Die Tochter der Mondgöttin 2: Das Herz des Sonnenkriegers - Sue Lynn Tan - E-Book

Die Tochter der Mondgöttin 2: Das Herz des Sonnenkriegers E-Book

Sue Lynn Tan

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Beschreibung

Sehnsüchtig erwartetes Finale dieser fernöstlichen Romantasy von gefeierter NYT-Autorin! Nachdem Xingyin ihre Mutter, die Mondgöttin, befreit hat, kehren beide nach Hause zurück. Doch die Ruhe und der Frieden sind trügerisch, denn der Himmlische Kaiser verfolgt seinen Machtanspruch mit harter Hand, und schon bald muss Xingyin den Mond erneut verlassen. Zusammen mit ihren Gefährt*innen bricht sie auf in unbekannte Länder, wo sie sagenumwobenen Geschöpfen, kampfbereiten Königen, lieb gewonnenen Freunden und erbitterten Feinden begegnet. Xingyin hat keine Wahl, sie muss sich dem Bösen entgegenstellen, ehe es alles zerstört, was sie liebt, auch wenn der Preis dafür unerträglich scheint. ***Aufwendig veredelt mit Perlmuttschimmer und Goldakzenten*** »Ein wunderbares Buch! Sue Lynn Tans Dilogie erschafft aus der chinesischen Mythologie eine prachtvolle, romantische Fantasy!« (Elizabeth Lim, New York Times-Bestseller Autorin von Ein Kleid aus Seide und Sternen) »So spannend, dass man essen, trinken, ja sogar atmen vergisst – ein gefährliches Buch!« Leser*innenstimme »Die Tochter der Mondgöttin«-Dilogie: Die Tochter der Mondgöttin (Band 1) Das Herz des Sonnenkriegers (Band 2)

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Seitenzahl: 692

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SUE LYNN TAN – DAS HERZ DES SONNENKRIEGERS

Aus dem Englischen von Birgit Maria Pfaffinger und Ulrike Brauns

Erneut muss Xingyin, die Tochter der Mondgöttin, aus ihrem Zuhause fliehen, als auf dem Mond verbotene Magie aufflammt, und der Himmlische Kaiser unnachgiebig versucht, seinen Machtbereich zu erweitern. Xingyin und ihre Gefährten machen sich auf in ferne Länder des Himmlischen Königreichs, wo sie Dämonen und Unsterblichen begegnen, alten Freunden ebenso wie erbitterten Feinden. Um ihre Welt und alle, die sie liebt, zu retten, muss Xingyin vertraute Gewissheiten in Frage stellen, neue Verbindungen eingehen und den größten Preis zahlen, den das Leben ihr abverlangen kann. Doch wird ihr Opfer genügen?

Epische High-Fantasy aus der Feder der New-York-Times-Bestseller-Autorin Sue Lynn Tan

»Ein fesselndes Debut, das Leser*innen mühelos in die himmlischen Reiche fernöstlicher High-Fantasy entführt.« Shelley Parker-Chan, Bestseller-Autorin von She Who Became the Sun

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 Für alle,die unausgesprochene Träume im Herzen tragen

Und für meine Kinder,Lukas und Philip, weil sie mich manchmalhaben arbeiten lassen.

Nacht hüllte den Himmel in Dunkelheit, legte ihre Schatten über die Erde. Während die Sterblichen zu dieser Zeit Ruhe und Erholung fanden, begann für uns auf dem Mond die Arbeit. Winterweiße Flammen kringelten sich an dem Holzspan in meiner Hand. Ich hockte mich vor eine Laterne, die aus durchsichtigem Stein und gedrehten Silberfäden gefertigt war, und entfernte ein Blatt, das sich hierher verirrt hatte. Ich führte den Span zum Docht, der mit einem Zischen Feuer fing. Dann erhob ich mich wieder und schüttelte die Erde von meinem Gewand. Reihenweise nicht entzündete Laternen erstreckten sich vor mir, blass wie die Osmanthus-Bäume, die darüber in Blüte standen – Mondlaternen, eintausend an der Zahl, deren Schein auf das unter uns liegende Reich fallen würde. Wind und Regen konnten ihrem Licht, das erst beim Dämmern des Morgens erlöschen würde, nichts anhaben.

Wann immer ich die Laternen entzündete, drängte Mutter darauf, dass ich sorgfältig vorgehen und jede einzelne von Hand entfachen sollte. Doch ich verfügte nicht über ihre Geduld. Ich war solch besonnene Arbeit, so viel Ruhe und Frieden nicht länger gewohnt. Ich weckte meine Energie, die meiner Lebenskraft entsprang. Flammen züngelten auf meiner Handfläche, streiften von dort die Laternen und entfachten etwa die Hälfte von ihnen. Mein größtes Talent war Luft, aber Feuer war in Momenten wie diesen sehr nützlich. Der Boden funkelte nun wie Sternenstaub, und in der Welt unter uns würden die Sterblichen den Blick auf die Sichel am Nachthimmel wenden, denn das Gesicht des Monds war zur Hälfte verborgen.

Nur wenige schrieben Gedichte über den Halbmond oder verewigten ihn in Gemälden – da er nicht so elegant wie die schmale Sichel war oder die perfekte runde Kugel. Gefangen und verloren zwischen Licht und Schatten. Als Kind mit sterblichen und unsterblichen Wurzeln, im Schatten zweier strahlender Eltern, konnte ich mich damit identifizieren.

Manchmal versank ich in Gedanken an die Vergangenheit, begleitet von einer Spur des Bedauerns – und fragte mich, was geschehen wäre, wenn ich im Himmlischen Königreich geblieben wäre und die Ehre der letzten Jahre wie eine Ernte eingefahren, jeden Erfolg an meinen Namen geknüpft hätte, bis er glänzte wie eine Perlenkette. Selbst eine Legende, verehrt wie mein Vater, Houyi, oder geliebt und angehimmelt wie meine Mutter, die Mondgöttin.

Die Sterblichen gedachten ihrer mit dem alljährlichen Mittherbstfest, einer Feier der Wiedervereinigung, obwohl dies der Tag war, an dem meine Mutter in den Himmel aufgestiegen war. Manche wandten sich an sie und baten um Glück, andere um Liebe. Sie wussten nicht, dass Mutters Kräfte begrenzt waren, sei es durch unzureichende Übung, sei es durch ihre menschlichen Wurzeln – über die sie hinauswuchs, als sie das Elixier der Unsterblichkeit trank, das Vater für das Bezwingen der Sonnenvögel erhalten hatte. Mutters Flucht in den Himmel hatte sie unwiderruflich getrennt, als wäre es der Tod selbst gewesen – und schlussendlich war er es ja auch, denn nun lag der Leichnam meines Vaters in einem irdischen Grab. Der Gedanke versetzte mir einen Stich. Ich hatte Vater nie kennengelernt, konnte ihn nur als abstrakte Figur in meiner Vorstellung lieben und wertschätzen, während Mutter ihn jeden Tag ihres unsterblichen Daseins betrauerte. Vielleicht störte sie deshalb die Eintönigkeit ihrer Aufgabe nicht, sondern barg Erleichterung für ihren von Bedauern belasteten Geist, für ihr Herz, das von Trauer fest umschlossen war.

Nein, ich brauchte weder Ruhm noch Ehre, ganz wie meine Eltern nicht darum gebeten hatten. Oft ging beides mit Leid einher, der Nervenkitzel war immer auch eng mit dem Schrecken verbunden, und das Gewissen ließ sich nicht so leicht von Blut reinwaschen. Ich hatte mich der Himmlischen Armee nicht angeschlossen, um Träume zu jagen, die so flüchtig waren wie Feuerwerksraketen und die eine Dunkelheit hinterließen, die doppelt so finster war. Ich würde diese Rastlosigkeit zähmen müssen, dieses Verlangen mäßigen. Wieder zu Hause bei Mutter und Ping’er zu sein, wieder Liebe in meinem Leben zu wissen … dies machte mich ganz. Davon hatte ich geträumt, dafür hatte ich gekämpft, das hatte ich mir verdient.

Viele fänden diesen Ort bescheiden im Vergleich zur Opulenz des Jadepalastes. Und doch gab es für mich keinen wundersameren Platz als diesen – der Boden schimmerte wie von Sternen erleuchtete Wellen, die Osmanthus-Blüten hingen wie Klumpen weißen Schnees von den Ästen. Manchmal erwachte ich in meinem Bett aus Zimtholz und wusste nicht, ob ich noch träumte. Aber die Süße, die in der Luft lag, und das sanfte Licht der Laternen waren eine zarte und doch ungreifbare Bestätigung, dass ich hier war, in meinem Zuhause, aus dem mich nie wieder jemand fortreißen konnte.

Ein Windstoß ließ etwas über mir klimpern. Der Lorbeerbaum, dessen Samentrauben wie Eis funkelten. In meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, sie zu einem Armband aufzufädeln, das ich meiner Mutter schenken wollte, doch ich hatte es nicht geschafft, sie vom Baum zu reißen. Aus Gewohnheit schloss ich die Hand um eine solche Traube, durchsichtig und kalt. Ich zog kraftvoll daran, und obwohl der Ast sich bog, gab er die Saat auch diesmal nicht frei.

Ich spürte die Anwesenheit eines anderen Unsterblichen, doch von den Schutzzaubern ging keine Warnung aus. Dennoch griff ich instinktiv nach dem Bogen, den ich immer bei mir trug. Nach diesem friedlichen Jahr daheim hatte sich meine Lebenskraft viel schneller erholt als gedacht. Es kostete mich nicht länger Mühe, den Jadenen Drachenbogen zu zücken, ich musste mich nicht mehr vor Eindringlingen fürchten. Doch ich ließ die Waffe unmittelbar wieder sinken. Diese Aura kannte ich so gut wie meine eigene – leuchtend und sommerhell.

