Die Todesliste - Frederick Forsyth - E-Book
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Die Todesliste E-Book

Frederick Forsyth

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Beschreibung

Ein Special Agent auf der Jagd nach dem gefährlichsten Terroristen der Welt

Die »Todesliste« ist das geheimste Dokument der amerikanischen Regierung. Es enthält die Namen derjenigen, die eine Gefahr für den Weltfrieden sind. Ganz oben auf der Liste steht »Der Prediger«, ein radikaler Islamist, der seine Anhänger dazu aufstachelt, im Namen Gottes Repräsentanten der westlichen Welt zu töten. Als es in Amerika und Europa immer mehr Opfer gibt, heißt es, seine Identität und seinen Aufenthaltsort zu erkunden, um ihn unschädlich machen zu können. Diesen geradezu unmöglichen Job übernimmt ein Ex-Marine, genannt der Spürhund. Er muss schnell handeln, um den Prediger auszuschalten, bevor dieser seine Pläne in die Tat umsetzen kann. Unterstützt wird der Spürhund nur von einem genialen jungen Hacker – die beiden müssen es schaffen, ihn aus seinem Versteck zu locken.

Frederick Forsyth – der Garant für Hochspannung pur!

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Seitenzahl: 449

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Frederick Forsyth

DIE TODESLISTE

Thriller

Aus dem Englischen vonRainer Schmidt

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Kill List« bei Bantam Press, London.

Copyright © 2013 by Frederick Forsyth

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Sassenbach Advertising, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-10907-3 V004 www.cbertelsmann.de

Für das Marine Corps der Vereinigten Staaten,das eine sehr große Einheit ist,und für die britischen Pathfinder,die eine sehr kleine sind.Den Ersteren: Semper fi,und den Letzteren: Besser ihr als ich.

PERSONEN

DER PREDIGER, ein Terrorist

DER SPÜRHUND, ein Menschenjäger

GRAY FOX, TOSA-Direktor

ROGER KENDRICKaliasARIEL, ein Computergenie

IBRAHIM SAMIRaliasDER TROLL, ein Computergenie

DSCHAWAD, ein Maulwurf der CIA bei der ISI

BENNY, Leiter der Mossad-Abteilung für das Horn von Afrika in Tel Aviv

OPAL, ein Mossad-Agent in Kismaju

MUSTAFA DARDARI, Eigentümer von Masala Pickles

ADRIAN HERBERT, SIS

LAURENCE FIRTH, MI5

HARRY ANDERSSON, ein schwedischer Reeder

Stig Eklund, Kapitän der Malmö

OVE CARLSSON, Kadett auf der Malmö

AL-AFRIT, somalischer Clanchef und Piratenführer

GARETH EVANS, Unterhändler

ALI ABDI, Unterhändler

EMILY BULSTRODE, Tea Lady

DSCHAMMA, Privatsekretär des Predigers

DAVID, PETE, BARRY, DAI, CURLYundTIM: die Pathfinder

PROLOG

Im dunklen und geheimen Herzen Washingtons gibt es eine kurze und sehr geheime Liste. Sie enthält die Namen von Terroristen, die als so gefährlich für die USA, ihre Bürger und ihre Interessen gelten, dass sie zum Tode verurteilt worden sind, ohne dass man den Versuch gemacht hätte, sie festzunehmen, vor Gericht zu stellen oder sonst wie nach Recht und Gesetz zu verfahren. Sie heißt »die Todesliste«.

Jeden Dienstagmorgen wird die Todesliste im Oval Office durchgesehen und möglicherweise verändert, und zwar durch den Präsidenten und sechs Männer – niemals mehr, niemals weniger. Zu ihnen gehören der Direktor der CIA und der Vier-Sterne-General, der die größte und gefährlichste Privatarmee der Welt befehligt: das J-SOC, das angeblich gar nicht existiert.

An einem kalten Morgen im Frühjahr 2014 wurde ein neuer Name auf die Todesliste gesetzt. Er war so schemenhaft, dass selbst sein wahrer Name nicht bekannt war, und die gigantische Maschinerie der amerikanischen Terrorismusbekämpfung hatte kein Bild von seinem Gesicht. Wie Anwar al-Awlaki, der amerikanisch-jemenitische Fanatiker, der seine Hasspredigten über das Internet verbreitet hatte und 2011 durch eine von einer Drohne abgefeuerte Rakete im Nordjemen getötet worden war, war auch dieser Neuzugang ein Onlineprediger. Seine Reden hatten eine solche Macht, dass junge Muslime in der Diaspora sich dem ultraradikalen Islam zuwandten und in seinem Namen Morde begingen.

Wie Awlaki präsentierte sich auch der Neuzugang in perfektem Englisch. Da man seinen Namen nicht kannte, nannte man ihn einfach den Prediger.

Der Auftrag ging an J-SOC, und deren Oberbefehlshaber gab ihn an TOSA weiter, eine so obskure Organisation, dass achtundneunzig Prozent der diensttuenden amerikanischen Offiziere noch nie davon gehört haben.

Tatsächlich ist TOSA eine sehr kleine Abteilung mit Sitz im nördlichen Virginia, und ihre Aufgabe ist es, Terroristen zur Strecke zu bringen, die sich der strafenden Gerechtigkeit Amerikas entziehen wollen.

An diesem Nachmittag kam der Direktor der TOSA, im amtlichen Verkehr bekannt als Gray Fox, in das Büro seines leitenden Menschenjägers und legte ihm ein Papier auf den Schreibtisch. Darauf standen nur die Worte:

Der Prediger. Identifizieren. Lokalisieren. Eliminieren.

Darunter stand die Unterschrift des Oberkommandierenden, des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Damit war dieses Papier eine präsidentiale Exekutivorder, eine EXORD.

Der Mann, der die Order betrachtete, war ein fünfundvierzig Jahre alter undurchsichtiger Lieutenant Colonel des U.S. Marine Corps, der in diesem Gebäude und außerhalb davon nur unter einem Codenamen bekannt war. Er hieß DER SPÜRHUND.

ERSTER TEIL AUFTRAG

EINS

Hätte man ihn gefragt, so hätte Jerry Dermott die Hand aufs Herz gelegt und geschworen, er habe niemals in seinem Leben wissentlich jemandem etwas angetan und nicht verdient zu sterben. Doch das rettete ihn nicht.

Es war Mitte März in Boyse, Idaho. Allmählich lockerte der Winter seinen Griff. Aber auf den hohen Gipfeln rings um die Staatshauptstadt lag Schnee, und der Wind, der von diesen Gipfeln herunterwehte, war noch bitterkalt. Die Menschen auf den Straßen hatten sich in warme Mäntel gehüllt, als der Abgeordnete aus dem Staatsparlament in der 700 West Jefferson Street kam.

Er trat aus dem prachtvollen Portal des Capitols und ging die Treppe von den Sandsteinmauern zur Straße hinunter, wo sein Wagen fahrbereit parkte. Gewohnt freundlich nickte er dem Polizisten auf der Treppe vor dem Portikus zu und sah, dass Joe, sein getreuer, langjähriger Fahrer, um den Wagen herumkam und die hintere Tür öffnete. Die vermummte Gestalt, die sich von einer Bank weiter unten am Gehweg erhob und in Bewegung setzte, bemerkte er nicht.

Die Gestalt trug einen langen dunklen Mantel, der nicht zugeknöpft war, von innen jedoch mit den Händen zugehalten wurde. Auf dem Kopf saß eine Art gehäkelte Schädelkappe, aber merkwürdig – falls jemand genauer hingeschaut hätte, was jedoch niemand tat – wäre nur gewesen, dass unter dem Mantel keine Beine in Jeans zu sehen waren, sondern ein langes weißes Hemd. Später würde man ermitteln, dass es sich um ein arabisches Dischdasch handelte.

