Die Tiermagierin – Sturmseele - Maxym M. Martineau - E-Book
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Die Tiermagierin – Sturmseele E-Book

Maxym M. Martineau

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Beschreibung

Die Tiermagierin und der Assassine. Ihre Liebe ist verflucht! Der aufregende zweite Band der Tiermagier-Trilogie. Leena und Noc sind verliebt. Sie sind verzweifelt. Und sie sind dem Tod geweiht. Denn einer von ihnen muss sterben, um den anderen zu retten. Noc hat einst den Auftrag angenommen, Leena zu töten, und die dunkle Magie seines Ordens treibt ihn nun in den Wahnsinn. Diese Magie gewinnt immer mehr Kontrolle über ihn – und sie will Leenas Tod. Es gibt nur eine einzige Hoffnung: Leena hört von einem seltenen magischen Tierwesen, das den Fluch lösen kann. Also begibt sie sich in den eisigen Norden, um es zu suchen – und wird schon bald selbst zur Gejagten …

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Seitenzahl: 618

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Maxym M. Martineau

Die Tiermagierin - Sturmseele

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

EINE UNMÖGLICHE LIEBE

Noc ist ein Assassine, ein unsterblicher Mörder, der jeden Auftrag emotionslos erledigt. Bis auf den letzten. Er sollte die Tiermagierin Leena töten. Stattdessen verliebte er sich in sie.

 

EIN GRAUSAMES FLÜSTERN

Doch die dunkle Magie seiner Gilde lässt keine Gnade zu. Sie gewinnt immer mehr Kontrolle über Noc, quält ihn mit Visionen, flüstert Verlockungen- und sie will Leenas Tod.

 

EINE LETZTE HOFFNUNG

Leena, Noc und seine Brüder suchen verzweifelt nach einer Lösung. Ein seltenes magisches Tierwesen könnte vielleicht helfen. Wenn sie lange genug am Leben bleiben, um es zu finden

 

Romance meets Fantastic Beasts

Band 2 der Tiermagier-Trilogie

Vita

Maxym M. Martineau hat einen Abschluss in Englischer Literatur von der Arizona State University und arbeitet als Texterin, Redakteurin und Autorin. Wenn zwischen Familie und Schreiben noch Zeit übrig bleibt, liest sie, spielt Videospiele, schaut sich zu viele Serienfolgen hintereinander an oder macht Sport. Die drei Romane Schattentanz, Sturmseele und Scherbenthron sind romantische Fantasy-Geschichten und bilden zusammen die Tiermagier-Trilogie, die an Assassin’s Creed und das Harry-Potter-Spin-off Fantastic Beasts erinnert. Der erste Band wurde von Publishers Weekly als eines der besten Bücher des Jahres ausgezeichnet, und die New York Times schrieb: Eine beeindruckende Liebesgeschichte voller Magie und Abenteuer. Mehr Informationen über die Autorin sind auf ihrer Homepage zu finden: www.maxymmartineau.com.

 

Anita Nirschl träumte als Kind davon, alle Sprachen der Welt zu lernen, um jedes Buch lesen zu können, das es gibt. Später studierte sie Englische, Amerikanische und Spanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.

Für meinen Mann, der alles geben würde, damit ich meine Träume verwirklichen kann

Kapitel 1DER EISPRINZ

Vor 50 Jahren

Die schweren Trommelschläge der heranrückenden Armee hallten in meiner Brust wider. Wiehernd scharrte mein Pferd unter mir, und ich fasste die Zügel fester. Es war nicht das erste Mal, dass Rhynes Streitmächte das Meer zwischen unseren Ländern überquert hatten und am flachen Ufer der Penumbra-Felder angekommen waren. Unsere Flotte hatte verloren, und nun war die kleine Stadt Moeras auf den Schutz meiner Männer angewiesen. Die Bewohner waren zwar geflohen und in Sicherheit, aber ihre Häuser, ihre Leben, hatten sie zurückgelassen.

Und wenn ich sie nicht retten konnte, war ich es nicht wert, ihr Prinz zu sein.

«Macht euch bereit!» Ich drängte meine Stute vorwärts, und ihre Hufe wühlten den weichen Moorboden des Schlachtfelds auf. Dichtes Schilfrohr schlug gegen ihre Beine, und eine steife Brise trug den sumpfigen Gestank von Salz und Erde. Flach und baumlos dehnte sich die Ebene vor uns aus und bot meinen Truppen freie Sicht auf die sich sammelnde Armee. Die Morgensonne ließ ihre strengen Jaderüstungen funkeln, und mir lief ein Schauer über den Rücken.

Seit Jahren verfolgte mich diese Farbe in meinen Träumen. Aber ich konnte es noch so oft versuchen, noch so viele Briefe schreiben, in der Hoffnung, Frieden auszuhandeln, das Königshaus von Rhyne wollte nichts davon hören. Einzig mein Kopf auf einem Spieß würde sie zufriedenstellen: ein Leben für ein Leben, ein Prinz für eine Prinzessin.

Amira. Ich schob die Erinnerung an ihr goldenes Haar und das sanfte Lächeln von mir. Im Krieg durfte man sich nicht in der Vergangenheit verlieren. Leben hingen von mir ab.

Mit einem scharfen Schnalzen trieb ich mein Pferd zu einem leichten Galopp an und ritt an die vorderste Frontlinie. Tausende Männer und Frauen in stählernen Rüstungen blickten mir entgegen, über ihren Herzen eingraviert der Greif – das Wappentier von Wilheim. Die Rücken kerzengerade und die Blicke nach vorne gerichtet, standen sie bereit, während die weiß-violetten Banner im Wind peitschten. Wir hatten keine Trommeln. Wir hatten keine Hörner. Wir hatten es nicht nötig, unsere Anwesenheit zu verkünden. Das hier war unsere Heimat, und die stille Stadt in unserem Rücken war die einzige Motivation, die wir brauchten.

Wir würden nicht verlieren.

Als ich mein Pferd zügelte, löste sich ein einzelner Mann aus den Reihen und lenkte seinen Hengst an meine Seite. Ein struppiger Bart wucherte bis über seinen Hals, und als er den Kopf in meine Richtung drehte, blickten erdbraune Augen in meine. Mit einem Lächeln fasste er meine Schulter.

«Bringen wir es hinter uns. Im Lager wartet ein Ale auf mich.» Ein Lachen polterte aus seiner Brust, jäh unterbrochen von einem rasselnden Husten.

Furcht regte sich in meinem Bauch. «Thaleus?»

Mein General winkte ab. «Nichts, was sich nicht mit ein bisschen Ale wieder beheben ließe. Am besten legen wir los, damit ich mir bald die Kehle befeuchten kann.» Er richtete sich auf und schlug sich ein paarmal mit der Faust gegen die Brust. Was auch immer in seiner Kehle gesteckt hatte, schien gelöst, denn der Husten erstarb, mein Unbehagen jedoch blieb.

Diese Seuche – oder was auch immer es war – erwies sich als ebenso geschickt darin, meine Truppen zu töten, wie Rhyne, und wenn wir nicht bald aus diesem götterverlassenen Sumpf herauskamen, würde ich kein Königreich mehr haben, das es zu verteidigen galt.

Bevor ich noch etwas sagen konnte, stieß von der anderen Seite des Sumpfes jemand tief in ein Horn. Am Ende stieg der Klang um eine Oktave an, bevor er vollständig erstarb und damit Rhynes Angriff ankündigte. Die Erde bebte unter dem plötzlichen Donnern von Hufen und Füßen, und tausende Jadekrieger stürmten über die sumpfigen Ufer auf unsere Reihen zu.

Neben mir übernahm Thaleus das Kommando. «Bogenschützen!» Seine Stimme schallte laut und klar, und ein winziger Funke Erleichterung dämpfte meine Furcht. Wir würden überleben, um in einer weiteren Schlacht gemeinsam zu kämpfen. Wir mussten.

Auf seinen Befehl hin richteten Schützen ihre Bogen zum Himmel, dann zog Thaleus sein Schwert.

«Pfeile anlegen!» Seinem Ruf folgte das Spannen von Bogensehnen und das Klappern von Pfeilen auf Holz. Mit gestrafften Schultern hielten die Schützen ihre Position, ohne zu wanken. Ich kehrte ihnen den Rücken und stellte mich der herannahenden Bedrohung. Fasste mein Schwert fester.

«Zielen», rief Thaleus. Blut rauschte in meinen Ohren und trug den wilden Schlag meines Herzens mit sich. Langsam atmete ich ein. Und wieder aus. Wiederholte das Ganze. Geräusche verstummten, und alles, was ich spürte, war das Beben stampfender Füße. Der Zeitpunkt war gekommen.

«Pfeile los!» Auf Thaleus’ Befehl folgte eine Salve von Pfeilen, die den Himmel verdunkelte. Die Sonne verschwand, und unsere Welt war vorübergehend in Schatten gehüllt. Das leise Pfeifen von Holz und Federn sirrte durch die Luft … bis metallene Pfeilspitzen auf Rüstungen prallten, sich in Fleisch bohrten. Das unverkennbare Geräusch von zu Boden stürzenden Leibern unterbrach den gleichmäßigen Rhythmus der Kriegstrommeln Rhynes. Wütende Schreie antworteten auf unsere Attacke, sie brachen ihre Formation auf, um anzugreifen.

Thaleus gab das Signal für eine weitere Salve Pfeile, bevor er sich zu den Männern hinter uns umwandte und sein Schwert hoch über den Kopf hob. «Infanterie auf mein Kommando. Reiter auf Prinz Aleksanders. Wir werden nicht fallen!»

