtung umfasst die therapeutische Haltung technische, ethische und spirituelle Aspekte. Sie stellt quasi die Grundlage allen therapeutischen, hier psychotherapeutischen Handelns dar. Doch wie kann man das beschreiben, was ein Therapeut macht? Wie macht er das? Welche Haltung begünstigt eine hilfreiche therapeutische Entwicklung? Im Weiteren soll es auch darum gehen, was die Analytische Psychologie zu einer angemessenen und zeitgemäßen psychoanalytischen Haltung beitragen kann. Wie sehr kommen sich in diesem Zusammenhang heute Psychoanalyse und Analytische Psychologie nahe?

Doch beginnen wir am Anfang:

Freud beschrieb die »gleich schwebende Aufmerksamkeit« des Analytikers als essenziell für den analytischen Prozess (»Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke« (Freud, 1999, GW VIII, 378). Während der Patient, damals noch ausschließlich im Liegen, auf der Couch seinen Assoziationen freien Lauf lassen sollte, um die Abwehr zu unterlaufen, sollte der Analytiker seine zu den Erzählungen des Patienten auftauchenden Einfälle ohne Bewertung sammeln und die unbewussten Zusammenhänge zwischen diesen im Sinne eines »roten Fadens« auffinden. Seither hat sich nicht nur die Analytische Psychologie C. G. Jungs und seiner Nachfolger entwickelt, sondern mittlerweile hat die Psychoanalyse selbst einen Paradigmenwechsel durchlaufen, der als grundlegend anzusehen ist. Interessanterweise rehabilitiert dieser Wandel – ich spreche von der »intersubjektiven Wende« –, meist ohne es zu benennen, einige der grundlegenden Konzepte der Analytischen Psychologie, vor allem was die der intersubjektiven Begegnung Analytiker – Patient zugrunde liegenden Mechanismen und Vorstellungen betrifft. Diesbezüglich haben sich in der Psychoanalyse bereits seit einigen Jahrzehnten Vorstellungen eines intermediären Raumes, eines Feldes, eines »analytischen Dritten« etabliert, die auf frappierende Weise vieles von dem aufnehmen, was bereits in Konzepten der alchemistischen »Heiratsquaternio« (Jung, 1946) oder den eher transpersonalen Ideen der archetypischen Psychologie formuliert worden ist (z. B. Hillman, 2015). Es wäre billig und unredlich zu behaupten, dass Jung »alles schon gesagt hat«, um damit eine Haltung der Überlegenheit der Analytischen Psychologie zu begründen. Es wäre aber auch nicht angemessen, aufgrund der genannten Überschneidungen die Analytische Psychologie selbst als obsolet anzusehen, obwohl einige der modernen intersubjektivistischen Konzepte viele Ähnlichkeiten mit deren Konzepten aufweisen. Denn im Kern, dies wird im Abschnitt 7 über die archetypische Übertragung deutlich werden ( Kap. 7), gibt es einige wesentliche Unterschiede. Im Weiteren soll es in diesem Buch auch darum gehen, zu erklären, dass es genau diese Unterschiede zur klassischen und auch zur »postmodernen« Psychoanalyse sind, die die Essenz der Analytischen Psychologie ausmachen und die eine vertiefte Beschäftigung mit der Frage anmahnen, was diese unter einer angemessenen therapeutischen Haltung versteht. Über die möglichen Vorteile derselben und auch die sich möglicherweise daraus ergebenden Gefährdungen wird zu sprechen sein. Die jungianische therapeutische Haltung soll aber vor allem jene neugierig machen, die sich bislang noch nicht mit dieser Sichtweise beschäftigt haben und die nach einer Erweiterung ihrer bisherigen Perspektive oder alternativen Erklärungen für ihre Erfahrungen in der therapeutischen Tätigkeit suchen. Diesbezüglich reiht sich dieses Buch ein in eine Reihe des Kohlhammer Verlages, in der Konzepte der Analytischen Psychologie in ihrer heutigen Anwendung zur Darstellung kommen (vgl. z. B. Braun, 2016; Rafalski, 2018).