Jerry Dermott war dicht vor der geöffneten Wagentür, als eine Stimme rief: »Abgeordneter!« Er drehte sich um. Das Letzte, was er auf Erden sah, war ein dunkles Gesicht, das ihn anstarrte. Die Augen wirkten leer, als sähen sie etwas anderes in weiter Ferne. Der Mantel öffnete sich, und der Doppellauf einer abgesägten Schrotflinte hob sich.

Später stellte die Polizei fest, dass beide Läufe gleichzeitig abgefeuert worden und die Patronen mit schwerem Rehposten geladen waren, nicht mit den winzigen Körnern, die man für die Vogeljagd benutzt. Die Distanz betrug ungefähr drei Meter.

Wegen der Kürze der abgesägten Läufe war die Streuung breit. Einige der Stahlkugeln flogen rechts und links an dem Abgeordneten vorbei. Ein paar trafen Joe, rissen ihn herum und ließen ihn zurücktaumeln. Er trug eine Pistole unter der Jacke, benutzte sie aber nicht, sondern hob die Hände ans Gesicht.

Der Polizist auf der Treppe sah alles mit an. Er zog seinen Revolver und kam im Laufschritt herunter. Der Angreifer riss beide Hände in die Höhe und schrie etwas. Die rechte Hand hielt das Schrotgewehr umklammert. Der Polizist wusste nicht, ob der zweite Lauf abgefeuert worden war, und er schoss dreimal. Da er auf diese Waffe trainiert war, konnte er den Mann aus sechs Metern Entfernung nicht verfehlen.

Seine drei Kugeln trafen den schreienden Mann mitten in die Brust. Er flog rückwärts gegen den Kofferraum der Limousine, prallte davon ab und fiel vornüber in den Rinnstein, wo er mit dem Gesicht nach unten starb. Mehrere Leute erschienen im Portikus und sahen die beiden am Boden liegenden Gestalten. Der Chauffeur starrte auf seine blutenden Hände, und der Polizist stand über dem Angreifer und hielt den Revolver beidhändig nach unten gerichtet. Die Leute liefen wieder hinein und alarmierten die Polizei.

Die beiden Toten wurden ins Leichenschauhaus gebracht, und Joe kam ins Krankenhaus, wo man ihn wegen der drei Schrotkugeln in seinem Gesicht versorgte. Der Abgeordnete war tot; mehr als zwanzig Stahlkugeln waren ihm in die Brust gedrungen und hatten Herz und Lunge durchschlagen. Tot war auch der Attentäter.

Letzterer lag nackt auf dem Tisch im Leichenschauhaus, und es gab keinen Hinweis auf seine Identität. Er hatte keine Ausweispapiere und seltsamerweise keine Körperbehaarung außer seinem Bart. Aber als sein Gesicht in den Abendzeitungen gedruckt wurde, meldeten sich zwei Informanten: Der Dekan eines Colleges am Stadtrand identifizierte ihn als Studenten jordanischer Herkunft, und die Eigentümerin einer Pension erkannte in ihm einen ihrer Gäste.

Detectives durchkämmten das Zimmer des Toten und beschlagnahmten zahlreiche Bücher in arabischer Sprache und einen Laptop. Der Inhalt des Computers wurde im kriminaltechnischen Labor der Polizei untersucht, und man fand etwas, das noch niemand beim Police Department von Boise je gesehen hatte. Auf der Festplatte war eine Serie von Vorträgen oder Predigten, gehalten von einer maskierten Gestalt, die mit funkelnden Augen in die Kamera starrte und fließend Englisch sprach.

Die Botschaft war brutal und einfach. Der wahre Gläubige solle sich von der Ketzerei zum wahren Islam bekehren. Er solle sein Herz verschlossen halten, niemandem vertrauen und sich niemandem anvertrauen, er solle sich dem Dschihad weihen und ein wahrer und treuer Soldat Allahs werden. Dann solle er sich eine herausragende Person im Dienste des Großen Teufels suchen und sie in die Hölle schicken. Er solle sterben als Schahid, als Märtyrer, und im Paradiese Allahs leben in Ewigkeit. Dutzende solcher Predigten waren aufgezeichnet, und alle enthielten dieselbe Botschaft.

Die Polizei gab das Material an das FBI-Büro in Boise weiter, und von dort wanderte die ganze Akte ins J. Edgar Hoover Building in Washington, D. C. In der FBI-Zentrale war niemand überrascht. Sie hatten schon vom Prediger gehört.

1968

Am 8. November setzten bei Mrs. Lucy Carson die Wehen ein, und man brachte sie geradewegs auf die Geburtshilfestation des Navy Hospital in Camp Pendleton, Kalifornien, wo sie und ihr Mann stationiert waren. Zwei Tage später kam ihr erster und, wie sich ergab, einziger Sohn zur Welt.

Nach seinem Großvater väterlicherseits wurde er Christopher getauft, aber da dieser hohe Offizier der U. S. Marines meist Chris genannt wurde, bekam das Kind den Spitznamen Kit, um Verwechslungen zu vermeiden. Dass auch eine amerikanische Pionierslegende Kit Carson geheißen hatte, war reiner Zufall.

Ebenso zufällig war das Geburtsdatum: Am 10. November des Jahres 1775 war das U. S. Marine Corps gegründet worden.

Captain Alvin Carson war in Vietnam. Die Kämpfe dort waren heftig und würden es noch weitere fünf Jahre bleiben. Doch seine Stationierung dort ging dem Ende zu, und er bekam Weihnachtsurlaub, damit er zu seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Hause fahren und seinen erstgeborenen Sohn im Arm halten konnte.

Nach Neujahr kehrte er nach Vietnam zurück, und 1970 kam er endgültig nach Hause auf den ausgedehnten Marinestützpunkt in Pendleton. Sein nächster Einsatz war keiner, denn er blieb drei Jahre in Pendleton und konnte seinen Sohn vom Krabbelkind zum viereinhalbjährigen Jungen heranwachsen sehen.

Hier, weit entfernt vom tödlichen Dschungel, führten die Eheleute das übliche Stützpunktdasein zwischen Familienunterkunft, seinem Büro, dem Social Club, dem PX-Supermarkt und der Kirche des Stützpunkts. Und er konnte seinem Sohn im Jachthafen von Del Mar das Schwimmen beibringen. Manchmal, wenn Carson sich später an die Jahre in Pendleton erinnerte, sah er überall nur eitel Sonnenschein.

1973 wurde er »mit Familie« nach Quantico versetzt, in die unmittelbare Nachbarschaft von Washington, D. C. Damals war Quantico nichts als eine endlose, von Mücken und Zecken verseuchte Wildnis, wo ein kleiner Junge im Wald auf die Jagd nach Eichhörnchen und Waschbären gehen konnte.

Die Familie Carson lebte noch auf dem Stützpunkt, als Henry Kissinger und der Nordvietnamese Lê Duc Tho sich am Stadtrand von Paris trafen und die Vereinbarung schmiedeten, die dem zehn Jahre andauernden Gemetzel namens Vietnamkrieg ein Ende machte.

Carson, der inzwischen Major war, kehrte zu seinem dritten Einsatz nach Vietnam zurück. Dort wimmelte es noch immer von Gefahren, denn die nordvietnamesische Armee schickte sich an, das Pariser Abkommen zu brechen und in den Süden einzumarschieren. Aber Carson kam früh genug in die Heimat zurück, um die wütende Balgerei auf dem Dach der US-Botschaft in Saigon, wo der letzte Hubschrauber zum Flughafen startete, nicht mehr zu erleben.

