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Ausgestoßen und auf der Flucht! Der historische Jugendroman „Die Tochter des Henkers“ von Beatrix Mannel jetzt als eBook bei jumpbooks. 1675: Als Tochter des Henkers führt Franziska ein hartes Leben: ausgestoßen und geächtet kann sie ihre Einsamkeit nur ertragen, wenn sie singt. Niemand hört ihre Lieder ... bis sie eines Tages beim Singen von einem geheimnisvollen Fremden überrascht wird. Er prophezeit ihr eine Zukunft, in der sie mehr als nur eine Henkerstochter sein wird. Franziska hält den jungen Astrologen für verrückt und doch kann sie seine Worte einfach nicht mehr vergessen. Als er kurz darauf unschuldig im Kerker ihres Vaters landet, fasst sie einen folgenschweren Entschluss … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Jugendroman für Leserinnen ab 12 Jahren „Die Tochter des Henkers“ von Erfolgsautorin Beatrix Mannel. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.
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Seitenzahl: 366
Über dieses Buch:
1675: Als Tochter des Henkers führt Franziska ein hartes Leben: ausgestoßen und geächtet kann sie ihre Einsamkeit nur ertragen, wenn sie singt. Niemand hört ihre Lieder ... bis sie eines Tages beim Singen von einem geheimnisvollen Fremden überrascht wird. Er prophezeit ihr eine Zukunft, in der sie mehr als nur eine Henkerstochter sein wird. Franziska hält den jungen Astrologen für verrückt und doch kann sie seine Worte einfach nicht mehr vergessen. Als er kurz darauf unschuldig im Kerker ihres Vaters landet, fasst sie einen folgenschweren Entschluss …
Über die Autorin:
Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie – auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian – Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2015 die Münchner Schreibakademie.
Beatrix Mannel veröffentlich bei jumpbooks auch die Jugendbuchserie S.O.S – Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden:
Willkommen in der Chaos-KlinikEin Oberarzt macht ZickenFlunkern, Flirts und LiebesfieberRettender Engel hilflos verliebtPrinzen, Popstars, Wohnheimpartys
Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin: www.beatrix-mannel.de
www.münchner-schreibakademie.de/
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eBook-Neuausgabe April 2016
Copyright © der Originalausgabe 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs
Titelbildabbildung: © aleshin - fotolia.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-96053-112-8
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Beatrix Mannel
Die Tochter des Henkers
Roman
jumpbooks
Zur Erinnerung an Wolfgang König
Solange von Kiefersheim noch etwas zu sehen war, summte Franziska leise vor sich hin. Dann, als der Weg zum Roten Haus hinauf steiler und einsamer wurde, begann sie zuerst zaghaft, dann immer klarer und jubelnder zu singen, obwohl der halbe Scheffel Gerste in der hölzernen Kiepe auf ihrem Rücken von Schritt zu Schritt schwerer wurde.
Ihr Weg führte von Kiefersheim die Maisch entlang und schraubte sich mit jeder Biegung des Flüsschens höher und höher, bis hinauf zum Galgenberg.
Die Melodien kamen ganz von allein aus ihrer Kehle, denn trotz der Hitze war es heute ein Vergnügen, diesen Pfad entlangzugehen.
Ihre Füße wirbelten – anders als im Winter, wenn ihre Holzschuhe ständig im zähen Morast stecken blieben – den feinen Staub auf, der wie Funken in der Sonne vor ihr hertanzte und flirrte.
Der Himmel erschien ihr blau wie die Glockenblumen, die am Rand der Maisch zwischen den Kieseln wuchsen und deren Glöckchen im Rhythmus des Plätscherns und Glucksens sanft hin und her schaukelten.
Nur wenn ich singe, dachte sie, bin ich glücklich, bin wirklich die Franziska Burkhardt und nicht bloß die Tochter des Henkers von Kiefersheim.
Sie seufzte, ohne aufzuhören zu singen, was einen dumpfen Laut hervorbrachte, der Franzi verstummen ließ. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was es hieß, die Tochter des Henkers zu sein. Schließlich hatte sie es viel besser getroffen als ihre Kusinen Barbara und Verena, die auch Henkerstöchter waren. Denn im südhessischen Kiefersheim musste man wenigstens keine gelben Kappen tragen so wie in Trier und Braunschweig, wo ihre Kusinen lebten. Trotzdem gehörte sie zu den Ausgestoßenen, als würde sie, genauso wie die Jüdinnen und Prostituierten, die gelbe Kappe tragen.
In ihrem Dorf sprach niemand mit ihr. Und berühren würde sie auch keiner. Dabei wünschte Franzi sich nichts mehr als eine Freundin. Wenn sie doch wenigstens eine Schwester hätte!
Oder ihre Mutter noch leben würde!
Sie blieb einen Augenblick stehen und wischte sich mit dem Zipfel ihres Brusttuches den Schweiß von der Stirn. Dann drehte sie sich um und betrachtete aus der Höhe das nun im Tal liegende Kiefersheim. Rund um das Dorf wuchs ein dichter Wald aus Kiefern und Buchen. Mittendrin waren die Fachwerkhäuschen im Kreis angeordnet, beinahe wie die Perlen einer Halskette, fand Franzi.
Dabei hatte Franzi erst ein Mal eine Perlenkette gesehen. Damals, als die Baronin Trebeljahr heimlich zu ihrem Vater, dem Scharfrichter von Kiefersheim, gekommen war, um sich die Zutaten zu einer »Medizin« zu holen. Franzi lächelte, denn diese Medizin war, so viel wusste sie noch von ihrer Mutter, ganz bestimmt eher ein magischer Zaubertrank.
Und die nötigen Ingredienzien kaufte man nicht am helllichten Tag, das taten sie alle nur heimlich.
Franzis Mutter hatte das nicht gestört, aber Franzi fand es ungerecht, dass sie im Dorf von allen ehrlichen Handwerkern geschnitten wurde, als hätte sie die Pest, und sich die Dorfbewohner andererseits bei ihrem Vater die nötigen Zutaten für ihre Heiltränke holten.
Wie immer, wenn Franzi an ihre Mutter dachte, berührte sie unwillkürlich Mutters Amulett. Ein Wildschweinzahn, den ihr eine Edelfrau zum Dank für ihre Hilfe im Kindbett geschenkt hatte und den Franzi an einer dünnen Silberkette um den Hals trug. In ihrer Erinnerung war ihre Mutter immer gleichmütig und sanft gewesen und hatte nur sehr selten mit Franzi geschimpft. Ihre Mutter hatte fest daran geglaubt, dass alles, so wie es kam, auch gut sein musste, einfach deshalb, weil es von Gott kam. Franzi hatte das auch lange geglaubt, doch seit dem Tod ihrer Mutter nagten immer öfter Zweifel an Franzis Herz. Wie hatte Gott das zulassen können?