»Ein warmer Gruß, Xingyin«, sagte Liwei amüsiert. »Oder suchst du eine neue Herausforderung mit dem Bogen?«

Ich drehte mich um und entdeckte ihn an einen Baum gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Mein Puls beschleunigte sich, aber ich ließ mir nichts anmerken. »Vielleicht erinnerst du dich, dass ich den letzten Kampf gewonnen habe. Und seither hatte ich wesentlich mehr Zeit zum Üben als Ihr, Eure Hoheit, wo Ihr doch so viel Zeit am Hof verbringt.«

Eine bewusste Stichelei, denn er war seit Wochen nicht zu Besuch gewesen. Dabei hatte ich kein Recht darauf, mit mehr zu rechnen. Obwohl wir uns in letzter Zeit nähergekommen waren, hatte es keine Versprechen gegeben – wir waren einerseits mehr als Freunde und andererseits weniger, als wir zuvor gewesen waren. Die gesäten Zweifel hatten hartnäckige Wurzeln getrieben, die sich nicht so leicht entfernen ließen.

Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Bisher steht es unentschieden. Möglich, dass ich noch gewinne.«

»Du kannst es gern versuchen«, sagte ich und reckte das Kinn.

Da lachte er und schüttelte den Kopf. »Ich bevorzuge es, mir den Stolz nicht nehmen zu lassen.«

Er kam auf mich zu und blieb erst stehen, als der Saum seines lapisblauen Gewands sanft raschelnd den des meinen berührte. Ein Streifen grauer Seide lag um seine Hüfte, an dem eine längliche Jadetafel und eine kristallklare Kugel hingen, die im Ton meiner Energie silbern strahlte. Die Himmelstropfenquaste, deren passendes Gegenstück an meiner Schärpe hing.

Ich unterdrückte den Impuls, einen Schritt zurückzutreten. Genauso widerstand ich dem Sog, ihm näher zu kommen. »Ich habe deine Ankunft nicht gespürt. Hast du den Schutzzauber verändert?« Es wäre ein Leichtes für Liwei, den Zauber zu umgehen, der mein Zuhause absicherte, schließlich hatte er geholfen, ihn zu wirken. Obwohl die Barriere nicht so stark war wie die, die das Himmlische Königreich umgab, so brummte doch immer eine Warnung in mir, wenn sie überquert wurde. Dabei bereiteten mir nicht jene Sorgen, die uns vertraut waren, sondern die Fremden.

Er nickte. »Wenn er gestört wird, spüre ich das auch. Die unbeabsichtigte Folge dessen ist, dass er mich nun erkennt.«

»Und das, obwohl du so selten hier bist?« Die Worte entkamen mir, bevor ich sie aufhalten konnte.

Sein Lächeln verbreiterte sich. »Habe ich dir gefehlt?«

»Nein.« Ja, aber diese Genugtuung gönnte ich ihm nicht. Niemals würde ich zugeben – nicht einmal, wenn mir jemand eine Klinge an den Hals hielte –, dass seit seinem letzten Aufbruch eine schmerzhafte Leere in mir klaffte, die erst jetzt allmählich nachließ.

»Soll ich wieder gehen?«, schlug er vor.

Wie verlockend, ihm einfach den Rücken zuzukehren. Aber damit würde ich mir nur ins eigene Fleisch schneiden. »Wieso bist du nicht früher wiedergekommen?«, fragte ich also zurück, weil es genau das war, was ich wissen wollte.

Seine Miene wurde ernst. »Eine wichtige Angelegenheit bei Hof. Die Berufung eines neuen Generals, der sich das Kommando über die Armee mit General Jianyun teilen soll. Vaters Beziehung zu ihm ist in letzter Zeit eher angespannt.«

Schuldgefühle verengten mir die Brust. Hegten Ihre Himmlischen Majestäten etwa einen Groll gegen General Jianyun, weil er mich vor einem Jahr verteidigt hatte, als ich die Freiheit meiner Mutter gewann? Sie belohnten es, wenn jemand ihnen gut diente, Beleidigungen wiederum wurden in vollem Umfang vergolten.

»Wer ist der neue General?«, fragte ich.

»Minister Wu«, erwiderte er finster.

Ein Schauder überlief mich beim Gedanken an den Höfling, der so erbittert dafür argumentiert hatte, uns gegenüber keine Gnade zu zeigen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte der Kaiser meine Mutter an jenem Tag in Ketten gelegt und mich zum Tod verurteilt. Hatte ich den Minister verärgert, ohne es zu wissen? Oder sah er uns tatsächlich als Bedrohung für den Kaiser, dem er zweifellos loyal ergeben war? Was immer der Grund war, mir wurde ein wenig übel bei der Vorstellung, dass er solche Macht über die Himmlische Armee innehatte.

»Mir war nicht bewusst, dass der Minister ein solches Ziel verfolgte«, bemerkte ich. »Ist er für diesen Posten qualifiziert?«

»Nur wenige würden eine so glorreiche Berufung ablehnen, egal ob sie nun geeignet sind oder nicht«, sagte Liwei. »Ich blieb vor Ort, um General Jianyun zu unterstützen, in der Hoffnung, Vater doch noch umzustimmen, aber er blieb eisern. Minister Wu ist seit jeher ein loyaler Untertan meines Vaters, trotzdem war mir in seiner Gesellschaft schon immer unwohl, lange bevor er sich gegen dich ausgesprochen hat.«

»Solange unsere Instinkte nicht von Gefühlen getrübt werden, sind sie sehr gute Wegweiser.« Während ich dies sagte, musste ich an Wenzhis Verrat denken, und sofort verspannte ich mich innerlich. Was maßte ich mir an, so etwas von mir zu geben, wo ich doch meine eigenen Instinkte unterdrückt hatte, nur um das zu sehen, was ich sehen wollte?

Etwas pulsierte wie ein tonloser Trommelschlag durch mich; jemand hatte die Schutzzauber durchquert. Als ich in die Stille spürte, entdeckte ich mir unbekannte Energien. Mehrere Auren Unsterblicher, doch keine mir bekannten. Als ich mich versteifte, verengten sich Liweis Augen. Auch er hatte es gespürt, es waren Fremde eingetroffen.

Seit der Mond nicht länger ein Exil war, kamen viele Unsterbliche zu Besuch. Das war die bedauerliche Folge der Begnadigung durch den Kaiser, denn so mussten wir die neugierigen Blicke und kaltherzigen Bemerkungen ertragen, als wäre ich ein Objekt, das nur zur Unterhaltung vorgeführt wurde.

Wie hat es sich angefühlt, von Himmelsfeuer getroffen zu werden?, hatte ein Himmlischer Höfling atemlos gefragt.

Ein Wunder, dass du überlebt hast. Das Gesicht voller Erwartung.

Ein anderer fragte mit viel zu lauter Stimme: Und was ist mit den Narben? Tun sie noch weh? Soweit ich weiß, verheilen sie nie.

Geheuchelte Sorge. Schadenfrohe Anteilnahme. Falsches Mitleid. So hohl wie die Puppen, mit denen die Straßenkünstler in der Welt der Sterblichen hantierten. Hätte ich auch nur die Spur aufrichtiger Besorgnis gespürt, ich hätte sie weniger verabscheut. Doch ihr einziger Ansporn war die Gier auf ein bisschen Tratsch, den sie weiterverbreiten konnten. Wie sehr hatte es mich in den Fingern gejuckt, den Bogen zu zücken, um sie mit einem flammenden Pfeil vom Mond zu vertreiben. Ich hätte ihn abgeschossen, aber sicher hätte auch allein die Drohung gereicht. Doch ein strenger Blick meiner Mutter und die Manieren, die sie mir von Kindesbeinen an beigebracht hatte, hielten mich davon ab.

Und doch waren die von Neugier Getriebenen immer noch besser als die mit nichts als Bosheit im Herzen.

Ein Krachen erklang, etwas zerbrach an Stein. Ich raffte mein Gewand und rannte zum Palast des Reinen Lichts. Bei jedem Schritt wirbelten meine Füße Staub auf, der Jadene Drachenbogen schlug gegen meinen Rücken. Liwei war dicht hinter mir.

Die schimmernden Wände tauchten vor uns auf, dann die Säulen aus Perlmutt. Stolpernd kam ich am Eingang zum Stehen und betrachtete die Porzellanscherben am Boden in einer Pfütze blassgoldener Flüssigkeit. Ein süßlicher, saftiger Geruch lag in der Luft, wohltuend und träge. Wein, von dem wir hier keinen vorrätig hatten.

Liwei und ich marschierten hinein und den Flur entlang, der uns zur Halle der Silbernen Harmonie führte, wo wir für gewöhnlich Gäste empfingen. Der Schein aus Jadelampen warf ein sanftes Licht auf die Fremden, die auf Sesseln aus Holz Mutter umringten. Als ich eintrat, fuhren ihre Köpfe herum, und sofort standen sie auf.

Die Jadequasten an Mutters zinnoberroter Schärpe klirrten, als sie auf uns zukam. »Liwei, dich haben wir ja eine Weile nicht gesehen.« Wärme lag in ihrer Stimme. Sie sprach ihn ohne seinen Titel an, ganz so, wie er es vor langer Zeit von ihr erbeten hatte.

»Vergebt mir die lange Abwesenheit.« Er verneigte sich höflich.

Ich musterte die Gäste, während ich sie begrüßte. Ihre Auren waren nicht stark, etwaiger Ärger sollte also schnell erstickt werden können. Genauso wenig blitzte irgendwo bedrohlich Metall hervor oder vibrierte leise ein bereitgehaltener Zauber – den nur entdecken konnte, wer bewusst danach suchte. Neben Mutter stand ein gebrechlicher Unsterblicher. Seine Augen hatten die Farbe von Spatzengefieder und sein Haupt- und Barthaar schimmerte silbern. An seiner Hüfte baumelte eine Bambusflöte mit einer grünen Quaste. Neben ihm standen zwei Frauen in violetten Gewändern, türkisfarbene Nadeln im Haar. Ihre Hände, die sie zum Gruß erhoben, waren geschmeidig und makellos, augenscheinlich hatten sie nie eine Waffe geführt oder waren tägliche Arbeit gewohnt. Ich war erleichtert, bis ich den letzten Gast erblickte. Seine harten Gesichtszüge wirkten, als wären sie aus Holz geschnitzt, sein Hals war sehnig und muskulös. Unter seinem feinen Brokatgewand strafften sich seine breite Schultern, seine Finger zuckten rastlos.

Eine Warnung kribbelte mir über die Haut, und doch lächelte ich, um meine Sorge zu überspielen. »Mutter, wer sind unsere Gäste?«

»Meina und Meining sind Schwestern aus der Goldenen Wüste. Sie möchten ein paar Wochen bleiben und die Sterne beobachten.« Dann deutete sie zu dem betagteren Unsterblichen an ihrer Seite. »Meister Gang, ein begabter Musiker, sucht bei uns Inspiration für seine jüngste Komposition. Und das ist …« Sie zögerte, legte die Stirn in Falten und betrachtete den jungen Mann. »Oh, es tut mir leid, wir wurden unterbrochen, bevor ich Euren Namen erfahren konnte.«

Der Sterbliche verbeugte sich mit gefalteten Händen vor uns. »Es ist mir eine Ehre, Euch Gesellschaft leisten zu dürfen. Mein Name ist Haoran, ich bin Winzer aus dem Königreich des Phönix. Meine Stammkundin, Königin Fengjin, verlangt nach einem neuen Wein, für den ich die feinsten Osmanthus-Blüten brauche. Man sagt, die schönsten blühen in Eurem Wald, weshalb ich demütigst darum bitte, ein paar der Blüten pflücken zu dürfen. Ich wäre auf ewig dankbar für Eure unendliche Großzügigkeit, die im gesamten Königreich bekannt ist.«

Innerlich zuckte ich vor der unterwürfigen Schmeichelei seiner Worte zurück, vor seinem Blick, der durch den Raum huschte. Irgendetwas an ihm verunsicherte mich, wie bei einer Melodie, die im falschen Takt gespielt wird – und das lag nicht nur daran, dass er aus dem Königreich des Phönix kam, dem engsten Verbündeten des Himmlischen Königreichs und der Heimat der ehemaligen Verlobten Liweis. Mir lag eine Zurückweisung auf der Zunge, ich hatte das klare Bedürfnis, ihn wegzuschicken. Eigentlich nicht nur Haoran, sie alle. Wir waren hier sicher, hatten den Frieden hart erkämpft.

Als hätte er mein Unbehagen gespürt, wandte Haoran sich an Mutter. »Es wäre nur für wenige Tage. Ich habe Euch auch ein Geschenk mitgebracht: mehrere Krüge meines feinsten Weins, von denen mir draußen leider einer zerbrochen ist«, sagte er mit geübter Gerissenheit.

»Meister Haoran, Ihr seid sehr zuvorkommend, doch gibt es keinen Anlass für ein Geschenk«, antwortete Mutter gütig. »Wir heißen Euch alle willkommen. Ich hoffe, Ihr seht uns nach, wie schlicht wir hier leben, wir beherbergen nicht häufig Gäste.«

Meister Haoran verneigte sich erneut. »Ich bin sehr dankbar.«

Auch die anderen verbeugten sich, bevor sie Mutter hinausfolgten. Liwei und ich blieben allein zurück. Ich sank auf einen der Stühle und presste mir die Faust gegen die Lippen, Liwei setzte sich zu mir.

»Was hältst du von Meister Haoran?«, fragte ich.

»Ich würde gern einen seiner Weine probieren.«

Mir war nicht nach Scherzen. »Vielleicht sehe ich Probleme, wo gar keine sind. Vielleicht bin ich zu sehr daran gewöhnt.«

Liwei lehnte sich mit ernster Miene zu mir. »Vertrau deiner Intuition, ich tue es. Hab ein waches Auge auf sie. Sollte etwas passieren, verständige mich sofort.«

Dann fiel sein Blick auf die Himmelstropfenquaste an meiner Seite, und sein Gesichtsausdruck wandelte sich. Erinnerungen überkamen mich – an eine dunkle Höhle, ein höhnisches Lachen, die Spitze von Liweis Schwert, die gegen mein Brustbein drückte … und daran, wie wenig gefehlt hätte, dass wir uns für immer verloren hätten.

Ich starrte zur Tür, bis alle Schritte verhallt waren. Zum ersten Mal würden wir Fremde unter diesem Dach beherbergen. Ich konnte nur mit großer Anstrengung den Gedanken an das letzte Mal fortschieben, als ich mich so gefühlt hatte wie in diesem Moment – als ich mich als Kind vor der Himmlischen Kaiserin versteckte, gegen eine der Steinwände presste, starr vor Angst.

Meine Finger verharrten über den Saiten der Qin, als ich etwas durchs Fenster erblickte. Meister Haoran war wie jeden Abend der vergangenen Woche unterwegs zum Wald, dabei trug er einen Bambuskorb auf dem Rücken. Sein Pfeifen durchdrang die Stille, der Ton zerrte an meinen Nerven. Eine silberne Schere schimmerte im Abendlicht, die er gewandt in den Händen drehte. Ob seine Finger ähnlich flink mit einer Waffe waren?

»Das Lied, das du gerade spielst, ist eins, an das selbst ich mich wagen würde.« Mutters Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

Ich lächelte schwach und schob die Qin beiseite. Mutter hatte weder Talent für Musik noch Interesse daran, weshalb es Ping’er gewesen war, die mir dieses Instrument beigebracht hatte.

Sie setzte sich an den Tisch und faltete die Hände. »Du scheinst nicht angetan von unseren Gästen.«

»Nur nicht von einem bestimmten.« Ich nickte zum Fenster.

»Was missfällt dir an Meister Haoran? Er hat gute Manieren und ist umsichtig.«

Es gab keinen offensichtlichen Grund für meine Abneigung. Nur ein Gefühl, wie eine leichte Veränderung in der Aura Unsterblicher oder der kribbelnde Eindruck, beobachtet zu werden. Und, ganz wie Liwei betont hatte, ich sollte meiner Intuition vertrauen … oder sie zumindest nicht mit Gedanken übertönen, die mir lieber waren.

Ich wollte nicht recht haben. Ich wollte nicht, dass unser Zuhause in Gefahr war.

»Er ist sehr reserviert. Angespannt, als würde er etwas verbergen«, erklärte ich stockend. »Wann immer ich ihm eine Frage stelle, beantwortet er sie nicht, sondern lenkt die Aufmerksamkeit von sich.« Etwas, das ich selbst nur zu gut kannte, schließlich hatte ich jahrelang meine Herkunft geheim gehalten.

»Vielleicht ist er keine Gesellschaft gewohnt. Manche Menschen sprechen nicht gern über sich, sie hören lieber zu.« Mutter fügte hinzu: »Meister Haoran hat Angst vor dir. Ist dir bewusst, wie du ihm gegenübertrittst? Mit zusammengekniffenen Augen, gekräuselten Lippen.« Sie berührte mich leicht an der Hand. »Xingyin, ich weiß, dass du verletzt wurdest. Aber wenn du von nun an jeden verdächtigst, wirst du eines Tages recht haben – und doch nur enttäuscht sein. Manchmal, wenn wir anderen mit Misstrauen begegnen, wecken wir genau dies in ihnen. Indem du dich weigerst, das Gute in ihnen zu sehen, verpasst du vielleicht etwas Kostbares, das du dir nie zu finden gestattet hast.«

Was Mutter sagte, stimmte. Dieser Tage entdeckte ich oft Hohn in einem Lachen, Gefahr in einem Stirnrunzeln. Rechnete damit, dass sich in jedem Schatten ein Feind verbarg.

Sie stand auf und strich ihr Gewand glatt. Als ihre Handflächen über den Stoff glitten, schimmerten die Spitzen der daraufgestickten Lotusblüten heller. War dies eine Täuschung des Lichts? Ich glaubte nicht, dass es ihre Kräfte waren, denn sie hatten sich bislang noch nie so geäußert.

»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass Shuxiao hier ist.«

Sofort hob sich meine Laune. Abgesehen von Liwei war sie meine häufigste Besucherin und stets willkommen. »Wo ist sie?«

»Im Speisesaal, wo sie Ping’er um Essen anbettelt.«

Ich lief sofort hin. Der Boden des Saals bestand aus grauen Steinfliesen, über denen ein violetter Seidenteppich lag. In der Mitte stand ein runder Tisch mit gebogenen Beinen, der von fassförmigen Stühlen umringt wurde. Das Palisanderholz enthielt Intarsien aus Perlmutt, die Blumen und Vögel darstellten. Acht Gäste fanden bequem Platz an diesem Tisch, und in meiner Kindheit hätte ich mir nicht erträumen können, dass er eines Tages einmal zu klein sein würde.

Das bereitgestellte Essen roch warm und pikant: eine dicke Suppe, randvoll mit Fleischstücken und Lotuswurzelscheiben, in Kräutern geschmorte Eier, zarte Erbsensprossen, knusprig golden frittierter Fisch und Schalen mit dampfendem Reis. Einfachere Gerichte als im Himmlischen Königreich und doch reich an Geschmack. Meister Gang nahm zur Rechten meiner Mutter Platz, die Schwestern aus der Goldenen Wüste zu ihrer Linken. Meister Haoran fehlte wie schon vergangene Woche – doch seine Weinkrüge standen auf dem Tisch, unsere Becher waren schon gefüllt. Es war ein exzellentes Getränk mit einer Note süßer Pflaumen. Obwohl ich ihm seine Geschichte nicht glaubte, mit seinem Talent als Winzer hatte er nicht untertrieben. Die vergangenen Abende hatte ich meinen Becher, ohne zu zögern, geleert und war danach in tiefen, sorglosen Schlaf gefallen, am Morgen jedoch mit hämmerndem Kopfschmerz erwacht.

Ich befüllte zwei Teller mit Lotuswurzelsuppe und ging damit zu Shuxiao. Ihr Mund lächelte zwar, aber ihre Augen nicht. »Was liegt dir auf dem Herzen?« Ich vergeudete keine Zeit mit Höflichkeiten und schob ihr einen der Teller hin.

»Die Lage im Jadepalast ist angespannt«, gab sie zu. »Der neue General hält die Zügel sehr kurz.«

»General Wu?« Der neue Titel des Ministers kam mir noch nicht ganz rund über die Lippen.

Sie nickte. »General Jianyun hat nicht mehr viel zu sagen, General Wu ist nun der wahre Kopf der Armee. Er ist unnachgiebig und streng. Regeln werden aufs Härteste durchgesetzt, es hagelt Strafen für die geringsten Vergehen. Ein Gespräch, selbst während der Mahlzeiten, wird als Vernachlässigung der Pflichten angesehen. Nun sitzen wir da, stumm, wagen nicht mal einander anzusehen, als wären wir wieder Kinder beim strengsten Lehrer des Königreichs.«

Eine gespaltene Armee ist leichter zu kontrollieren. Ein unerwünschter Gedanke. Wollte der Himmlische Kaiser verhindern, dass sich die Soldatinnen und Soldaten wieder gegen ihn verbündeten? Ihnen war nicht klar gewesen, dass ihre Unterstützung für mich als Provokation des Kaisers verstanden werden konnte – sie wussten nicht, wodurch ich seinen Zorn auf mich gezogen hatte. Von meinem eigentlichen Ungehorsam ihm gegenüber, meiner mutwilligen Fehlinterpretation seines Befehls, ihm die Perlen zu bringen. Davon wussten nur er und ich. Und wahrscheinlich sein frisch zum General erhobener Minister, sein engster Vertrauter.

»Ist das das Schlimmste? Das Schweigen zu Mittag?«, sagte ich im Versuch, trotz meiner eigenen Vorbehalte ihre Laune zu heben.

Sie rümpfte die Nase. »Es ist nicht leicht, sich an die Regeln zu halten, wenn jeden Tag neue dazukommen. Schon bald wird es als Verstoß gelten, den Palast unerlaubt zu verlassen. Dann werde ich nicht mehr zu Besuch kommen können.«

Der Gedanke beunruhigte mich. Wie groß die Veränderungen waren, seit ich das Himmlische Königreich verlassen hatte. Was hätte ich unter diesen Einschränkungen gelitten. Die schlimmste Bestrafung, die ich während meiner Zeit erhalten hatte, war ein strenger Tadel von General Jianyun oder Wen… Ich zuckte zurück und schob die ungewollte Erinnerung beiseite. »Was passiert, wenn du dich nicht an die Regeln hältst?«, fragte ich.

»Knien. Arrest. Auspeitschen.« Beim letzten Wort brach ihre Stimme.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Du musst vorsichtig sein.«

»Oh, das bin ich. So vorsichtig war ich noch nie«, sagte sie mit Nachdruck. »Aber sie behalten mich sehr genau im Auge, besonders seit General Wus Beförderung.«

»Warum?« Weil sie nicht antwortete, hakte ich weiter nach. »Weil wir befreundet sind?«

Sie senkte den Blick auf den Teller, rührte in ihrer Suppe. »Manche sehen einfach Bedrohungen, wo keine sind. Es ändert nichts, ich lasse mir von denen nichts vorschreiben.«

Sofort packte mich das schlechte Gewissen. Genau das hatte ich befürchtet. Dass sie zu Schaden kam, einfach nur, weil sie mit mir befreundet war. »Wenn es so schrecklich ist, wenn sie nur Gründe suchen, dich zu bestrafen, wieso bleibst du?«

»Ich kann noch nicht weg. Solange ich dem Kaiser diene, ist meine Familie sicher. Wir haben keine mächtigen Freunde, die Fürsprache für uns einlegen würden, sollte es wieder Probleme geben. Mein jüngerer Bruder hofft, sich ebenfalls der Armee anschließen zu können, sobald er alt genug ist. Wenn ich jetzt ausscheide, verbaue ich ihm diese Möglichkeit.« Plötzlich bekam sie einen abwesenden Blick. »Manchmal reicht es nicht, sich herauszuhalten. Auch die Kiesel am Rande des Weges werden von achtlosen Füßen getreten, und die nichtssagendsten Worte tragen zu viel Gewicht, wenn sie in die falschen Ohren geflüstert werden.«

»Wir haben hier genug Platz für dich und deine Familie«, bot ich ihr sogleich an. »Die Augen des Himmlischen Königreichs sind weit weg.«

Und doch auf uns gerichtet, mahnte meine innere Stimme.

»Ich wünschte, das wäre eine Möglichkeit«, sagte sie. »Aber meine Familie wird nicht umziehen wollen. Die Wurzeln, die wir geschlagen haben, lassen sich nicht so leicht herausreißen.«

Eine nur allzu bekannte Sehnsucht überkam mich. In all den Jahren fernab von zu Hause hatte ich mich oft haltlos gefühlt – wie Unkraut, das in fremdem, unwirtlichem Boden spross. Ich ließ den Blick durch den Speisesaal wandern, ließ das mir so vertraute Mobiliar auf mich wirken, den abgenutzten Teppich, den Stuhl, auf dem ich schon als Kind gesessen hatte. Zahllose Erinnerungen rankten sich um diesen Ort, jede kostbar und unersetzlich. Und doch zählten am meisten die Menschen innerhalb dieser Wände. Familie, ob nun durch Blut oder Wahl, die Raum in ihrem Herzen für dich öffnete. Und das war wichtiger als jede Fliese, jeder Ziegel, egal ob aus Gold, Silber oder Jade.

Die lustige Melodie einer Flöte drang herüber. Meister Gang spielte, die Quaste an seinem Instrument schwang bei jedem seiner Atemzüge. Die Gespräche verstummten, alle wandten sich ihm zu. Er spielte außerordentlich gut, seine Töne waren rein und genau.

Als der letzte Ton verklungen war, sagte Mutter: »Vielen Dank, Meister Gang. Eure Musik ist ein Geschenk.«

»Ihr seid zu gütig, Mondgöttin.«

»Spielt Ihr oft für Eure Familie?«, fragte sie.

»Für meine Frau. Sie mochte Musik sehr.« Lächelnd wandte er sich an mich. »Wie ich höre, ist Eure Tochter eine begabte Musikerin. Wann wird uns das Vergnügen zuteil, sie einmal spielen zu hören? Ich teile nur zu gern ein paar meiner Kompositionen mit Euch.«

»Danke, Meister Gang, doch es wäre eine zu große Herausforderung, direkt etwas im Anschluss an Eure Darbietung zu spielen.« Ich lehnte nicht aus Bescheidenheit ab, sondern weil ich lieber vor einem Publikum meiner Wahl spielte.

Eine peinliche Stille senkte sich über den Speisesaal, in die Shuxiao fragte: »Meister Gang, habt Ihr hier viel Inspiration für Eure Musik gefunden?«

Er nickte begeistert. »Oh ja, Leutnantin, dieser Ort ist in vielerlei Hinsicht ein Wunder: Die Art, wie der Wind in den Blättern raschelt, wie der Regen aufs Dach fällt, selbst jeder Schritt auf diesem weichen Boden klingt einzigartig. Ich tendiere dazu, noch etwas länger zu bleiben, sofern meine Gastgeberin dem zustimmt.«

»Bleibt, solange Ihr wollt«, sagte Mutter mit vollendeter Höflichkeit, obwohl mir ein kurzes Stocken nicht entging. Vielleicht fehlte auch ihr die Einsamkeit unseres Zuhauses.

Nach dem Essen begleitete ich Shuxiao hinaus. Die Nacht hatte sich über den Himmel gebreitet, aber die Laternen waren noch nicht entfacht.

Als sie auf ihre Wolke trat, griff ich nach ihrem Arm. »Bleib wachsam. Tu nichts, was du nicht tun solltest.«

»Also soll ich mich nicht an dir orientieren?« Ihr Lachen klang hohl, und sie schüttelte den Kopf. »Ich habe neue Gepflogenheiten angenommen. Ich bin jetzt ein Musterbeispiel an Gehorsam.«

Ich reichte ihr ein in Seide eingeschlagenes Päckchen. »Osmanthus-Blüten für Minyi.« Als ich mit Liwei studierte, hatte sie unsere Mahlzeiten vorbereitet und war mir zu einer Freundin geworden.

Shuxiao klemmte es sich unter die Achsel. »Eure Bäume werden bald nackt sein, wenn weiter Winzer und Köchinnen bei euch vorstellig werden. Woher wissen sie überhaupt davon?«

Darauf erwiderte ich nichts, hob nur zum Abschied die Hand, während ihre Wolke sich entfernte. Ihr würde nichts passieren, versicherte ich mir auf dem Weg zurück in mein Zimmer. Shuxiao war schlau, sie hatte im Palast viele Freunde und außerdem würde Liwei auf sie aufpassen. Doch als ich im Bett lag, geisterte mir ihre Frage weiter durch den Kopf. Der letzte Gedanke, bevor ich einschlief, war: Wie hatte Meister Haoran von unserem Osmanthus erfahren? Die meisten unserer Gäste mühten sich nicht damit ab, durch den Wald zu spazieren, und ich hatte ihn bislang keinem von ihnen gezeigt.

RUMMS. RUMMS. RUMMS.

Ein silbernes Klimpern folgte wie das eines Windspiels. Rhythmisch, aber gedämpft, als käme es von weit her.

Ich riss die Augen auf und blinzelte in die Dunkelheit. Die tiefe Stille bedeutete entweder, dass es sehr spät in der Nacht war, oder viel zu früh am Morgen. Hatte ich mir die Geräusche eingebildet? Vielleicht hätte ich etwas von Meister Haorans Wein trinken sollen, dann wäre mein Schlaf womöglich ähnlich erholsam gewesen wie in den vorangegangenen Nächten.

Rumms. Rumms. Rumms.

Ich setzte mich aufrecht hin und lauschte gebannt. Nein, das Geräusch war echt, als würde gegen etwas Hartes geschlagen. Aber woher kam das Klimpern, das wie ein beharrliches Echo folgte? Ich schlug die Bettdecke zurück und trat ans geöffnete Fenster, wo ich die kühle, leicht süßliche Luft tief einatmete. Der Himmel war dunkel, der Boden in Mondlicht getränkt. In der Ferne ragte der Lorbeerbaum empor, seine Äste bebten, als würden sie vom Wind geschüttelt – dabei verharrten die Osmanthus-Bäume still.

Kalte, harte Angst packte mich. Meine Hände zitterten, während ich einen Mantel über mein Gewand zog und zuknotete. Ich schlüpfte in meine Schuhe, nahm meinen Bogen und kletterte zum Fenster hinaus. Mein Blick war auf den zitternden Lorbeerbaum geheftet, meine Füße flogen über den Boden, ich stolperte, fiel fast. Einmal, zweimal, dreimal erklangen die sonderbaren Laute erneut und ließen den Baum gequält zittern. Kurz vor der Lichtung hielt ich an und griff nach dem Bogen.

Ein Mann stand neben dem Lorbeerbaum, den Rücken zu mir gewandt. Seine Aura war zäh und trüb wie geronnenes Fett. Sie hatte etwas sonderbar Vertrautes, all meine Sinne kribbelten warnend. Ein Schimmern weckte meine Aufmerksamkeit, Mondlicht, das sich in der silbrigen Rundung einer Axtklinge brach, am Bambusstiel baumelte eine grüne Quaste. Das Werkzeug sauste durch die Luft und traf gegen den Stamm, die Rinde splitterte. Etwas Dunkles troff von der Hand des Mannes auf den Baum – war das Blut? Hatte er sich verletzt? Doch dann schüttelte sich der Baum plötzlich heftig, seine blassen Blätter raschelten, während ein Same zu Boden fiel, glänzend wie eine Sternschnuppe.

Ich entfachte einen flammenden Pfeil und trat aus dem Schatten, mein Herz raste. Als der Mann herumfuhr, entwich mir ein scharfes Keuchen, während ich den Pfeil auf seinen Kopf richtete.

Meister Gang.

Verschwunden waren sein so unterwürfiges Gebaren und die gebeugte Haltung – seine braunen Augen funkelten wie die eines Raubvogels. Kundig getarnt, dachte ich wütend, denn er hatte seine mächtige Aura gleich mit verborgen. Das hätte mir nicht entgehen dürfen, schließlich hatten auch Liwei und ich diesen simplen Zauber angewandt, um unbemerkt aus dem Jadepalast zu kommen. Hätte ich dies eher bemerkt, ich hätte ihn sofort mit dem Schwert konfrontiert, statt ihm Tee anzubieten. Mein Misstrauen gegen Meister Haoran hatte mich von der wahren Bedrohung abgelenkt. Ich verfluchte mich dafür, dass ich mich von Meister Gangs Gebrechlichkeit hatte dazu verleiten lassen, ihn nicht als Gefahr zu sehen, dabei hätte mir bewusst sein sollen, dass die Dinge nicht immer waren, wonach sie aussahen.

»Seid Ihr gekommen, um Kompositionen auszutauschen?«, scherzte er und machte sich über sein eigenes, wenige Stunden altes Angebot lustig.

»Ich habe keinerlei Interesse an Eurer Musik«, erwiderte ich, den Blick auf seine Axt gerichtet. Kleine, runde Löcher waren in den schlanken Stiel geschnitzt – und mit Schrecken wurde mir bewusst, dass das seine Flöte war. Beim Gedanken daran, dass er diese Waffe in unser Zuhause gebracht hatte, wurde mir ganz anders, meine Finger hätten liebend gern den Pfeil losgeschickt, doch ich wollte vorher noch Antworten. »Keine Bewegung, und denkt gar nicht erst daran, Eure Zauberkräfte anzurufen. Sagt mir, wer Ihr seid und was Ihr hier wollt.«

»Wieso sollte ich?« Fältchen legten sich um seine Augen. Offenbar lächelte er amüsiert, wenngleich er den Pfeil im Blick behielt. »Ihr habt kein Recht, irgendeine Antwort von mir zu verlangen. Was ich suche, gehört nicht Euch.« Eine seiner Fäuste öffnete sich kurz, auf der Handfläche zeigten sich dicke Narben, dunkle Streifen erhabener Haut, die vor Blut glänzten.

Ein Moment der Ablenkung. Mein Blick schnellte zurück, doch zu spät – er stürzte schon mit hoch erhobener Axt auf mich zu. Ich drehte mich weg und gab die Sehne frei, doch Meister Gang duckte sich, sodass der Pfeil einfach über ihn hinwegsauste. Da blitzte die Axt erneut über mir auf, doch ich zog den Kopf ein, sodass die Klinge nur eine Haarsträhne erwischte, die wie gesenstes Gras durch die Luft flog. Eine Sekunde später und sie hätte mich halbiert.

Ein Schauer überlief mich, die Bogensehne schnitt mir in die Finger, während ich einen weiteren Pfeil beschwor und sofort abschoss. Er zischte davon und brannte eine Spur in die Luft. Etwas schimmerte über seine Haut, ein Schild, gerade als der Pfeil ihn traf. Adern weißen Lichts knisterten über die Schutzhülle. Kaum zeigten sich klare Risse, wogte seine Zauberkraft auf, um sie wieder zu schließen. Wieder holte er aus und ließ die Axt auf mich zusausen, nichts als verschwommenes Silber. Ich warf mich zu Boden, presste Wange und Handflächen in den staubigen Untergrund. Die Klinge zischte über mich und rammte in einen der Osmanthus-Bäume, dessen Blätter daraufhin auf mich regneten. Während ich mich wegrollte und wieder auf die Beine kam, zuckte die Waffe, riss sich los und kehrte zu Meister Gang zurück. Licht strahlte unheilvoll aus seiner Hand, während sich ein weiterer flammender Pfeil zwischen meinen Fingern formte und sofort auf ihn zuschnellte – doch auch diesmal wich er geschickt aus, der Pfeil verglomm in der Nacht.

»Wie oft könnt Ihr das wiederholen?«, fragte er fast im Plauderton.

»So oft wie nötig, um Euch zu töten.«

Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Haut, als ich meine Kräfte anrief. Er holte erneut aus, doch diesmal blieb ich stehen. Magie strömte in glitzernden Wellen aus meinen Händen und hielt ihn fest. Mit einem Zucken der Hand riss ich ihm die Füße weg, er fiel zu Boden, sein Kopf knallte auf einen Stein. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, während sich seine Augenlider zuckend schlossen und ihm die Axt aus der Hand fiel. Vorsichtig näherte ich mich, einen flammenden Pfeil bereit, meine Nerven gespannt. Eigentlich war er zu stark, um so leicht bezwingbar zu sein, und ich war ja schon einmal auf sein Schauspiel hereingefallen …

Ein Keuchen durchbrach die Stille. »Meister Gang! Seid Ihr verletzt?«, rief Ping’er hinter mir und eilte an seine Seite.

»Ping’er, bleib weg!«

Ich versuchte noch, ihr den Weg zu versperren, doch zu spät. Meister Gang schlug die Augen auf, kam auf die Beine und packte sie am Arm. Die Axt flog in seine Hand und er hielt ihr die riesige Klinge an den Hals.

»Was macht Ihr?« Ping’er wehrte sich, doch er hielt sie nur noch fester, die Klinge schnitt ihr in die Haut. Sofort erstarrte sie, ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell.

»Lasst sie gehen.« Ich holte tief Luft und unterdrückte den Impuls, leichtsinnig zu reagieren.

»Lasst den Bogen fallen und tretet zurück«, mahnte er mich. »Lasst mich gehen, dann wird niemand verletzt.«

»Was hindert Euch daran, uns zu töten?«, wollte ich wissen.

»Ich gebe Euch mein Wort«, erwiderte er, als wäre seine Aussage etwas wert, als wäre er nicht unter Vortäuschung falscher Tatsachen in unser Zuhause eingedrungen.

Weil ich zögerte, drückte er die Waffe fester an Ping’ers Hals, dunkle Blutstropfen fielen auf ihr helles Gewand. Ein ersticktes Keuchen drang aus ihrer Kehle, trotzdem hielt sie vollkommen still.