In all diesen Jahren durchlief sein Sohn Kit die normalen Phasen eines kleinen amerikanischen Jungen: Little League Baseball, Pfadfinder, Schule. Im Sommer 1976 wurden Major Carson und seine Familie auf den dritten riesigen Stützpunkt der Marines versetzt: nach Camp Lejeune in North Carolina.

Als stellvertretender Bataillonskommandeur arbeitete Major Carson im Hauptquartier der 8th Marines in der »C« Street und wohnte mit seiner Frau und seinen drei Kindern in der Siedlung für verheiratete Offiziere. Sie sprachen nie darüber, was der heranwachsende Junge vielleicht einmal werden wollte. Er war in zwei Familien hineingeboren worden, in die der Carsons und ins Marine Corps. So ging jeder davon aus, dass er in die Fußstapfen seines Großvaters und seines Vaters treten, zur Offiziersschule gehen und die Uniform tragen würde.

Von 1978 bis 1981 wurde Major Carson auf einen längst überfälligen Posten auf See versetzt, nach Norfolk, auf den großen Stützpunkt von U. S. Navy und Marines am Südufer der Chesapeake Bay im Norden von Virginia. Die Familie wohnte auf dem Stützpunkt, und der Major fuhr als Offizier der Marineinfanterie auf der USSNimitz, dem Stolz der Flugzeugträgerflotte. Von diesem Posten aus beobachtete er das Fiasko der Operation Eagle Claw, auch bekannt als Desert One, dieses hilflosen Versuchs zur Rettung der amerikanischen Diplomaten, die in Teheran von »Studenten« im Bann des Ayatollah Khomeini als Geiseln genommen worden waren.

Major Carson stand mit einem Hochleistungsfernglas auf dem Brückenflügel der Nimitz und beobachtete, wie die acht großen Hubschrauber vom Typ Sea Stallion donnernd auf die Küste zuflogen, um die Green Berets und Rangers zu unterstützen, die den Zugriff durchführen und die befreiten Diplomaten auf das sichere Schiff bringen würden.

Und er sah zu, wie sie sich fast alle verwundet zurückschleppten, als Erste die beiden, die gleich über der iranischen Küste ausfielen, weil sie keine Sandfilter hatten und in einen Staubsturm gerieten. Danach brachten andere die Verletzten zurück, nachdem eine der Maschinen in das Cockpit eines Hercules-Transportflugzeugs geflogen und in einem riesigen Feuerball aufgegangen war. Für den Rest seines Lebens blieb Carson verbittert über die stümperhafte Planung, die das alles verursacht hatte.

Vom Sommer 1981 bis 1984 diente Alvin Carson, inzwischen Lieutenant Colonel, in London als Marineattaché in der US-Botschaft am Grosvenor Square. Kit ging auf die amerikanische Schule in St. John’s Wood, und später dachte der Junge mit liebevollen Erinnerungen an seine drei Londoner Jahre. Es war die Zeit Margaret Thatchers und Ronald Reagans und ihrer bemerkenswerten Partnerschaft.

Die Falklandinseln wurden durch eine Invasion befreit. Eine Woche bevor die britischen Fallschirmspringer nach Port Stanley kamen, machte Ronald Reagan einen Staatsbesuch in London. Charlie Price wurde Botschafter und war der populärste Amerikaner in der Stadt. Partys und Bälle fanden statt. Bei einem Defilee in der Botschaft wurde die Familie Carson der Queen vorgestellt. Der vierzehnjährige Kit Carson verliebte sich zum ersten Mal in ein Mädchen, und sein Vater erreichte sein zwanzigstes Dienstjahr.

Colonel Carson wurde als Lieutenant Colonel zum Kommandeur des 2. Bataillons im 3. Marineinfanterieregiment befördert, und die Familie zog an die Kaneohe Bay auf den Hawaii-Inseln, wo das Klima deutlich anders war als in London. Für den Jungen begann eine Zeit des Surfens und Schnorchelns, des Tauchens und Angelns und ein mehr als aktives Interesse an den Mädchen.

Mit sechzehn hatte er sich zu einem beachtlichen Sportler entwickelt, aber seine Schulzeugnisse zeigten, dass er auch einen sehr flinken Verstand besaß. Als sein Vater ein Jahr später zum Generalstab befördert und auf das Festland zurückversetzt wurde, hatte Kit Carson als Eagle Scout den höchsten Pfadfinderrang erreicht und war zugleich Rekrut im Reserve Officers Training Corps. Was schon vor Jahren angenommen worden war, bewahrheitete sich: Er war unaufhaltsam auf dem Weg, die Nachfolge seines Vaters als Offizier im U. S. Marine Corps anzutreten.

Zu Hause in den Staaten wartete das Studium. Kit kam auf das College of William and Mary in Williamsburg, wo er vier Jahre als Internatsstudent Geschichte und Chemie im Hauptfach studierte. Drei lange Sommerferien verbrachte er in der Fallschirmspringerschule, in einer Gerätetaucherausbildung und auf der Offizierskandidatenschule in Quantico.

Sein Examen legte er 1989, mit zwanzig, ab und erwarb gleichzeitig sein College-Diplom und den ersten Schulterstreifen als Second Lieutenant im Marine Corps. Sein Vater, der inzwischen einen Generalsstern trug, und seine Mutter waren bei der Zeremonie anwesend.

Als Erstes besuchte er bis Weihnachten die Basic School, wo er die Grundlagen der Arbeit eines Offiziers bei der Marineinfanterie erlernte, und als Nächstes kam er auf die Infantry Officers School, an der er die Prüfung cum laude absolvierte. Darauf folgte die Ranger School in Fort Benning in Georgia, und mit seinem Rangerabzeichen wurde er nach Twentynine Palms, Kalifornien, verlegt.

Hier absolvierte er in dem als »The Stumps« bekannten Ausbildungscamp sein Luft-Boden-Gefechtstraining und kam danach zum 1. Bataillon des 7. Regiments auf demselben Stützpunkt. Am 2. August 1990 marschierte ein Mann namens Saddam Hussein in Kuwait ein. Die U. S. Marines zogen wieder in den Krieg, und Lieutenant Kit Carson zog mit.

1990

Als man entschieden hatte, dass Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait nicht hingenommen werden dürfe, wurde eine große Koalition gebildet, die an der irakisch-saudi-arabischen Wüstengrenze vom Persischen Golf im Osten bis zur jordanischen Grenze im Westen aufmarschierte.

Die U. S. Marines kamen in Gestalt der Marine Expeditionary Force unter General Walter Bloomer, und dazu gehörte die 1. Marine Division unter dem Kommando von General Mike Myatt. Sehr weit unter ihm in der Hackordnung stand Second Lieutenant Kit Carson. Die Division ging am äußersten östlichen Ende der Koalitionslinien in Stellung. Rechts von ihr lag nur noch das blaue Wasser des Golfs.

Der erste Monat, der betäubend heiße August, war eine Zeit fieberhafter Aktivität. Die gesamte Division mit ihren Panzer- und Geschützfahrzeugen musste ausgeschifft und in ihrem Sektor verteilt werden. Eine Armada von Frachtern landete in dem bis dahin verschlafenen Ölhafen von al-Dschubail und brachte die Ausrüstung, Unterkünfte und Versorgungsmaterial für eine komplette amerikanische Division. Erst im September wurde Kit Carson zu seinem Einsatzgespräch beordert. Er führte es mit einem scharfzüngigen alten Major, der wahrscheinlich bei der Beförderung übergangen worden und darüber nicht glücklich war.