Pfarrer Zinke hatte ihr versichert, dass Gott nur die Edlen und Guten früh zu sich ins Jenseits ruft. So hatte er aber auch schon die sechs totgeborenen Geschwister von Franzi erklärt. Und, hatte er hinzugefügt, natürlich sei ihre Mutter im Himmel, im ewigen Paradies, und es sei höchst unrecht von Franzi, ihrer Mutter das zu missgönnen.
Franzi tröstete dieser Gedanke gar nicht, denn der Himmel war doch so unendlich weit weg. In der Hoffnung, dass sie schnell zu ihrer Mutter ins Paradies käme, wenn sie nur ordentlich und brav wäre, hatte sie eine Zeit lang versucht, sich tadellos zu benehmen, aber das war unmöglich!
Denn im Roten Haus führte jetzt Tante Genofeva, Mutters jüngere Schwester, das Regiment.
Und Tante Feva sah aus wie eine misslungene Kopie ihrer Mutter, ganz in magerem Dunkelgrau. Der schmale Strich ihrer Lippen öffnete sich nur zum Seufzen. Lachen fand Tante Feva angesichts all der Übel auf der Welt, als da wären Gotteslästerer, Schamlose, Pestilenz und Krieg, geradezu gottlos! Ihre nagelgrauen Augen begannen allerhöchstens dann etwas zu glänzen, wenn jemand unerwartet starb oder in großes Unglück geriet.
Sosehr sich Franzi auch bemühte, sie konnte es ihrer Tante einfach nicht recht machen, und reden konnte man mit ihr schon gar nicht.
Wie gern hätte Franzi ihrer Mutter von den merkwürdigen Gefühlen erzählt, die sie beim Singen spürte. Franzi kam es dann so vor, als würde sie schweben. Der Himmel rückte näher, und manchmal hatte sie sogar den Eindruck, ihre Mutter würde ihr zuhören ...
Wenn Tante Feva von diesen Gefühlen wüsste, dann würde sie den Kopf schütteln, das für nichtsnutzigen Müßiggang halten und noch strenger mit Franzi sein, um ihr die Flausen auszutreiben.
Franzi warf einen letzten Blick auf Kiefersheim und überlegte, was die Baronin Trebeljahr wohl bei ihrem Vater gekauft hatte. Vielleicht einen Liebeszaubertrank? Man munkelte, dass es nicht gut um ihre Ehe stand. Oder vielleicht eine Salbe zur Steigerung ihrer Fruchtbarkeit? Schließlich war sie mit dem Baron schon seit zehn Jahren verheiratet und hatte ihm noch immer kein einziges Kind geboren.
Das war einer dieser Umstände, dachte Franzi, die Tante Feva glücklich machten. »So viel Geld und Schönheit, und doch nicht von Gott gesegnet! Das kommt eben davon, wenn man als Lutheraner eine Katholische zur Frau nimmt«, pflegte Sie zu sagen und dabei seltsam zufrieden auszusehen.
Leider bewahrte Franzis Vater Stillschweigen über seine nächtlichen Geschäfte. Und gerade das weckte Franzis Neugier.
An jenem Abend, als die Baronin gekommen war, hätte Franzi längst schlafend in ihrer Kammer liegen sollen, aber sie hatte sich mit ihrem jüngeren Bruder Karl auf der Stiege versteckt, um die Edelfrau heimlich aus der Nähe beobachten zu können.
Wie fein ihre Kleider geraschelt hatten! Gerade so, als würde ein lichter Frühlingswind durch die maigrünen Buchenblätter am Galgenberg tanzen. Und geduftet hatte die Baronin, ganz eigenartig nach süßer Milch und Minze und Maiglöckchen.
Karl war davon übel geworden, aber Franzi hatte beim Einatmen das Gefühl gehabt, dass dieser Duft genau das war, was in ihrem Leben fehlte.
Im Roten Haus roch es sonst immer nur nach Fett und Ruß und nach den getrockneten Tierhäuten, die der Vater als Bezahlung für seine Arbeit als Abdecker behalten durfte.
Franzi lief jetzt ein wenig schneller, um ihre kleine Pause wieder wettzumachen.
Zuhause wartete nämlich schon die große Wäsche auf sie. Aber auch das änderte nichts an ihrer fröhlichen Stimmung, denn bei diesem Wetter würde das geradezu ein Vergnügen werden, und noch dazu würde die Hitze dafür sorgen, dass schon am Abend alles wieder trocken war.
Sie fing erneut an zu singen, allerdings fiel es ihr etwas schwerer als vorhin, denn die Gerste in der Kiepe schien sich in der Hitze verdoppelt zu haben. Mit jedem Schritt schwitzte sie mehr.
Franzi ging näher zur Maisch, um rasch eine Handvoll zu trinken. Sie hockte sich hin und versuchte etwas von dem vorbeiplätschernden Wasser aufzufangen, ohne das Gleichgewicht oder gar ein Gerstenkorn zu verlieren.
Während sie das klare Wasser aus ihrer Hand schlürfte, spürte sie eine unbändige Lust, ihre Füße ins kühle Wasser zu halten. Ja!
Es war ihr gleichgültig, ob es schicklich war, mit nackten Füßen in der Maisch herumzuwaten. Es schien ihr das einzig Richtige! Sie sah sich um, weit und breit war niemand zu sehen. Tante Feva würde also nie davon erfahren.
Und das war auch gut so, denn Füße baden war für Tante Feva beinah genauso eine frevelhafte Sünde wie Selbstmord. Denn wenn man Wasser an seinen Körper ließ, dann forderte man sein Schicksal geradezu heraus und bekam sofort die Schwindsucht oder mindestens das Leibreißen.
Dass der elfjährige Karl so oft Krämpfe hatte, dann ohnmächtig wurde und schließlich still dalag, führte Tante Feva auf die verwerfliche Angewohnheit von Franzis Mutter zurück, ihre kleinen Kinder zu waschen. Am ganzen Körper!
Pah, Franzi hatte hinter Fevas Rücken schon oft ihre Füße ins Wasser gehalten, und noch nie war sie krank geworden.
Sie kletterte über einige der glatt gespülten Felsen, fand einen Baumstamm, auf den sie sich setzen konnte, und schleuderte übermütig die klobigen Holzschuhe von sich, dachte dabei kurz an die gelbseidenen Schuhspitzen, die unter den Kleidern der Baronin hervorgelugt hatten und ... Oh, nein! Franzi schrie auf. Einer der Schuhe war nicht auf den Boden, sondern in die Maisch gefallen und trieb, hin und her schaukelnd wie ein kleines Boot, schnell davon.
Sie raffte ihre leinenen Röcke und watete über den steinigen Flussgrund hinter ihrem Schuh her. Doch die Strömung war stark, und ihr Schuh war immer ein bisschen schneller als sie.