Der Begriff »therapeutische Haltung« ist selbst ein äußerst gehaltvoller und vielschichtiger. Eine therapeutische Haltung beinhaltet die Notwendigkeit zum Aufbau eines inneren Raums, der erlaubt, Gefühle und Reflexionen zum Wohle des Gegenübers zu halten, zu dosieren und nach entsprechender Metabolisierung auch in den expliziten Kontakt zurückzugeben. Je nach Vorerfahrung, Persönlichkeit und theoretischem Hintergrund wird aber diese therapeutische Haltung eine in gewissen Aspekten immer unterschiedliche Haltung sein, abhängig von der Person, die Therapie »ausübt«.

Wir werden sehen, wie der Wandel der Vorstellung von dem, was eine therapeutische Haltung ist, ganz wesentlich vom Wandel der theoretischen Vorstellungen über die Rolle des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung herrührt. Der Umbruch weg von einer Ein-Personen-Psychologie hin zu einer Zwei-Personen Psychologie im Zuge der intersubjektiven Wende zeigt, welche Implikationen dies auf das Selbstverständnis von analytischen Psychotherapeuten gehabt hat.

1.1       Was unterscheidet eine therapeutische Begegnung von einer Alltagsbegegnung?

Wenn sich im Alltag ein Freund oder Familienmitglied mit einem Problem an einen wendet, würden wir das als allgemein-menschlichen Vorgang ansehen und diesem zuhören oder mit irgendeiner Form von Zuwendung reagieren: Wir würden trösten, wir würden etwas zu trinken oder essen anbieten, wir würden für Ablenkung sorgen, wir würden einfach da sein, gerade wenn der andere wenig reden möchte oder von seinen Gefühlen überwältigt wird. Interpretationen, allzu nachforschende Fragen, schnelle Verweise darauf, dass man sich therapeutische Hilfe suchen sollte, würden zu Recht als verletzend, enttäuschend und unpassend empfunden.

Der Versuch des gegenseitigen »Therapierens« in einer Beziehung kann ebenfalls als Hinweis auf eine entgleiste und problematische Partnerbeziehung gesehen werden, da diese Vorgehensweise zum einen zu wenig Triangulierung bieten kann, zum anderen aber durch ihre Asymmetrie ein Machtgefälle aufweist, das jedwede Beziehung verkompliziert. Die unabhängige Position des Therapeuten wird umgekehrt als essenziell für die Wirksamkeit einer hilfreichen therapeutischen Beziehung angesehen. Der mittlerweile klassisch gewordene Begriff des »Helfersyndroms«, wie er von Schmidbauer (1992) formuliert worden ist, beschreibt die Selbstüberforderung, die auch professionelle Helfer und Therapeuten befallen kann, wenn sie zu wenig persönlichen Abstand in der therapeutischen Beziehung aufrechterhalten können. Entgleist diese für ein hilfreiches Arbeiten notwendige Distanz, die innere Triangulierung, so kann es zu für alle Beteiligten fatalen Fehlentwicklungen und Entgleisungen kommen.

Wir werden das heute stark gestiegene und hoch differenzierte Nachdenken über die ethischen Dimensionen der therapeutischen Haltung im dritten Teil des Buches eingehender betrachten und dabei die partielle Relativität der Gewissheiten, über die ein Therapeut verfügt, verfolgen und feststellen. Die Frage nach der therapeutischen Haltung impliziert insofern immer eine Dynamik des »Lost and Found«: Therapeutische Haltung muss immer wieder neu erstritten werden, sie ist angreifbar, brüchig und kann unter Umständen verloren gehen. Aber sie kann auch meist wieder zurückgewonnen werden.