Major Dolan las langsam die Akte des neuen Offiziers durch. Er stolperte über etwas Ungewöhnliches und blickte auf.

»Sie haben als Junge einige Zeit in London verbracht?«

»Ja, Sir.«

»Verrückte Hunde.« Major Dolan war mit der Akte fertig und klappte sie zu. »Nebenan im Westen parkt die britische 7. Armoured Brigade. Nennen sich selbst die Wüstenratten. Wie gesagt, verrückt. Nennen ihre eigenen Soldaten Ratten.«

»Tatsächlich sind es Springmäuse, Sir.«

»Was?«

»Springmäuse. Wüstentiere wie die Erdmännchen. Sie haben den Namen gekriegt, als sie im Zweiten Weltkrieg in der Libyschen Wüste gegen Rommel kämpften. Er war der Wüstenfuchs. Die Springmaus ist kleiner, aber schwerer zu fassen.«

Major Dolan war nicht besonders beeindruckt.

»Kommen Sie mir nicht superschlau, Lieutenant. Irgendwie werden wir mit diesen Wüstenratten klarkommen müssen. Ich werde General Myatt vorschlagen, Sie als einen unserer Verbindungsoffiziere rüberzuschicken. Wegtreten.«

Die Koalitionsstreitkräfte mussten noch weitere fünf Monate in dieser Wüste schmoren, während die alliierte Luftwaffe den von General Norman Schwarzkopf vor einem Angriff geforderten »Abbau« der irakischen Armee um fünfzig Prozent bewerkstelligte. Nachdem Kit Carson sich bei dem Kommandeur der britischen 7. Armoured Brigade, General Patrick Cordingley, gemeldet hatte, verbrachte er einen Teil dieser Wartezeit als Verbindungsoffizier zwischen den beiden Truppeneinheiten.

Nur wenige amerikanische Soldaten entwickelten Interesse oder auch nur ein Gefühl für die einheimische arabische Kultur der Saudis. Carson, von Natur aus neugierig, war eine Ausnahme. Bei den Briten fand er zwei Offiziere, die ein wenig Arabisch sprachen, und lernte von ihnen eine Handvoll Redewendungen. Bei seinen Besuchen in al-Dschubail hörte er die täglichen fünf Rufe zum Gebet und sah, wie sich Gestalten in langen Gewändern auf die Knie sinken ließen und immer wieder die Stirn auf den Boden drückten, um so das Gebetsritual zu vollziehen.

Er achtete darauf, die Saudis, mit denen er zusammenkam, mit dem förmlichen »Salaam alaikum« (Friede sei mit dir) zu begrüßen, und lernte auch die Antwort »Alaikum salaam« (Friede sei auch dir). Er bemerkte das jähe Erstaunen darüber, dass ein Ausländer sich die Mühe machte, und die Freundlichkeit, die darauf folgte.

Nach drei Monaten wurde die britische Brigade auf die Größe einer Division verstärkt, und zu General Myatts Verdruss verlegte General Schwarzkopf die Briten weiter nach Osten. Als die Bodentruppen endlich in Marsch gesetzt wurden, war der Krieg kurz, hart und brutal. Die irakischen Panzerstreitkräfte wurden von britischen Challenger-II-Tanks und amerikanischen Kampfpanzern vom Typ Abrams weggefegt. Die Luftüberlegenheit war absolut, wie sie es schon seit Monaten gewesen war.

Saddams Infanterie war in ihren Schützengräben durch die amerikanischen B-52-Bomber pulverisiert worden, und die Soldaten ergaben sich scharenweise. Für die U. S. Marines bestand der Angriff in einem Sturm nach Kuwait hinein, wo sie mit Jubel empfangen wurden, und einem letzten Vormarsch zur irakischen Grenze, an der das Oberkommando ihnen befahl, haltzumachen. Der Bodenkrieg dauerte nur fünf Tage.

Lieutenant Kit Carson musste etwas richtig gemacht haben, denn nach seiner Rückkehr im Sommer 1991 bekam er die ehrenvolle Versetzung zum 81-mm-Mörser-Platoon als bester Lieutenant seines Bataillons. Offensichtlich zu Höherem berufen, tat er zum ersten – aber nicht zum letzten – Mal in seinem Leben etwas Unkonventionelles: Er bewarb sich um ein Olmsted-Stipendium und bekam es. Als man ihn nach dem Grund fragte, gab er zur Antwort, er wolle auf das Fremdspracheninstitut des Verteidigungsministeriums im Presidio in Monterey, Kalifornien. Auf weiteres Befragen gestand er, dass er Arabisch lernen wolle. Diese Entscheidung sollte sein ganzes Leben verändern.

Seine leicht verwirrten Vorgesetzten stimmten dem Antrag zu. Mit dem Olmsted-Stipendium in der Tasche verbrachte er sein erstes Jahr in Monterey und bekam dann eine zweijährige Praktikantenstelle an der American University in Kairo. Hier stellte er bald fest, dass er der einzige U. S. Marine und überhaupt der einzige Soldat war, der je im Feld gewesen war. Während Carson in Kairo war, versuchte ein Jemenit namens Ramsi Yussef, einen der Twin Towers in Manhattan zu sprengen. Er scheiterte, hatte aber, vom amerikanischen Establishment unbeachtet, den ersten Schuss des islamischen Dschihad gegen die USA abgefeuert.

Damals gab es noch keine Internetzeitungen, doch Lieutenant Carson konnte den Gang der Ermittlungen auf der anderen Seite des Atlantiks im Radio verfolgen. Er war verwirrt und fasziniert, und schließlich stattete er dem weisesten Mann, dem er in Ägypten begegnet war, einen Besuch ab. Professor Khaled Abdulasis lehrte an der al-Azhar-Universität, einem der größten Zentren für Koranstudien in der gesamten islamischen Welt. Gelegentlich hielt er Gastvorträge an der American University. Er empfing den jungen Amerikaner in seinem Büro auf dem al-Azhar-Campus.

»Warum haben sie das getan?«, fragte Kit Carson.

»Weil sie euch hassen«, sagte der alte Herr ruhig.

»Aber warum? Was haben wir ihnen getan?«

»Ihnen persönlich? Ihren Familien? Ihren Ländern? Nichts. Außer vielleicht, dass Sie dort Dollars verteilt haben. Doch darum geht es nicht. Beim Terrorismus geht es darum nie. Bei Terroristen, sei es al-Fatah oder der Schwarze September oder die neue, vorgeblich religiöse Variante, stehen Wut und Hass an erster Stelle, und erst danach kommt die Rechtfertigung. Bei der IRA ist es Patriotismus, bei den Roten Brigaden Politik, bei den salafistischen Dschihadisten die Frömmigkeit. Eine vorgebliche Frömmigkeit.«

Der Professor bereitete Tee für zwei auf einem kleinen Gaskocher zu.

»Aber sie behaupten, sie folgten den Lehren des heiligen Koran. Sie behaupten, sie gehorchten dem Propheten Mohammed und dienten Allah.«

Der alte Gelehrte lächelte, während das Wasser heiß wurde. Die Einfügung des Wortes »heilig« vor »Koran« war ihm nicht entgangen. Eine Höflichkeit, aber eine wohltuende.

»Junger Mann, ich bin, was man einen Hafis nennt. Das ist jemand, der alle 6236 Verse des heiligen Koran auswendig kennt. Anders als Ihre Bibel, die Hunderte von Autoren hat, wurde unser Koran nur von einem geschrieben – genauer gesagt, diktiert. Und doch gibt es Passagen, die einander scheinbar widersprechen. Die Dschihadisten reißen einen oder zwei Sätze aus dem Zusammenhang, verzerren sie noch ein wenig mehr und tun dann so, als hätten sie eine göttliche Rechtfertigung für ihr Tun. Nur haben sie die nicht. Nirgends in unserem heiligen Buch findet sich die Verfügung, wir sollten Frauen und Kinder abschlachten, um den zu erfreuen, den wir Allah nennen, den Barmherzigen, den Mitfühlenden. So verfahren alle Extremisten, auch die christlichen und die jüdischen. Wir wollen unseren Tee nicht kalt werden lassen. Man soll ihn kochend heiß trinken.«

»Aber, Professor, diese Widersprüche. Hat man sich nie mit ihnen befasst, sie erklärt, sie begründet?«

Der Professor schenkte dem Amerikaner mit eigener Hand Tee nach. Er hatte Personal, doch es gefiel ihm, dies zu einer persönlichen Handreichung zu machen.

»Ständig. Seit dreizehnhundert Jahren studieren Gelehrte dieses eine Buch und verfassen Kommentare dazu. Zusammen heißen sie Hadith, und es sind ungefähr hunderttausend.«

»Haben Sie sie gelesen?«

»Nicht alle. Dazu wären zehn Menschenleben nötig. Aber viele. Und zwei habe ich geschrieben.«

»Einer der Bombenleger, Scheich Omar Abdel Rahman, den sie den blinden Kleriker nennen, war … ist … auch ein Gelehrter.«

»Ein Gelehrter auf Irrwegen. Das gibt es in jeder Religion.«

»Aber ich muss Sie noch einmal fragen: Warum hassen sie uns?«

»Weil Sie nicht sie sind. Sie empfinden eine tiefe Wut auf alles, was nicht sie ist. Juden, Christen, diejenigen, die wir kuffar nennen – die Ungläubigen, die sich nicht zum einen wahren Glauben bekehren wollen. Jedoch auch diejenigen, die ihnen nicht muslimisch genug sind. In Algerien metzeln die Dschihadisten ganze Dörfer der Fellachen nieder, Bauerndörfer mit Frauen und Kindern, und sie tun es in ihrem heiligen Krieg gegen Algier. Denken Sie immer daran, Lieutenant, zuerst kommen Wut und Hass, dann kommt die Rechtfertigung, die Pose der tiefen Frömmigkeit, nur ist das Heuchelei.«

»Und Sie, Professor?«

Der alte Herr seufzte.

»Ich hasse und verachte sie. Denn sie nehmen das Angesicht meines geliebten Islam und präsentieren es der Welt von Wut und Hass verzerrt. Aber der Kommunismus ist tot, der Westen schwach und mit sich selbst beschäftigt und von Vergnügen und Habgier getrieben. Es wird viele geben, die auf die neue Botschaft hören werden.«

Kit Carson sah auf die Uhr. Bald war es Zeit für die Gebete des Professors. Er stand auf. Der Gelehrte bemerkte auch diese Geste und lächelte. Er erhob sich ebenfalls und begleitete seinen Gast zur Tür. Als der Amerikaner hinausging, rief er ihm nach.

»Lieutenant, ich fürchte, mein geliebter Islam tritt in eine lange dunkle Nacht ein. Sie sind jung, Sie werden ihr Ende sehen, inschallah. Ich bete, dass ich sie nicht miterleben möge.«

Drei Jahre später starb der alte Gelehrte in seinem Bett. Aber die Massenmorde hatten begonnen. In einem Apartmentkomplex in Saudi-Arabien, der vorzugsweise von amerikanischen Zivilisten bewohnt wurde, explodierte eine große Bombe. Ein Mann namens Osama bin Laden hatte den Sudan verlassen und war nach Afghanistan zurückgekehrt, als Ehrengast des neuen Regimes der Taliban, die das ganze Land erobert hatten. Und der Westen ergriff immer noch keine Maßnahmen zu seiner Verteidigung, sondern genoss weiter seine fetten Jahre.

Heute

Das kleine Marktstädtchen Grangecombe im englischen County Somerset lockte im Sommer ein paar Touristen an, die durch die kopfsteingepflasterten Gassen aus dem siebzehnten Jahrhundert spazierten. Davon abgesehen, war es ein sehr ruhiges Fleckchen abseits der Straßen, die zu den Stränden und Buchten des Südwestens führten. Allerdings hatte es eine historische Vergangenheit, das königliche Stadtrecht, einen Stadtrat und einen Bürgermeister. Im April 2014 hieß dieser Seine Ehren Giles Matravers und war ein pensionierter Tuchhändler, der in dieses Amt aufgerückt war und das Recht hatte, die Bürgermeisterkette, den pelzbesetzten Mantel und den Dreispitz zu tragen.

Genau das tat er, als er das neue Gebäude der Handelskammer gleich hinter der High Street eröffnete und eine Gestalt sich aus der kleinen Zuschauermenge löste, die zehn Schritte zu ihm zurücklegte, bevor irgendjemand reagieren konnte, und ihm ein Schlachtermesser in die Brust stieß.

Zwei Polizisten waren anwesend, aber keiner trug eine Schusswaffe. Der Stadtschreiber und ein paar andere kümmerten sich um den sterbenden Bürgermeister, doch ohne Erfolg. Der Mörder, von den Polizisten zu Boden geworfen, versuchte gar nicht zu fliehen, schrie aber wiederholt etwas, das niemand verstand, von Experten später jedoch als Allahu akbar identifiziert wurde: »Allah ist groß.«

Ein Polizist trug eine Schnittverletzung an der Hand davon, als er sich auf das Messer stürzen wollte, dann wurde der Attentäter von den beiden blau Uniformierten überwältigt. Nach einer Weile kamen Kriminalpolizisten aus Taunton, der Hauptstadt des County, um die formellen Ermittlungen einzuleiten. Der Attentäter saß auf dem Polizeirevier und weigerte sich dumpf, irgendwelche Fragen zu beantworten. Er trug das knöchellange Gewand namens Dischdasch, also ließ man aus der Zentrale der County Police jemanden kommen, der Arabisch sprach, aber auch er hatte keinen Erfolg.

Wie sich herausstellte, war der Mann Regalbestücker im örtlichen Supermarkt und wohnte in einer Pension. Nach Angaben der Pensionsbesitzerin war er ein Iraki. Anfangs nahm man an, er habe seine Tat aus Wut über das begangen, was in seiner Heimat geschah, doch das Innenministerium teilte mit, er sei als Flüchtling eingereist und habe Asyl erhalten. Junge Leute aus der Stadt meldeten sich als Zeugen und sagten aus, Faruk, auch bekannt als Freddy, sei bis vor drei Monaten auf Partys unterwegs gewesen, habe getrunken und mit Mädchen Umgang gehabt. Dann habe er sich anscheinend verändert. Er sei verschlossen und schweigsam geworden und habe sich verächtlich über seinen früheren Lebensstil geäußert.

In seinem Zimmer fand sich wenig außer einem Laptop, dessen Inhalt der Polizei von Boise, Idaho, sehr bekannt vorgekommen wäre. Ein maskierter Mann saß vor einem mit Koran-versen beschriebenen Hintergrund, hielt eine Predigt nach der anderen und bedrängte die Frommen, die kuffar zu vernichten. Staunende Beamte der Polizei von Somerset schauten sich ein Dutzend dieser Predigten an, denn der Mann sprach ein praktisch akzentfreies Englisch.

Der Mörder, der immer noch schwieg, kam vor Gericht, und seine Akte und der Laptop wurden nach London geschickt. Scotland Yard gab die Details ans Innenministerium weiter, das sich mit dem Sicherheitsdienst MI5 beriet. Dessen Mann in der britischen Botschaft in Washington hatte bereits einen Bericht über einen Zwischenfall in Idaho herübergeschickt.

1996

In den USA wurde Captain Kit Carson für drei Jahre in Camp Pendleton stationiert, wo er geboren war und die ersten vier Jahre seines Lebens verbracht hatte. Während dieser Zeit starb sein Großvater väterlicherseits, ein pensionierter Colonel der Marines, der bei Iwo Jima gekämpft hatte, in seinem Ruhestandsheim in North Carolina. Kits Vater wurde zum General mit einem Stern befördert, was den Großvater noch kurz vor seinem Tod vor Stolz fast platzen ließ.

Kit Carson lernte eine Navy-Krankenschwester aus dem Krankenhaus kennen, in dem er zur Welt gekommen war, und heiratete sie. Drei Jahre lang versuchten er und Susan, ein Baby zu bekommen, bis die Untersuchungen endgültig ergaben, dass sie keine Kinder empfangen konnte. Sie beschlossen, eins zu adoptieren – eines Tages, jedoch noch nicht sofort. 1999 wurde er an die Generalstabsschule in Quantico abkommandiert und 2000 zum Major befördert. Nach seinem Examen wurden er und seine Frau erneut versetzt, diesmal nach Okinawa in Japan.

Dort, viele Zeitzonen weit westlich von New York, wo er noch die Spätnachrichten einschaltete, bevor er ins Bett gehen wollte, sah er ungläubig die Bilder, die später unter dem Namen »Nine/Eleven« zusammengefasst werden sollten.

Die ganze Nacht saß er zusammen mit anderen im Offizierskasino vor dem Fernseher und sah immer wieder die Zeitlupenaufnahmen der beiden Flugzeuge, die sich erst in den nördlichen, dann in den südlichen Turm bohrten.

Anders als die Männer um ihn herum sprach er Arabisch, und er kannte die arabische Welt und die Komplexität des Islam, dem mehr als eine Milliarde Menschen auf der Erde angehörten.

Carson dachte an den sanften, höflichen Professor Abdulasis, der ihm Tee serviert und eine lange dunkle Nacht für den Islam prophezeit hatte, und an viele andere. Er lauschte dem anschwellenden Dröhnen der Wut um ihn herum, als Einzelheiten bekannt wurden. Neunzehn Araber, darunter fünfzehn Saudis, hatten die Tat begangen. Er erinnerte sich, wie strahlend die Ladenbesitzer von al-Dschubail gelächelt hatten, wenn er sie in ihrer Sprache begrüßte. Dieselben Menschen?

Im Morgengrauen wurde das ganze Regiment für eine Ansprache des Regimentskommandeurs zusammengetrommelt. Seine Botschaft war finster. Sie befanden sich im Krieg, und wie immer würde das Marine Corps sein Land verteidigen, wann, wo und wie es nötig war.

Verbittert dachte Major Kit Carson an die verschwendeten Jahre, als in Afrika und im Nahen Osten ein Angriff nach dem anderen gegen die USA geführt worden war, was jedes Mal dazu geführt hatte, dass die Politiker eine Woche lang empört waren, ohne das gewaltige Ausmaß des Angriffs zu erkennen, der da in einer Kette von afghanischen Höhlen geplant wurde.

Das gewaltige Trauma, das Nine/Eleven den USA und ihren Bewohnern zufügte, lässt sich kaum einschätzen. Alles änderte sich, und nichts würde wieder so sein wie früher. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wachte der Riese endlich auf.

Carson wusste, dass es einen Vergeltungsschlag geben würde, und er wollte daran beteiligt sein. Aber er saß auf einer japanischen Insel fest und hatte dort noch Jahre vor sich.

Doch das Ereignis, das Amerika veränderte, veränderte auch Kit Carsons Leben. Er konnte nicht wissen, dass zu Hause ein sehr hoher Beamter der CIA, ein Veteran aus dem Kalten Krieg namens Hank Crampton, die Akten von Army, Navy, Air Force und Marines nach einer sehr seltenen Sorte Mann durchkämmte. Die Operation hatte den Namen Scrub, und er suchte nach aktiven Offizieren, die Arabisch sprachen.

In seinem Büro in Building No. 2 auf dem CIA-Gelände in Langley, Virginia, wurden die Akten in die Computer eingegeben und dort schneller durchsucht, als das menschliche Auge lesen oder das Gehirn die Informationen verarbeiten könnte. Namen und Karrieren leuchteten auf, die meisten wurden verworfen, ein paar wenige ausgesondert.

Bei einem Namen blitzte ein pulsierender Stern in der oberen Bildschirmecke auf. Major bei den U. S. Marines, Olmsted Stipendium, Sprachenschule in Monterey, zwei Jahre Kairo, zweisprachig in Englisch und Arabisch. Wo ist er?, fragte Crampton. Auf Okinawa, sagte der Computer. Wir brauchen ihn hier, sagte Crampton.

Es kostete Zeit und ein bisschen Gebrüll. Das Marine Corps sträubte sich, aber die CIA hatte die besseren Argumente. Der Direktor der CIA ist dem Präsidenten direkt unterstellt, und Direktor George Tenet hatte George W. Bushs Ohr. Das Oval Office wies den Protest des Marine Corps zurück, und Major Carson wurde kurzerhand zur CIA beordert. Er wollte den Dienst nicht wechseln, doch so konnte er wenigstens Okinawa verlassen. Er schwor sich, ins Corps zurückzukehren, sobald er konnte.

Am 20. September 2001 startete ein Starlifter auf Okinawa und nahm Kurs auf Kalifornien. Hinten in der Maschine saß ein Major der Marines. Das Corps würde sich um seine Frau Susan kümmern und sie in ein Quartier auf dem Marineinfanteriestützpunkt in Quantico bringen, wo sie in der Nähe von Langley sein könnte.

Major Carson wurde von Kalifornien zur Andrews Air Force Base am Rande von Washington geflogen und meldete sich befehlsgemäß in der CIA-Zentrale.

Es folgten Befragungen, Arabischtests und der gezwungene Wechsel in Zivilkleidung, und dann bezog er ein kleines Büro in Building No. 2, meilenweit von den leitenden Rängen der CIA in den oberen Stockwerken des alten Building No. 1 entfernt.

Er bekam einen Berg abgefangener Rundfunksendungen in arabischer Sprache, die er sichten und kommentieren sollte. Carson scharrte mit den Hufen. Das war ein Job für die National Security Agency drüben in Fort Meade an der Baltimore Road in Maryland. Sie waren die Zuhörer, die Lauscher, die Codeknacker. Er war nicht zu den Marines gegangen, um Nachrichtensendungen von Radio Kairo zu analysieren.

Dann ging ein Gerücht durch das Gebäude. Mullah Omar, der unheimliche Chef der Talibanregierung in Afghanistan, weigerte sich, die Täter von Nine/Eleven herauszugeben. Osama bin Laden und seine komplette al-Qaida-Bewegung würden im Schutze Afghanistans bleiben. Und das Gerücht lautete: Wir marschieren ein.

Die Details waren spärlich, aber in manchen Punkten zutreffend. Die Navy würde in Flottenstärke im Persischen Golf aufmarschieren und massive Luftunterstützung leisten. Pakistan würde kooperieren, allerdings widerstrebend und unter Dutzenden von Bedingungen. Die amerikanischen Bodentruppen würden ausschließlich aus Special-Forces-Einheiten bestehen, und die britischen Kollegen würden an ihrer Seite sein.

Die CIA hatte neben Spionen, Agenten und Analysten eine Abteilung, die mit dem befasst war, was in der Branche »aktive Maßnahmen« heißt – ein Euphemismus für das schmutzige Geschäft des Tötens von Personen.

Kit Carson bewarb sich, und er tat es mit Nachdruck. Er ging zum Leiter der Special Activities Division und erklärte unumwunden: Sie brauchen mich.

»Sir, ich bin es nicht gewohnt, in einem Käfig zu hocken wie eine Batteriehenne. Ich spreche zwar kein Paschtu oder Dari, aber unsere eigentlichen Feinde sind bin Ladens Terroristen – lauter Araber. Ich kann ihnen zuhören. Ich kann Gefangene befragen, ich kann ihre schriftlichen Anweisungen und Notizen lesen. Sie brauchen mich bei Ihren Leuten in Afghanistan. Hier braucht mich niemand.«

Er hatte einen Verbündeten gefunden, und er bekam seine Versetzung. Als Präsident Bush am 7. Oktober die Invasion bekanntgab, waren die Vorauseinheiten der SAD schon auf dem Weg zum Treffen mit der Taliban-feindlichen Nordallianz. Kit Carson war dabei.

ZWEI

Die Schlacht von Schah-i-Kot fing schlecht an und ging dann den Bach hinunter. Major Kit Carson von den U. S. Marines, abgeordnet zur Special Activities Division, hätte auf dem Heimweg sein sollen, als seine Einheit zu Hilfe gerufen wurde.

Er war bereits in Masar-e-Scharif gewesen, wo gefangene Taliban einen Aufstand unternommen und die Usbeken und Tadschiken der Nordallianz sie niedergemäht hatten. Er hatte mit angesehen, wie sein SAD-Kamerad Johnny »Mike« Spann von Taliban gefasst und totgeschlagen wurde. Von der anderen Seite der riesigen Anlage aus hatte er beobachtet, wie die Briten vom Special Boat Service Spanns Partner Dave Tyson vor einem ähnlichen Schicksal gerettet hatten.

Dann kam der Sturm nach Süden. Der alte sowjetische Luftwaffenstützpunkt in Bagram war überrannt, Kabul eingenommen worden. Carson hatte die Kämpfe im Tora-Bora-Massiv versäumt, wo der afghanische Warlord, bezahlt von den Amerikanern, jedoch nicht hoch genug, sie verraten hatte, sodass Osama bin Laden und seine Garde über die Grenze nach Pakistan hatten entkommen können.

Dann berichteten afghanische Quellen von ein paar Hartgesottenen, die sich oben in der Provinz Paktia im Tal von Schah-i-Kot festgesetzt hätten. Wieder einmal erwiesen sich diese Informationen als Müll. Es waren nicht »ein paar«, es waren Hunderte.

Die besiegten Taliban waren Afghanen, die sich in ihre Heimatdörfer zurückziehen konnten. Sie konnten einfach verschwinden. Aber die al-Qaida-Kämpfer waren Araber und Usbeken, und die wildesten waren Tschetschenen. Sie sprachen kein Paschtu, die normalen Afghanen hassten sie, und sie konnten nur kapitulieren oder im Kampf sterben. Fast alle entschieden sich für die zweite Möglichkeit.

Die amerikanische Führung reagierte auf den Hinweis mit einem Projekt im kleinen Maßstab. Es bekam den Namen »Operation Anaconda«, und die Navy SEALs sollten es durchführen. Drei mächtige Chinook-Transporthubschrauber starteten vollbeladen mit SEALs und flogen zu dem Tal, das man für leer hielt.

Der vordere Hubschrauber befand sich im Landeanflug ein paar Fuß hoch über dem Boden, die Nase erhoben, das Heck gesenkt, die Rampenluken geöffnet, als die versteckten al-Qaida-Kämpfer das Feuer eröffneten. Eine raketengetriebene Granate kam aus solcher Nähe, dass sie geradewegs durch den Rumpf flog, ohne zu explodieren. Sie war nicht lange genug in der Luft, um ihren Zünder zu aktivieren, durchschlug die eine Wand, traf niemanden und fuhr zur anderen Seite wieder hinaus. Zurück blieben nur zwei zugige Löcher.

Schaden hingegen richtete die prasselnde Salve aus dem Maschinengewehrnest zwischen den verschneiten Felsen an. Auch sie traf niemanden in der Maschine, aber sie zertrümmerte das Cockpit und zerstörte die Steuerung. Mit genialer Flugkunst zog der Pilot den sterbenden Chinook noch einmal hoch und hielt ihn drei Meilen weit in der Luft, um in sicherem Gelände eine Bruchlandung zu bewerkstelligen. Die beiden anderen folgten ihm.

Aber ein SEAL, Chief Petty Officer Neil Roberts, der sich schon losgeschnallt hatte, glitt in einer Pfütze Hydraulikflüssigkeit aus und rutschte durch die Heckluke aus der Maschine. Er landete unverletzt mitten in einem Trupp von al-Qaida-Kämpfern. SEALs lassen niemals einen Kameraden im Feld zurück, ob tot oder lebendig. Nach der Landung stürmten sie sofort zurück, um CPO Roberts zu holen. Unterwegs forderten sie Hilfe an. Die Schlacht von Schah-i-Kot hatte begonnen. Sie dauerte vier Tage, und sie kostete Neil Roberts und sechs weitere Amerikaner das Leben.

Drei Einheiten waren nah genug, um auf den Hilferuf zu reagieren. Ein Trupp des britischen Special Boat Service kam aus einer Richtung, die Einheit der SAD aus der anderen. Die größte Truppe, die auf den Hilferuf hörte, war ein Bataillon vom 75. Ranger Regiment.

Es war eiskalt, weit unter null Grad. Schneegestöber brannte in den Augen. Wie die Araber den Winter dort oben überstanden hatten, wusste niemand. Doch sie hatten es getan und waren bereit, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Sie machten keine Gefangenen und erwarteten auch nicht, gefangen genommen zu werden. Nach späteren Augenzeugenberichten kamen sie aus Felsspalten, unsichtbaren Höhlen und verborgenen Maschinengewehrnestern.

Jeder Veteran wird bestätigen, dass eine Schlacht schnell ins Chaos abgleitet, und in Schah-i-Kot ging es schneller als in den meisten Fällen. Einzelne Einheiten wurden von der Truppe getrennt, und Individuen verloren ihre Einheit. Kit Carson fand sich unversehens allein in Eis und Schneegestöber wieder.

Er sah einen anderen Amerikaner – der Helm unter dem Turban verriet seine Identität – etwa vierzig Meter weit entfernt und ebenfalls allein. Eine Gestalt im langen Gewand kam aus dem Boden herauf und feuerte eine raketengetriebene Granate auf den getarnten Soldaten ab. Diesmal ging sie auch los. Sie traf den Amerikaner jedoch nicht, sondern explodierte vor seinen Füßen, und Carson sah ihn fallen.

Er eliminierte den Granatwerferschützen mit seinem Gewehr. Zwei weitere tauchten auf und stürmten unter »Allahu akbar«-Geschrei auf ihn los. Er schoss beide nieder, den zweiten keine zwei Meter von seiner Mündung entfernt. Der Amerikaner lebte noch, als Carson ihn erreichte, aber es ging ihm schlecht. Ein weiß glühender Splitter des Raketengehäuses hatte seinen linken Fußknöchel durchbohrt und buchstäblich abgetrennt. Der Fuß im Kampfstiefel hing nur noch mit Haut, Sehnen und ein paar Muskelfasern am Bein. Der Knochen war zertrümmert. Der Mann befand sich im ersten, schmerzfreien Schockzustand, der den Höllenqualen vorausgeht.