Unmöglich, ohne Schuh nach Hause zu kommen! Unvorstellbar, welche Strafe sich Tante Feva ausdenken würde!
Trotz ihrer Angst um den Schuh genoss Franzi die kalten Wasserperlen, die sie schaumig bis hoch zur Kniekehle umspülten. Ihre Haut begann zu prickeln, oh, das war ja fast so schön wie singen. Am liebsten hätte sie sich ganz in das Wasser sinken lassen, aber das war natürlich undenkbar. Wenn sie sich vorbeugte, konnte sie ihr rundes, blasses Gesicht, mit dem, wie Feva fand, ungehörig vollen roten Mund erkennen. Außer der großen Narbe über ihrer linken Augenbraue gab es nichts Besonderes in ihrem ebenmäßigen Gesicht. Die Narbe war immer noch deutlich sichtbar, obwohl es schon fünf Jahre her war, als ein Pferd ausgeschlagen und sie so unglücklich getroffen hatte, dass sie drei Tage ohnmächtig gelegen hatte und man schon mit dem Schlimmsten rechnete. Nur die Salben und Kräuter ihres Vaters und die liebevolle Pflege ihrer Mutter hatten sie gerettet. Doch vor Pferden hatte Franzi seither große Angst und hielt immer mindestens zehn Ellen Abstand.
Das Klappern von Hufen brachte sie zur Besinnung.
Sie patschte mit der Hand auf das Wasser, sofort erzitterte ihr Gesicht und löste sich in silberne Tropfen auf, dann drehte sie sich um und sah eine Staubwolke, die einen Reiter vom Dorf ankündigte.
Sie überlegte neugierig, wer der Reiter sei und wo er wohl hinwollte, denn der schmale Weg über den Galgenberg führte nur noch zum Anwesen von Baron Trebeljahr und dann weiter in den Odenwald hinein. Er wurde selten von einsamen Reitern genutzt, denn der Pfad war unübersichtlich, und überall lauerten Räuberbanden und Wegelagerer. Obgleich ihr Vater erst im letzten Jänner eine ganze Räuberbande auf dem Galgenberg hingerichtet hatte, schien das niemanden davon abzuhalten, einsame Reisende auszuplündern.
Doch dieser Mann ritt so schnell, dachte Franzi, dass Räuber wohl kaum eine Chance hätten, ihn zu fangen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, was für ein Bild sie abgeben musste: die Röcke hochgerafft bis zu den Knien, überall auf dem Gewand Wasserspritzer, die Kiepe schief auf dem Rücken.
Was, wenn Gerste herausgefallen oder nass geworden war?
Sie beeilte sich, ihren Schuh endlich wiederzubekommen, stolperte deshalb über eine Baumwurzel und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv ließ sie ihren Rock los, konnte sich so gerade noch an einem Felsen abstützen und verhindern, dass sie der Länge nach ins Wasser fiel. Die Gerste! Sie tastete hastig über den Flussgrund zum Ufer, nahm ihre Kiepe ab und sah nach dem Getreide. Zum Glück hatte es nur ein paar Spritzer abbekommen. Doch ihre Röcke klebten pitschnass an ihren kräftigen Waden.
Und wo war jetzt ihr Schuh? Sie konnte ihn nirgends mehr entdecken. Er wird doch nicht vollends untergegangen sein, überlegte Franzi, während der Mann auf dem Pferd rasch näher kam.
Hastig wrang sie den Saum ihres Kleides und den der langen Überschürze aus und hoffte, der Reiter wäre so in Eile, dass er sie gar nicht bemerken würde.
Hoffentlich war es niemand, den sie kannte.
Der Reiter hatte sein Tempo jetzt verlangsamt, sprang von seinem prächtigen schwarzen Pferd und kam eilig näher.
Franzi hatte den jungen Mann noch nie gesehen, aber sie erkannte das Wappen der Trebeljahrs auf seiner Satteltasche. Ein gelbrotes Schwert und ein Löwe auf einem Grund voller Lilien. Doch das hier war nicht Baron Trebeljahr, denn der war kahlköpfig und hatte einen dicken Bauch, während dieser junge Mann leichtfüßig in seinen braunen Stulpenstiefeln herankam. Die glänzenden Bänder, die seine roten Kniehosen hielten, wehten hinter ihm her wie der Schweif eines Kometen.
»Grüß Euch Gott«, sagte er. Franzi war jetzt sicher, dass er sie nicht kannte. Niemand redete mit der Tochter des Henkers.
»Grüß Euch Gott«, antwortete sie und starrte auf ihre feuchten Säume.
»Warum seid Ihr so nass?«, fragte der Mann, und Franzi, die ihm, so wie es sich für sie gehörte, nicht ins Gesicht sah, hatte das Gefühl, er würde sie auslachen.
Deshalb hob sie ihren Kopf und blickte ihn direkt an. Ja, der Fremde grinste spöttisch, sah überhaupt reichlich eingebildet aus, fand Franzi. Er hatte schulterlanges schwarzes Haar, das üppig unter seinem breiten, mit Federn geschmückten Filzhut hervorquoll. Die langen, in der Sonne schillernden Fasanenfedern wippten hin und her wie Grashalme im Wind. Obwohl es so aussah, als würde er sich auf die Lippen beißen, um nicht laut zu lachen, lag um seine ernsten Augen ein leichter Schatten.
Sie wäre am liebsten weggelaufen, aber wohin hätte sie schon laufen können? Bis zum Waldrand waren es noch viele hundert Schritte.
»Könnte es sein, dass Ihr etwas verloren habt?«, fragte er.
»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht!« Franzi setzte die Kiepe wieder auf und machte sich daran, weiterzugehen. Doch schon beim ersten Schritt gab sie es auf. Dieses Humpeln mit nur einem Schuh sah einfach zu lächerlich aus.
Der junge Mann war ihr gefolgt, stellte sich nun vor sie und zauberte den vermissten Schuh hinter seinem Rücken hervor. »Hier!«, sagte er, drehte den Schuh um und lachte, als Wasser herausplatschte. »Nur um sicherzugehen, dass kein Krebs sich hineinverkrochen hat.« Dann reichte er ihr endlich den Schuh.
Röte stieg Franzi ins Gesicht. In was für eine Lage hatte sie sich nur gebracht!
Sie griff nach der Holzpantine. »Dank Euch!«, quetschte sie hervor, stellte den Schuh auf den Boden und schlüpfte eilends hinein.
»Und was ist mit meiner Bezahlung?« Der Reiter grinste sie jetzt offen an.
»Gott vergelt's!«, meinte Franzi. »Das muss Euch reichen!« Sie drehte sich um und ging weiter. Doch sie kam nicht schnell genug vorwärts, denn ihr Gewand, nass und schwer wie es war, zog sie zu Boden, und der feuchte Schuh scheuerte an ihrer Ferse.