»Verletzt sie noch einmal, und ich werde es zehnfach vergelten«, sagte ich in meinem bedrohlichsten Ton. »Dazu brauche ich nicht mal eine Waffe.«

Seine Zähne leuchteten, so breit grinste er. »Selbstverständlich. Ich sollte es nicht wagen, eine so berühmte Kriegerin herauszufordern.« Eine Spur von Spott lag in seiner Stimme.

Ich unterdrückte meine Wut und ließ den Bogen zu Boden fallen. Im gleichen Moment stieß er Ping’er in meine Richtung und rannte davon. Während ich sie auffing, senkte sich eine Wolke und trug ihn fort.

Ich hätte die Verfolgung aufgenommen, hätte Ping’er nicht gekeucht und sich die Hände an den Hals gepresst. Ihre Handflächen waren blutig, und sie brach zusammen. Mir war ganz flau, als ich mich zu ihr kniete und ihre kalten Hände nahm. Sofort ließ ich meine Energie fließen, um ihre Wunde zu versorgen, die sich sogleich zu einer dünnen weißen Linie schloss. Unbeholfen geheilt, aber es war gerade niemand in der Nähe, der es besser gekonnt hätte.

Ping’er stöhnte und rieb sich die Schläfen. »Xingyin, was ist passiert? Warum … warum hat Meister Gang das getan?«

Ich runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Er ist ein Lügner und ein Dieb.«

Als sie sich vom Boden abdrückte, fiel etwas aus den Falten ihres gelben Gewands – eine längliche Perle an einer Goldkette. In ihr funkelte ein Feuer, fast wie in den Drachenperlen, jedoch ohne deren immense Macht. Hatte sie die Perle schon immer bei sich getragen? War diese stets unter ihrem Gewand verborgen gewesen?

»Ping’er, was ist das?« Ich fuhr mit dem Finger über die schimmernde Oberfläche der Perle, die sich warm anfühlte.

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Sie hat sich an dem Tag geformt, an dem ich mein Zuhause verließ. Bei Unsterblichen des Südmeers verwandeln sich nur Tränen, denen die tiefsten Gefühle zugrunde liegen, in Perlen.«

»Fehlt dir deine Familie?« Eine unbedachte, eine dumme Frage. Natürlich fehlte sie ihr, und doch war Ping’er in all den Jahrzehnten kein einziges Mal zu ihren Verwandten zurückgekehrt.

Ein Schimmer trat in ihre Augen, den sie wegblinzelte. Ich wandte mich ab, gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Etwas glänzte im Gras – ein Lorbeersamen. Ich hob ihn auf, rollte ihn zwischen den Fingern, seine kühle, harte Oberfläche war mir vertraut, und doch hielt ich zum ersten Mal einen Samen in der Hand, der nicht mehr mit dem Baum verbunden war. Pulsierende Energie ging von ihm aus. Wieso interessierte sich Meister Gang dafür? Wieso hatte er solche Mühen auf sich genommen? Mein Blick wanderte zu dem Lorbeerbaum, sein Stamm war übersät von tiefen Kerben, als hätte eine Bestie ihre Krallen hineingeschlagen, beschmiert mit einer dunklen Flüssigkeit. War dies sein Blut? Hatte er sich verletzt, während er auf den Baum einhieb?

Ein holziger Geruch lag in der Luft, goldener Saft drang aus den Kerben und lief über die Rinde. Die Enden des zersplitterten Holzes zogen sich in die Länge und verflochten sich miteinander, bis sie wieder nahtlos ineinandergriffen. Dann schaute ich zu den Samen hinauf, die wie silberner Tau zwischen den Blättern funkelten. Ich hatte sie immer wunderschön gefunden. Kostbar und rar. Doch nun umfing mich ein Gefühl von Kälte, weil ich mich fragte, welche Geheimnisse sie in ihrem strahlenden Innern trugen.

Im Licht des Spätnachmittags schimmerte der Lorbeerbaum wie eine Säule aus Eis. Ich fuhr mit den Fingern über die Rinde, die glatt war wie Marmor – als wäre sie nie mit einer Axt bearbeitet worden, als hätte ich mir das alles nur eingebildet.

»Hier verbringst du also deine Stunden?«, fragte Liwei, als er sich näherte.

Ich verzog das Gesicht. »Hier habe ich die letzte Nacht verbracht. Ungeplant.« Sofort erzählte ich ihm von Meister Gangs Angriff.

Liweis Miene verfinsterte sich. »Hat er dich verletzt?«

Ich schüttelte den Kopf, hielt ihm dann den Samen hin – er war kleiner als mein Daumennagel und etwas Milchiges wirbelte darin wie eine kleine Wolke. »Das ist vom Lorbeerbaum gefallen. Es enthält irgendeine Magie, die ich nicht bestimmen kann.«

Liwei hielt den Samen hoch, betrachtete ihn genau. »Kalt. Die Energie ist stark, aber mir unbekannt. Probieren wir es aus.«

Dann hob er die andere Hand, und schon schwebte der Samen in die Luft. Karmesinrote Flammen umzüngelten ihn knisternd, schlugen hoch, erstarben dann aber abrupt und hinterließen den Samen verschmort wie ein Stück Kohle. Sofort war ich erleichtert, dass es sich nicht um einen gewaltigen Schatz handelte, um keine mysteriöse Kraft. Es rechtfertigte jedenfalls nicht den Aufwand, den Meister Gang dafür betrieben hatte.

»Xingyin, sieh doch.«

Die Dringlichkeit in Liweis Stimme überraschte mich. Der Samen leuchtete erneut, einfach nur etwas blasser als zuvor, als hätte er seine äußerste Schicht abgelegt. Dass er Liweis Feuer unversehrt überstanden hatte, bewies, dass die ihm innewohnende Kraft stark sein musste.

Meine Zauberkraft strömte schillernd hervor und umschloss den Samen in mehreren Luftschichten, immer enger, bis kleine Risse die Oberfläche überzogen. Ich spannte mich an, beschwor mehr meiner Energie, wild entschlossen, den Samen zu zerquetschen, um zu beweisen, dass er von keinerlei Bedeutung war – doch da setzte ein Leuchten in seinem Inneren ein und verschloss die Risse wieder.

Liweis Augen wurden schmal, er hob die Hand und richtete sie auf den Baum. Flammen schlugen daraus hervor und umgaben Stamm und Krone, um sie zu verschlingen. Während sie sich über die silbrigen Blätter und Rinde fraßen, zuckte ich zurück, verkniff mir aber meinen instinktiven Protest – ich liebte diesen Lorbeerbaum seit Kindertagen, hatte in seinem Schatten gespielt, war hingerissen von seiner Schönheit. Als Liwei die Hand zu einer Faust ballte, loderte das Feuer heißer, die Rinde verfärbte sich stellenweise schwarz … doch dann zitterten die Flammen, bevor sie mit einem Zischen erloschen. Der schimmernde Saft trat erneut hervor und lief in Rinnsalen den Stamm hinunter. Ein Leuchten umfing den Lorbeerbaum, die Brandflecken verschwanden, das Holz zeigte sich wieder makellos.

»Regeneration. Doch es ist mir noch nie mit solcher Potenz begegnet«, sagte Liwei, ohne den Blick vom Baum zu wenden.

Ich musste daran denken, mit welcher Leichtigkeit meine Zauberkräfte geflossen waren, ein immenser Unterschied zu der Zeit, als ich meine Lebenskraft geopfert hatte, um die Drachen zu retten. Ich hatte mich hier schneller erholt, als alle für möglich gehalten hatten. Und jetzt wusste ich auch, warum.

»Er hat auch mich geheilt. Bei meiner Ankunft konnte ich kaum die Schutzzauber aufrechterhalten, und jetzt … bin ich fast wieder so mächtig wie zuvor.« Doch in meine Erleichterung mischten sich üble Vorahnungen.

»Das freut mich.« Liwei neigte den Kopf. »Aber warum siehst du so besorgt aus?«

»Wozu können diese Samen benutzt werden? Was will Meister Gang damit? Wer ist er? Denn er ist bestimmt kein harmloser Musiker oder einfacher Dieb.«

»Das werden wir herausfinden«, versicherte er mir. »Konntest du noch weitere Samen pflücken?«

»Nein. Weder mit Schwertern noch mit Dolchen ließ sich etwas ausrichten. Wenn sie überhaupt kleine Kerben hinterließen, schlossen diese sich sofort – ganz wie nach deinem Feuer. Ich weiß nicht, wie Meister Gang das gemacht hat.«

»Vielleicht war seine Axt mit einem Zauber belegt? Fällt dir sonst noch etwas ein von letzter Nacht?«, fragte Liwei.

Ich zögerte, durchkämmte meine Erinnerungen. »Er war überraschend stark und schnell. Seine Waffe verursachte tiefe Kerben im Stamm, aber einen Zauber konnte ich nicht wahrnehmen.«

Da erregte etwas meine Aufmerksamkeit, eine Wolke senkte sich vom Himmel und steuerte den Gästeflügel an. Wer hatte sie herbeibeschworen? Wir folgten ihr in den Hof von Meister Haoran. Er lag im Schatten der Magnolienbäume, deren Wurzeln sich über die Wiese zogen, ihre Äste verzweigten sich über einem runden Steintisch.

Als ich an die Tür klopfte, war von innen ein leiser Fluch zu hören, gefolgt von eiligen Schritten. Liwei riss die Tür auf. Drinnen war es dunkel, die Fenster mit Tüchern verhängt. Licht fiel nur durch die nun offene Tür, durch die wir hineindrängten. Eine berauschende Süße hing in der Luft, sie stammte von den zerdrückten Blüten, die in Seidenbeutel gestopft waren – manche verschlossen, andere weit offen, überall am Boden lagen Blütenblätter verstreut.