Die Kompanie Reiter zu meiner Linken wartete mit angehaltenem Atem, während ihre Reittiere nervös in der Erde scharrten. Unter ihnen waren drei beeindruckende Gestalten in silberner Rüstung. Schildwächter. Wilheims Elitetruppe, damit beauftragt, die Stadt und die königliche Familie zu beschützen. Eine Armee von ihnen hätte Rhynes Mannen innerhalb weniger Tage vernichtet. Stattdessen waren Tausende Männer und Frauen, Soldaten, die mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen waren, dazu gezwungen, ihr Leben zu geben, um mein Heim zu schützen.

Trotz des Krieges, trotz der Diskussionen mit meinem Vater blieben die Schildwächter von Wilheim auf den glänzenden Mauern aus Marmor und Diamant stationiert – abgesehen von diesen drei. Meine königliche Leibwache.

In mir brodelte es, aber ich schob die Wut beiseite und konzentrierte mich auf Rhynes Streitmächte. Mein Vater konnte zwar unseren Truppen die Unterstützung der Schildwächter verweigern, aber mich hinderte er nicht daran, den Angriff anzuführen.

«Für Lendria!» Der Kriegsruf entriss sich im selben Moment meiner Kehle, in dem ich meiner Stute die Sporen gab. Sie schoss vorwärts, meine Reiter folgten. Speere und Schwerter glitzerten in der Sonne, während wir auf die dichten Reihen des Feindes zustürmten. Mit jedem donnernden Hufschlag meines Pferdes schnellte mein Puls höher. Wir ritten ohne Furcht. Wir ritten ohne Zaudern. Wir ritten, ohne an irgendetwas anderes zu denken als das, was vor uns lag. Unsere Pferde preschten in die erste Welle aus Männern, Soldaten stürzten zu Boden, als wir die Linie mühelos durchbrachen.

Speere bebten und zersplitterten an Schilden, Schwerter prallten gegen Rüstungen, gegen Körper. Blut spritzte überall um uns herum, und der erdige Geruch des Sumpfes wurde bald vom Gestank nach Eisen überdeckt. Und immer noch ritten wir. Ich schwang mein Schwert in hohem Bogen, ließ es auf einen Soldaten niedersausen, auf die weiche Stelle zwischen Hals und Schulter. Er fiel zu Boden, nur um einem weiteren Platz zu machen und noch einem. Als ich nach links schwenkte, erhaschte ich einen Blick auf den Morgenhimmel, der von etwas anderem als blassem Sonnenlicht erglühte. Feindliche, in Öl und leckende Flammen getränkte Pfeile schnellten auf meine Truppe zu.

«Schilde!» Mit der freien Hand löste ich einen Schild von der Seite meines Pferdes und riss ihn über meinen Kopf. Pfeile schlugen dumpf in das weiche Holz, erhitzten die eisernen Griffe, erhitzten meine Haut. Bei jedem Treffer, der durch meine Knochen vibrierte, zuckte ich zusammen. Sobald der Pfeilhagel versiegt war, nahm ich den Arm herunter und trieb meine Stute weiter vorwärts. Das misstönende Klirren von Rüstungen auf Metall erfüllte die Luft, und ich schwang meine Klinge nach einem heranstürmenden Jadekrieger. Sein Kopf fiel zu Boden.

Einem Teil von mir wurde übel. Das Blut, das gegen die Beine meines Pferdes spritzte, verwandelte sein schneeweißes Fell in ein gesprenkeltes Rot. Das Geräusch von Tod war allgegenwärtig. Doch Krieg war nie schön, und ich wollte verdammt sein, wenn ich meine Männer in einem Kampf im Stich ließ, den ich begonnen hatte. Ob es nun Absicht gewesen war oder nicht.

Neben mir machten die Schildwächter mit unseren Feinden kurzen Prozess. Sie waren abgestiegen und hackten sich durch die Reihen. Leiber fielen in Massen um sie herum, doch sie zuckten nicht einmal mit der Wimper.

Mit flauem Magen blickte ich über die blutgetränkte Ebene. Das sumpfige Ufer und die flachen Wassertümpel hatten ein trübes, rötliches Braun angenommen, und die leblosen Augen vieler, so vieler, starrten zu mir auf. Es machte keinen Unterschied, ob ihre Rüstung aus Jade oder Stahl war, ihr Ausdruck war derselbe: verloren. Ich hasste ihn. Das hier war ein sinnloser Krieg ohne Ende, aber eine Seite musste irgendwann gewinnen. Eine Seite musste nachgeben.

Nein, wir würden durchhalten. Wir würden gewinnen.

Ein feindlicher Reiter stürmte auf mich zu, und unsere Schwerter prallten mit einem harten Klirren aufeinander. Ich hieb meine Klinge gegen seinen Oberschenkel, und das Schrammen von Metall klang mir noch in den Ohren, als er das Gleichgewicht verlor. Er rutschte im Sattel, sein Pferd wich seitlich aus. Ich wollte ihm gerade nachsetzen, da erfüllte eine strahlend helle Kugel funkelnder Magie die Luft zwischen uns mit Elektrizität. Sie versengte alles in ihrer Flugbahn, bis sie auf dem Boden aufschlug. Mein Blick schnellte zu den feindlichen Streitkräften und der einzelnen Frau, die deutlich erkennbar in ihrer Mitte stand. Sie trug eine lederne Rüstung, deren gedämpfte Braun- und Grüntöne perfekt unserer Umgebung angepasst waren. So blieb ihre Position bis zu ihrem großen Schlag getarnt. Aber nun war sie durch den Pfad aus verbranntem Gras und Schilfrohr, der geradewegs vor ihre Füße führte, nur allzu deutlich zu erkennen.

Eine Zauberin.

Die Finger krümmend, hob sie die Hände vor die Brust und beschwor einen weiteren Ball knisternder Energie herbei. Er wütete und sprühte zwischen ihren Handflächen, und sie blickte mit einem grausamen Grinsen auf.

Thaleus galoppierte pfeilschnell auf mich zu. «Wie hat Rhyne es geschafft, an eine Zauberin zu kommen?»

Mein Blick fiel auf die von Asche überzogene Erde vor uns. «Das erklärt, wie sie so mühelos durch unsere Schiffe hindurchbrechen konnten.» Zauberer interessierten sich nicht für die Kriege Lendrias. Und dennoch war sie hier und beschwor eine weitere Kugel aus Blitzen herauf, die unsere Streitkräfte mühelos vernichten könnte. Sie musste aufgehalten werden.

Ich beugte mich tief über den Hals meiner Stute, gab ihr die Sporen und galoppierte vorwärts. «Du übernimmst das Kommando über die Reiter. Ich werde mich um sie kümmern», rief ich über meine Schulter.

«Aleksander!», schrie Thaleus in meinem Rücken. Feindliche Truppen stürmten mir entgegen, doch ich mähte sie nieder, ignorierte die Galle, die mir bei diesem weiteren Blutvergießen in die Kehle stieg. Die Schildwächter waren selbst mit Magie gesegnet und jagten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinter mir her. Zum ersten Mal, seit sie mir als Leibwächter zugeteilt worden waren, flackerte Panik in ihren kaum sichtbaren Blicken auf. Ihre Bewegungen waren ruckartig, ihre tödlichen Hiebe unsauber. Wie gefährlich war diese Zauberin?

Wie als Antwort erreichte die glühende Kugel zwischen ihren Finger schließlich ihre volle Größe. Mit einem Schrei, der sich über die dröhnenden Hörner und wummernden Trommeln erhob, schleuderte die Zauberin sie direkt auf mich zu. Im letzten Moment riss ich mein Pferd zur Seite. Die fauchende Masse aus Energie zischte an mir vorbei, versengte jedoch die linke Seite meiner Rüstung. Hitze kochte meine Haut, und ich schrie auf, während meine Stute ein ängstliches Wiehern von sich gab, sich aufbäumte. Es gelang mir nicht, rechtzeitig die Zügel zu greifen, sodass ich das Gleichgewicht verlor und auf den Boden prallte. Rötlicher Schlamm quoll durch die Ritzen meiner Rüstung und über meine Haut. In meinem Blickfeld tanzten schwarze Punkte, das Schilfrohr vor meinen Augen verschwamm, und ein dumpfes Klingeln hallte in meinem Schädel wider.

Irgendwo hinter mir schrien die Schildwächter. Wir hatten uns vom Großteil unserer Truppen entfernt, und eine Flut feindlicher Fußsoldaten sammelte sich, um den Vorteil auszunutzen. Ich rollte zur Seite, wich dem tödlichen Hieb eines Schwerts aus und riss einem Jadekrieger die Beine unter dem Körper fort. Er antwortete mit einem schnellen Schlag gegen meinen Kiefer, nagelte mich mit seinem Gewicht auf dem Boden fest, um sein Schwert in rasender Geschwindigkeit niedersausen zu lassen. Ich wehrte es mit meiner Klinge ab und verzog das Gesicht. Das dumpfe Brennen verwandelte sich in meinem Arm in lodernden Schmerz, der sich bis in die Knochen fraß. Stöhnend nahm ich all meine Kraft zusammen und stieß ihn von mir. Er fiel auf den Rücken, und meine Klinge traf seine Halsschlagader. Ein feuchtes Gurgeln spritzte über seine Lippen, und dann erschlaffte er. Tot. Ich rappelte mich auf, stolperte ein kurzes Stück vorwärts, bis ein vertrautes Anschwellen statischer Elektrizität die Luft erfüllte.

Wenige Schritte entfernt lächelte die Zauberin. «Und nun wird dieser Krieg endlich aufhören.»

Ich hatte keine Zeit, ihrem Angriff auszuweichen. Meine Kraft schwand bereits, und auch wenn mich ihr erster Versuch verfehlt hatte, diesem würde ich nicht entkommen. Das Letzte, was ich sehen würde, war ihr klaffendes Grinsen auf blutbefleckter Haut. Ich biss die Zähne zusammen, kreuzte in einem aussichtslosen verzweifelten Versuch, mein Herz zu schützen, die Arme vor der Brust.

Und dann brach eine Klinge, so schwarz, dass sie aus der Nacht selbst geschmiedet sein musste, zwischen ihren Rippen hervor. Ihre Magie erstarb augenblicklich. Stattdessen rang sie nach Luft, versuchte sich gegen einen Angriff zu wehren, den keiner von uns hatte kommen sehen. Sie warf einen letzten Blick auf mich, während Blut aus ihrem Mund sickerte. Erst sank sie auf die Knie, dann fiel sie tot zu Boden.

Mit einem langsamen Blinzeln konzentrierte ich meinen Blick auf die Stelle hinter ihr. Dort stand ein schwarz gekleideter Mann, völlig reglos. Seine behandschuhten Finger umfassten eine schwarze, in Rot getauchte Klinge. Meine Verwirrung ließ die Bedrohung der Schlacht verblassen, und vorsichtig machte ich einen Schritt vorwärts. Er trug die Kleidung eines adeligen Wilheimers, mit Brokat und filigranen Mustern in feiner Stickerei auf seiner Weste. Seine Schuhe waren bemerkenswert sauber, seine Kleider zeigten nur kleinste Anzeichen von Schmutz und Blut. Da er keinen Helm trug, war seine gekonnt frisierte Haartolle zu sehen, aus der sich trotz des Windes nicht ein einziges Haar gelöst hatte.

Mit einem gequälten Seufzer rückte er seine silbergefasste Brille zurecht. «Danke, dass Ihr sie abgelenkt habt, Prinz Aleksander.»

«Ihr seid es, dem Dank gebührt.» Mit einem raschen Blick hinter mich sah ich, dass meine Wachen sich um unsere Feinde in der Nähe gekümmert hatten und nun wartend die Entfernung zwischen mir und diesem geheimnisvollen Assassinen abschätzten. War er eine Bedrohung? Er trug kein Emblem, das irgendeine Zugehörigkeit verriet. Keine Farben einer der beiden Armeen. Und doch hatte er mir das Leben gerettet. Als Zeichen des Vertrauens steckte ich mein Schwert in die Scheide. «Warum habt Ihr die Zauberin getötet? Seid Ihr Lendrianer?»

«Lendrianer?» Bedächtig zog der Mann eine Augenbraue hoch. «Ich nehme an, nach geographischen Gesichtspunkten lautet die Antwort Ja.»

Geographischen Gesichtspunkten? Ich runzelte die Stirn. «Ich verstehe. Dann solltet Ihr mit mir ins Lager zurückkehren. Ich würde Euch gern für Euren Mut belohnen.»

«Das wird nicht nötig sein.» Mit einer schwungvollen Geste verschwand seine Klinge. In eine versteckte Scheide? Ich konnte es nicht erkennen, da sie ebenso schwarz sein musste wie seine Kleidung. Der Mann strich sich über die Weste, bis er auf ein verirrtes Körnchen Schmutz traf. Er schnippte es fort. «Es scheint, als gehöre dieser Sieg Euch.»

Er deutete auf das Schlachtfeld. Irgendwann nach meiner Konfrontation mit der Zauberin waren die Trommeln und Hörner verstummt. Der Wind wehte immer noch Schmerzensschreie herüber, aber die Nervosität des Kampfes war vorbei. Das Getöse fort. Die Penumbra-Felder waren ein Ödland aus Blut und Knochen. Wir hatten die Stellung gehalten und die Stadt Moeras beschützt, aber nicht ohne Verluste. Als das letzte bisschen Adrenalin aus meinem Körper wich, kroch Erschöpfung tief in meine Knochen, und ich stieß einen leisen Seufzer aus.

Langsam drehte ich mich wieder zu dem Mann um. «Scheint so.»

Er nickte knapp, ein schroffes Senken seines Kinns. «Ich muss gehen. Bleibt wachsam, Prinz Aleksander.»

Er trat rückwärts in etwas Dunkles, das mich an eine Ölpfütze erinnerte. Rhyne musste es beim Tränken seiner Pfeile eilig gehabt haben. Mit ein paar schnellen Schritten überwand ich den Abstand zwischen uns. «Wartet. Ich bestehe darauf, dass Ihr mit mir ins Lager zurückkommt, damit ich mich angemessen bei Euch bedanken kann.»

Etwas huschte durch seinen eisgrünen Blick. «Wie ich schon sagte, das ist nicht nötig. Ich bin ein Mitglied Cruors. Die Zauberin war ein Auftrag. Ich kann den Beweis erbringen, falls erforderlich.»

Cruor?

Mein Vater hatte einst eine Gilde von Elite-Assassinen erwähnt, die am Rand unseres Landes lebte, aber ich hatte dem keine Beachtung geschenkt. Die Gerüchte, die sich um ihre Fähigkeiten rankten, waren genau das – Gerüchte. Niemand konnte mit den Schatten verschmelzen. Niemand konnte Waffen aus der Nacht formen.

Und doch …

Ich starrte auf den dunklen Fleck unter seinen Füßen. Glänzend wie Tinte und doch flüchtig wie Nebel ringelte er sich in kleinen Schwaden empor. Und die Klinge, war das eine ihrer berüchtigten Waffen gewesen? Etwas wahrhaftig aus dem Tod selbst Geschaffenes? Neugier regte sich tief in meiner Brust, und ich nahm den Helm ab. Schneeweißes Haar fiel mir in die Augen, und ich strich es beiseite. «Ein Beweis wird nicht nötig sein. Aber ich möchte immer noch, dass Ihr mit uns ins Lager zurückkehrt. Zum Dank und … damit ich mehr über Euch und Eure Arbeit erfahren kann.» Ich wartete einen Moment, um zu sehen, ob er antwortete, aber er sah mich nur mit ungläubigem Gesichtsausdruck an. «Wie heißt Ihr?»

Der Blick des Mannes wankte. «Kostya, mein Prinz.»

Grinsend streckte ich ihm die Hand hin. «Nenn mich Aleksander. Es gibt hier schon genug Leute, die mich mit Prinz ansprechen.»

Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, als denke er über die Bitte nach. Schließlich nahm er meine Hand und schüttelte sie. «Die Bitte eines Mitglieds der Königsfamilie kann ich unmöglich ablehnen. Wollen wir?»

«Nein, das kannst du wirklich nicht», scherzte ich. Als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, versteifte er sich. Sofort nahm ich meine Hand wieder fort, blieb jedoch an seiner Seite, während wir die Marschebene überquerten. Dabei warf ich ihm gelegentlich einen neugierigen Blick zu.

Ein Mann, aus Schatten geboren. Ein Mann, aus Tod geboren. Die Götter allein wussten, was für ein Leben er führte – aber ich brannte darauf, es herauszufinden.

Kapitel 2NOC

Gegenwart

Dünne Wolken bedeckten den dunkler werdenden Himmel über Cruor. Mit dem Untergang der Sonne hinter den spitzen Baumwipfeln brachen die markerschütternden Schreie von Monstern los, doch sie waren nicht so verstörend wie die leblosen Körper, die vor mir lagen. Ich erweckte die Toten nicht gern, aber es musste getan werden. Neben mir standen Calem, Kost und Ozias mit stoischen Mienen bereit.

Ich atmete langsam aus und rieb mir den Nacken. «Sind das alle?» Widerwillig bereitete ich mich auf diese makabre Aufgabe vor.

Kost nickte knapp. «Wir könnten natürlich noch mehr suchen, aber –»

«Nein. Schon gut.»

Er verlagerte sein Gewicht vom linken Fuß auf den rechten. «Darriens Untreue macht alle nervös – ganz zu schweigen von der Anzahl an Leuten, die mit ihm gegangen sind. Unsere verbliebenen Mitglieder haben Angst. Wir sollten in Betracht ziehen, noch mehr aufzutreiben.»

Ich warf ihm einen eisigen Blick zu. «Es gibt Regeln, Kost. Und ich weigere mich, diese Regeln zu brechen, nur um unsere Reihen aufzustocken.»

«Wir werden schon klarkommen.» Ozias legte mir eine kräftige Hand auf die Schulter, was den aufkeimenden Missmut in mir vertrieb. «Selbst wenn unsere neuen Familienmitglieder keine Kopfgeldaufträge annehmen wollen, können wir ihnen beibringen, wie sie Cruor mit Hilfe der Schatten schützen können.»

«Er hat recht.» Calem schenkte mir ein entspanntes Lächeln. «Wir haben das im Griff.»

Mit einem Nicken richtete ich den Blick wieder auf die Toten, die zu meinen Füßen lagen. Mit offenen Mündern, die Augen wild und verloren. Der Gestank nach Eisen und verwesendem Fleisch stieg mir in die Nase, und ich biss die Zähne zusammen. Wir hatten drei Tage Zeit, um eine Leiche wiederzuerwecken, bevor unsere Magie nicht mehr wirkte. Diese Leichen näherten sich ihren letzten Stunden.

Ich kniete mich neben den ersten Mann und zwang die Macht von Zane, aus meinem Innersten in meine Fingerspitzen zu strömen. Die Nägel meiner rechten Hand formten sich zu spitzen Klingen, die schärfer waren als Schwerter. Entschlossen schlitzte ich die Brust des Mannes auf, durchschnitt mit einer Bewegung die Knochen. Sein regloses Herz nahm mein ganzes Blickfeld ein.

Nun ritzte ich mir die Handfläche auf und träufelte Blut über die Wunde. Meine Macht, Zanes Macht, Leben zurückzubringen, sickerte in den Mann hinein. Das Herz schlug einmal. Ein einziger quälend langsamer und bebender Schlag.

Dann pumpte das Herz erneut, diesmal mit mehr Eifer und weniger Mühe. Sobald der Rhythmus gleichmäßig war, legte ich meine Hand flach auf die offene Brust des Mannes und zwang die Wunde, sich wieder zu schließen. Als ich die Hand fortnahm, blieb nichts als blutverschmierte glatte Haut zurück. Erschöpfung erfasste mich jäh und heftig, und meine Schultern sanken vorwärts.

Noch drei weitere.

Kost, Calem und Ozias warteten schweigend, bis ich fertig war. Bis die vier Körper vor mir wieder eigenständig atmeten. Mit den geschlossenen Augen sahen sie aus, als würden sie schlafen. Aber ich erinnerte mich noch, wie dieser Augenblick für mich gewesen war. Wie die Dunkelheit des Todes angefangen hatte, sich in etwas Unvertrautes und Graues zu verändern, bis Talmage mich aus alldem erweckt hatte.

Gerade als der Mond über den dunklen Kitskaforst aufstieg, räusperte ich mich. «Erwacht.»

Es war ein so leiser, schlichter Befehl, und dennoch wogte er mit einer elektrisierenden Welle der Energie durch uns hindurch, über uns hinweg. Hinter uns sog Calem scharf die Luft ein, und mein Kopf fuhr zu ihm herum. Der silberne Rand um seine geweiteten rötlichen Augen wurde breiter, und er verkrampfte sich. Besorgt spannten Kost und Ozias sich an und traten näher zu ihm.

«Calem?» Mein Blick flog zwischen ihm und den neuen Assassinen, die zu meinen Füßen erwachten, hin und her.

Ein Schauer durchlief ihn von Kopf bis Fuß, dann schüttelte er den Kopf, wie um eine schlimme Erinnerung zu verscheuchen. Die silberne Färbung seines Blicks verschwand, als unsere frisch auferweckten Brüder und Schwestern begannen, zu husten und zu keuchen.

Mit angespannten Schultern wandte ich mich ihnen wieder zu. Calem konnte einstweilen warten. «Willkommen zurück.»

Die Menschen vor uns waren alle grundverschieden, dennoch hatte ich jedem von ihnen gerade dasselbe Los beschert: ein Leben als Assassine von Cruor. Der erste Mann war ein Händler aus Wilheim, der sich den Ruf eines Betrügers eingehandelt hatte. Er hatte den Falschen um einen kostbaren, von einem besonders geschickten Zauberer gewebten Teppich betrogen, wodurch er unser nächster Auftrag geworden war.

Er rappelte sich vom Boden auf und rückte seine nun zerrissene mitternachtsblaue Tunika zurecht. Zitternde Finger versuchten in einer bizarren Demonstration von Scham die silbernen Knöpfe zu schließen. Auf halbem Weg gab er auf und ließ seine Finger stattdessen bebend herabhängen.

Die Frau neben ihm tat es ihm mit argwöhnischem Blick gleich. Das kurze Haar stand ihr struppig vom Kopf ab, und sie verschränkte die Arme mit einem Ausdruck purer Herausforderung vor der Brust, um die entblößte Haut zu verdecken. Die beiden noch verbliebenen waren mit ihren zerlumpten Tuniken und farblosen Hosen eher zweckmäßig als ansprechend gekleidet. Sie hielten sich starr vor Angst aneinander fest und suchten Trost in der Berührung des anderen.

Ich schob die Hände in die Taschen meiner weiten Hose und nickte ihnen zu. «Ihr habt eine zweite Chance bekommen, auf ein Leben als Mitglied von Cruor.»

Der ältere Mann hustete. «Cruor? Die Gilde der Assassinen?»

«Ja.»

«Ich verstehe …» Er kratzte sich am Kinn. «Ist Darrien da?»

Mein Rücken versteifte sich. «Woher kennst du Darrien?»

«Er war ein Kunde von mir. Hab ihm vor ein paar Jahren einen seltenen Wandteppich verkauft.»

Unruhig zuckten seine tiefblauen Augen vom Herrenhaus zu mir und wieder zurück. Nervosität war nicht ungewöhnlich für frisch Auferweckte. In unsere Realität zurückgerissen zu werden war erschütternd. Und doch …

«Wie heißt du?»

«Quintus», antwortete er.

Sein Name kam mir nicht bekannt vor, aber ich hatte ihn tatsächlich noch nie an irgendeinem ehrbaren Verkaufsstand gesehen. Es war nicht sonderlich überraschend, dass Darrien zwielichtige Beziehungen außerhalb von Cruor unterhielt. Was er mit seinem Geld anstellte, war seine Sache. Aber wenn dieser Händler glaubte, geschäftliche Beziehungen zu Darrien würden meine Gunst einbringen, dann irrte er sich gewaltig.

«Darrien ist nicht mehr unter uns.»

«Ah.» Gewichtige Stille dehnte sich zwischen uns aus, dann runzelte er die Stirn. «Es … tut mir leid, das zu hören. Mein Beileid.» Falls er irgendwelche herzlicheren Gefühle für Darrien hegte, ließ er es nicht erkennen. Und ich war nicht scharf darauf, sein Missverständnis zu korrigieren. Er schüttelte kurz den Kopf, dann klärte sich seine Miene auf. «Wo wir gerade vom Tod sprechen, ich habe noch nie eine Waffe auch nur in der Hand gehalten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich für diese Art von Arbeit geschaffen bin.»

«Du musst nicht töten, wenn du nicht willst.» Ich verlagerte mein Gewicht auf die Fersen und sah jeden Einzelnen von ihnen eindringlich an. «Ich werde keinen von euch dazu zwingen. Es gibt andere Möglichkeiten, euren Unterhalt zu verdienen.»

«Müssen wir hierbleiben?» Die Stimme der Frau war überraschend leise.

«Nein, aber ich würde es dringend raten. Niemand sonst kann euch beibringen, die Schatten so zu beherrschen wie wir. Und niemand sonst wird die inneren Kämpfe so verstehen wie wir. Hier werdet ihr akzeptiert. Da draußen», ich deutete in Richtung Wilheim, «werdet ihr ausgestoßen.»

«Scheint mir, als wären wir tot besser dran gewesen», sagte Quintus spöttisch.

Ich zuckte mit der Schulter. «Das lässt sich arrangieren. Falls ihr lieber in den Tod zurückkehren wollt, als dieses Leben zu führen, akzeptiere ich das. Es würde schnell gehen. Schmerzlos.»

Das Pärchen schnappte gemeinsam nach Luft, und der junge Mann drückte den Kopf der Frau an seine Brust. Mit einem Funken Kühnheit sah er mir in die Augen. «Wir hatten nie die Chance, zu leben. Nicht zusammen.»

«Ich weiß. Deshalb seid ihr hier – eure Familien haben dafür gezahlt, euch erwecken zu lassen. Um euch diese Chance zu geben.» Einen Moment lang wanderten meine Gedanken zu der Frau, die in unserem Zimmer auf mich wartete. Leena. Ich hatte sie durch Cruor gefunden, und nun konnte dieses Paar ebenfalls Glück zusammen finden. Solange sie nie wieder nach Hause zurückkehrten. Ich räusperte mich. «Gleichwohl seid ihr in eurer alten Stadt nicht mehr willkommen. Eure Verwandten haben deutlich gemacht, dass die Menschen dort euer neues … Leben nicht akzeptieren werden.»

Der junge Mann unterdrückte ein Schaudern. Mit einer angespannten Grimasse nickte er knapp. «Dann bleiben wir. Aber ohne zu töten.» Er blickte auf die Frau hinunter, deren feuchte braune Augen seine Gefühle widerspiegelten. Mit einem beinahe unmerklichen Nicken stimmte sie zu.

Die Frau mit den kurzen Haaren zuckte die Schultern. «Ich werde töten, wenn es sein muss. Aber ich weiß ganz sicher, dass keiner dafür gezahlt hat, mich wiedererwecken zu lassen. Also, warum zur Hölle bin ich am Leben?»

In ihrem teakholzfarbenen Blick brannte ein Feuer, das ich zu erkennen gelernt hatte: Widerstandsfähigkeit. Sie war eine Überlebenskünstlerin. Eine Kämpferin. Und ihrer drahtigen Figur und den Armmuskeln nach zu urteilen, war sie nicht abgeneigt, den einen oder anderen Schlag auszuteilen.

Die Anspannung in meinen Schultern löste sich, und ich zog eine Augenbraue hoch. «Zwei Gildenmitglieder haben von deinem Tod gehört und mich gebeten, dich wiederzuerwecken. Haben mir praktisch mit Mord gedroht, falls ich es nicht tue. Iov und Emelia bekommen meistens, was sie wollen.»

Ihr fiel die Kinnlade runter. «Iov und Emelia sind Assassinen? Dann bin ich verdammt noch mal auch dabei. Wo sind sie?»

Lachend schüttelte ich den Kopf. «Alles zu seiner Zeit.»