»So kommt Ihr mir nicht davon!« Der Mann war ihr nachgegangen und hatte sich wieder vor ihr aufgebaut.
Franzis Herz schlug schneller. Was konnte dieser Fremde schon von ihr wollen? War er vielleicht ein Räuber, der die Satteltasche vom Fürsten nur gestohlen hatte?
Hastig überschlug sie ihre Besitztümer. Mit den dreieinhalb Kreuzern, die sie auf dem Hinweg dabeigehabt hatte, hatte sie die Gerste bezahlt.
Sonst besaß sie nur die dünne Silberkette mit dem Amulett, das ihrer Mutter gehört hatte. Nein, eher würde sie sterben, als sich davon zu trennen!
Der junge Mann nahm seinen Federhut ab, schwenkte damit einen galanten Halbkreis und deutete eine Verbeugung an.
Was wollte er nur? Dann dämmerte es ihr. Doch wohl keinen Kuss oder gar Schlimmeres?
»Also?« Dabei lächelte der junge Mann immer noch so aufreizend, dass Franzi ihm am liebsten etwas ganz und gar Ungehöriges ins Gesicht gesagt hätte.
Doch es sollte nachher im Dorf nicht heißen, die Franziska Burkhardt vom Roten Haus sei nicht nur eine Verrückte, die ohne Not ins Wasser springt, sondern auch noch eine Jungfer, die keine Ahnung von anständigem Betragen hat.
»Lasst mich in Ruhe!«, sagte sie und verwünschte sich selbst für ihren Übermut. Warum nur war sie durch den Fluss gewatet, statt brav nach Hause zu gehen?
Längst könnte sie beim Wäschewaschen sein, stattdessen stand sie hier, erhitzt, mit nassen Kleidern, und sprach mit einem Fremden, der sich ganz offensichtlich lustig über sie machte.
»Nein, gerade mit Ruhe habe ich nichts im Sinn«, sagte er. »Ich bitte Euch, singt mir ein Lied! Das wart doch Ihr, die da vorhin so überirdisch schön gesungen hat, oder nicht?«
Franzi schüttelte den Kopf, sie sang nur, wenn sie alleine war. Für jemand anderen zu singen erschien ihr unanständig.
Sie musste nach Hause. Tante Feva war sicher schon sehr wütend auf sie. Und da fiel ihr endlich ein, wie sie den Reiter bestimmt loswerden könnte.
»Da müsst Ihr Euch getäuscht haben! Ich singe nie, schließlich bin ich die Tochter des Henkers. Ihr solltet mich lieber in Ruhe lassen, nicht dass ein Unglück über Euch kommt!« Das musste ihn doch ein für alle Mal zum Schweigen bringen!
Der Fremde setzte den Hut mit Schwung wieder auf, sodass die prächtigen Federn raschelten, als würden sie über Franzis Benehmen tuscheln.
Dann schwang er sich auf seinen Rappen. »Es mag ja sein, dass Ihr die Tochter des Henkers seid, aber glaubt mir, das werdet Ihr nicht Euer ganzes Leben lang bleiben!« Mit diesen Worten galoppierte er davon.
Franzi atmete auf. Der Fremde musste verrückt sein. Niemals würde sich daran etwas ändern.
Oder doch? Manchmal wünschte sie sich das von ganzem Herzen. Frei sein von Tod und Strafe, einfach nur ... aber nein, das war ganz und gar unmöglich.
Natürlich würde sich etwas ändern: Sie würde irgendwann nicht mehr die Tochter, sondern vielmehr die Frau eines Henkers sein.
Denn ihr Vater hatte vor, sie noch dieses Jahr, an ihrem 14. Geburtstag im August, mit dem Scharfrichter Johannes Vollmar zu verloben. In zwei Jahren, gleich nach ihrem 16. Geburtstag, sollte dann die Hochzeit gefeiert werden.
Und dafür, wie Tante Feva nicht müde wurde Franzi zu erklären, hatte Franzi allen Grund, ihrem Vater dankbar zu sein. Denn sonst blieb ihr nur der Weg ins Kloster oder die Möglichkeit, als Abdeckermagd ein hartes Leben zu fristen.
Nein, dieser Fremde war entweder von einem anderen Stern, dass er sich mit den Sitten im Südhessischen nicht auskannte, oder aber er war ein Narr.
Allerdings wie ein Narr war er ihr nicht vorgekommen ... Franzi schüttelte den Kopf über sich selbst und ermahnte sich. Flausen, Flausen, nichts als Flausen, Tante Feva hatte manchmal wirklich recht.
Franzis Nase wusste schon lange, bevor ihre Augen es sehen konnten, dass das Rote Haus nicht mehr weit entfernt war. Der würzige Geruch der Kiefern wurde allmählich vorn beißenden Gestank trocknender Tierhäute überlagert, mischte sich beim Näherkommen noch mit den Exkrementen der Hühner, Enten und Schweine und denen der Jagdhunde, die der Vater für Baron Trebeljahr züchten musste. Das alles wurde schließlich noch von den merkwürdigen Ausdünstungen von Fisch und Blut, die beim Auskochen von Knochen entstehen, überdeckt.
Sie war zu Hause.
Das Rote Haus war aus rotem Sandstein und Holz erbaut und hatte immerhin einen ersten Stock und eine Mansarde. Rechts, etwas entfernt vom Wohnhaus, befand sich der steinerne Schandturm, und links waren die Scheunen und Hundezwinger.
Seinen Namen hatte das Rote Haus von den Leuten im Dorf, aber nicht wegen der roten Steine, sondern weil sie alle Angst hatten, das Wort »Henker« oder »Henkerhaus« in den Mund zu nehmen, nur deshalb nannte man es lieber das Rote Haus. Auch ihr Vater, der Scharfrichter von Kiefersheim, hieß überall nur »Meister Hans«.
Franzi ging durch die Holztür über den gestampften Lehmboden in die Küche, die den größten Teil des unteren Stockwerks einnahm. Hier gab es sogar einen eisernen Herd mit einem Kamin, worauf Tante Feva sehr stolz war. Im Dorf hatte nur der Schmied eine ähnliche Küche. Auf dem Herd brodelten mehrere Töpfe.
Franzi hatte sofort am Dunst erkannt, dass es nicht die Mittagssuppe sein konnte, sondern Knochen, die ausgekocht wurden und ihrem Vater zur Salbenherstellung dienten.
Trotz des Gestanks grummelte es in ihrem leeren Bauch. Seit der süßen Gerstensuppe bei Sonnenaufgang hatte sie nichts mehr gegessen. Und Durst hatte sie auch.
Bevor sie noch eine Kelle Wasser trinken konnte, tauchte plötzlich Tante Feva auf. Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab, richtete ihre Haube gerade und schlug Franzi dann zweimal so heftig ins Gesicht, dass der dicke, rund um Franzis Kopf geflochtene Zopf in Unordnung geriet. »Das wird dich lehren, so zu trödeln! Jeder, der Sünde tut, ist der Sünde Knecht!« Tante Feva war zwar kleiner als Franzi, aber wenn Fevas graue Augen derart wütend glühten, dann wuchs sie zu einem dämonischen Riesen.
Franzi zuckte zurück, überlegte, ob es Tante Fevas Zorn mildern würde, wenn sie einen guten Grund nennen könnte, verzichtete aber darauf. Das Einzige, was Tante Feva besänftigen konnte, war Demut.
»Es tut mir leid«, stammelte Franzi. »Wirklich sehr leid.«
»Dein Bruder Karl hat schon die Hunde und Enten für dich gefüttert, aber du wirst wohl nicht erwarten, dass er auch noch die Wäsche für dich übernimmt, oder?«
»Natürlich nicht. Verzeiht mir, Tante.«
»Genug geredet, nimm den Korb und mach dich auf zum Fluss. Und komm erst zurück, wenn du wirklich fertig bist, hast du verstanden?« Sie sah aus, als wolle sie Franzi zur Bekräftigung gleich noch zwei Backpfeifen geben, weshalb Franzi sich beeilte, die Seife zu holen.
Sie fragte lieber nicht nach etwas Essbarem, weil sie sich die Antwort ihrer Tante schon sehr gut vorstellen konnte. »Wer nicht kommt zur rechten Zeit ...«
Der Korb mit der Wäsche war so schwer, dass sie ihn kaum tragen konnte. Sie biss die Zähne zusammen und machte sich auf zum Waschplatz an der Maisch.
Der war zum Glück nicht sehr weit entfernt. Mittwoch war der Tag, an dem nur Unehrliche wie sie waschen durften. Denn wie jeder wusste, war Mittwoch der Tag, an dem man eigentlich nichts Neues beginnen sollte, weil alles nur halb fertig werden wird. Mittwochs würde keiner aus dem Dorf heiraten, Nägel schneiden, fegen, umziehen oder waschen. Deshalb hatte Franzi den Waschplatz wie immer ganz für sich allein.
Manchmal schlich sie sich heimlich an Montagen dorthin, wenn die Bäcker- und Schmiedefrauen ihre Wäsche wuschen, nur um dem fröhlichen Geschnatter der Frauen zuzuhören.
Puh, sie konnte nicht mehr! Franzi setzte den Korb ab und schüttelte ihre Arme aus. Wieder kamen ihr die Worte des Fremden in den Sinn – »Tochter des Henkers, das werdet Ihr nicht Euer ganzes Leben lang bleiben« – wenn das doch wahr sein könnte ...
»Fränzchen!«
Sie fuhr zusammen, erwischt beim sinnlosen Träumen. Dann wurde ihr sofort klar, dass es ja nur ihr Bruder Karl sein konnte, denn keiner sonst nannte sie so. Franzi drehte sich um, sah aber niemanden.
»Ich bin hier oben, im Baum! Hat sich der alte Drachen beruhigt?«
Franzi sah hoch, hatte Mühe, ihren Bruder zwischen dem dichten Buchenlaub zu entdecken, und grinste. Wenn Karl keine Lust mehr hatte, sich mit Feva zu streiten, kletterte er auf Bäume, weil er genau wusste, dort würde ihn Feva niemals finden.
Manchmal hatte Franzi Angst, dass ihr Bruder oben im Baum einen Krampf bekommen und herunterfallen könnte, aber Karl behauptete, er würde es bemerken und rechtzeitig vorher herunterspringen.
Ihr Bruder ließ sich gut gelaunt von der Buche fallen. Franzi zupfte ihm zwei Blätter aus dem blonden Haar, was Karl ungeduldig über sich ergehen ließ. »Du solltest lieber deinen Zopf richten, der ist ja völlig zersaust! Wenn du willst, dann helfe ich dir beim Tragen!«, sagte er.
Franzi wollte protestieren, schließlich war das keine Arbeit für einen Jungen, aber dann überließ sie ihm doch eine Seite des Korbes. Gemeinsam schwenkten sie den Korb hin und her wie eine Kinderwiege. Ihr Bruder summte vor sich hin, und statt zu gehen, hüpfte er übermütig mit bloßen Füßen über Baumwurzeln.
Wenn Franzi ihn ansah, dann erinnerte er sie immer an ihre Mutter. Er hatte wie sie grüne Augen, grün wie das Moos, das auf den Steinen wuchs, über die das Wasser der Maisch floss. Wie bei ihrer Mutter verliehen diese Augen seinem weichen Gesicht mit der dicken Nase drin etwas Rätselhaftes. Außerdem fand er wie ihre Mutter immer einen Grund zum Fröhlichsein, was Tante Feva besonders zu ärgern schien. Ganz egal, was für eine schreckliche Arbeit sie ihm zu tun gab, er pfiff dabei heiter vor sich hin.
»Du hast Geheimnisse vor mir!«, sagte Karl.
»Unsinn!«
»Doch, du hattest ein Stelldichein mit einem Fremden!«
»Woher weißt du denn das?«, rutschte es Franzi heraus, und sie verbesserte sich sofort. »Ich meine, das ist doch Unsinn!«
Karl grinste. »Ich habe fünf Elstern auf einer Birke gesehen, und das bedeutet, wie du weißt, lieben Besuch bei einem unschuldigen Mägdelein!«
Franzi wurde rot. Karl machte sich lustig über sie.
Schließlich war doch weit und breit niemand am Fluss gewesen! Andererseits hatte ihr Bruder die Gabe, manchmal ihre Gedanken zu erraten.
»Fränzchen, mein Fränzchen, du bist ja rot geworden, wenn das Tante Feva sehen könnte!«
»Du täuschst dich, das ist die Sonne«, sagte Franzi und versuchte ihren jüngeren Bruder würdevoll tadelnd anzuschauen.
Karl lachte aus vollem Hals. »Gib dir keine Mühe, Schwesterherz, ich verrate dir, woher ich von dem Fremden weiß, aber nur, wenn du mir dann haarklein erzählst, wo du ihn getroffen hast!«
Franzi nickte. Sie stellte den Korb auf die flachen Felsen am Waschplatz und suchte sich ein paar Steine, mit denen sie den Schmutz herausschlagen konnte. Danach kniete sie sich an das Ufer neben die Wäsche.
Karl warf kleine Steinchen über das Wasser und wartete geduldig, bis sie alle Vorbereitungen getroffen hatte, dann begann er zu erzählen.
»Also, stell dir vor, heute kam ein Reiter bei uns vorbei und bat um Wasser für sein Pferd. Und was für ein Pferd! So eins hätte ich auch gern! Mit so einem prächtigen Wappen drauf, und so einen Hut hat er gehabt ...«
»Karl!«
Karl lachte verschmitzt. Er wollte sie auf die Folter spannen, um seine Geschichte voll auszukosten.
Franzi warf ungeduldig ein nasses Hemd nach ihrem Bruder. Der fing es geschickt auf und schleuderte es zurück. Aber es verfehlte Franzi und verhedderte sich an einem tief über der Maisch hängenden Ast und wurde vom Wasser des Flusses so geisterhaft aufgebauscht, dass es aussah, als würde dort jemand im Nachthemd schwimmen.
Franzi und Karl sahen sich an und lachten schallend. Doch dann suchte Franzi schnell nach einem Stock, mit dem sie das Hemd aus dem Wasser ziehen konnte. Für heute hatte sie wirklich genug gebadet.
»Karl, jetzt erzähl schon!« Da, zum Glück hatte sie das Hemd gleich erwischt und gab es ihm zum Auswringen.
»Ich hab dem Fremden dann Wasser gebracht. Und danach, als Tante Feva weit weg war, hat er mich gefragt, ob meine Schwester im August geboren wäre.«
Franzi starrte Karl überrascht an. »Warum hat er das gefragt? Woher weiß er überhaupt, dass wir Geschwister sind?« Franzi fand, dass Karl und sie sehr verschieden aussahen.
»Das wollte ich auch wissen, aber zuerst verlangte er eine Antwort von mir.«
»Und?«
»Ich hab's ihm gesagt, Franziska Burckhardt ist am 7. August 1661 geboren.«
»Und dann?«
Franzi hätte ihren Bruder am liebsten geschüttelt, damit nicht alles so langsam aus ihm herauskam.
»Dann hat er mir auf den Kopf zugesagt, dass ich ein Fisch bin!«
»Nein! Aber das ist unmöglich!« Franzi schüttelte den Kopf und schlug dabei im Rhythmus ein Laken gegen die Steine. Un- – klatsch! mög- – klatsch! lich – klatsch!
»Ist es nicht, denn, und jetzt kommt das Beste ...«
Karl verstummte.
Franzi wollte dringend wissen, was Karl noch zu erzählen hatte, aber sie beschloss, so zu tun, als wäre ihr Interesse erloschen, damit Karl sie nicht immer mit seinem Schweigen piesacken konnte.
»Der Fremde ist nämlich kein anderer als Richard von Zinzendorf, der Sohn vom Gutsverwalter bei den Trebeljahrs!«
»Hmm«, sagte Franzi und gab sich Mühe, weiterhin unbeteiligt auszusehen. Dabei wollte sie nur eins, dass Karl weiterredete, redete, redete!
»Und stell dir vor, dieser Zinzendorf arbeitet in München und hat in Bologna studiert! Franzi, was ist studieren? Und wo ist Bologna?«
Franzi sah zu ihrem Bruder hinüber.
Sie hatte versucht, ihm das Lesen und Schreiben beizubringen, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte, aber Karl interessierte sich nicht für Buchstaben. Dazu war er viel zu zappelig. »Studieren«, sagte sie, »das ist so, als ob du den ganzen Tag lesen lernen müsstest!«
»Ach so!« Karl war enttäuscht. »Und ich hab gedacht, das wäre so etwas wie Fechten.« Er nahm den Stock, mit dem Franzi das Hemd aus dem Wasser gerettet hatte, und imitierte ein paar wacklige Ausfallschritte, die Franzi zum Lachen brachten.
»Und Bologna?«, fragte er.
»Das ist eine Stadt im Süden, vielleicht Frankreich oder Spanien, aber ich glaube, Bologna ist in Italien.«
»Wir könnten Vater fragen!«, schlug Karl vor.
Franzi schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall, stell dir vor, Tante Feva hört das, dann wird sie uns Vorhaltungen machen! Du weißt doch, dass wir nicht mit Fremden reden sollen!«
»Du hast recht«, seufzte Karl, »und dann hat der Zinzendorf gesagt, er hätte nach deinem Geburtstag gefragt, weil er ein Medicus und Astrolog sei. Franzi, den Medicus kenne ich ja, aber was ist ein Astrolog?«
»So nennt man die Sternendeuter, die in den Sternen erkennen können, welches Schicksal dich erwartet.«
»So wie die Wahrsager und Gaukler, die immer zum Johannifest kommen?«
»Nein, nein, das ist eine richtige Wissenschaft.«
»Wie langweilig!« Karl setzte sich neben Franzi und half ihr, die eingeseifte Wäsche auszuspülen. »Aber jetzt musst du mir erzählen, was passiert ist, als du den Zinzendorf getroffen hast!«
Franzi nahm ein von Blut und Dreck starrendes Wams aus dem Wäschekorb und betrachtete es eingehend, um nicht antworten zu müssen. Dann kam sie zu dem Schluss, dass sie ihrem Bruder nicht alles auf die Nase binden würde. »Er ist an mir vorbeigeritten und hat mir zugewunken, das war's!«
Karl legte die Hand auf ihren Arm. »Ich weiß genau, dass du lügst. Und ich hab dir alles gesagt, was ich wusste! Du bist gemein!«
Franzi schüttelte unwirsch seine Hand ab, griff nach einem dicken Stein, um den Schmutz aus dem Wams zu schlagen, rutschte ab und schnitt sich mit der scharfen Kante des Steins tief in die Handwurzel. Augenblicklich rann Blut aus der Wunde.
»Ahh!«, schrie Franzi auf und dachte sofort voller Entsetzen an ihren Bruder.
Zu spät!
Wie versteinert starrte er auf das stetig heruntertropfende Blut, verdrehte seine Augen und fiel krampfend auf die harten Felsen, wo der Krampf noch ein paar Sekunden anhielt.
Franzi sprang auf, untersuchte den Grund, auf dem Karl lag, um sicherzugehen, dass er sich nicht verletzen konnte, zog ihr Brusttuch heraus und bettete seinen Kopf darauf. Dann wartete sie darauf, dass der Krampf aufhören und Karl in tiefen Schlaf fallen würde. Sie verwünschte sich, weil sie nicht besser aufgepasst hatte. Es lief zwar immer noch Blut aus der mittlerweile pochenden Wunde, aber viel schlimmer als ihre Schnittwunde waren Karls Anfälle. Er war danach lange wie benommen und zu nichts zu gebrauchen. Und Tante Feva hasste es, wenn Karl in diesen Zustand fiel.
Trotzdem musste sie zurück und jemanden finden, der ihr helfen würde, Karl nach Hause zu tragen.
Als Franzi sich sicher war, dass Karl eingeschlafen war, sprang sie auf und rannte zum Roten Haus, so schnell sie konnte.
Wie gut, dass es so warm war, dann würde er sich wenigstens nicht verkühlen, dachte sie und überlegte, ob es der Anblick ihres Blutes gewesen war, der seinen Anfall ausgelöst hatte, oder sein Ärger über ihre Lüge.
Nein, es war bestimmt nur das Blut gewesen. Das erste Mal war es passiert, als Karl drei Jahre alt war und ihrer Mutter beim Hühnerschlachten zugeschaut hatte.
Keuchend gelangte Franzi ans Rote Haus, nur begrüßt von den kläffenden Jagdhunden, die aufgeregt an die Zwingerwände sprangen. Wahrscheinlich spürten sie, dass etwas passiert war.
»Tante Feva!«, rief Franzi, sobald sie wieder genug Luft zum Sprechen hatte.
Wie aus dem Nichts stand Feva plötzlich vor ihr und schüttelte missbilligend den Kopf, ihre mageren Arme vor der Brust zu einer knöchernen Schranke verschränkt. »Wo ist die Wäsche? Wie siehst du überhaupt aus?«
Franzi blickte an sich herunter, Strähnen aus dem dicken rotblonden Zopf hatten sich mittlerweile gelöst und fielen über ihre Schulter. Überall auf ihrem Gewand waren Blutflecken.
Franzi erklärte Feva, was vorgefallen war, und bat sie inständig, mitzukommen und Karl zu holen.
Niemals, nicht einmal vor sich selbst, hätte sich Franzi eingestanden, dass ihr Karls Anfälle unheimlich waren. Als würden fremde Wesen von ihrem Bruder Besitz ergreifen.
Feva rückte energisch ihre Haube zurecht. »Du hast die Wäsche zu machen, lass deinen Bruder einfach schlafen, was soll schon passieren?«
Franzi wollte nicht alleine zurückgehen. Auf keinen Fall.
»Was ist denn hier los?« Eine dunkle Stimme unterbrach die beiden Frauen.
»Vater!« Franzi war so froh, dass sie ihm gerne um den Hals gefallen wäre, aber das liebte der Vater nicht. Außerdem war er schmutzig und trug eine Schaufel über der Schulter. Er blickte seine Tochter missbilligend an. »Seid ihr unter die Räuber geraten, oder was ist hier passiert?«
Franzi sah, dass Feva schon ihre salbungsvoll säuerliche Miene aufsetzte, mit der sie dem Vater die neuesten Verfehlungen seiner Kinder aufzuzählen pflegte. Deshalb ging sie einen Schritt auf ihren Vater zu und erzählte ihm, was geschehen war.
Der Scharfrichter von Kiefersheim übergab Feva die Schaufel, dann wandte er sich seiner Tochter zu. »Wir holen deinen Bruder. Aber zuerst kümmern wir uns um dich. Feva, bring einen sauberen Fetzen, damit ich Franzis Handgelenk versorgen kann. Ich hole die Salbe.«
Feva gehorchte und ging in die Küche, während der Vater in den Schandturm verschwand, der neben dem Roten Haus aufragte. Dort wurden Verbrecher bis zur Vollstreckung ihres Urteils untergebracht, und dort hatte ihr Vater auch seine Werkstatt.
Franzi setzte sich auf den großen Hackklotz, der im Hof neben der Scheune stand, und merkte erst jetzt, wie sehr sie zitterte. Sie betrachtete die Wunde an ihrem Handgelenk, die dunkelrot aufklaffte.
Ihr Vater war als Erster zurück und brachte einen Tiegel voll fahlgelber, aber angenehm riechender Salbe mit.
»Rinderfett, Salbei und Honig, das wird die Blutung stillen und die Wunde sauber halten! Schmerzt es sehr?«, fragte er, während er behutsam die Salbe aufbrachte.
Franzi schüttelte den Kopf, fühlte sich aber angenehm schwach, nachdem ihr Vater nun das Kommando übernommen hatte.
Tante Feva kam mit einem grauen Stück Tuch zurück, dass der Vater dann um Franzis Gelenk wickelte.
»Und was wird mit der Wäsche?«, fragte Feva, und es klang wie der Anfang einer biblischen Klageleier.
Ihr Vater nickte Feva zu. »Das wird schon gehen, Franzi, jetzt, wo der Schnitt versorgt ist, oder?«
Franzi nickte. Sie würde ihren Vater nicht enttäuschen, niemals! Das hatte sie ihrer Mutter versprochen. Sie atmete tief durch, in der Hoffnung sich dann stark genug für die Wäsche zu fühlen ... es nutzte nicht wirklich etwas.
Doch als sie einen aufmunternden Blick aus den braunen Augen ihres Vaters auffing und hörte, wie er »Tapferes Frauenzimmer!« sagte, da hatte sie den Eindruck, sie könnte es mit der Wäsche von ganz Kiefersheim aufnehmen.
Ihr Vater stürmte mit großen Schritten voran, und Franzi hatte Mühe mitzuhalten. Nach einer Weile blieb ihr Vater kurz stehen, musterte Franzi und schüttelte den Kopf. »Franziska Burckhardt, du hast eine Verantwortung!«
Franzi wusste nicht, worauf ihr Vater hinauswollte, und sah stumm zu ihm auf. Noch überragte er sie um zwei Ellen, aber wenn sie so weiter wachsen würde, wäre sie bald größer als der Henker von Kiefersheim.
Ihr Vater ging wieder weiter. »Franziska, auch wenn wir hier im Dorf nichts gelten mögen, so gibt es doch eine Standesehre unter uns Scharfrichtern, an die wir gebunden sind.«
Franzi wurde rot. Um Himmels willen, hatte sie doch jemand heute Morgen im Fluss herumplanschen sehen?
»Es bedeutet etwas, unserem wichtigen Gewerbe nachzugehen. Wir sind die Vollstrecker der irdischen Gerechtigkeit, und nach der kommt nur noch Gott. Und deshalb, Franziska, ist es mir wichtig, dass du nicht so herumläufst! Zerfleddert und beschmutzt, mit schlampigen Haaren, so als wärest du eine Musikantin vom fahrenden Gewerbe oder Schlimmeres! Zum nächsten Neumond wird der Johannes Vollmar aus Seelstadt bei uns Logis nehmen, um bei uns sein Meisterstück zu vollbringen ...«
Franzi kroch Gänsehaut über den Rücken. Ein Meisterstück, das bedeutete eine ordentliche Enthauptung mit dem Richtschwert. Beim ersten Hieb musste der Kopf sauber abgetrennt werden.
»... und dann, meine Tochter, möchte ich, dass du mir alle Ehre machst. Denn der Johannes wird einmal Scharfrichter werden, gerade so, wie ich es bin, und braucht eine brave Frau, die ihm zur Seite steht. Wirst du also dann Tante Feva mit dem nötigen Respekt begegnen? Auch wenn sie in der Tat eine ...«, ihr Vater lächelte jetzt unter seinem mächtigen Knebelbart, »nun, sagen wir mal: eigenwillige Person ist?«
Franzi spürte Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Nein, nein! Sie wollte nicht die Frau eines Mannes werden, der andere tötete. Häute auskochen, Hunde züchten. Das Einzige, was sie wollte, war singen. Aber als Frau eines Henkers durfte sie ja nicht einmal in der Kirche mitsingen.