Meister Haoran, der gerade Weinkrüge, die mit rotem Stoff versiegelt waren, in eine Holzkiste sortierte, sprang auf. Er blinzelte, riss eine Hand zum Gesicht, um die Sonne abzuschirmen. »Vorsicht, das Licht schadet den Blüten!«

Ein einziger, durch meine Zauberkräfte herbeibeschworener Windstoß riss die Tücher von den Fenstern, Licht drang herein. »Ihr könnt das Theater sein lassen. Ihr seid nicht wegen der Blüten hier.«

»Was soll das heißen?« Er starrte mich ausdruckslos an. »Was wollt Ihr hier?«

»Wir könnten Euch das Gleiche fragen«, erwiderte Liwei kühl. »Wieso brecht Ihr so abrupt auf, ohne Euch von Euren Gastgeberinnen zu verabschieden?«

»Eine dringende Angelegenheit. Familiär.« Seine Worte klangen plump, überhastet.

So überrumpelt, war Meister Haoran ein ähnlich schlechter Lügner, wie ich es gewesen war, bevor meine Zunge durch Hinterlist vergoldet wurde. Mein Verstand arbeitete schnell, Bruchstücke setzten sich zusammen: seine Ankunft, zeitgleich mit Meister Gang, sein Eifer, uns mit Wein zu verwöhnen, sein eiliger Aufbruch. »Warum seid Ihr hergekommen? Wieso habt Ihr uns angelogen?«, wollte ich wissen.

Meister Haoran erstarrte, dann sprintete er zur Tür. Flammen schossen aus Liweis Hand und schlangen sich um ihn.

»Aufhören! Verschont mich! Ich sage Euch alles, was ich weiß.« Er kämpfte inmitten der züngelnden Flammen, und doch roch es nicht nach verbranntem Fleisch. Das Feuer hielt ihn nur fest.

Also versuchte ich es behutsamer. »Mit der Wahrheit erhöht Ihr Eure Chancen, diesen Ort unbeschadet zu verlassen.« Falls er jedoch geplant hatte, uns zu verletzen, würden wir wenig Gnade walten lassen.

Er nickte ruckartig. »Königin Fengjin ist keine Stammkundin. Mein Wein ist der beste im ganzen Königreich, aber diese arroganten Hofmeister weigern sich, mir eine Chance zu geben. Ihre Majestät mag Osmanthus-Wein, und ich … ich wollte ihre Gunst gewinnen. Meister Gang kam in meinen Laden und sprach von den Osmanthus-Bäumen auf dem Mond, jeder Baum in perfekter Blüte. Im Gegenzug verlangte er einen kleinen Gefallen. Er erschien mir harmlos, außerdem ist es ja üblich, seiner Gastgeberin Geschenke zu bringen.«

»Der Wein.« Ich verfluchte mich selbst dafür, ihn getrunken zu haben. Meister Gang musste etwas hinzugefügt haben, um uns in tiefen Schlaf zu versetzen. Hätte ich ihn gestern Abend getrunken, hätte ich wieder durchgeschlafen und nichts von den Geschehnissen mitbekommen.

Als ich Meister Haoran betrachtete, der nun kränklich blass aussah, schwand meine Wut auf ihn. Er war nur die Tarnung gewesen – seine unbedeutenden Lügen einzig gedacht, um mich abzulenken, damit der wahre Übeltäter ungehindert agieren konnte. Indem ich mich auf einen Baum konzentriert hatte, hatte ich den Wald aus den Augen verloren.

»Was hat er Euch sonst noch erzählt?«, drängte Liwei.

»Nur, dass er etwas holen muss, das ihm gehört. Ich glaube nicht, dass er böse Absichten hat.«

Genau das hatte auch Meister Gang gesagt, als ich ihn zur Rede stellte. Ich hatte es für eine Lüge gehalten, um seine Tat zu rechtfertigen.

»Wer ist er?«, hakte ich nach.

»Das hat er nicht gesagt, und ich habe nicht gewagt, ihn zu fragen.« Meister Haoran kaute auf seiner Unterlippe. »Bei unserem ersten Treffen trug er ein Schmuckstück aus Jade, in das eine Sonne graviert war. Aber danach habe ich es nicht noch einmal gesehen.«

Das Symbol des Himmlischen Königreichs. Liwei atmete tief ein, und mir wurde es eng in der Brust.

»Mehr weiß ich nicht, das schwöre ich.« Meister Haorans Stimme zitterte.

»Lass ihn gehen. Auch er wurde hereingelegt«, sagte ich zu Liwei.

»Danke.« Er verneigte sich vor uns und packte dann so viele Beutel, wie er tragen konnte. Ohne einen Blick zurück floh er aus dem Zimmer, die Blätter rauschten, so schnell stob seine Wolke davon.

Stille spannte sich zwischen uns. »Viele Leute tragen so ein Schmuckstück«, sagte Liwei. »Selbst wenn er aus dem Himmlischen Königreich kam, heißt das nicht, dass er auf Geheiß meines Vaters gehandelt hat. Vater hat keinen Grund für solch hinterhältige Mittel. Der Mond steht schließlich unter Himmlischer Herrschaft. Wenn er gewollt hätte, hätte er deiner Mutter befehlen können, Meister Gang zu beherbergen.«

Nicht, wenn er sein Interesse geheim halten wollte. Trotzdem nickte ich, klammerte mich bereitwillig an diesen kleinen Hoffnungsschimmer. Ich legte keinen gesteigerten Wert darauf, den Himmlischen Kaiser erneut gegen mich aufzubringen.

»Wir müssen mehr herausfinden«, sagte ich. »Könnte Lehrerin Daoming etwas über die Lorbeersamen wissen?«

Lehrerin Daoming war eine der wenigen im Jadepalast, denen ich traute. Sie hatte stets mein Bestes gewollt, auch wenn es sich zu Anfang – als ich mich im Unterricht abmühte – nicht so angefühlt hatte. Erst später hatte ich begriffen, dass sie mir nur dabei hatte helfen wollen, die Grenzen meiner Kräfte zu überwinden, und erst als ich ihr Respekt zollte, verschaffte ich mir ihren.

»Ich werde sie fragen«, versicherte mir Liwei.

Er steckte den Lorbeersamen in die Innentasche seines Ärmels, woraufhin die gestickten Kraniche die Flügel ausbreiteten, als wollten sie losfliegen. Sein Gewand war aus dem feinsten blauen Brokatstoff und wurde an der Hüfte von einer silbernen Schärpe zusammengehalten. Mein Blick wanderte seinen feinen Hals hinauf zu seinem schwarzen Haar, das zu einem Knoten zusammengefasst war, um den eine Krone aus Saphir und Gold saß.

Wie prunkvoll er aussah! So majestätisch und feierlich. In mir keimte das absurde Verlangen auf, mich selbst mit mehr Sorgfalt gekleidet zu haben, vielleicht sogar das Haar kunstvoller frisiert, statt es mir einfach nur lose zusammengebunden zu haben. Aber hier gab es einfach so wenig Anlass, sich herauszuputzen.

»Nimmst du später noch an einem Bankett teil?«, fragte ich, obwohl ich wusste, wie sehr er solche Veranstaltungen verabscheute.

Er schüttelte den Kopf. »Warum fragst du?«

»Weil du so gut … weil du so angezogen bist«, brachte ich den Satz zu Ende.

Einer seiner Mundwinkel hob sich. »Gefällt dir mein Aufzug?«

Ich erwiderte seinen Blick. »Steht dir.« Das war keine Schmeichelei, er sah einfach aus, wie ein Himmlischer Kronprinz aussehen sollte. Und doch war der Unterschied in unserer Stellung wohl nie so augenfällig gewesen wie in diesem Moment.

Seine Kräfte flimmerten und verwandelten seine Krone in einen einfachen Silberreif, die Kraniche auf seinem Gewand erstarrten, bevor sie ganz verschwanden. »Du warst nie gut darin, deine wahren Gedanken zu verbergen.«

»Zumindest nicht vor dir«, gab ich zu. »Aber das wäre nicht nötig gewesen.« Dennoch konnte ich nicht leugnen, dass ich mich jetzt entspannter fühlte.

»Mir war es ein Bedürfnis.« Liwei zögerte, dann strich er sich eine Strähne aus der Stirn. »Xingyin, ich möchte dir etwas zeigen.«

Die Intensität, mit der er sprach, war eindrücklich. »Jetzt?«

Er schaute in die Abenddämmerung. »Es gibt keinen besseren Zeitpunkt. Ich bringe dich vor Sonnenaufgang zurück.«

Dann nahm er meine Hand und führte mich aus dem Zimmer. Draußen wartete bereits eine Wolke. Der Wind drängte mir ins Gesicht, während wir immer höher in den Himmel stiegen, bis mein Zuhause nur noch eine entfernte blasse Kugel war. Ein Mal zuvor waren wir so unterwegs gewesen, mit verschränkten Herzen, bevor die Stürme uns auseinanderrissen.

Als die Wolke zum Stehen kam, schaute ich auf, ohne jeden Gedanken im Kopf. Sterne spannten sich über den gesamten Himmel, funkelten wie Frost im Mondlicht.

»Wo sind wir?« Mein Atem formte sich in der Kälte zu Nebel.

»Am Silbernen Fluss.«

»Dann sind das die Sterne, die die Weberin von ihrem sterblichen Ehegatten trennten?« Dies war eine beliebte Legende im Reich der Sterblichen.