Der Unterschied zur eher symmetrischen, also prinzipiell gleichberechtigten Alltagsbeziehung ist vor allem durch eben diese therapeutische Haltung gegeben, das Ausscheren also eines der beiden Beteiligten aus der alltäglichen Situation. Eine solche Haltung ist dadurch gekennzeichnet, dass der therapeutisch Tätige sich das Recht herausnehmen darf, bestimmte, im Alltagsgebrauch vielleicht untypische, sehr persönliche Fragen zu stellen. Zudem wird ein Therapeut wenig Veranlassung sehen, sich selbst und seine Geschichte in das Gespräch einzubringen. Er akzeptiert ein Verständnis der Situation, dass ihm erlaubt, bestimmte Theorien über menschliches Verhalten und die Psyche heranzuziehen, die er als hilfreich erachtet, das Gegenüber besser verstehen zu können und auch diesem damit zu einem erweiterten Verständnis seiner selbst zu verhelfen. Sich damit auch außerhalb der sonst üblichen sozialen Norm zu stellen, ist typisch. Der sonst vertraute Vorgang der intuitiven und schrittweisen gegenseitigen »Selbstenthüllung«, das zunehmende gegenseitige sich ins Vertrauen-Nehmen – was auf beiden Seiten einigermaßen gleichmäßig vor sich gehen muss, soll die Beziehung weitergehen und sich vertiefen – ist außer Kraft gesetzt. In einem intersubjektivistischen Verständnis der therapeutischen Situation darf der Therapeut sich zwar mehr »einbringen«, aber immer im Rahmen des für den Patienten Hilfreichen. Wir kommen darauf zurück.

Für den Hilfesuchenden bedeutet diese Zurückhaltung des Therapeuten neben der Entlastung zunächst auch eine Frustration, denn er weiß wenig über den Helfer, weiß auch nicht, wie ihm dieser meint helfen zu können, jedenfalls nicht bevor dieser seine Vorstellungen offenlegt. Auch muss er Geduld haben, bis die Art der Hilfe, von der der Helfer meint, dass sie dem Hilfesuchenden weiterhilft, für ihn wirksam und spürbar geworden ist. Die dazu notwendige Frustrationstoleranz und damit das Aushalten von Spannung, das von beiden Beteiligen der therapeutischen Beziehung abverlangt wird, ist aber gleichsam der Motor der weiteren Entwicklung. Die Definition der therapeutischen Beziehung als asymmetrisch, weitgehend abstinent und als »Arbeitsbeziehung« will diesen Prozess fördern. Denn gerade die Zurückhaltung des Therapeuten und seine innere Triangulierung kann als hilfreich erlebt werden.

Als Therapeut benötige ich also eine bestimmte Vorstellung von mir und meinem Verhalten, sobald ich es als »therapeutisch« sinnvoll und hilfreich definieren will. Diese ethische Dimension therapeutischen Verhaltens ist ganz wesentlich für das Gelingen von Therapien. Es ist nicht einfach, das zu etablieren, was eine »therapeutische Haltung« ausmacht und was letztlich vielleicht auch einen guten Therapeuten befähigt. Im Hintergrund benötige ich dazu eine ethische Grundlegung meines Tuns. Es soll dem Patienten dienen. Dies zieht nach sich, dass es eines gründlichen und langen Ausbildungsprozesses bedarf, um die dazu notwendigen Sensibilitäten und Kompetenzen (vgl. Will, 2010) zu erwerben. Nicht erst heute geht es um die Einsicht, dass es nur eine fortwährende Selbstreflexion und andauernde Rückkoppelung zu Kollegen ermöglicht, die eigene therapeutische Haltung weiter aufrechtzuerhalten, auszubauen und differenzierend zu vertiefen. Auch Aspekte der Selbstfürsorge rücken immer deutlicher ins Bewusstsein ( Teil III). Therapeutische Haltung ist somit nicht ein einmal zu erreichendes Ziel, auf dem man sich dann ausruhen dürfte, sondern eine Haltung, die auch die Einsicht in die eigene Vulnerabilität dieser Haltung beinhaltet. Eine herausragende Rolle spielt erfahrungsgemäß die eigene Selbsterfahrung, hier also die Lehrtherapie (bei tiefenpsychologischen Kollegen) oder die Lehranalyse.

2          Allgemeine Definitionen der therapeutischen Haltung

 

 

 

Eine erste Literaturrecherche zum Thema »Therapeutische Haltung« ergibt zunächst wenig Konkretes. Im »Psychotherapeutenjournal«, dem Organ der Psychotherapeutenkammern, beschreiben Preß und Gmelch: