Die Tochter der Mondgöttin 1: Die Tochter der Mondgöttin - Sue Lynn Tan - E-Book
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Die Tochter der Mondgöttin 1: Die Tochter der Mondgöttin E-Book

Sue Lynn Tan

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Beschreibung

Eine junge Frau mit einem Geheimnis. Ein unsterblicher und feuriger Prinz. Als er ihre wahre Identität entdeckt, gibt es kein Zurück mehr.  Xingyin, die Tochter der Mondgöttin, lebt allein mit ihrer Mutter auf dem Mond. Sie ahnt nicht, dass sie dort zum eigenen Schutz vor dem Himmlischen Kaiser versteckt wird, der einst ihre Mutter dorthin verbannte. Doch als Xingyins magischen Kräfte erwachen, ist sie gezwungen, ihre Mutter zurückzulassen. Eines Tages, so schwört sich die Tochter der Mondgöttin auf ihrer Flucht, will sie ihre Mutter retten – koste es, was es wolle. Ihr Weg führt Xingyin ins Himmlische Königreich. Unter einer falschen Identität lernt sie den anziehenden Kronprinzen Liwei kennen, mit dem sie gemeinsam im Schwertkampf und in der Zauberkunst ausgebildet wird. Liwei weckt eine Leidenschaft in ihr, die sie nie für möglich gehalten hätte - und ebnet gleichzeitig einen riskanten Weg, der das Verderben des gesamten Reiches zur Folge haben könnte.  Eine Dilogie, inspiriert von der Legende der chinesischen Mondgöttin: Epische High-Fantasy aus der Feder von New-York-Times-Bestseller-Autorin Sue Lynn Tan. »Von der ersten bis zur letzten Seite episch, romantisch und fesselnd. Ich liebe dieses Buch.« Stephanie Garber, New-York-Times-Bestseller-Autorin, Caraval  »So eine großartige Geschichte, ich warte sehnsüchtig auf Band 2!« Leser*innenstimme Slow Burn Romance mit Mulan Vibes und einer Dreiecksbeziehung: Dieses packende Debüt aus den USA prickelt bis zur letzten Seite.

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Seitenzahl: 738

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SUE LYNN TAN – DIE TOCHTER DER MONDGÖTTIN

Aus dem Englischen von Birgit Maria Pfaffinger und Ulrike Brauns

Xingyin, die Tochter der Mondgöttin, lebt allein mit ihrer Mutter und deren treuer Dienerin Ping’er auf dem Mond. Sie ahnt nicht, dass sie zu ihrem eigenen Schutz dort oben vor dem Himmlischen Kaiser versteckt wird, der ihre Mutter einst dahin verbannt hat. Doch als Xingyins magische Kräfte erwachen, muss sie fliehen und ihre Mutter zurücklassen. Eines Tages, so schwört sie sich, wird sie wiederkommen und ihre Mutter retten. Aber erst einmal führt Xingyins Weg sie ins Himmlische Königreich. Dort verheimlicht sie ihre wahre Identität, lernt den gut aussehenden Kronprinzen Liwei kennen und wird mit ihm gemeinsam im Schwertkampf und in der Zauberkunst ausgebildet. Liwei und Xingyin kommen sich langsam näher und ein riskantes Spiel beginnt, das dem gesamten Reich zum Verhängnis werden könnte.

Epische High-Fantasy aus der Feder von New-York-Times-Bestseller-Autorin Sue Lynn Tan

»Von der ersten bis zur letzten Seite episch, romantisch und fesselnd. Ich liebe dieses Buch.« Stephanie Garber, New-York-Times-Bestseller-Autorin, Caraval

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 Für meinen Ehemann, Toby –meinen ersten Leser und Lebenspartner.Ohne dich wäre das nicht möglich gewesen.

Und für meine Kinder,Lukas und Philip, weil sie mich manchmalhaben arbeiten lassen.

Um meine Mutter ranken sich zahlreiche Legenden. Manchen zufolge hat sie ihren Ehemann, einen großen sterblichen Krieger, hintergangen und ihm das Elixier der Unsterblichkeit gestohlen, um Göttin zu werden. Andere stellen sie als unschuldiges Opfer dar und behaupten, sie habe das Elixier nur getrunken, damit es nicht Räubern in die Hände fällt. Welche Geschichte man auch glaubt, fest steht, dass meine Mutter, Chang’e, unsterblich wurde. Und ich mit ihr.

Ich erinnere mich noch gut an die Stille, die bei uns zu Hause herrschte. Außer mir, einer treuen Dienerin namens Ping’er und meiner Mutter lebte niemand auf dem Mond. Wir wohnten in einem Palast aus glänzendem weißen Stein mit Säulen aus Perlmutt und einem geschwungenen Dach aus reinem Silber. Die riesigen Zimmer waren bestückt mit Möbeln aus Zimtholz, deren würziger Duft die Luft erfüllte. Außen um den Palast erstreckte sich ein Wald aus duftenden Osmanthus-Bäumen, mitten darin ein einzelner Lorbeerbaum, dessen Früchte ein ätherisches Leuchten verbreiteten. Doch weder der Wind noch die Vögel, ja nicht einmal meine eigenen Hände vermochten sie zu pflücken, denn sie saßen so fest an den Zweigen wie die Sterne am Himmel.

Meine Mutter war zärtlich und liebevoll, gleichzeitig aber etwas unnahbar, ganz so als würde sie mit einem großen Schmerz leben, der ihr Herz betäubte. Nacht für Nacht, nachdem sie die Laternen entzündet hatte, die den Mond erstrahlen lassen, stand sie auf dem Balkon und blickte hinab auf die Welt der Sterblichen. Manchmal, wenn ich kurz vor der Morgendämmerung erwachte, fand ich sie noch so vor, mit von Erinnerungen verhangenem Blick. Weil ich ihr trauriges Gesicht nicht ertragen konnte, schlang ich die Arme um sie, wobei mein Kopf ihr nur bis zur Hüfte reichte. Meine Berührung ließ sie zusammenzucken, als hätte ich sie aus einem Traum geweckt, doch dann strich sie mir übers Haar und brachte mich zurück in mein Zimmer. Ihr Schweigen versetzte mir einen Stich, und ich bekam Angst, sie verärgert zu haben, obwohl sie nur selten die Beherrschung verlor. Ping’er erklärte mir später, dass Mutter in solchen Momenten nicht gestört werden wollte.

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Deine Mutter hat einen schweren Verlust erlitten.« Ping’er hob die Hand, um meine nächste Frage abzuwehren. »Es steht mir nicht zu, dir mehr zu sagen.«

Die Traurigkeit meiner Mutter schmerzte mich. »Das ist Jahre her. Wird es Mutter je besser gehen?«

Ping’er schwieg kurz. »Manche Narben sind tief, sie reichen bis auf unsere Knochen – sie sind ein Teil von uns, sie formen uns.« Als sie bemerkte, wie niedergeschlagen ich war, nahm sie mich in die Arme. »Aber deine Mutter ist stärker, als du denkst, kleiner Stern. Genau wie du.«

Trotz dieser vorüberziehenden Schatten war ich glücklich. Und doch war da ein quälendes Gefühl, dass unserem Leben etwas fehlte. War ich einsam? Vielleicht. Allerdings hatte ich kaum Zeit, mich deswegen zu grämen. Jeden Morgen unterrichtete Mutter mich in Lesen und Schreiben. Ich bearbeitete die Stangentusche so lange mit dem Reibstein, bis sich eine glänzende schwarze Paste gebildet hatte, und dann zeigte Mutter mir mit fließenden Pinselstrichen, wie die Schriftzeichen gebildet wurden.

Obwohl ich diese Stunden mit ihr genoss, mochte ich Ping’ers Unterricht noch lieber. Im Zeichnen war ich zwar lediglich passabel und im Sticken erbärmlich, doch das spielte keine Rolle. Es war die Musik, die es mir angetan hatte. Etwas an der Art und Weise, wie Melodien sich entfalteten, weckte Gefühle in mir, die ich noch nicht begreifen konnte, egal ob ich die Noten auf Saiten zupfte oder mit den Lippen formte. Da es keine Spielgefährtinnen gab, die um meine Zeit buhlten, beherrschte ich schon bald die Flöte und die Qin – die siebensaitige Zither – und spielte bereits nach wenigen Jahren besser als Ping’er. Zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekam ich von Mutter eine kleine weiße Jadeflöte, die ich stets in einem Seidenbeutel um die Hüfte trug. Sie war mein liebstes Instrument. Ihr Klang war so rein, dass sogar die Vögel zum Mond hinaufflogen, um mir zu lauschen – obwohl ein kleiner Teil von mir überzeugt war, dass sie auch kamen, um Mutter zu bewundern.

Manchmal ertappte ich auch mich dabei, wie ich sie anstarrte, von ihrem perfekten Antlitz verzaubert. Ihr Gesicht hatte die Form eines Melonenkerns und ihre Haut schimmerte wie eine Perle. Über ihren schmalen samtschwarzen Augen, die sich in Halbmonde verwandelten, wenn sie lächelte, wölbten sich ihre Brauen zu dünnen Bogen. Zwischen ihren dunklen Locken glänzten goldene Haarnadeln und auf einer Seite steckte eine rote Päonie. Ihr Unterkleid war so blau wie der Mittagshimmel, darüber trug sie ein weiß-silbernes Gewand, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Um ihre Hüfte spannte sich eine zinnoberrote Schärpe, an der Zierquasten aus Seide und Jadesteinen baumelten. Manchmal, wenn ich nachts im Bett lag, lauschte ich auf ihr leises Klimpern. Wenn ich Mutter in meiner Nähe wusste, fiel mir das Einschlafen leicht.

Ping’er versicherte mir, dass ich Mutter ähnlich sah, doch war das, als würde sie eine Pflaumenblüte mit einem Lotus vergleichen. Meine Haut war dunkler, meine Augen runder und mein Kiefer kantiger und eingekerbt. Vielleicht kam ich nach meinem Vater? Ich wusste es nicht, denn ich hatte ihn nie kennengelernt.

Ich brauchte Jahre, um zu begreifen, dass meine Mutter, die Frau, die mir die Tränen trocknete, wenn ich hingefallen war, und die meine Pinselstriche korrigierte, wenn ich schrieb, die Mondgöttin war. Die Sterblichen beteten sie an und brachten ihr zu jedem Mittherbstfest – am fünfzehnten Tag des achten Mondmonats –, wenn der Mond am hellsten schien, Opfergaben dar. An diesem Tag entzündeten sie Räucherstäbchen im Gebet und buken Mondkuchen, unter deren zarter Kruste sich eine Füllung aus süßer Lotussamenpaste und gesalzenen Enteneiern verbarg. Die Kinder trugen leuchtende Laternen, geformt wie Hasen, Vögel oder Fische, um das Mondlicht nachzuahmen. Jedes Jahr stand ich an jenem Abend auf dem Balkon, blickte auf die Welt dort unten und atmete den würzigen Duft ein, der zu Ehren meiner Mutter in den Himmel stieg.

Die Sterblichen faszinierten mich, weil Mutter ihre Welt mit solcher Sehnsucht betrachtete. Ihre Geschichten, in denen um Liebe, Macht und Überleben gekämpft wurde, hatten es mir angetan, obwohl ich in meinem begrenzten, sicheren Zuhause mit solchen Intrigen noch keine Erfahrung gemacht hatte. Ich las alles, was ich in die Finger bekam, am liebsten jedoch Geschichten über tapfere Krieger, die gegen furchterregende Gegner kämpften, um ihre Lieben zu beschützen.

Eines Tages, als ich einen Stoß Schriften in unserer Bibliothek durchsah, fiel mein Blick auf etwas Helles. Als ich es genauer betrachtete, beschleunigte sich mein Puls, denn es handelte sich um ein Buch, das ich noch nicht kannte. Dem grob vernähten Umschlag nach musste es sich um einen Text aus der Welt der Sterblichen handeln. Die Vorderseite war so verblichen, dass ich den darauf abgebildeten Schützen, der mit seinem silbernen Bogen auf zehn Sonnen am Himmel zielte, nur mit Mühe erkennen konnte. Im Innern der Feuerbälle konnte ich schwach Federn ausmachen. Das waren keine Sonnen, das waren Vögel. Das Buch mit zitternden Händen gegen die Brust gepresst, begab ich mich in mein Zimmer. Dort ließ ich mich auf einen Stuhl sinken, blätterte gierig die Seiten um und sog jedes Wort in mich auf.

Das Buch begann wie viele Heldensagen damit, dass die Welt der Sterblichen von einem fürchterlichen Unheil heimgesucht wurde. Zehn Sonnenvögel zogen über den Himmel, versengten die Erde und riefen großes Leid hervor. Auf der verbrannten Erde wollte nichts mehr wachsen, und weil die Flüsse austrockneten, wurde das Trinkwasser knapp. Es hieß, die Sonnenvögel stünden in der Gunst der Himmelsgötter, und so wagte niemand, sich ihnen entgegenzustellen. Doch als alles verloren schien, griff ein furchtloser Krieger namens Houyi zu seinem Zauberbogen aus Eis. Damit erlegte er neun der Sonnenvögel, den zehnten jedoch ließ er am Himmel, damit er die Erde erleuchtete …

An dieser Stelle wurde mir das Buch aus den Händen gerissen. Vor mir stand Mutter, ihr Atem ging schnell und flach. Als sie mich am Arm packte, bohrten sich ihre Nägel in meine Haut.

»Hast du das gelesen?«, schrie sie.

Es kam nur selten vor, dass sie laut wurde. Erschrocken blickte ich sie an, bis es mir gelang zu nicken. Sie gab mich frei, sank auf einen Stuhl und rieb sich die Schläfen. Ich streckte die Arme nach ihr aus, voller Angst, dass sie wütend zurückweichen würde, doch sie nahm meine Hände in ihre, die kalt wie Eis waren.

»Habe ich etwas falsch gemacht? Warum darf ich das nicht lesen?«, presste ich hervor. Ich konnte an der Geschichte nichts Ungewöhnliches erkennen.

Mutter ließ sich mit ihrer Antwort so lange Zeit, dass ich schon dachte, sie habe mich nicht gehört. Als sie mich schließlich ansah, leuchteten ihre Augen. Heller noch als die Sterne. »Du hast gar nichts falsch gemacht. Der Bogenschütze, Houyi … Er ist dein Vater.«

Ein Blitz zuckte durch meinen Kopf, Mutters Worte schrillten in meinen Ohren. Als ich jünger war, hatte ich sie oft nach meinem Vater gefragt. Doch sie hatte jedes Mal geschwiegen und ein Schatten war auf ihr Gesicht getreten, sodass ich irgendwann aufgegeben hatte. Mutter trug zahlreiche Geheimnisse in sich, die sie nicht mit mir teilte. Bis jetzt.

»Mein Vater?« Bei diesen Worten zog sich mir die Brust zusammen.

Mutter klappte das Buch zu und betrachtete den Umschlag. Aus Angst, sie könnte gehen, schenkte ich ihr Tee ein. Obwohl er kalt war, trank sie ihn, ohne zu klagen.

»Im Reich der Sterblichen haben wir uns geliebt«, sagte sie mit leiser, sanfter Stimme. »Dich hat er ebenfalls geliebt – schon bevor du zur Welt kamst. Und jetzt …« Sie verstummte und blinzelte hektisch.

Ich nahm ihre Hand, um sie zu trösten und sie daran zu erinnern, dass ich noch da war.

»Und jetzt sind wir für immer voneinander getrennt.«

Eine Flut aus Gedanken und Gefühlen erfasste mich. Solange ich denken konnte, war mein Vater nur eine geisterhafte Fantasiegestalt für mich gewesen. Wie oft hatte ich geträumt, dass er bei uns am Esstisch saß oder neben mir unter den blühenden Bäumen hindurchspazierte. Doch jedes Mal, wenn ich erwachte, wich die Wärme in meiner Brust einer schmerzhaften Leere. Jetzt aber kannte ich endlich seinen Namen und wusste, dass er mich geliebt hatte.

Kein Wunder, dass Mutter stets rastlos und in Erinnerungen gefangen schien. Was war mit meinem Vater passiert? Befand er sich noch im Reich der Sterblichen? Wie waren wir hierhergekommen? Doch diese Fragen verkniff ich mir und sah zu, wie Mutter sich die Tränen aus den Augen wischte. Ach, wie gerne hätte ich all das gewusst, aber ich wollte ihr nicht wehtun, um meine egoistische Neugier zu stillen.

Zeit war für Unsterbliche wie Regen für den Ozean. Unser Leben verlief friedlich und angenehm, Jahre fühlten sich an wie Wochen. Wer weiß, wie viele weitere Jahrzehnte auf diese Weise vergangen wären, wenn mein Leben nicht plötzlich aufgewirbelt worden wäre wie ein Blatt, das vom Wind von seinem Ast gerissen und fortgetragen wird.

Es war ein klarer Tag und Sonnenlicht fiel durch das Fenster in mein Zimmer. Ich legte meine lackierte Qin beiseite und schloss die Augen, um mich etwas auszuruhen. Wie so oft durchzuckten silberne Lichter meinen Geist, lockten und neckten mich wie der Duft der Osmanthus-Bäume, der mich jeden Morgen in den Wald zog. Ich wollte nach ihnen greifen, doch die strenge Warnung meiner Mutter hielt mich zurück.

»Komm ihnen nicht zu nahe, Xingyin«, hatte sie mich mit aschfahlem Gesicht gemahnt. »Das ist zu gefährlich. Sie verblassen von selbst, vertrau mir.«

Stammelnd hatte ich es ihr versprochen und mich über die Jahre pflichtbewusst daran gehalten. Wann immer ein silbernes Funkeln mich anzog, dachte ich schnell an etwas anderes – an ein Lied oder das Buch, das ich gerade las –, bis mein Geist sich klärte und das Funkeln verblasste. Allerdings fiel es mir von Mal zu Mal schwerer. Das Leuchten wurde stärker und das Rufen lauter. Der Drang, die Lichter zu berühren, war beinahe überwältigend.

Wie sehr sie heute funkelten, als könnten sie meine wankende Entschlossenheit und die Rastlosigkeit in meinem Innern spüren. Dieses Gefühl hatte ich in letzter Zeit öfter, ein Teil von mir sehnte sich nach … nach etwas, das keinen Namen hatte. Vielleicht nach einer Veränderung. Doch hier geschah nie etwas. Nichts veränderte sich.

Die Lichter wirkten nicht gefährlich. Irrte Mutter sich? Sie hatte mich vor so vielem gewarnt. Vor harmlosen Dingen wie auf Bäume klettern oder durch Gänge rennen, vielleicht weil ihr diese Gefahren noch aus ihrer Kindheit als Sterbliche im Gedächtnis waren. Ich näherte mich den Lichtern in meinem Geist, so nah wie noch nie zuvor. Etwas packte mich, hielt mich zurück – war es Angst oder waren es Schuldgefühle? Doch verwegen, wie ich mich fühlte, befreite ich mich davon, als wären es Spinnweben. Jetzt war ich dicht davor, ich balancierte auf der Schwelle. Ein Schauer erfasste mich, ich hörte ein Flüstern. Dann beugte ich mich vor, griff nach ihnen – nur um zu sehen, wie das silberne Leuchten erlosch wie das Licht der Sterne bei Tagesanbruch.

Ich riss die Augen auf, meine Sinne waren in wildem Aufruhr. Ich wusste nicht, wie lange ich wie weggetreten gewesen war. Draußen vor dem Fenster webte die Abendsonne goldene und rosafarbene Streifen in den Himmel. Jetzt, wo die Aufregung verflogen war, lasteten die Gewissensbisse schwer auf mir. Ich hatte meiner Mutter gegenüber ein Versprechen gebrochen. Und was noch schlimmer war: Ich wollte es wieder tun. Diese Lichter waren nicht gefährlich, sie waren ein Teil von mir – das wusste ich jetzt mit überwältigender Gewissheit. Warum hatte sie mich vor ihnen gewarnt? Ich werde sie fragen, beschloss ich und stand auf. Ich bin alt genug, um es zu erfahren.

Als ich meine Zimmertür erreicht hatte, spürte ich plötzlich eine merkwürdige Energie, bei der sich mir die Nackenhaare aufstellten. Die Auren mir unbekannter Unsterblicher stoben wie Wolken durch die Luft. Ich konnte nicht sagen, wie viele es waren, bloß, dass eine die anderen überstrahlte und noch stärker war als Mutters Aura oder die von Ping’er.

Wer war hier?

Kaum riss ich die Doppeltür auf, stürmte Mutter schon herein. Ich stolperte rückwärts und stieß dabei gegen einen Stuhl. Hatte sie herausgefunden, was ich getan hatte? War sie hier, um mich zu tadeln?

Ich senkte den Kopf. »Verzeih mir, Mutter. Die Lichter …«

Sie packte mich an den Schultern. »Mach dir deswegen keine Gedanken, Xingyin. Wir haben eine Besucherin. Sie darf nicht erfahren, dass du hier bist. Oder dass du meine Tochter bist.«

Bei der Aussicht, jemand Neues kennenzulernen, schlug mein Herz schneller. Doch dann begriff ich den Sinn ihrer Worte – und ihren Tonfall – und meine Aufregung verpuffte. »Dann willst du also nicht, dass ich deine Freundin kennenlerne?«

Mutter ließ mich los und ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als wären sie aus Marmor. »Sie ist keine Freundin. Sie ist die Kaiserin des Himmlischen Königreichs. Sie weiß nicht von dir. Niemand weiß von dir. Und wir müssen verhindern, dass jemand dich findet!«

Trotz der Neugier, die sie in mir entfachten, erschreckten mich ihre hastig hervorgepressten Worte. Das Himmlische Königreich galt als das mächtigste der acht Länder der Unsterblichen. Es lag wie eine kostbare Träne eingebettet im Herzen des Reiches. Aus ihrem auf einer Wolkenbank schwebenden Palast herrschten der Kaiser und die Kaiserin über die Himmlischen und die Sterblichen und wachten über Sonne, Mond und Sterne. Seit wir hier lebten, hatten sie sich nie dazu herabgelassen, unser abgeschiedenes Zuhause zu besuchen. Warum also jetzt?

Und warum musste ich mich verstecken?

Eisige Ranken schlangen sich um meinen Magen. »Stimmt etwas nicht?«, fragte ich, in der Hoffnung, dass Mutter verneinen würde.

Sie strich mir sanft über die Wange. »Später erkläre ich dir alles. Aber jetzt bleib erst einmal in deinem Zimmer und verhalte dich ruhig.«

Als ich nickte, ging sie und schloss die Tür hinter sich. Erst als sie weg war, fiel mir auf, dass sie meine Frage nicht beantwortet hatte. Ich schlug ein Buch auf, legte es jedoch beiseite, nachdem ich denselben Satz zum dritten Mal gelesen hatte. Danach zupfte ich eine Saite meiner Qin, erstickte den Ton aber gleich wieder. Während ich die geschlossene Tür anstarrte, überkam mich eine brennende Neugier und löste die Angst ab. Langsam ging ich zur Tür und machte sie vorsichtig einen Spalt weit auf. Ich wollte nur einen Blick auf die Himmlische Kaiserin werfen und gleich in mein Zimmer zurückkehren. Wann hätte ich schon sonst die Möglichkeit, eine der mächtigsten Unsterblichen im ganzen Reich zu sehen? Möglicherweise trug sie sogar die Phönixkrone, die angeblich aus Federn aus reinem Gold bestand und mit hundert phosphoreszierenden Perlen verziert war.

Leise wie ein Schatten schlich ich auf Zehenspitzen durch den langen Gang, der zur Halle der Silbernen Harmonie führte. Mit ihrem Marmorboden, den Jadelampen und den Wandbehängen aus Seide war die Halle der prächtigste Raum im ganzen Palast. Holzsäulen mit verzierten Silbersockeln verliehen dem ganzen Prunk einen Hauch von Heimeligkeit. Ich hatte mir stets vorgestellt, dass wir unsere Gäste hier empfangen würden, doch bis heute hatten wir noch nie welche gehabt.

Leise konnte ich eine Stimme ausmachen und spitzte die Ohren.

»Bist du wohlauf, Chang’e?« Der herzliche Tonfall der Kaiserin überraschte mich. Sie klang gar nicht so furchteinflößend.

»Ja, Eure Majestät. Danke, dass Ihr fragt.« Die Stimme meiner Mutter war ungewöhnlich hell.

Auf diesen Austausch von Höflichkeiten folgte ein kurzes Schweigen. Ich machte mich ganz klein und spähte vorsichtig in den Saal. Mutter kniete mit tief verneigtem Kopf am Boden, während ihr gegenüber – auf dem Stuhl, der eigentlich ihr gehörte – die Himmlische Kaiserin thronte.

Sie trug keine Krone, sondern einen aufwendigen Kopfschmuck aus juwelenbesetzten Blättern und Blumen, der klimperte, wann immer sie sich bewegte. Während ich ihn fasziniert betrachtete, öffnete sich plötzlich eine Blüte und entfaltete sich zu einer amethystenen Orchidee. An den Fingern trug die Kaiserin goldene Aufsätze, die Habichtkrallen nachempfunden waren. Das schwächer werdende Licht, das durch die Fenster hereinfiel, spiegelte sich in den silbernen Stickereien ihres lilafarbenen Gewands. Im Gegensatz zur zarten, ruhigen Aura meiner Mutter war ihre kräftig und vor Hitze pulsierend. Ihre Erscheinung war überwältigend, doch der Anblick ihrer glänzenden Lippen im Kontrast zu ihrer weißen Haut ließ mich an frisch vergossenes Blut im Schnee denken.

Wie es ihrer erhabenen Position entsprach, war die Kaiserin nicht allein erschienen. Hinter ihr standen sechs Bedienstete und ein groß gewachsener Unsterblicher mit dunklem Teint. Flache Bernsteinstücke zierten sein dunkles Haar, um seine tintenschwarze Robe war eine bronzefarbene Schärpe gebunden und seine Hände steckten in weißen Handschuhen. Ich wusste zwar nichts über den Himmlischen Hofstaat, doch seine Haltung sprach dafür, dass er einen höheren Rang bekleidete als die anderen. Trotzdem hatte er etwas an sich, das mir nicht behagte, und als er mit seinen hellbraunen Augen den Saal musterte, wich ich schnell zurück und presste mich gegen die Wand.

Nach einer kurzen Pause ergriff die Kaiserin wieder das Wort, doch jetzt war ihre Stimme kühler als ein Stück unverarbeitete Jade. »Hier wurde eine eigentümliche Energieverschiebung festgestellt, Chang’e. Praktizierst du eine geheime Kraft oder beherbergst einen verbotenen Gast und verstößt damit gegen die Bedingungen deiner Gefangenschaft?«

Ich erstarrte. Sie sprach jedes Wort mit einer solchen Beflissenheit aus, dass es fast schien, als würde sie sich an den Verfehlungen meiner Mutter weiden. Kaiserin hin oder her: Wie konnte sie es wagen, so mit ihr zu sprechen? Mutter war schließlich die Mondgöttin und wurde von unzähligen Sterblichen verehrt und geliebt! Wie konnte sie eine Gefangene sein? Dieser Ort war nicht nur unser Zuhause, er war ihr Reich. Wer entzündete denn Nacht für Nacht die Laternen? Für wen wiegten sich die Bäume und seufzten, wann immer sie an ihnen vorüberschritt? Wie sollte sie hier gegen irgendwelche Regeln verstoßen?

»Eure Himmlische Hoheit, hier muss ein Irrtum vorliegen. Wie Ihr wisst, sind meine Kräfte schwach. Und sonst ist hier niemand. Wer würde sich schon herwagen?«, entgegnete Mutter mit fester Stimme.

»Minister Wu. Teilt uns mit, was Euch aufgefallen ist«, befahl die Kaiserin.

Mit einem Rascheln trat der Minister vor. »Heute wurde in der Aura des Mondes eine beträchtliche Verschiebung verzeichnet. Dergleichen ist mir in all den Jahren meiner Forschung noch nie begegnet. Das kann kein Zufall sein.«

Obwohl er dies mit ruhiger Stimme vorbrachte, spürte ich seine Aufregung. Genoss er es, Mutter in die Enge zu treiben, wie es bei der Kaiserin der Fall zu sein schien? Wut stieg in mir auf, obwohl ich mich etwas unbehaglich fühlte. Der Schauer, der mich überlaufen hatte, als ich die Lichter berührte, das Flüstern in der Luft … Waren sie deshalb hier?

»Wir hoffen, dass unsere Milde dich nicht übermütig gemacht hat«, zischte die Kaiserin. »Du hattest schon einmal Glück, als man dich zur Strafe hierhergebracht hat, nachdem du deinem Mann das Elixier der Unsterblichkeit gestohlen hattest. Damals bist du der blitzenden Peitsche und der flammenden Rute entgangen. Sollten wir jedoch dahinterkommen, dass du dich weiterer Vergehen schuldig gemacht hast, wird sich das ändern. Wenn du jetzt gestehst, lassen wir vielleicht Gnade walten.« Ihr scharfer Tonfall durchschnitt die Stille unseres Zuhauses.

Ich presste mir die Hand vor den Mund, um nicht laut nach Luft zu schnappen. Ich hatte Mutter nie gefragt, wie sie unsterblich geworden war, weil ich spürte, welcher Schmerz diese Erinnerung begleitete. Seit ich die Geschichte von den Sonnenvögeln gelesen hatte, ließ mich jedoch eine Frage nicht mehr los: Wo war mein Vater? Zu erfahren, dass er das Elixier bekommen hatte und Mutter vorgeworfen wurde, es gestohlen zu haben … Bei dieser Vorstellung wurde mir übel. Die Kaiserin irrt sich, sagte ich mir und erstickte ein heimtückisches Körnchen Zweifel.

Mutter schien weder zu erschrecken, noch leugnete sie diese gemeinen Anschuldigungen. War sie es gewohnt, so von der Kaiserin behandelt zu werden? Als ich wieder in den Saal spähte, beugte sie sich so weit vor, dass sie mit der Stirn und den Handflächen den Boden berührte. »Eure Himmlische Hoheit. Minister Wu. Vielleicht ist dieses Phänomen auf die derzeitige Sternenkonstellation zurückzuführen. Der Azurblaue Drache ist in die Laufbahn des Mondes eingetreten, was womöglich zu einer Verzerrung unserer Auren geführt hat. Wenn das vorüber ist, sollte alles wieder normal sein.« Sie sprach, als wäre sie eine Gelehrte, die den Himmel studiert. Dabei wusste ich, dass sie sich für derlei nicht im Geringsten interessierte.

Ein langes Schweigen folgte, nur unterbrochen von einem rhythmischen Klopfen – es stammte von der Kaiserin, die mit ihren goldenen Fingeraufsätzen das weiche Holz der Armlehne bearbeitete. Als sie sich endlich erhob, nahmen ihre Bediensteten hinter ihr Aufstellung.

»Das mag wohl sein, aber wir kommen wieder. Du warst zu lange dir selbst überlassen.«

Ich war froh, dass sie gingen, obwohl die Worte der Kaiserin wie eine Drohung geklungen hatten. Weil ich es nicht ertrug, weiter zuzuhören, schlich ich mich zurück in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett legte und aus dem Fenster schaute. Es war dunkel geworden, und der Himmel hatte jenes besondere Grau-Violett angenommen, das verkündet, dass der Tag der Nacht weicht. Obwohl mein Geist etwas benommen war, konnte ich spüren, wie die fremden Auren langsam verschwanden. Kurze Zeit später kam Mutter ins Zimmer, ihr Gesicht war noch weißer als die Wand.

Meine Zweifel lösten sich in Luft auf. Ich glaubte der Himmlischen Kaiserin kein Wort. Mutter hätte Vater niemals hintergangen. Nicht einmal, um Unsterblichkeit zu erlangen.

Ich rappelte mich auf und ging zu ihr. Inzwischen war ich fast genauso groß wie sie. »Mutter, ich habe gehört, was die Kaiserin zu dir gesagt hat.«

Sie nahm mich in die Arme und drückte mich fest an sich. Erleichtert, dass sie nicht wütend war, lehnte ich mich gegen sie und spürte, wie angespannt sie war.

»Wir haben nicht viel Zeit. Die Kaiserin kann jeden Moment mit ihren Soldaten zurückkehren«, flüsterte Mutter.

»Was sollen sie uns antun? Wir haben doch nichts falsch gemacht.« Mein Magen rumorte auf unangenehme Weise. »Sind wir wirklich Gefangene? Was hat die Kaiserin gemeint, als sie von dem Elixier gesprochen hat?«

Mutter löste die Umarmung und blickte mir ins Gesicht. »Xingyin, du bist hier nicht gefangen. Ich schon. Nachdem dein Vater die Sonnenvögel getötet und die Welt gerettet hat, hat der Himmlische Kaiser ihm zum Dank das Elixier der Unsterblichkeit geschenkt. Houyi wollte es jedoch nicht nehmen. Für uns beide war es zu wenig und ohne mich wollte er nicht in den Himmel aufsteigen. Ich war schwanger und unser Glück schien perfekt. Also versteckte er das Elixier an einem Ort, den nur ich kannte.«

Ihre Stimme brach. »Aber mein Körper war zu schwach, um dich auszutragen. Die Ärzte sagten, dass du … dass wir die Geburt nicht überstehen würden. Houyi wollte ihnen nicht glauben, er weigerte sich aufzugeben und schleifte mich in der Hoffnung auf eine bessere Prognose von einem Arzt zum anderen. Ich wusste jedoch tief in meinem Inneren, dass sie recht hatten.« Sie verstummte, und in ihre Augen trat ein Blick, als würde sie in tief verborgene Erinnerungen eintauchen, Erinnerungen voller Schmerz. »Als er in die Schlacht ziehen musste, blieb ich allein zurück. Die Wehen setzten viel zu früh ein, mitten in der Nacht. Die Schmerzen waren so überwältigend, dass ich kaum um Hilfe schreien konnte. Ich hatte solche Angst, zu sterben oder dich zu verlieren.«

Als sie wieder verstummte, konnte ich meine Frage nicht zurückhalten: »Was ist dann passiert?«

»Ich holte das Elixier aus seinem Versteck und trank es.«

Es war so still im Zimmer, dass ich meinen Herzschlag hören konnte. Meine Hände wärmten nicht mehr die meiner Mutter, sondern waren so kalt wie ihre.

»Hasst du mich, Xingyin?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Weil ich deinen Vater hintergangen habe?«

Die Kaiserin hatte also doch die Wahrheit gesagt. Einen Augenblick lang war ich wie gelähmt und mir war übel. Vielleicht hätten wir überlebt, auch wenn Mutter das Elixier nicht getrunken hätte. Dann wäre meine Familie jetzt noch intakt. Doch ich wusste, wie sehr Mutter meinen Vater liebte und wie sehr sie unter seinem Verlust litt. Und ich war trotz allem dankbar, am Leben zu sein.

Ich erstickte den letzten Zweifel. »Nein, Mutter. Du hast uns gerettet.«

Ihr Blick war abwesend, von Erinnerungen verschleiert. »Deinen Vater zu verlassen … hat unglaublich wehgetan. Allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht sterben wollte. Und ich konnte auch nicht zulassen, dass du stirbst. Erst später fand ich heraus, dass Geschenke des Himmlischen Kaisers mit unsichtbaren Haken und Ösen versehen sind. Und dass es uns Sterblichen nicht obliegt, nach eigenem Ermessen damit zu verfahren. Der Kaiser war außer sich, dass ich anstelle deines gefeierten Vaters unsterblich geworden war. Und die Kaiserin beschuldigte mich, mir die Unsterblichkeit durch eine List erschlichen zu haben.«

»Hast du es ihnen gesagt?«, fragte ich. »Sie hätten doch sicher verstanden, dass es dir nur darum ging, uns beide zu retten …«

»Ich habe mich nicht getraut. Die Kaiserin wirkte so feindselig. Als würde sie einen Groll gegen deinen Vater hegen. Sie beschuldigte ihn sogar der Undankbarkeit, weil er das Geschenk des Kaisers verschmäht hatte. Da wusste ich, dass sie ihn für das Töten der Sonnenvögel nicht hatte belohnen wollen, sondern bestrafen. Sie hätte, ohne zu zögern, auch dir etwas angetan. Ich musste deine Existenz verheimlichen. Um dich vor ihrem Zorn zu bewahren, habe ich deine Geburt verschwiegen und den Diebstahl zugegeben. Zur Strafe wurde ich auf den Mond verbannt und mit einem Zauber belegt, der mich bis in alle Ewigkeit hier festhält. Ich kann diesen Ort nicht verlassen, so sehr ich es auch möchte.« Leise fügte sie hinzu: »Auch ein Palast ist ein Gefängnis, wenn man ihn nicht verlassen kann.«

Ich bekam fast keine Luft mehr, fühlte mich wie ein Fisch an Land. Ich hatte immer gedacht, unser Leben sei friedlich und sicher vor den Gefahren, die ich aus Büchern kannte. Zu erfahren, dass wir den Zorn der mächtigsten Unsterblichen im Reich auf uns gezogen hatten, erschütterte mich im Innersten.

»Warum ist die Kaiserin heute hergekommen, nach all der Zeit?«

»Unsere Aura entspringt unserer Lebenskraft, der Quelle unserer Magie – den Lichtern, die du siehst, wenn du die Augen schließt. Seit du auf der Welt bist, haben wir alles darangesetzt, deine Kraft zu verbergen. Aber heute dürfte die Kaiserin deine Präsenz gespürt haben.«

Meine Kehle schnürte sich zusammen. »Das wusste ich nicht. Es ist ganz allein meine Schuld.« Wie dumm und waghalsig ich doch gewesen war! Aus Langeweile hatte ich Mutters Warnungen in den Wind geschlagen, mein Versprechen gebrochen und uns dadurch in unsägliche Gefahr gebracht.

»Ich trage genauso Schuld. Ich habe dir nur gesagt, dass du dich von deiner Magie fernhalten sollst, aber nicht, warum. Dass du das Himmlische Königreich dadurch auf dich aufmerksam machen könntest.« Sie seufzte. »Früher oder später wäre es ohnehin passiert, du wirst von Jahr zu Jahr stärker. Wenn sie davon erfahren, werden sie uns schwer bestrafen – daran besteht kein Zweifel. Ich habe weniger Angst um mich selbst als davor, was sie dir antun werden, einem unsterblichen Kind, das es gar nicht geben sollte.«

»Was tun wir jetzt?«

»Uns bleibt nur eine Möglichkeit. Du musst von hier fortgehen.«

Angst überzog mich wie eine Eisschicht einen See. Mutter nie wiederzusehen … Ich wollte sie plötzlich gar nicht mehr loslassen. »Kann ich nicht bei dir bleiben? Ich verstecke mich auch. Bring mir alles bei, sodass ich dir helfen kann.«

»Das geht nicht. Du hast gehört, was die Kaiserin gesagt hat. Sie werden uns ab sofort noch genauer beobachten. Es ist zu spät.«

»Vielleicht haben sie dir geglaubt, vielleicht kommen sie nicht wieder.« Eine verzweifelte Bitte, eine kindische Hoffnung.

»Womöglich habe ich uns etwas Zeit verschafft, aber die Kaiserin ist sicher nicht nur aus einer Laune heraus hier erschienen. Sie werden wiederkommen. Und zwar bald.« Sie klang heiser, als würde sie von Gefühlen übermannt. »Wir können dich nicht beschützen. Wir sind nicht stark genug.«

»Aber wohin soll ich gehen? Wann sehe ich dich wieder?« Jedes meiner Worte war wie ein Hieb, der einem Albtraum Form verlieh.

»Ping’er wird dich zu ihrer Familie ans Südmeer bringen.« Mutters Tonfall war jetzt heiter, als wolle sie uns beide überzeugen. »Das Meer muss wunderschön sein. Du wirst es gut dort haben, fern von den Wolken, die uns überschatten.«

Ping’er hatte mir alles erzählt, was sie über die Welt dort unten wusste, und meine Abenteuerlust und Fantasie angeregt. Die große See untergliederte sich in vier Teile, die sich von der Ostküste zum südlichen Ozean und von den Klippen im Westen zu den Gewässern im Norden erstreckten. Fasziniert hatte ich den Geschichten über die Kreaturen gelauscht, die in den prächtigen Unterwasserstädten oder an den goldenen Küsten lebten. Wie sehr hatte ich davon geträumt, sie einmal mit eigenen Augen zu sehen.

Aber es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, mein Zuhause dafür zu verlassen. Was nutzten einem Abenteuer, wenn man sie mit niemandem teilen konnte?

Mutter nahm meine Hand und holte mich zurück in die Gegenwart. »Du darfst keinem erzählen, wer du bist. Der Himmlische Kaiser hat überall Spione. Er würde deine Existenz als unverzeihliche Beleidigung auffassen«, ermahnte sie mich und blickte mich dabei so eindringlich an, dass ich es ihr versprach.

Mutter beugte sich vor und legte mir etwas um den Hals. Eine Goldkette mit einem kleinen scheibenförmigen Anhänger aus Jade. Er hatte die Farbe von Frühlingsblättern und war mit einer Drachenschnitzerei verziert. Als ich den kalten Stein zwischen die Finger nahm, spürte ich am Rand eine kleine Einkerbung.

»Die hat deinem Vater gehört.« Mutters Augen waren so dunkel wie eine mondlose Nacht. »Erzähl niemandem, wer du bist. Aber vergiss es auch nicht.«

Sie drückte mich fest an sich und streichelte mein Haar. Ich blickte feige zu Boden, denn ich wollte nicht sehen, wie sie fortging, und wünschte, dieser Augenblick könnte ewig dauern. Dann strich sie mir noch einmal über die Wange und hinterließ eine schmerzhafte Leere.

Ich sank auf den Boden und rollte mich ganz klein zusammen. Ich wollte schreien und weinen und gegen den Boden trommeln. Stattdessen presste ich mir die Hände vor den Mund, um mein Schluchzen zu dämpfen, und ließ nur meinen stummen Tränen freien Lauf. In der einen Nacht, die eine Mondblume braucht, um zu erblühen und zu verwelken, war mein Leben auf den Kopf gestellt worden. Mein Weg, der mir immer wie eine gerade Straße erschienen war, war überraschend in die Wildnis abgezweigt – und ich wusste nicht mehr weiter.

Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und mein Zimmer lag im Dunkeln. Der Mond war in Schatten getaucht, denn die Laternen waren noch nicht entzündet. Heute stand ein später Mondaufgang an.

Ein Gefühl von Dringlichkeit löste meine Erstarrung. Wenn es bedeutete, dass Mutter und Ping’er bestraft würden, wollte ich auf keinen Fall entdeckt werden. Zwar wurden Unsterbliche nur selten zum Tode verurteilt, doch wenn ich daran dachte, dass die Kaiserin mit Blitzen und Flammen gedroht hatte, wurde mir ganz schlecht vor Angst.

Ping’er half mir, meine Habseligkeiten in ein großes Tuch einzuwickeln. »Nimm nicht zu viel mit und nichts zu Wertvolles, damit du nicht auffällst.« Ihre Augen waren rot gerändert, doch als sie sah, wie aufgewühlt ich war, fügte sie hinzu: »Am Südmeer bist du sicher, dort bist du so gut verborgen wie ein Stern am Himmel. Meine Familie wird sich um dich kümmern und dir alles beibringen, was du wissen musst.«

Damit verknotete sie die Enden des Tuches und formte so einen Beutel, den sie mir über die Schulter hängte. »Brechen wir auf?«

Ich wollte nicht gehen. Aber obwohl ich mich wie betäubt fühlte, nickte ich. Was blieb mir anderes übrig? Ich konnte nicht einmal den Launen des Schicksals die Schuld geben, denn ich selbst hatte uns in diese Lage gebracht.

Als Ping’er und ich zum Tor eilten und uns Richtung Osten in den Osmanthus-Wald schlugen, blickte ich mich ein letztes Mal um. Nie war mir mein Zuhause schöner erschienen als in diesem Moment, und ich prägte mir jeden Bogen und jeden Stein fest ein. Tausend Laternen beleuchteten den Boden, während die silbernen Schindeln das Licht der Sterne reflektierten. Und auf dem Balkon, von dem ich auf die Welt hinabgeschaut hatte, stand eine grazile, weiß gekleidete Gestalt.

Diesmal galt Mutters Blick nicht der Welt der Sterblichen, sondern mir, und sie winkte mir zum Abschied zu. Ich ignorierte Ping’er, die mich ungeduldig am Ärmel zerrte, sank auf die Knie und verneigte mich so tief, dass meine Stirn den weichen Boden berührte. Meine Lippen bildeten einen stummen Schwur: Ich würde zurückkommen und Mutter befreien. Ich wusste zwar noch nicht, wie, nur, dass ich es mit allen Mitteln versuchen würde. Dies war nicht unser Ende. Als ich Ping’er zu der Wolke folgte, die uns davontragen würde, durchbohrte ein so stechender Schmerz mein Herz, dass es barst und nur von einem dünnen Faden Hoffnung zusammengehalten wurde.

Ich sog die frische Luft ein, sie war belebend, aber schal und ohne den geringsten Hauch von Gewürzen. Als die Wolke sich in Bewegung setzte und über den Himmel schoss, verlor ich das Gleichgewicht und griff nach Ping’ers Arm. Wie gespenstisch die Nacht doch ohne den Schein der Laternen war. Heute Morgen noch war Angst ein mir unbekanntes Gefühl gewesen, und jetzt raubte sie mir den Atem. Zum Glück gaben die taufeuchten Falten der Wolke unter meinen Füßen nicht nach, sondern waren fest wie der Boden. Nur der zunehmende Wind machte mir zu schaffen.

Vor uns lag eine lange Reise – über das Himmlische Königreich und vorbei an den üppigen Wäldern des Königreichs des Phönix. Sogar über die Goldene Wüste hinaus, den riesigen Halbmond aus trockenem Sand, der an das gefürchtete Reich der Dämonen grenzte. Wie sollte ich je den Weg zurück finden? Aber vielleicht, so wurde mir klar, war das ohnehin nicht vorgesehen.

In der Ferne tauchte ein Lichtermeer auf und riss mich aus meinen düsteren Gedanken.

»Das Himmlische Königreich«, flüsterte Ping’er.

Als uns plötzlich eine Böe erfasste, blickte sie über die Schulter und erbleichte. Ich wirbelte ebenfalls herum und spähte in die Nacht. Eine große Wolke kam auf uns zu, darauf befanden sich die schattenhaften Umrisse von sechs Unsterblichen. Ihre Rüstungen schimmerten weiß und golden, doch ihre Gesichter waren in der Dunkelheit verborgen.

»Soldaten.« Ping’er schnappte nach Luft.

Mein Herz hämmerte. »Suchen sie uns?«

Sie zog mich hinter sich. »Sie tragen die Rüstung des Himmlischen Königreichs. Das heißt, dass die Kaiserin sie geschickt hat. Mach dich klein. Versteck dich. Ich versuche sie abzuhängen.«

Ich duckte mich, so gut ich konnte, und verbarg mich zwischen den kalten Fäden der Wolke. Ich war froh, die Soldaten nicht sehen zu müssen, trotzdem bekam ich vor Angst eine Gänsehaut. Ping’er machte die Augen zu und schoss einen dünnen Lichtstrahl aus der Handfläche. Es war das erste Mal, dass ich sie Magie wirken sah – vielleicht, weil es bisher keinen Anlass dafür gegeben hatte. Unsere Wolke beschleunigte, aber nur für kurze Zeit.

Schweißperlen traten auf Ping’ers Stirn. »Schneller geht es nicht, ich bin nicht stark genug. Wenn sie uns aufhalten … finden sie heraus, wer wir sind.«

»Sind sie schon sehr nah?« Ich drehte mich um und wünschte sogleich, ich hätte es nicht getan.

In den Händen der Soldaten, die sich unaufhörlich näherten, glitzerte Stahl. Schon bald würden sie uns eingeholt haben. Sie würden Ping’er erkennen und uns befragen. Ich war eine schlechte Lügnerin, denn ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, es zu üben – ein strenger Blick von Mutter reichte, dass ich mit der Wahrheit herausplatzte. Schreckliche Bilder stürmten auf mich ein: Soldaten, die in unser Zuhause eindrangen und Mutter in Ketten davonschleppten. Eine Peitsche aus knisternden Blitzen, die auf ihren Rücken herabschnellte und ihre Haut bersten ließ. Blut, das auf ihr weißes Seidengewand spritzte. Ich spürte Galle in mir aufsteigen und würgte.

Ich bohrte meine Fingernägel in die Handflächen. Sie durften uns nicht fangen. Sie durften Mutter und Ping’er nichts antun. Ich musste es unbedingt verhindern. Aber mir fiel nur eine Lösung ein, und wahrscheinlich war es das Letzte, was ich je tun würde.

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, und presste hervor: »Ping’er, setz mich hier ab.«

Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Nein. Das ist das Himmlische Königreich! Wir müssen zum Südmeer. Wir müssen …«

Meine Ruhe verließ mich. Ich packte Ping’er am Arm und zog sie zu mir herunter. »Wir können sie nicht abhängen. Und wenn sie uns schnappen, werden wir alle bestraft. Ich … ich glaube, es ist besser, wenn wir uns trennen. Du bleibst auf der Wolke, ich kann sie ohnehin nicht steuern. So haben wir vielleicht eine Chance, Ping’er!« Was blieb uns anderes übrig? Es gab keinen Ausweg, der uns beiden die Flucht ermöglichte. Trotzdem zitterte ich wie Espenlaub, ich konnte nichts dagegen tun.

Ping’er schüttelte den Kopf, doch ich drängte weiter: »Mir wird nichts passieren, solange niemand im Himmlischen Königreich erfährt, wer ich bin. Ich habe Mutter versprochen, es niemandem zu erzählen, und das werde ich auch nicht tun. Ich finde schon einen Ort, an dem ich mich verstecken kann. Und vielleicht gelingt es dir ohne mich, die Soldaten abzuhängen.« Die Worte sprudelten nur so aus mir hervor. Wenn wir uns nicht beeilten, würde uns die Entscheidung abgenommen.

Ein Feuerstrahl zerriss die Dunkelheit, traf unsere Wolke und brachte sie ins Schlingern. Hitze flammte auf. Ping’er hob die Hand, von der ein Leuchtstrahl ausging, und löschte das Feuer. Mit einem Schrei ließ sie sich neben mich fallen.

»Sie greifen uns an«, stieß sie fassungslos hervor. Dabei drückte sie die leuchtenden Hände in die Wolke, um sie weiter zu beschleunigen.

Angst überkam mich, aber ich kämpfte sie nieder. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. »Ping’er, es ist die einzige Möglichkeit. Sie dürfen uns nicht erwischen.« Meine Stimme war entschieden, drängend – nicht mehr die eines Kindes, das versucht, sich Gehör zu verschaffen. »Das ist auch meine Entscheidung.«

Ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit trat auf Ping’ers Gesicht und sie zeigte auf eine dichte Wolkenbank in der Ferne. »Wir versuchen es dort drüben. Ich bringe dich so tief wie möglich herunter und lasse dich absteigen. Und ich federe deinen Sturz ab.«

Trotz ihrer Beteuerungen war ich beunruhigt. Ihr Atem ging zu schnell und angestrengt. Ihre Haut fühlte sich feucht an. War sie krank? Unmöglich. Unsterbliche wurden nicht krank. »Bist du verletzt, Ping’er? Hat das Feuer …«

»Ich bin nur erschöpft. Mach dir keine Sorgen.«

Ich drehte mich zur Seite und spähte über den Rand der Wolke. Ich dachte an die bevorstehenden Gefahren – die Leere unter uns, die glitzernden Lichter in der Dunkelheit. Wunderschön. Furcht einflößend. Ich rappelte mich auf und nahm Ping’er fest in die Arme. Ich wünschte, ich müsste sie nie loslassen. Ich wünschte mir so vieles, was nie in Erfüllung gehen würde.

Wir tauchten in die Wolkenbank ein und Ping’er packte mich mit wilder Verzweiflung. Eiskalte Wassertropfen streiften meine Haut und durchnässten meine Kleider. Je tiefer wir sanken, desto mehr fraß sich die Kälte in meine Knochen. Meine Beine zitterten. Als Ping’er mir den Arm um die Schultern legte, fühlte ihre Haut sich an wie kalte Asche. Kurz flirrte die Luft und ein leichtes Kribbeln überlief mich.

»Der Schild wird deinen Sturz abfedern, aber es kann trotzdem sein, dass es wehtut. Sei immer vorsichtig.« Mit zitternden Händen hängte sie mir den Beutel über die Schulter.

»Kommst du zurück? Wenn die Gefahr vorbei ist?« Ich klammerte mich an diese schwache Hoffnung und nahm all meinen Mut zusammen. Alles nur, um nicht die Nerven zu verlieren.

Tränen traten in Ping’ers Augen. »Natürlich. Aber wenn nicht …«

»Dann finde ich allein zurück. Eines Tages, wenn es wieder sicher ist«, sagte ich schnell, um uns beide zu beruhigen.

»Das wirst du. Das musst du. Deiner Mutter zuliebe.« Sie holte tief Luft. »Bist du bereit?«

Ich fühlte mich zum Zerreißen gespannt. Nein, ich war nicht bereit, diesen Sprung ins Unbekannte zu machen und die letzte Verbindung zu meinem Zuhause zu kappen, und würde es auch niemals sein. Aber wenn ich jetzt nicht sprang, sondern mich von Angst und Zweifeln überwältigen ließ, würde mich das bisschen Entschlossenheit, das ich besaß, auch noch verlassen. Den Blick fest auf Ping’er gerichtet machte ich mit zitternden Beinen einen Schritt auf den Rand der Wolke zu. Ich sah hundertmal lieber sie als den klaffenden Abgrund unter meinen Füßen.

»Jetzt!«, rief sie, und ihre Augen sprühten vor Energie.

Ich stolperte rückwärts, und im selben Moment fiel Ping’ers Kopf zur Seite und sie brach auf der Wolke zusammen. Ich stürzte ebenfalls, durch die schwarze Leere des Himmels. Der Wind löschte alle meine Gedanken aus, verschluckte den Schrei, der sich aus meiner Kehle gelöst hatte, und peitschte mir ins Gesicht und gegen die Glieder. Meine Kleider bauschten sich zu einer seidenen Wolke. Die kalte Luft, die mir entgegenschlug, raubte mir den Atem und brannte in meiner Lunge. Das Rauschen in meinen Ohren übertönte alle Geräusche mit Ausnahme meines rasenden Herzens.

Ping’ers Wolke wurde immer kleiner und bewegte sich nicht mehr. Ping’er lag noch unbeweglich an der Stelle, an der sie zusammengebrochen war. War sie ohnmächtig? Beweg dich!, schrie ich tonlos, während die Soldaten auf sie zurasten. Die Angst schnürte mir den Magen zusammen, und ich streckte in einer nutzlosen Geste die Hände aus nach … nach etwas in mir. Meine Haut kribbelte, ein heiß-kalter Schauer überlief mich und ein funkelnder Luftstrahl schoss auf Ping’ers Wolke zu. Sie flackerte noch einmal auf, dann stob sie davon und verschwand in der Ferne.

Ich schlug am Boden auf und ein gellender Schmerz durchzuckte meinen Körper. Der Aufprall nahm mir die Luft, und ich konnte mich nicht rühren, sondern lag regungslos da, während mir Tränen übers Gesicht liefen und sich mit dem Schweiß auf meiner Haut mischten. Ich fühlte mich unendlich müde. Meine Finger ertasteten weiches Gras, und als ich zitternd nach Luft rang, roch sie nach Blumen. Ein süßer Duft, doch ich war zu betäubt, um ihn richtig wahrzunehmen. Ich stemmte mich hoch – obwohl mir alles wehtat, war ich unverletzt. Ping’ers Zauber hatte mich vor dem Schlimmsten bewahrt.

Ich hatte geglaubt, ich würde sie retten, dabei hatte sie mir zur Flucht verholfen und so ihr eigenes Leben riskiert. War sie entkommen? War Mutter in Sicherheit? War ich in Sicherheit? Mein Atem ging stoßweise, ich fühlte mich, als würde ich ertrinken und keine Luft bekommen. Wir Unsterblichen blieben zwar vor Krankheit und Alterserscheinungen verschont, doch konnten uns die Waffen, Geschöpfe und Magie unseres Reiches sehr wohl etwas anhaben. Dumm, wie ich war, hatte ich stets gedacht, vor derlei Gefahren sicher zu sein. Und jetzt … Ich rollte mich ganz klein zusammen und schlang die Arme um die Knie. Ein leiser Klagelaut drang aus meiner Kehle wie bei einem verletzten Tier. Idiotin. Ich verfluchte mich in einem fort dafür, dass ich dieses Unglück über uns gebracht hatte, bis ich schließlich die Lippen aufeinanderpresste, damit niemand mich hörte.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort lag, die Kehle rau von unterdrücktem Schmerz. Natürlich fürchtete ich auch um mein Leben, Bilder von grausamen Soldaten und schrecklichen Bestien bevölkerten meinen Geist. Wer konnte schon wissen, was in der Dunkelheit lauerte? Langsam verlor ich die Fassung, löste mich auf wie ein gestrandetes Wrack, bis plötzlich ein Lichtstrahl auf mich fiel. Ich hob den Kopf und blickte zum Mond – es war das erste Mal, dass ich ihn aus der Ferne sah. Er leuchtete und war wunderschön, und er hatte etwas Beruhigendes. Meine Atmung normalisierte sich. Solange der Mond jeden Abend aufging, wusste ich, dass Mutter die Laternen entzündet hatte und es ihr gut ging. Dieser Gedanke tröstete mich. Ich stellte mir vor, wie sie durch den Wald schritt, mit in der Dunkelheit schimmernden Kleidern. Mein schmerzendes Herz zog sich sehnsüchtig zusammen, doch hielt ich mich davon ab, wieder in Selbstmitleid zu versinken.

Zu meinen Füßen bemerkte ich hell flackernde Lichter, die in der tiefschwarzen Dunkelheit tanzten. Ich fragte mich, ob das die Lichter waren, die ich von oben gesehen hatte, da fiel mir auf, dass der Boden wie ein Spiegel war, der die Sterne am Himmel reflektierte. Ihre fremde Schönheit schmerzte mich, denn sie erinnerte mich daran, dass ich nicht mehr zu Hause war. Ich ließ mich wieder auf den Boden sinken und schlang die Arme um mich. Dann blickte ich zum Mond auf, bis der Schmerz nachließ und ich auf der kalten, harten Erde endlich in einen traumlosen Schlaf fiel.

Jemand tätschelte mir den Arm. War das Mutter? War das alles nur ein schrecklicher Albtraum gewesen? Hoffnung flackerte in mir auf und vertrieb den letzten Rest Verschlafenheit. Ich öffnete die Augen und blinzelte ins helle Tageslicht. Die flirrenden Lichter waren verschwunden und statt ihrer spiegelten sich die rosafarbenen Wolken der Morgendämmerung.

Neben mir kauerte eine Frau mit einem Korb. Sie hatte mir die Hand auf den Ellbogen gelegt, die so warm und trocken war wie die Oberfläche einer Papierlaterne.

»Warum schläfst du hier?« Sie sah mich fragend an. »Ist alles in Ordnung?«

Ich setzte mich auf und unterdrückte ein Stöhnen angesichts meines schmerzenden Rückens. Nur mit Mühe brachte ich ein Nicken zustande, ich war wie gelähmt von den Erinnerungen, die auf mich einstürmten.

»Sei vorsichtig. Du solltest besser nach Hause gehen. Angeblich gab es gestern Nacht irgendeinen Vorfall und jetzt patrouillieren Soldaten in der Gegend.« Sie griff nach ihrem Korb und stand auf.

Mir wurde übel. Vorfall? Soldaten? »Warte!«, rief ich. Ich wusste zwar nicht, was ich sagen sollte, wollte aber nicht allein zurückbleiben. »Was ist passiert?«

»Irgendetwas hat die Schutzzauber durchbrochen. Jetzt suchen die Wachen danach.« Sie zitterte. »In den letzten Jahren wurden hier immer wieder Fuchsgeister gesehen. Aber diesmal soll es sich um einen Dämon handeln, der Himmlische Kinder für seine finsteren Zwecke entführen will.«

Eine dieser Bestien aus dem Reich der Dämonen? Doch dann ging mir auf, dass die Wachen mich suchten. Dass ich der vermeintliche Dämon war. Hätte ich nicht solche Angst gehabt, hätte ich lauthals gelacht. Ping’er hatte vermutlich nichts von den Wachen gewusst. »Haben sie schon jemanden gefunden?« Meine Stimme war dünn und leise.

»Noch nicht, aber keine Angst: Unsere Soldaten sind die besten im ganzen Reich. Sie werden den Eindringling schon bald schnappen.« Sie lächelte mir aufmunternd zu, dann fragte sie: »Was machst du zu dieser frühen Stunde hier?«

Ich atmete innerlich auf. Ping’er war entkommen! Aber obwohl ich stundenlang hier gelegen hatte, war sie nicht zurückgekehrt. Hatte die Böe, die den Himmel durchbrochen und sie davongetragen hatte, sie zu weit fortgeweht?

Ein Gedanke ließ mir keine Ruhe: War diese Kraft irgendwie von mir ausgegangen? War ich in der Lage, dergleichen zu wiederholen? Nein, die Vorstellung war lächerlich. Außerdem hatte meine Zauberkraft bisher nichts Gutes bewirkt, und ich konnte es mir nicht leisten, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Plötzlich wurde mir klar, dass die Frau mich anstarrte und auf eine Antwort wartete. Zwar hegte sie keinerlei Verdacht gegen mich, denn sie ging von einer furchterregenden Bestie oder einem bösen Geist aus, trotzdem wollte ich ihr keinen Grund geben, misstrauisch zu werden.

»Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich … ich wurde aus dem Haushalt, in dem ich gearbeitet habe, entlassen. Ich bin gestürzt und ohnmächtig geworden«, stammelte ich, denn meine Zunge war es nicht gewohnt, solch dreiste Lügen zu erzählen.

Die Frau sah mich mitleidig an. Vielleicht spürte sie meinen Kummer, der wie ein Fluss nach dem Regen aus mir herausströmte. »Bei den Vier Meeren, was sind diese Adeligen manchmal übellaunig und selbstsüchtig! Aber alles halb so schlimm. Du findest bestimmt bald eine neue Anstellung.« Sie legte den Kopf schief. »Ich arbeite im Anwesen des Goldenen Lotus. Und die Tochter des Hauses sucht gerade eine neue Bedienstete, falls du interessiert bist.«

Ihre Güte war eine warme Brise im Winter meines Unheils. Meine Gedanken rasten. Wenn ich allein herumirrte, würde ich bestimmt Aufmerksamkeit erregen. Ich wusste nicht, wie ich über so banale Dinge nachdenken konnte, aber etwas in mir verhärtete sich. Trauer war ein Luxus, den ich mir nicht länger leisten konnte, schließlich hatte ich mich schon die halbe Nacht darin gesuhlt. Wenn ich mich jetzt gehen ließ, wäre alles umsonst gewesen. Ich würde mir hier einen Ort zum Bleiben suchen, bis ich irgendwann zurück nach Hause fand – ob es nun ein Jahr, ein Jahrzehnt oder ein Jahrhundert dauerte.

»Vielen Dank. Ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen.« Ich verbeugte mich ungeschickt, da wir zu Hause nie viel Wert auf Etikette gelegt hatten. Die Frau schien sich zu freuen, denn sie lächelte und bedeutete mir, ihr zu folgen.

Wir gingen schweigend nebeneinanderher, vorbei an einem Bambushain und über eine graue Steinbrücke, die sich über einen Fluss spannte, bis wir schließlich das Eingangstor eines großen Anwesens erreichten. Unter dem Dach war eine schwarz lackierte Tafel angebracht, auf der Folgendes stand:

金莲府

ANWESEN DES GOLDENEN LOTUS

Es handelte sich um eine weitläufige Anlage, bestehend aus einem Komplex mit mehreren miteinander verbundenen Hallen und geräumigen Innenhöfen. Rote Säulen stützten geschwungene Dächer mit mitternachtsblauen Schindeln. Auf den Teichen trieben Lotusblumen, die einen schweren, süßen Duft verströmten. Ich folgte der Frau durch lange, mit Rosenholzlaternen beleuchtete Korridore zu einem großen Gebäude. Dort hieß sie mich am Eingang warten, während sie mit einem rotgesichtigen Mann sprach. Er nickte einmal und kam dann auf mich zu. Instinktiv streckte ich den Rücken durch und strich die Falten an meinem Gewand glatt.

»Ah, du kommst genau richtig!«, rief er. »Unsere junge Herrin, Lady Meiling, hat mich erst gestern Abend getadelt, weil ich immer noch keine neue Dienerin für sie gefunden habe. Wobei ich mich ehrlich gesagt schon frage, weshalb ihr drei nicht reichen«, murmelte er und musterte mich kritisch. »Hast du schon einmal in einem großen Haushalt gearbeitet? Und was kannst du alles?«

Ich schluckte und dachte an zu Hause. Ich war nicht untätig gewesen, sondern hatte so gut wie möglich mitgeholfen. »In keinem so großen wie diesem«, antwortete ich schließlich. »Ich wäre für jede Position dankbar. Ich kann kochen, putzen, musizieren und lesen.« Meine Fertigkeiten waren nicht unbedingt beeindruckend, doch der Mann schien zufrieden.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, meine neuen Aufgaben zu lernen: wie Lady Meiling ihren Tee trank, wie man ihren Lieblingsmandelkuchen buk und wie ich ihre Kleider zu behandeln hatte, von denen manche mit so feinen Verzierungen versehen waren, dass sie unter meiner Berührung zu erzittern schienen. Daneben musste ich Möbel polieren, Bettzeug waschen und den Garten pflegen. Ich war von Tag bis Nacht auf den Beinen, vielleicht weil ich über keinerlei Kräfte verfügte, die mir mein Tun erleichterten.

Was mir allerdings mehr zusetzte als die Arbeit, waren die Regeln. Mir wurde vorgeschrieben, wie tief ich mich zu verbeugen hatte, ich durfte den Mund erst aufmachen, wenn ich etwas gefragt wurde, mir war nicht gestattet, mich in Gegenwart meiner Herrin hinzusetzen, und ich musste jeden ihrer Befehle ausführen, ohne zu zögern. Jede Regel pulverisierte meinen Stolz etwas mehr, vertiefte die Kluft zwischen Herrin und Dienerin und erinnerte mich unentwegt daran, was für eine untergeordnete Position ich innehatte und dass ich nicht mehr zu Hause war.

Dies hätte mir weit mehr zusetzen können, doch war mein Herz schwer von Trauer und mein Geist beschäftigt mit viel größeren Sorgen als schmerzenden Füßen und wund geschrubbten Händen. Und irgendwie war ich sogar froh, dass meine Tage so vollgepackt mit Plackerei waren, dass ich kaum Zeit hatte, meinem Kummer nachzuhängen.

Als der Haushofmeister endlich zufrieden mit mir war, wurde ich Lady Meiling und ihren Dienerinnen zugewiesen, mit denen ich mir ein Zimmer teilen würde. Lady Meiling galt als anspruchsvoll, doch ich hoffte, dass wir zu viert ihren Wünschen gerecht werden konnten. Als ich mit meinem Beutel in unserem Quartier ankam, waren die anderen gerade dabei, sich anzukleiden. Die Uniform bestand aus einem weidengrünen Gewand über einem weißen Unterkleid. Eines der Mädchen band einem anderen gerade ein gelbes Band um die Hüfte, während sich ein hübsches Mädchen mit Grübchen eine lotusförmige Haarnadel aus Messing ins Haar steckte, wie wir sie alle tragen mussten. Die drei waren lebhaft und schwatzten mit unbekümmerter Vertrautheit. Obwohl mir nach wie vor elend zumute war, regte sich etwas in meiner Brust. Vielleicht konnte ich jetzt endlich die Freundinnen finden, nach denen ich mich so lange gesehnt hatte.

Das Mädchen mit den Grübchen drehte sich zu mir um. »Bist du die Neue? Woher stammst du?«

»Ich … Ich …« Die Geschichte, die ich mir mit Ping’ers Hilfe zurechtgelegt hatte, war mir entfallen, und ich lief unter den Blicken der drei rot an.

Die Mädchen kicherten und ihre Augen glänzten wie Kieselsteine nach dem Regen. »Jiayi«, sagte eine zu dem Mädchen mit der Haarnadel. »Wie es aussieht, hat sie ihre Stimme verloren.«

Jiayi musterte mich und verzog den Mund, als würde sie etwas sehen, das ihr nicht gefiel. War es meine schlichte Frisur oder die Tatsache, dass ich keinerlei Schmuck um Hüfte, Handgelenke oder Hals trug? Oder lag es daran, dass mir ihr Selbstvertrauen fehlte, die Sicherheit, mit der sie ihren Platz in dieser Welt einnahm? Was es auch war, es kündete jedenfalls von der schlichten Wahrheit, dass ich eine Außenseiterin war und nicht hierhergehörte.

»Was machen deine Eltern? Mein Vater ist die oberste Wache hier«, erklärte sie und ließ mich ihre Überlegenheit spüren.

Mein Vater hat die Sonnen erlegt. Meine Mutter erleuchtet den Mond.

Das würde das arrogante Grinsen aus ihrem Gesicht vertreiben, aber ich verkniff mir die waghalsige Bemerkung. Ein kurzer Augenblick der Befriedigung war es nicht wert, als Lügnerin abgestempelt oder eingesperrt zu werden. Ganz abgesehen von der Gefahr, in die ich Mutter und Ping’er bringen würde, falls man mir Glauben schenkte.

»Ich habe keine Familie hier«, erwiderte ich stattdessen. Eine ungefährliche Antwort, auch wenn sie mir noch mehr Verachtung eintragen würde – das sah ich an den Blicken, die sie wechselten. Jetzt wussten sie, dass ich niemanden hatte, um mich zu beschützen.

»Wie langweilig. Wo hat dich der Haushofmeister gefunden? Auf der Straße?«, schnaubte Jiayi und wandte sich ab. Die anderen folgten nacheinander ihrem Beispiel und kehrten wieder fröhlich schnatternd zu ihrer Unterhaltung zurück.

Ein eisiger Klumpen breitete sich in meinem Magen aus. Ich wusste nicht, was sie von mir erwarteten, nur, dass es mir offensichtlich fehlte. Ich war für unwürdig befunden worden. Steifbeinig ging ich in die gegenüberliegende Ecke und legte meinen Beutel auf das leere Bett. Die Mädchen lachten über irgendeinen Witz, und ihre Heiterkeit machte mir noch schmerzhafter bewusst, wie allein ich war. Als ich merkte, wie sich mir die Kehle zuschnürte, verließ ich schnell das Zimmer. Ich lief nur ungern davon, aber noch weniger wollte ich mir die Blöße geben, vor ihnen zu weinen.

Spar dir deine Tränen für etwas, das es wert ist, sagte ich mir, bevor ich in das Zimmer zurückkehrte. Sie drehten sich unverzüglich zu mir um, ihr Schweigen hallte mir entgegen. Erst da sah ich, dass sie meinen Beutel aufgeschnürt und den Inhalt auf dem Boden verteilt hatten.

Ich spürte ihre Feindseligkeit, als ich mich hinkniete, um meine Sachen aufzusammeln. Eines der Mädchen kicherte, das Geräusch tat mir in den Ohren weh. Ich kochte innerlich. Kindisch. Albern. Trotzdem schmerzte die Erniedrigung. Wie privilegiert ich doch gewesen war, dass ich bisher nur Liebe und Zuneigung erfahren hatte. Als Kind hatte ich mich vor den schrecklichen Ungeheuern gefürchtet, von denen ich in Büchern gelesen hatte. Doch jetzt lernte ich, dass ein sensenartiges Lächeln und schneidende Worte ebenso furchteinflößend waren. Ich hätte nie gedacht, dass es solche Menschen geben könnte – Menschen, die stolz darauf waren, wenn sie die Würde anderer mit Füßen traten, und sich am Unglück anderer weideten.

Eine leise Stimme in meinem Innern flüsterte mir zu, dass man mich tatsächlich auf der Straße gefunden hatte und ich über keinerlei nennenswerte Fähigkeiten oder Verbindungen verfügte. Wenn ich schwieg und mich möglichst unauffällig verhielt, würden sie mich vielleicht irgendwann akzeptieren. Ich war unendlich müde und wollte einfach nur meine Ruhe. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn sie gewannen? Wer brauchte schon Würde und Ehre? Verglichen mit allem, was ich verloren hatte, war das hier nichts. Trotzdem rebellierte etwas in mir. Nein, ich würde mich nicht von ihnen beschämen lassen. Und ich würde mich nicht bei ihnen anbiedern oder ihnen schmeicheln, um ihre Freundschaft zu erwerben. Lieber blieb ich allein, als solche Freundinnen zu haben. Und obwohl ich mich gerade kleiner als ein Käfer fühlte, hob ich den Kopf und sah ihnen in die Augen.

Jiayis hübsches Gesicht drückte Verachtung aus, doch war ihr ein gewisses Unbehagen anzumerken, als sie den Blick abwandte. Hatte sie erwartet, dass ich mich davonschleichen und in den Schatten verschwinden würde? Dann war ich froh, sie enttäuscht zu haben. Sie hatten mich verletzt, aber ich würde ihnen nicht die Befriedigung verschaffen, sie das wissen zu lassen. Ihre Grausamkeit hatte nur so viel Macht, wie ich ihr zugestand. Ich würde meinen angeschlagenen Stolz vom Boden aufkratzen, denn … er war alles, was ich noch hatte.

Vom Pavillon aus überblickte man einen Hof voller Glyzinien, die über und über mit violetten Blüten behangen waren. Ich stand hinter meiner Herrin, Lady Meiling. Sie trug ein Kleid aus rosafarbenem Brokat, das am Rock und an den Ärmeln mit schimmernden Blumen verziert war. Es war ein ausgesprochen edles Kleidungsstück, dessen aufgestickte Blüten sich rot und dann wieder silbern färbten. Nur die besten Näherinnen vermochten ihre Werke so zu verzaubern, dass sie auf die Kräfte der Trägerin reagierten.

Neben der Aufgabe, Lady Meiling zu bedienen und ihre Zimmer und ihren Hof in einem tadellosen Zustand zu halten, oblag mir die Pflege ihrer Kleider – ihrer Gewänder, Mäntel und Bänder aus Seide, Satin und Brokat. Zunächst war mir diese Aufgabe angenehm, aber mühsam erschienen. Doch schon bald fand ich heraus, dass ich es ausbaden musste, wenn etwas nicht auffindbar war, einen Kratzer hatte oder ein Staubkorn aufwies. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, suchte Jiayi jeden Tag die Garderobe unserer Herrin heraus und machte mir mit ihren endlosen Beschwerden und Forderungen das Leben schwer.