Die Worte des Fremden trieben wieder durch ihren Kopf, wie Blütenblätter auf der Maisch. Wenn es doch möglich wäre, seinem Schicksal zu entrinnen!
Ihr Vater sah die Tränen und zog seine Tochter unerwartet versöhnlich an sich. »Franziska, ich weiß, du gibst dir alle Mühe mit Tante Feva, und sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit deiner wunderbaren Mutter. Aber ich bin dein Vater und muss dich ermahnen, sonst wirst du noch eine respektlose Weibsperson, die niemand zur Frau nehmen will, verstehst du das?« Er ließ sie wieder los.
Franzi blinzelte das Wasser aus ihren Augen und schämte sich noch mehr. Wie sehr würde es ihren gütigen und liebevollen Vater verletzen, wenn er wüsste, welche Gedanken in ihrem Kopf herumspukten.
»Karl!«, sagte sie deshalb, »wir sollten uns um Karl kümmern!«
Ihr Vater nickte. »Du hast recht, wir sollten uns beeilen.«
Schweigend marschierten sie das letzte Stück zum Waschplatz, wo sie Karl, immer noch schlummernd, fanden.
Ihr Vater bückte sich, nahm ihren Bruder behutsam auf seine Arme, nickte Franzi zu und ließ sie allein mit der restlichen Schmutzwäsche.
Sie kniete sich an das Ufer, betrachtete die goldenen Reflexe, die in der Nachmittagsonne auf der Maisch glitzerten, griff nach dem schmutzigen Wams und begann zu singen.
Sie sang, weil ihr alles rundherum plötzlich so schön erschien, sie sang, obwohl ihre Zukunft so schwarz und schrecklich vor ihr lag, sie sang, weil sie einfach nicht anders konnte.
Am nächsten Tag stand Franzi draußen vor der Wäscheleine, auf der die Laken fröhlich im Juniwind knatterten. Gestern war sie nach Karls Anfall mit der Wäsche dann doch nicht mehr fertig geworden.
Wegen des Gestanks war die Wäscheleine weit entfernt vom Roten Haus gespannt, fast schon am Waldrand, sodass ihre Arbeit von dem heiteren Gezwitscher der Amseln und Meisen und dem Rauschen der Buchenblätter begleitet wurde.
Sie faltete die Wäsche zusammen, die sie gestern gewaschen und aufgehängt hatte. Das war ihr die liebste Arbeit, denn jetzt roch alles Gewebe nach Sonne, nach draußen. Eigentlich, so fand Franzi, duftete die Wäsche nach Freiheit. Aber das hätte sie niemandem erzählt, nicht mal Karl, denn sie konnte sich seine hochgezogenen Augenbrauen deutlich vorstellen. Wieso sollte Wäsche frei riechen? Was sollte das überhaupt sein, Freiheit? Frei war man, wenn man nicht im Kerker saß. Und so gesehen roch Freiheit natürlich immer gut, denn im Kerker stank es nach fauligem Stroh und Rattenmist. Unwillkürlich schüttelte sich Franzi. Vor ein paar Wochen hatte sie dem Vater zum ersten Mal dabei helfen müssen, den Schandturm zu säubern, denn es war gerade mal keiner darin eingesperrt.
Tante Feva hatte dagegen lautstark protestiert, für sie konnte es im Schandturm nicht schrecklich genug sein. Sie fand, die bösen Sünder hätten eben früher über ihr Tun nachdenken sollen. Wer die Ordnung Gottes verletzte, der konnte nicht auf ihr Mitleid zählen.
Aber der Vater war hart geblieben, denn er wollte in jedem Fall die Rattennester aus dem Turm haben. Was, wenn die Ratten zu Tante Feva ins Bett kriechen würden? Tante Feva war rot geworden und hatte sich wortlos von ihm abgewandt. Dann hatte sie Franzi befohlen, ihrem Vater zu helfen. Und Franzi hatte sich gefreut, dass sie ihrem Vater zur Hand gehen sollte, aber diese Freude war von kurzer Dauer.
Das Licht drang nur durch winzige Mauerschlitze in den verliesartigen Turm, weshalb Franzi zunächst nicht einmal ihre Hand hatte sehen können. Erst nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begriff sie, dass die dunklen Flecke an der Wand schwere Eisenringe waren. Bei dem Gedanken, angekettet an diese mächtigen Eisenringe in völliger Finsternis Tag um Tag ausharren zu müssen, kroch Gänsehaut über ihren Rücken und brachte sie zum Schaudern.
Während Franzi das feuchte, verdorben nach Schimmel riechende Stroh zusammengekehrt hatte, hatte sie sich gefragt, was wohl in den Gefangenen vorging, die hier auf die Vollstreckung ihrer Strafe warten mussten. Und sie war sich wie eine Ketzerin vorgekommen, weil sie darüber nachdachte, ob manchmal ein Unschuldiger auf seinen Tod gewartet hatte. Aber nein, hatte sie sich dann sofort zurechtgewiesen, Gott würde nicht zulassen, dass ein Mensch zu Unrecht verurteilt werden würde.
Sie verscheuchte ihre trüben Gedanken, widmete sich wieder der Wäsche und freute sich an ihrem frischen Geruch. Plötzlich wurde es dunkel um sie herum. Sie schrak zusammen. Jemand hielt ihr die Augen zu. Erschrocken ließ sie das gerade säuberlich gefaltete Laken fallen und stieß einen Schrei aus.
»Wer immer Ihr seid, warum tut Ihr das?«, rief sie empört.
Sie wusste, dass es nicht Karl sein konnte, denn der war kleiner als sie.
»Schwesterchen, sei doch nicht immer so spröde, man könnte ja gerade glauben, dass du grandig Bammel vor mir hättest.«
Diese Stimme gehörte ihrem Stiefbruder Heinrich, der schon siebzehn Lenze zählte.
Ihr Vater war vor seiner Hochzeit mit Franzis Mutter schon einmal verheiratet gewesen. Er hatte Irmintrude, die Witwe des Henkers von Kiefersheim, geheiratet und die Stelle ihres Mannes übernommen. Sie war viel älter gewesen als er und hatte Heinrich schon mit in die Ehe gebracht. Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit mit ihrem Vater war sie dann bei der Geburt von Zwillingen gestorben. Man sah auf den ersten Blick, dass Heinrich nicht blutsverwandt mit ihnen war, weil sein Haar nicht rot war wie das ihres Vaters und das von Franzi, sondern blauschwarz wie Elsterfedern. Außerdem war Heinrichs Nase lang und spitz wie ein Pfeil, der auf den Mund zeigt.