Er nickte. »Eine solche Verbindung verstößt gegen die Gesetze unseres Königreichs. Angeblich ist die Göttin auf die Erde geflohen, bis sie gezwungen wurde, in den Himmel zurückzukehren. Ihr Ehemann nahm große Gefahren auf sich, um ihr zu folgen, und nach viel Leid wurde es ihnen schließlich gestattet, sich ein Mal im Jahr zu treffen. Am siebten Tag des siebten Mondmonats, den die Sterblichen als Qixi-Fest feiern.«

Früher war ich ganz hingerissen gewesen von der Romantik und ätherischen Schönheit dieser Legende. Aber seit ich erste Erfahrungen mit Liebeskummer gemacht hatte, kannte ich nur noch Mitleid. Außerdem musste ich unweigerlich an meine Eltern und die Ähnlichkeit mit ihrer Geschichte denken. Vielleicht waren alle Verbindungen dieser Art dazu bestimmt, in Tragödien zu enden, denn welche Zukunft gab es schon für Sterbliche und Unsterbliche, wenn der Tod sie zwangsläufig trennen würde?

»Warum siehst du so traurig aus, Xingyin?« Liwei kam näher, bis sein Kopf meinen streifte. »Es ist doch nur eine Legende.«

Aber die Sterblichen hielten auch die Legende meines Vaters für einen Mythos, genauso wie die Geschichte meiner Mutter, die in die Unsterblichkeit aufstieg. Vielleicht wohnte allen Legenden, die uns am tiefsten berührten, ein Funken Wahrheit inne.

»Aber hat sie einen wahren Kern?« Ich hoffte nicht. Hoffte, dass niemand sonst hatte so leiden müssen – ihre Herzen voll ungestillter Sehnsucht, für immer verzweifelt.

Liwei schwieg einen Moment. »Vielleicht vor langer Zeit? Dieser Ort ist jetzt verlassen, hier ist niemand außer uns.«

»Ist Liebe ein solches Leid überhaupt wert? Nur eine Nacht für ein Jahr der Pein?«

Seine Finger umschlossen fest meine Hand. »Das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Auf die Nacht«, sagte er leise. »Auf das, worauf sie gewartet haben.«

Unsere Schultern berührten sich, während wir dicht beieinander in das Meer endlosen Lichts schauten. Seide raschelte, als er in seinen Ärmel griff und eine Haarnadel hervorholte, die in allen Farben des Himmels schillerte und mit hellen Edelsteinen besetzt war. Die Haarnadel, die er für mich gemacht und die ich ihm nach seiner Verlobung mit einer anderen zurückgegeben hatte. Mein Blick wanderte zu seinen dunklen Augen, mir wurde ganz warm.

»Als ich sie dir zum ersten Mal gab, habe ich so getan, als wäre es im Tausch für dein Geschenk. Ich war zu feige und habe dir nicht gesagt, wie es damals wirklich in meinem Herzen aussah. Als sich unsere Wege zum ersten Mal trennten, habe ich bedauert, dass so vieles ungesagt geblieben war, und ich fürchtete, nie wieder die Gelegenheit zu bekommen, das nachzuholen.« Seine Stimme zitterte, von seinen starken Gefühlen überwältigt. »Wenn du dich für mich entscheiden würdest, ich würde mich dir versprechen – jetzt und für immer.«

Hoffnung wogte durch mich, dicht gefolgt von der Erinnerung daran, dass wir diesen Pfad schon einmal beschritten hatten und welcher Schmerz darauf gefolgt war. Unsere Familien. Sein Königreich. Mein vorsichtiges Herz. Das waren die augenscheinlich unüberwindbaren Hindernisse, die zwischen uns lagen. Zwischen unseren Familien würde es keinen Austausch von Verlobungsgeschenken geben, keinen fröhlichen Zusammenschluss zweier Häuser. Als ich den Himmlischen Kaiser zuletzt sah, hatte er versucht, mich zu töten. Die Narben an meiner Brust spannten beim Gedanken an die höllischen Qualen, sie überzogen meinen Oberkörper wie ein Netz aus Schmerz. Überdies – wie könnte ich Mutter erneut allein lassen, wo sie doch so tief in Trauer über den Tod meines Vaters versunken war?

Mein Schweigen sorgte bei Liwei für Anspannung, langsam wandte er sich ab. »Ich dachte, du willst das auch. Vielleicht habe ich mich geirrt.«

Er klang so förmlich, so reserviert – wie ich das hasste! Ich nahm seine Hand, verflocht unsere Finger ineinander. »Ich will es ja auch. Ich brauche einfach Zeit. Deine Eltern verabscheuen mich, und ich kann Mutter noch nicht allein lassen. Außerdem …«

Ich verstummte, ließ die neue Befürchtung unausgesprochen, die just in diesem Moment aufgekommen war. Denn wenn ich Liwei heiratete, müsste ich für immer im Jadepalast leben, in Seide gehüllt, von Gold gefesselt, gebunden durch Worte während einer Zeremonie. Und obwohl Liwei nicht sein Vater und ich nicht seine Mutter war – würden wir doch in denselben vergoldeten Ketten liegen. Ich war nicht für die Gefangenschaft geschaffen. Dieses Jahr der Freiheit hatte mir die Möglichkeiten eines Lebens fernab der Einschränkungen des Himmlischen Königreichs aufgezeigt. Viele träumten sicher davon, den Prinzen zu heiraten und im Palast zwischen den Wolken zu leben. Aber mit einer zukünftigen Schwiegermutter, die mich verabscheute, und einem zukünftigen Schwiegervater, der versucht hatte, mir das Leben zu nehmen, glich die Vorstellung eher einem Albtraum.

Liwei lächelte, während er mir die Nadel ins Haar schob, bis sie fest saß. »Ich werde warten. Das Wissen, dass du so fühlst wie ich, reicht mir, trotzdem werde ich meine Eltern über meine Absichten in Kenntnis setzen.«

»Das wirst du?« Ich klang ungläubig.

»Das Letzte, was ich will, ist noch eine unvermittelte Verlobung.«

Der Gedanke versetzte mir einen Stich, dicht gefolgt von einem weiteren, der durch tiefes Unbehagen ausgelöst wurde. »Wie werden sie reagieren?«

»Mutter wird toben. Vater … Nun, ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem er mich so disziplinieren kann wie früher. Er wird einfach enttäuscht von mir sein, so wie er es schon mein ganzes Leben lang ist. Ich habe meine Aufgaben nie zu seiner Zufriedenheit erfüllt.«

Ich war froh, dass er dies nie getan hatte, und doch zog sich mir bei seinen Worten alles zusammen. Ich hatte am eigenen Leib erfahren, mit welcher Wucht der Kaiser sein Missfallen ausdrückte. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er Liwei, ohne zu zögern, abgewürgt hatte. In diesem Moment war ich der Himmlischen Kaiserin ein bisschen weniger abgeneigt, erleichtert, dass wenigstens einem Elternteil etwas an Liwei lag, dass zumindest seine Mutter versucht hatte, ihm auf ihre Art zu helfen.

»Aber das ist alles unwichtig, solange wir zusammen sind«, sagte er.

Dann zog er mich an sich, seine Augen erfüllt von einem Verlangen, das mein Blut wallen ließ. Nein, ich wollte nicht zulassen, dass dieser Moment von Zweifeln getrübt wurde. Ein solches Glück war so wertvoll wie rar. Ich lehnte mich an ihn und atmete seinen frischen Geruch ein. Es war lange her, dass er mich zuletzt so gehalten hatte. Als seine Hand an meiner Taille entlangglitt, schoss es mir wie Feuer durch die Adern, mich überkam ein plötzlicher Hunger, und ich schlang ihm die Arme um den Hals, um ihn näher an mich zu ziehen. Seine Lippen fanden meine – zärtlich und bestimmt, sanft und doch drängend. Wie sehr ich es vermisst hatte, dieses verlockende Gefühl, wenn unsere Körper einander nahe kamen. Er umschloss mich noch fester, während wir auf die Wolke sanken, deren Kälte Balsam für meinen aufgeheizten Körper war.

Ich schloss die Augen und trieb davon auf einer Flut von Träumen, die so hell strahlten wie der silberne Sternenstrom.

Ein Klingeln riss mich aus dem Schlaf. Ein Klingeln, das ich nur in meinem Inneren hörte. Jemand hatte die Schutzzauber durchbrochen. Ich riss die Augen auf, während ich die Energie des Eindringlings prüfte. Sie war mir vertraut, aber sie loderte hell vor Wut.

Wenzhi.

Ich würde ihn nicht treffen, ich würde ihn ignorieren wie all die Male zuvor. Er kam jetzt häufiger, durchbrach achtlos die Schutzzauber, dabei hätte er sie mühelos überwinden können – ebenso wie jene, die das Himmlische Königreich umgaben. Vielleicht amüsierte ihn die Vorstellung, dass seine Ankunft durch meinen Kopf schrillte, als wäre ein Gong geschlagen worden. Vielleicht ersparte es ihm die Mühe, mich eigenhändig wecken zu müssen. Er kam nie in mein Zimmer, vielleicht wusste er nicht, wo es war, wobei ich mir lieber vorstellte, dass er es einfach nicht wagte. Nach dieser ersten Störung blieb es erst einmal still. Seine Anwesenheit auf dem Balkon unseres Hauses machte mich so wahnsinnig wie ein Sandkorn im Auge. Wenzhi war stets geduldig und brach erst wieder auf, wenn der Morgen dämmerte.

Von Anfang an gab ich dem Impuls, ihn fortzujagen, nicht nach. Ihn zu ignorieren war das beste Mittel, das ich gegen seinen stählernen Stolz einsetzen konnte. Mir gefiel es nicht, welche Bitterkeit und Wut seine Anwesenheit in mir auslöste, welche Erinnerungen sie aufwirbelte. Dies waren schlaflose Nächte, in denen ich mich so lange im Bett wälzte, bis ich mich ganz in den Seidenlaken gedreht hatte. Mein einziger Trost war der Gedanke an sein fruchtloses Warten.