«Ich bin immer noch nicht überzeugt.» Quintus starrte erst mich und dann meine Brüder finster an, und mein Lächeln wurde zu einer Grimasse. «Warum bin ich hier?»

«Du warst eine Begleiterscheinung eines Auftrags. Jemand wollte deinen Tod und dich dann wiedererwecken lassen, damit du mit dem Wissen um dein Dahinscheiden weiterlebst.»

Er schwieg einen kurzen Moment, als denke er über meine Antwort nach, dann reckte er das Kinn. «Und du bist was, unser Anführer? Ich kenne dich nicht mal.»

Calem trat drohend einen Schritt nach vorn. «Hüte deine Zunge», zischte er. Seine Nasenlöcher bebten, und blonde Strähnen lösten sich aus seinem lockeren Haarknoten. Der silberne Rand um seine Iris loderte auf. Er war stets bereit zu kämpfen. Ozias packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück, während Kost kaum merklich näher rückte.

Vielleicht war es Calems jäher Ausbruch, oder Quintus’ offenkundige Geringschätzung oder vielleicht die Erinnerung daran, dass Darrien sogar in diesem Moment gegen uns arbeiten konnte. Was auch immer der Grund war, ein dunkler Impuls durchflutete mich, und ich streckte den Arm aus. Es juckte mich in den Fingern, sie zur Faust zu ballen. Meinem Blut im Kreislauf des Händlers zu befehlen, zum Stillstand zu kommen. Phantomschmerz brannte an der Innenseite meines Handgelenks.

Kosts Blick, weit aufgerissen und voller Entsetzen, sandte eine Welle der Panik und Unsicherheit durch mich hindurch, und ich ließ die Hand wieder sinken.

Mein Blut zu benutzen, um Quintus seines freien Willens zu berauben, seiner Fähigkeit zu atmen, sollte mir nicht einmal in den Sinn kommen. Und dennoch, einen Moment lang … Mein Blick fiel auf die Sense, die tintenschwarz in mein Handgelenk eingebrannt war. Der Eid. War seine Magie daran schuld?

Kost räusperte sich und übernahm das Wort. «Falls dir dieses Leben missfällt, kann Noc es rasch und schmerzlos beenden. Davon abgesehen wird solch unverhohlene Respektlosigkeit in Cruor nicht toleriert.»

«Das hier ist unser Zuhause», sagte ich, während ich meine schwankenden Gefühle wieder unter Kontrolle brachte, und biss die Zähne zusammen. «Wenn du Unruhe stiftest, haben wir ein Problem. Verstanden?»

Quintus erbleichte und brachte ein zittriges Nicken zustande.

«Gut.»

Nachdem unsere neuen Mitglieder sicher wiedererweckt und einigermaßen mit ihrem neuen Schicksal einverstanden waren, wich das Adrenalin aus mir. Ein tiefer Schmerz sank in meine Knochen, und meine Lider wurden schwer.

Ozias klatschte in die Hände und trat vor die neuen Rekruten. «Also gut, dann sehen wir mal zu, dass wir euch alle sauber bekommen und euch eure Zimmer zuweisen.» Calem schloss sich ihm an, ein leichtes Lächeln auf den Lippen und ohne eine Spur der Fremdartigkeit von vorhin in seinen Augen. Kost schubste mich sanft in Richtung Haus, und wir beide gingen gemeinsam zurück.

«Was war das vorhin?», fragte er mit leiser Stimme.

«Nichts.» Ich drehte mein Handgelenk. Da war immer noch eine leichte Wärme um das Mal herum, die ich nicht abschütteln konnte.

«Das war nicht nichts. Es ist der Eid, nicht wahr?» Mit wissendem Blick musterte er das verdammte Mal.

«Kann sein.» Niemand hatte Cruors Eid bisher je missachtet. Wann immer wir einen Kopfgeldauftrag annahmen, erschien das Mal und blieb so lange auf unserer Haut, bis der Auftrag erledigt war. Wenn wir versuchten, unser Versprechen zu brechen, kostete das im Gegenzug unser Leben. Niemand hatte solch ein Schicksal bisher riskiert. Wir hatten keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis mein Leben endete … oder was in den Tagen vor meinem unausweichlichen Schicksal mit mir passieren würde.

«Noc …»

«Ich möchte nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht.» Vor dem Hintereingang von Cruor blieb ich stehen. Ich wollte vermeiden, dass irgendjemand drinnen unsere Unterhaltung belauschte. «Es gibt noch keinen Grund zur Besorgnis. Ich bin immer noch ich. Ich habe immer noch die Kontrolle. Ich bin nur … Ich brauche nur ein bisschen Ruhe.» Meine Gedanken wanderten zu Leena. Zu ihrer tröstlichen Berührung und ihrer sanften Ermutigung.

Kost zögerte, doch schließlich nickte er. «Dann besprechen wir die Aufträge morgen früh.» Schon allein der Gedanke, weitere Kopfgeldaufträge zu verteilen, verstärkte meine Müdigkeit, und schwach fuhr ich mir mit einer Hand übers Gesicht. Wir hatten zu viele Aufträge und nicht genug willige Assassinen. Aber ich würde niemals jemanden zwingen, Cruors Eid anzunehmen, besonders nicht, während ich selbst nach einer Möglichkeit suchte, der Last meines eigenen zu entkommen.

«Stell mir eine Liste aller zusammen, die bereit sind. Ich werde sie dann gleich morgen früh durchgehen.»

«Natürlich.» Damit verschwand er in einer Wolke aus Schatten.

Ich machte mich vollkommen erschöpft auf den Weg in mein Zimmer. Ich musste mich dringend erholen, und doch wurde mir das Herz warm beim Gedanken, Leena wiederzusehen.

Ich würde mich nie an den Anblick von Leena in meinem Bett gewöhnen. In unserem Bett. Einen Moment lang konnte ich nicht anders, als sie anzustarren. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Wangen schwach gerötet. Mit nichts weiter am Leib als einem meiner weißen Arbeitshemden sah sie aus wie eine Göttin – trotz ihres zerzausten Haars. Sie hatte sich die seidenen Laken bis zu den Knöcheln hinuntergestrampelt, aber ihre Zehen blieben zugedeckt. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie beim Schlafen herausschauten. Über diese kleine Entdeckung musste ich schmunzeln. Wir waren immer noch dabei, so viel Neues übereinander zu erfahren. Zu verstehen. Zusammenzuwachsen. Es war erst drei Tage her, seit wir aus Hireath nach Cruor zurückgekehrt waren, und wenn die Gilde nicht meine ständige Aufmerksamkeit gefordert hätte, ich hätte jeden wachen und schlafenden Augenblick mit ihr verbracht.

Auf dem Nachttisch aus Eichenholz neben ihr flackerte eine Kerze, deren Docht beinahe komplett heruntergebrannt war. Der schwache orangefarbene Schein spielte schimmernd auf den silbernen Lettern eines Buchs, das aufgeklappt mit den Seiten nach unten auf dem Holz lag. Zauber der Worte. Ich erinnerte mich noch daran, wie sie vor einer gefühlten Ewigkeit versucht hatte, durch die Bibliothek zu schleichen, um mich beim Lesen zu beobachten, damals, als wir noch Fremde gewesen waren.

Nun war sie kein Rätsel, kein fehlendes Puzzleteil mehr für mich – ich wusste, wohin sie passte. Wohin wir beide passten. Noch nie hatte ich mich so vollständig gefühlt.

Die Kerze flackerte, als die Flamme noch mehr von ihrem Docht verzehrte, und ihr Gesicht wurde kurz von Schatten überzogen. Sie stehen ihr gut.

Der scharfe Geschmack von Galle trat mir auf die Zunge. So durfte ich nicht denken, aber … Sie war so quälend sterblich. Um ein Haar hätte ich sie durch Wynns Zähmung verloren. Sie hätte sterben können. Und ich hatte gerade erst erfahren, wie es war, wieder jemanden im Arm zu halten. Was es bedeutete, wie es sich anfühlte, Liebe und Zuneigung ohne tödliche Folgen zum Ausdruck zu bringen.

Ich durfte sie nie wieder verlieren.

Ein leises Summen kam über Leenas leicht geöffnete Lippen. «Noc.» Sie drehte sich auf die Seite, streckte den Arm zu der Stelle aus, wo ich liegen sollte, und krümmte die Finger. Ein stummes Herbeiwinken. Ich streifte meine Kleider ab und ließ sie auf den schneeweißen Bettvorleger fallen, der die Holzdielen bedeckte. Langsam schlüpfte ich ins Bett, dabei gab die Matratze unter meinem Gewicht nach, wodurch Leena mehr in die Mitte rutschte.

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken, und schlug die Augen auf. Und verdammt wollte ich sein, wenn sie bei meinem Anblick nicht aufleuchteten. Die schwache Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Lippen, und sie hob das Kinn in meine Richtung. «Na, du.»

«Anam-cara.» Die uralte Bezeichnung der Tiermagier für denjenigen, mit dem sie den Paarbund eingegangen waren. Leena hatte mich gewählt. Nach so vielen Jahren, in denen ich meine Gefühle weggesperrt hatte, wurde mir schon allein bei dem Gedanken warm ums Herz. Ich hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel.

Zufrieden kuschelte sie sich an meine Brust. «Ich liebe dich.»

«Ich liebe dich auch.»

Sie lehnte sich zurück, um mich ganz ansehen zu können, und runzelte die Stirn über das, was sie auf meinem Gesicht las. «Langer Tag?»

«Und wie.» Die Toten herbeizuschaffen hatte einige Zeit in Anspruch genommen, ganz zu schweigen von der körperlichen Anstrengung, sie tatsächlich wiederzuerwecken. Ich legte die Arme um sie und erlaubte der Last meiner Sorgen, von mir abzufallen. Einen Moment lang hielten wir einander einfach nur fest und fanden Trost in dem Schweigen, das sich zwischen uns ausdehnte. Die Laken raschelten, als Leena sich enger an meine Seite schmiegte und den Kopf auf meine Brust legte. Ihr Atem war warm auf meiner Haut, und sie streichelte leicht mit einem Finger über mein Brustbein. Ich merkte, dass sie noch mehr sagen wollte, dass sie herausfinden wollte, warum mein Tag so anstrengend gewesen war, aber sie gab mir Zeit und erkundete stattdessen langsam meinen Körper.

Minuten zogen sich dahin, bis sie schließlich seufzte und die Hand flach auf mich legte. «Ist irgendetwas passiert?»

Ich legte meine Hand über ihre. «Nein, nichts Besonderes.»

Sie schlüpfte aus meiner Umarmung und richtete sich in eine sitzende Position auf. Durch die Bewegung rutschte der Kragen des Hemds an ihrer Schulter herunter und entblößte geschmeidige Haut. «Was ist es dann?»

Mit dem Daumen zeichnete ich sanft den Schwung ihres Halses nach. «Mir geht einfach gerade viel durch den Kopf.»

«Zum Beispiel das, was du in Hireath erwähnt hast? Über deine Vergangenheit?»

Ich erstarrte. «Nein. Nicht das.»

«Du kannst mir vertrauen, weißt du. Ich will alles über dich wissen.» Sie legte mir eine Hand an die Wange und streichelte mit zarten Fingern über die schwache halbmondförmige Narbe an meinem Wangenknochen. «Wie das hier – woher hast du die?»

Sie kam immer wieder auf meine Vergangenheit zurück, zu dem Teil von mir, den ich nicht bereit war, mit ihr zu teilen. Mein früheres Leben musste verborgen bleiben – so lautete die Regel der Assassinen von Cruor. Und außer Kost wusste niemand etwas über meine Vergangenheit. Es war sicherer, meine Identität geheim zu halten. Ganz besonders für meine unglaublich sterbliche Anam-cara.

In Hireath hatte ich ihr versprochen, alles mit ihr zu teilen. Dass es mir nun so schwerfiel, die Worte – den Mut – zu finden, zeigte, wie groß das Risiko war.

Sie lehnte sich näher zu mir, sodass ihr Atem sanft über die kleine Narbe an meiner Wange streifte. «Erzähl mir wenigstens davon.»

Mich durchlief es heiß und kalt, und ich setzte mich auf, damit ich die Lippen in ihre Halsbeuge pressen konnte. «Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war noch ein kleiner Junge, es passierte beim Kampftraining mit meinem Vater.» Ich knabberte an ihrer Haut, und sie erschauderte. «Er hat mich mit der Spitze seines Schwerts geritzt. Meine Mutter hätte ihn dafür beinahe kastriert.» Beim Gedanken an meine längst verstorbenen Eltern schnürte mir jäher Schmerz die Brust zu. Wären sie noch am Leben, was würden sie jetzt wohl von ihrem Sohn denken?

Leena schien das gewaltige Gewicht, das plötzlich auf uns lastete, nicht zu spüren. «Wie waren sie so? Deine Eltern?»

Meine Lippen verharrten über ihrem Schlüsselbein, und ich versteifte mich. «Sie waren großartig.» Ich streichelte über die weichen Kurven ihrer Hüfte. Als meine Finger näher zu ihren Oberschenkeln wanderten, wölbte sie sich meiner Hand entgegen.

«Erzähl mir von ihnen.»

«Jetzt?»

Sie nickte. «Ich will etwas über deine Vergangenheit erfahren.»

Meine Vergangenheit. Der schwere Silberring an meinem Finger blitzte im Kerzenlicht auf, sein rechteckiger Smaragd war ein perfekter magischer Käfig, der um jeden Preis intakt bleiben musste. Ich zog meine Hand fort und schaute zur Decke. «Ich bin glücklich mit dem Leben, das ich jetzt habe. Das vor Cruor war voller Kummer. Viele Menschen, die ich geliebt habe, sind gestorben.»

«Ich will trotzdem etwas darüber wissen.» Sie nahm mein Kinn und zwang mich, ihrem unnachgiebigen Blick zu begegnen. So viel Feuer. Mir stockte das Herz, als sie meine Verteidigungsmauern fortriss und ich wund zurückblieb. «Warum ist es so schwer, darüber zu reden?»

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. «Weil mir nicht gefällt, wer ich war.»

Ihr Lächeln als Antwort darauf war so unglaublich zärtlich. «Noc, dieses Leben, das ich habe, hier …» Sie deutete auf die Wände Cruors, bevor sie ihre Hände in meine legte. «Das hätte ich nicht, wenn du nicht hier gelandet wärst. Wenn du nicht alles durchgemacht hättest, was du durchgemacht hast. Ich liebe dich jetzt, weil du der bist, der du bist, und dieser Mensch wärst du nicht ohne deine Vergangenheit.»

«Aber der Schaden, den ich angerichtet habe –»

«Ich werde immer dich sehen, Noc. Dich, nicht das Ungeheuer, für das du dich hältst.»

Ich nahm ihr Gesicht in die Hände, und Wärme keimte in meiner Brust auf. «Ich liebe dich.»

Und doch … ich war schon einmal egoistisch gewesen. Ich hatte die Vernunft in den Wind geschlagen, mir erlaubt, etwas zu empfinden, und sie so beinahe umgebracht. Der Fluch mochte zwar fort sein, aber Cruors Eid war es nicht. Die kräftige Zeichnung einer onyxschwarzen Sense verspottete mich von der Innenseite meines Handgelenks. Eines Tages, wenn dieser Kopfgeldauftrag Geschichte war, wenn dieses eine Problem – eins unter vielen – aus der Welt geschafft war, würde ich es vielleicht riskieren, uns einer weiteren Herausforderung zu stellen.

«Ich liebe dich auch.» Leenas müder Blick glitt von meinem Gesicht zu meinem Handgelenk. Sie starrte den Eid böse an, hauchte aber dennoch einen sanften Kuss darauf. «Wir werden das da schon los.»

«Das werden wir.» Ich wollte es glauben. Ich musste es glauben.

Kein einziges Mitglied meiner Gilde hatte je der Magie des Eids getrotzt. Wir hatten keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis das Beil niedersausen würde. Aber wenn meine Vergangenheit mich etwas gelehrt hatte, dann dass der Hieb kommen würde. Die Frage war nur, wann.

«Hey. Lass uns schlafen. Wir können später reden, aber wir werden darüber reden. In Ordnung?»

Seufzend ließ ich mich auf die Matratze fallen und zog sie an meine Brust. «Versprochen.»

Sie antwortete mit einem schnurrenden Brummen über meinem Herzen. «Gut.»

Friedliche Stille dehnte sich zwischen uns aus, und ich streichelte ihr Haar, während ich die sterbende Kerzenflamme betrachtete. Träge Finger glitten hinunter zu ihrer Taille, und meine Lider wurden schwer. Ihr gleichmäßiger Atem lullte meine Sinne ein wie ein Schlaflied, und mein Bewusstsein glitt langsam davon. Beinahe hätte ich den schrillen Schrei eines Monsters aus dem Wald nicht gehört, doch er schnitt durch Leenas leise Atemgeräusche und riss mich von den Ufern des Schlafs zurück. Langsam öffnete ich die Augen und stellte fest, dass die Balkontüren offen standen. Ein schwacher Wind spielte mit den dicken Vorhängen.

Ein missmutiges, schläfriges Murmeln kam Leena über die Lippen. Sie musste den Schrei ebenfalls gehört haben. Mit einem leisen Lachen machte ich mich von ihr los und ging durchs Schlafzimmer zu den geteilten Vorhängen. Der Mond hing tief über dem Kitskaforst, sein kühles elfenbeinfarbenes Licht versuchte verzweifelt, das Unterholz zu durchdringen, aber das dichte Gezweig der knorrigen Bäume war zu einer undurchdringlichen Barriere aus krummen Ästen und flatternden Blättern verflochten. Ein leises Heulen durchbrach die andächtige Stille und scheuchte eine Schar Vögel in die Nacht hinauf.

«Noc?»

«Komme schon.» Ich schloss die Tür und zog die Vorhänge fest zu, um die kühle Luft und die vereinzelten Schreie auszusperren. Als ich dem Balkon wieder den Rücken zukehrte, blieb ich vor Entsetzen wie angewurzelt stehen. Leena stand am Fuß unseres Bettes, das wilde Haar um ihre Schultern ausgebreitet. Ihr anklagender Blick – aus großen und blutunterlaufenen Augen – nagelte mich fest. Mit offenem Mund bewegte sie die Lippen, wie um zu sprechen, doch es kam nichts heraus.

Sie sah aus wie der Tod selbst.

Panik entfachte ein Feuer in meinen Muskeln, und ich hastete zu ihr. «Leena? Leena!»

Ein stockendes Keuchen kam über ihre Lippen, und sie fuhr sich mit den Händen an den Hals. Bläuliche Finger kratzten und zerrten an papierdünner Haut, erzeugten ein blutiges Band, von dem Tropfen über die Schlüsselbeine rannen.

Vor nackter Angst um sie zog ich ihre Hände fort. «Götter, hör auf damit. Leena, was ist los?»

Blutergüsse bildeten sich wie von selbst. Sie sahen aus wie geisterhafte Fingerabdrücke an ihrem Hals, und instinktiv wurde ich an unsere erste Begegnung erinnert. An das Gefühl ihres Gewichts in meinem Griff, während sie verzweifelt nach Luft rang. Wie ihre Augen glasig geworden waren und ihre Stimmbänder an meiner Handfläche vibriert hatten. Wie es sich angefühlt hatte, beinahe die Frau zu töten, die ich später über alles lieben würde. Ich hätte sie damals vernichten können.

Du könntest sie jetzt immer noch vernichten.

«Noc.» Ihr rauer Ruf drang kaum zu mir durch. Ein fremdartiger roter Schleier legte sich über meine Augen, und die dunklen Schatten wurden zu blutigen Klingen. Warteten begierig. Ihre Anziehungskraft war giftig, und mir stockte der Atem.

Was für ein Gefühl ist das? Es war nicht gänzlich meines, dennoch fühlte es sich so richtig an. Das Rot, das in mein Blickfeld sickerte, vertiefte sich. Ein brennender Schmerz keimte in meinem Hinterkopf und breitete sich aus wie Sprünge in berstendem Glas. Sengende Hitze brannte sich in mein Gehirn und versprach, dass alles vorbei sein würde, wenn ich nur tat, wofür ich angeheuert worden war. Töten.

Behutsam legte ich meine Hand um ihre Kehle, die Finger an den Spuren ausgerichtet, die der Tod bereits für mich zurechtgelegt hatte. Sie wich nicht zurück, sondern sah mich nur an, mit leicht geöffneten, sich bläulich verfärbenden Lippen. Mein Griff verstärkte sich. Das Gefühl ihrer glatten Haut an meinen rauen Fingern rüttelte etwas tief in mir wach, und entsetzt starrte ich auf das, was meine Hand da tat.

Was ich da tat.

Etwas in meinem Gehirn zersprang, und der rote Schleier löste sich auf. Das Zimmer drehte sich einem Tornado wirbelnder Schwärze gleich mit einem einzigen flackernden Licht im Auge des Sturms. Schrilles Pfeifen durchbohrte meine Ohren, und die Dunkelheit um mich herum entzog sich meinem Griff. Sie reagierte nicht wie meine Schatten, sondern begrub mich unter einer Welle entsetzlicher Schuldgefühle.

Ein jäher Schmerz, wie Fingernägel, die sich in meine Haut bohrten, stach mir in die Schultern.

«Noc, wach auf. Ich bin hier. Ich bin hier bei dir.» Leenas angespannte Stimme durchbrach den Schrecken, und der willkommene Druck ihrer Hände auf meinem Körper riss mich aus dem tobenden Sturm.

Ich schoss kerzengerade in die Höhe und zuckte vor ihr zurück, voller Angst, dass ich ihr weh getan hatte. Sofort flog mein Blick zu ihrem Hals. Kein Blut. Keine violetten Blutergüsse. Nichts als unversehrte Haut. Leena starrte mich mit großen und herrlich lebendigen Augen an. Langsam hob sie die Hand, um sie an meine Wange zu legen, doch ich wich vor ihren ausgestreckten Fingern zurück.

Ihre Hand erstarrte mitten in der Bewegung. «Noc?»

Verwirrung und Verletztheit huschten durch ihren Blick. Aber ich hatte sie doch erst vor wenigen Augenblicken gewürgt. Meine Hände, meine Berührung hatten ihr das Leben geraubt. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich musterte meine Hände. Es hatte sich so echt angefühlt.

«Was ist passiert?», krächzte ich. Unser Schlafzimmer rückte langsam wieder in den Fokus, unter dem Saum der Samtvorhänge blitzte die Andeutung der Morgendämmerung hervor. Durch die immer noch geöffnete Balkontür spielte ein leichter Wind mit ihnen. Sie zu schließen musste der Anfang des Albtraums gewesen sein.

«Nichts.» Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. «Geht es dir gut?» Erneut streckte sie die Hand nach mir aus. Ich verkrampfte mich, zwang mich jedoch, stillzuhalten, ihre Finger meine Wange streifen zu lassen. Wärme erwachte unter ihrer sanften Berührung. Es war nicht ihre Schuld, dass mein Verstand etwas so Schreckliches heraufbeschworen hatte.

Meine Schultern sackten herab. Ein Traum. Es war nur ein Traum. Richtig? «Ja. Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe.»

«Ist schon gut. Hattest du einen Albtraum?» Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen und öffnete einladend die Arme. Ich zögerte, obwohl ich mich danach sehnte, in ihrer Umarmung Trost zu finden. Doch die Erinnerung an sie, gefangen in meinem Griff, war immer noch so lebhaft. Meine Hände zitterten. Sanft lockte sie mich zu sich hinunter, strich mir dann besänftigend durchs Haar. «Möchtest du darüber reden?»

Ihr gleichmäßiger Atem beruhigte meine angespannten Nerven. «Nein.»

Sie seufzte. «Ich habe auch Albträume, weißt du.» Zarte Finger beschrieben entspannte Kreise auf meiner Kopfhaut, massierten sie in unentschlüsselbaren Mustern. «Wynn sucht mich in meinen Träumen heim.»

Jeder Muskel spannte sich an. Ich schlang die Arme um ihre Taille und hielt sie fest. Ihre warme Haut war hier so samtig und weich, aber ich wusste, wenn ich meine Finger tiefer wandern ließ, an ihren langen Beinen entlang, dann würde ich eine verzweigte Landschaft erhobener Narben vorfinden. Langsam stieß ich den Atem aus und ließ das Unbehagen, das mein Traum mit sich gebracht hatte, mit ihm davonströmen. Meine Hölle war nur ein Albtraum gewesen, ihre war jedoch nur allzu real.

«Schlaf noch ein wenig.» Ich hauchte einen sanften Kuss auf ihr Schlüsselbein.

«Mmm.» Ihr Murmeln war Antwort genug, und langsam wurde der Druck ihrer Finger in meinem Haar schwächer, während der Schlaf sich wieder ihrer Gedanken bemächtigte. Mir jedoch entzog sich der verlockende Frieden, und ein kaum wahrnehmbarer feuerroter Schatten blieb am Rand meines Sichtfelds zurück. Quälend. Lockend. Flüsternd.

Der Eid machte sich bemerkbar.

Kapitel 3LEENA

Ich steckte die Decke, die ich mir stibitzt hatte, fester um die Taille und machte es mir in der gepolsterten Fensternische der Bibliothek bequem. Die Morgensonne fiel durch die Fensterscheiben und hüllte das Labyrinth aus Bücherregalen und Tischen in friedliches Licht. Der Raum war still, bis auf das gelegentliche Knistern des Feuers im Kamin. Die Bibliothek war selten voll, doch heute war sie wie ausgestorben und erinnerte mich damit schmerzlich daran, wie viele wir verloren hatten. Meine Finger krallten sich für einen Moment in die Decke.

Als das frühe Morgenlicht die Vorhänge durchbrochen und uns beide ein zweites Mal aufgeweckt hatte, hatte ich erwartet, dass Noc mich enger an seine Brust ziehen würde. Wir hatten bisher wenig Zeit gehabt, einfach zu sein. Aber er hatte es eilig gehabt, sich anzuziehen, mit stocksteifem Rücken und angespannten Schultern, und mich mit nichts weiter als einem keuschen Kuss und der Behauptung, er müsse Kopfgeldaufträge besprechen, zurückgelassen. Ich glaubte ihm, aber mir entging weder der gequälte Ausdruck in seinem Blick noch das Zittern seiner Hände, als sie leicht mein Haar zurückstrichen, um an meinem Hals entlangzustreicheln. Danach war er ohne ein Wort verschwunden, und ich blieb mit einem unguten Gefühl zurück.

Also war ich in die Bibliothek geflohen, das Buch Zauber der Worte in der Hand, und hatte mir die erste Decke unter den Nagel gerissen, die ich finden konnte. Während er arbeitete, würde ich das auch tun. Seit wir nach Cruor zurückgekommen waren, verbrachte er seine Tage damit, die Gilde zu so etwas wie Normalität zurückzuführen, und ich kam hierher, auf der Suche nach Hinweisen, die uns dabei helfen konnten, die Magie seines Eids auszulöschen, für den Fall, dass meine Tiermagierkollegen keine Möglichkeit dazu fanden.

Gestern hatte ich ein Kapitel über Bluteide gelesen, hatte fieberhaft durch die Seiten geblättert, in der Hoffnung, die Antwort würde mich daraus anspringen. Die Bedingungen waren denen von Cruors Eid so ähnlich: bindend und nahezu nicht zu brechen. Und dennoch, nichts. Es gab keine dokumentierte Möglichkeit, einen Blutpakt zu brechen. Wenn für Cruors Eid dieselben Bedingungen galten, dann waren wir geliefert.

Die Zeit verstrich, während ich Absätze über Prophezeiungen, Flüche und mächtige Zauber überflog. Trotz der Fülle an Informationen waren keine Antworten in Bezug auf Nocs Eid zu finden. Die Magie von Cruor war einzigartig.

Das Buch an meine Brust gedrückt, lehnte ich mich an die kühlen Fensterscheiben und blickte hinaus über die offenen Rasenflächen hinter Cruor. Ein Meer aus Gras, das an den Spitzen braun zu werden begann, dehnte sich vor mir aus, um abrupt an einer wilden Wand knorriger Bäume und verschlungener violetter Ranken zu enden. Der Kitskaforst veränderte sich nie, egal zu welcher Jahreszeit – seit dem Ersten Krieg zwischen Tiermagiern und Wilheimern. Ein Mythos erzählte, dass die Monster, die den verrottenden Forst ihr Zuhause nannten, in Wirklichkeit die Seelen wiedergeborener Tierwesen waren, die während des Ersten Krieges beim Versuch, ihre Tiermagier zu verteidigen, gefallen waren – nun gefangen in unserem Reich.

Ich streichelte leicht über das Bestiarium, das sich unter dem Stoff meiner Tunika abzeichnete. Ein Funken Wärme antwortete, und mein Herz füllte sich mit Schuld. Onyx, meinem geliebten Myad, ging es nicht gut, seit wir zurückgekehrt waren. Er hatte gesehen – und durch unser starkes Band unweigerlich gespürt –, welchen Kummer mir Calems Beinahe-Tod bereitet hatte. Seitdem schlich Onyx heulend durch die Wälder des Refugiums und bat um Vergebung.

Ich klappte mein Buch zu, stand auf und streckte mich. Die Nachforschungen konnten warten. Heute musste ich mich um mein Tierwesen kümmern. Es gab nichts, wofür er sich entschuldigen musste, und es war höchste Zeit, dass er den Trost fand, den ich selbst nicht bekommen konnte.

Hinter dem Haus war es größtenteils ruhig. Da sich ein früher Wintereinbruch andeutete, war die frische Morgenluft kalt, und der leichte Wind, der meine Wangen kitzelte, sandte mir ein Frösteln durch die Glieder. Ich trug eine lederne Hose, kniehohe Stiefel und eine langärmelige Tunika plus Jacke. Nur mein Gesicht und meine Hände waren entblößt. Und sogar das war offenbar zu viel.

Ich hatte erwartet, die Rasenflächen leer vorzufinden, aber Emelia, Iov und eine Frau, die ich nicht kannte, lagen ein Stück von mir entfernt im Gras. Lachen umhüllte sie in einer dunstigen Atemhauchwolke, und ich blieb stehen. Ich war in der Absicht herausgekommen, Zeit mit meinen Tierwesen zu verbringen, aber das Letzte, was ich wollte, war, irgendjemanden an die Schrecken von Hireath zu erinnern. In der Hitze des Gefechts hatte Onyx dort ihre Brüder getötet. Würden die Assassinen von Cruor in der Lage sein, einen so tiefen Verlust zu verzeihen?

Ich rieb mir die Arme und wollte gerade wieder hineingehen, als Iov mich entdeckte und mir ein «Hallo» zurief. Sein wildes Winken, mich ihnen anzuschließen, duldete keinen Widerspruch. In ihrer Aufmachung aus ärmellosen Tuniken und weiten schwarzen Hosen sahen die drei völlig entspannt aus.

Der Tod macht die Kälte erträglich. Ich unterdrückte einen ausgewachsenen Schauer und ging auf sie zu. «Hallo.»

Emelia und Iov lächelten, während die Sonne ihrer sepiafarbenen Haut einen warmen Schimmer verlieh. Als Zwillinge hatten sie denselben herzförmigen Haaransatz und dieselben vollen Lippen.

Die Gruppe stand auf, um mich zu begrüßen, und Emelia wischte sich den geflochtenen Pferdeschwanz von der Schulter. «Hey, Leena. Wir wollten dir Astrid vorstellen. Sie ist eine der neuen Rekruten, die Noc gestern Abend wiedererweckt hat.»

Iov nickte. «Wir sind in derselben Ortschaft aufgewachsen. Sie ist die jüngere Schwester, die ich nie brauchte, aber irgendwie trotzdem bekommen habe.»

Astrid warf ihm einen finsteren Blick zu. «Ich bin nicht deine Schwester.»

«Und trotzdem nervst du mich genauso.» Seine Augen erwärmten sich trotz der neckenden Worte, und er streckte die Hand aus, um Astrids kurze Locken zu verwuscheln. «Willst du behaupten, du hättest uns nach unserem Tod nicht vermisst?»

Sie schlug seine Hand fort. «Natürlich hab ich euch vermisst.»

Ich runzelte die Stirn. «Jetzt bin ich verwirrt. Kleine Schwester? Ihr seht alle gleich alt aus.»

«Wir sind im glorreichen Alter von neunzehn Jahren gestorben», erklärte Emelia. Sie schenkte Astrid ein zärtliches Lächeln. «Astrid war damals sechzehn.»

«Und jetzt habe ich euch endlich wiedergefunden. Nur dass ich technisch gesehen jetzt älter bin. Würde euch das nicht zu meinen jüngeren Geschwistern machen?» Sie warf Iov ein teuflisches Grinsen zu.

«Nie im Leben.»

Mein Lächeln erstarb bei ihren Worten. Astrid war Jahre gealtert, bevor sie wiedererweckt worden war, und in dieser Zeit war sie gewachsen, gereift. Das würde auch mir passieren. Tiermagier alterten langsamer als Menschen, aber Noc würde mich trotzdem überleben. Er würde in der Zeit eingefroren bleiben, und ich würde irgendwann sterben und ihn allein lassen. Wir hatten noch nicht darüber gesprochen, was das für uns bedeutete. Was das für ihn bedeutete.

Ich könnte ihn bitten, mich wiederzuerwecken.

Mir wurde flau im Magen bei diesem flüchtigen Gedanken, und ich schob ihn weit von mir. Ich konnte mir ein Leben ohne Noc nicht vorstellen, aber die Schatten von Cruor … Sie durchdrangen alles. Kein Tiermagier war bisher je verwandelt worden, und das Risiko war einfach zu groß. Ich hatte keine Ahnung, was der Tod mit meinen Tierwesen, mit ihrem Refugium machen würde.

Ihr Leben war wichtiger als mein Glück.

«Jedenfalls», riss Astrid mich aus meinen Gedanken, «es ist schön, dich kennenzulernen, Leena.»

Ich reichte ihr die Hand. «Auch schön, dich kennenzulernen, Astrid.»

Sie schüttelte sie mit einer Heftigkeit, die mir die Knochen zu brechen drohte. «Das Vergnügen ist ganz meinerseits.» Mit einem breiten, schiefen Grinsen bohrten sich Grübchen tief in ihre Wangen. Verstreute Sommersprossen, eine Nuance dunkler als das Goldbraun ihrer Haut, tanzten über den Rücken ihrer langen Nase. Sie stemmte die Hände in schmale Hüften. «Die zwei hier haben mir gesagt, du bist eine Tiermagierin. Kannst du uns ein paar Tierwesen zeigen? Ich würde gern sehen, was du hast.»

Iov verdrehte die Augen. «Du könntest nicht mit allem fertigwerden, was sie hat.»

Ein Feuer funkelte in Astrids Augen. «Ich könnte wahrscheinlich mit mehr fertigwerden, als sie gewohnt ist.»

Iov rempelte sie mit der Schulter an, worauf sie zusammenzuckte. «Das könntest du nicht, vertrau mir. Sie ist mit unserem Gildenmeister verbandelt.» Er warf mir einen verlegenen Blick zu und zuckte als schwache Entschuldigung mit einer Schulter, konnte dabei sein ungeniertes Grinsen jedoch nicht verbergen.

Ich lachte – ein echtes Lachen –, und der Klang überraschte mich mit seiner Wärme. Ich hatte seit unserer Rückkehr nur wenig Zeit mit den Gildemitgliedern verbracht. Durch meine stundenlangen Nachforschungen und die Schuldgefühle, die ich wegen des von mir verursachten Kampfes empfand, hatte ich nicht den Mut aufgebracht, ihnen gegenüberzutreten. Nicht wenn ich ihnen so viel geraubt hatte.

Mein Lächeln verblasste, als ich von einem Fuß auf den anderen trat und dabei die Nähte meiner Hose an meinen Narben rieben. Der Kampf von Hireath hatte uns alle verändert. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und strich mit der Hand über meine Oberschenkel. «Keine Sorge. Ich werde es Noc nicht verraten.»

«Mir egal, ob du das tust», erwiderte Astrid mit einem frechen Augenzwinkern. «Aber ich würde trotzdem gern sehen, was du draufhast.»

Emelia stöhnte. «Wenn du unbedingt ein zweites Mal draufgehen willst. Leena?» Ihre Augen wanderten zu meinem Bestiarium, dessen Kette im Ausschnitt meiner Jacke gerade noch zu sehen war.

Ohne nachzudenken, streichelte ich die kleine buchförmige Ausbuchtung unter den Stoffschichten. Wenn Emelia mich darum bat, gab sie meinen Tierwesen vielleicht doch nicht die Schuld für die Befehle, die ich ihnen erteilt hatte. Ich spürte, dass ich mich allmählich entspannte. «Also gut.»

Ich spreizte die Hand, konzentrierte mich auf die Quelle schlafender Macht, die in meinem Inneren wartete, und genoss das plötzliche Auflodern der Wärme. Meine kostbaren Tierwesen waren nur einen Ruf entfernt, und ihre bedingungslose Liebe erfüllte mich vollständig. Macht strömte durch meine Finger und drang durch das Tiermagiersymbol auf meinem Handrücken heraus. Dem ehemals kahlen Baum entsprossen Blätter und Blüten, er wuchs und überströmte uns alle mit einem rosenholzfarbenen Glühen.

Ein tiefes Grollen erfüllte die stille Luft, und die unsichtbare Tür zum Refugium öffnete sich knarrend. Im Geiste blätterte ich durch die Seiten meines Bestiariums und suchte ein vertrautes niederrangiges Tierwesen, um meine neue Familie mit meiner Welt bekanntzumachen.