Die Kleidung der beiden Männer war voller Schnee, doch Carson sah ein Rangerzeichen durchschimmern. Über Funk versuchte er, Hilfe zu rufen, empfing aber nur Rauschen. Er zog dem Verwundeten den Rucksack herunter, nahm die Erste-Hilfe-Tasche heraus und jagte die komplette Dosis Morphium in die freiliegende Wade.

Der Ranger begann den Schmerz zu spüren und knirschte mit den Zähnen. Dann tat das Morphium seine Wirkung, und er sackte halb bewusstlos zusammen. Carson war klar, dass sie beide sterben würden, wenn sie hierblieben. Zwischen den Schneeböen hatte man eine Sichtweite von vielleicht zwanzig Metern. Niemand war zu sehen. Er wuchtete sich den verwundeten Ranger auf die Schultern und marschierte los.

Es war das schlimmste Gelände auf Erden: Fußballgroße glatte Steine lagen versteckt unter einem halben Meter Schnee, und jeder konnte einem das Bein brechen. Carson hatte seine eigenen achtzig Kilo zu tragen, plus seinen dreißig Kilo schweren Rucksack, plus den achtzig Kilo schweren Ranger, dessen Rucksack er immerhin zurückgelassen hatte. Dazu Gewehr, Granaten, Munition und Wasser.

Später hatte er keine Ahnung, wie weit er durch den Schnee gestapft war, um aus dem tödlichen Tal hinauszukommen. Irgendwann ließ die Wirkung des Morphiums nach, und er ließ den Mann zu Boden gleiten und spritzte ihm seine eigene Dosis. Nach einer Ewigkeit hörte er das dumpfe Knattern eines Hubschraubers. Mit gefühllosen Fingern zog er seine Signalfackel heraus, riss sie mit den Zähnen auf und hielt sie in die Höhe, in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Die Crew des Blackhawk-Evakuierungshubschraubers berichtete später, die Fackel habe so dicht an die Kabine herangesprüht, dass sie glaubten, beschossen zu werden. Sie schauten nach unten und sahen zwischen zwei Windböen die beiden Schneemänner unter sich, der eine zusammengesackt, der andere winkend. Bodenkontakt war zu gefährlich. Der Blackhawk schwebte einen halben Meter über dem Schnee, und zwei Corpssoldaten sprangen hinaus, schnallten den verwundeten Ranger auf eine Trage und zogen ihn hoch. Der andere kletterte mit letzter Kraft an Bord und verlor das Bewusstsein.

Der Blackhawk brachte sie nach Kandahar. Heute ist dort ein riesiger amerikanischer Luftwaffenstützpunkt. Damals war es noch eine Baustelle, aber es gab schon ein einfaches Lazarett. Der Ranger wurde zur Triage und dann auf die Intensivstation gebracht. Kit Carson nahm nicht an, dass er ihn noch einmal wiedersehen würde. Am nächsten Tag wurde der Ranger, sediert und in der Waagerechten, auf einen Langstreckenflug zum Luftwaffenstützpunkt Ramstein transportiert, dessen Lazarett zur Weltklasse gehört.

Der Ranger, Lieutenant Colonel Dale Curtis, verlor den linken Fuß. Nach einer glatten Amputation, die eigentlich nur noch vollendete, was die Granate angefangen hatte, blieben ihm ein Stumpf, eine Prothese, ein hinkender Gang, ein Gehstock und die Aussicht auf ein Ende seiner Laufbahn als Ranger. Als er reisefähig war, wurde er nach Hause und ins Walter Reed Hospital in der Nähe von Washington geflogen, wo eine Post-Traumatherapie eingeleitet und ein künstlicher Fuß angepasst wurde. Major Kit Carson sah ihn jahrelang nicht wieder.

Der CIA-Chef in Kandahar erbat Anweisung von oben, und Carson wurde nach Dubai geflogen, wo die CIA eine riesige Niederlassung unterhält. Er war der erste Augenzeuge, der aus Schah-i-Kot entkommen war, und er saß vor einer ganzen Galerie hoher Offiziere des Marine Corps, der Navy und der CIA und wurde befragt.

Im Offiziersklub begegnete er einem Mann in seinem Alter, einem Kommandanten der Navy, der in Dubai stationiert war, wo es auch einen amerikanischen Marinestützpunkt gibt. Der Commander erzählte, er sei beim Navy CIS, dem Criminal Investigation Service der Navy.

»Warum lassen Sie sich nicht zu uns versetzen, wenn Sie nach Hause kommen?«, fragte er.

»Zur Polizei?«, fragte Carson. »Eher nicht. Aber danke.«

»Wir sind größer, als Sie glauben«, sagte der Commander. »Es geht ja nicht nur um Matrosen, die ihren Landurlaub überziehen. Ich rede von Schwerverbrechen, von der Jagd auf Kriminelle, die Millionen gestohlen haben, auf zehn großen Marinestützpunkten im arabischsprachigen Raum. Das wäre eine Herausforderung.«

Dieses Wort genügte, um Carson zu überzeugen. Die Marines sind Teil der U. S. Navy. Er würde also innerhalb seiner Truppengattung bleiben. Nach der Rückkehr in die Staaten würde er vermutlich wieder im Building No. 2 in Langley arabisches Material analysieren. Also bewarb er sich für den NCIS, und dieser griff sofort zu.

So kam er von der CIA los und halbwegs zurück in die Arme des Marine Corps, auf einen Posten in Portsmouth, Newport News, in Virginia, wo sich im großen Marinekrankenhaus bald eine Stellung für Susan fand, sodass sie zu ihm kommen konnte.

Von Portsmouth aus konnte er auch regelmäßig seine Mutter besuchen, die wegen des Brustkrebs in Behandlung war, an dem sie drei Jahre später sterben sollte. Als sein Vater, General Carson, sich im selben Jahr zur Ruhe setzte, in dem er Witwer wurde, konnte er auch in dessen Nähe sein. Der General zog sich in ein Pensionärsdorf außerhalb von Virginia Beach zurück. Dort konnte er seinem geliebten Golfspiel nachgehen und zu Veteranenabenden mit anderen pensionierten Marines gehen, die an diesem Küstenabschnitt wohnten.

Kit Carson blieb vier Jahre beim NCIS und brachte in dieser Zeit zehn größere Kriminelle vor Gericht. 2006 ließ er sich im Rang eines Lieutenant Colonel zum Marine Corps zurückversetzen und erhielt einen Posten in Camp Lejeune, North Carolina. Auf der Autofahrt quer durch Virginia zu ihm kam seine Frau Susan ums Leben, als ein betrunkener Autofahrer die Kontrolle über seinen Wagen verlor und frontal mit ihr zusammenstieß.

HEUTE

Das dritte Attentat in diesem Monat traf einen leitenden Polizeibeamten in Orlando, Florida. An einem strahlenden Frühlingsmorgen verließ er sein Haus und wurde von hinten erstochen, als er sich vorbeugte, um seine Wagentür zu öffnen. Noch im Sterben zog er seine Pistole und schoss zweimal. Der Angreifer war auf der Stelle tot.

Bei den nachfolgenden Ermittlungen identifizierte man den jungen Killer als gebürtigen Somalier, einen Flüchtling, der aus humanitären Gründen Asyl erhalten und bei der Stadtreinigung gearbeitet hatte.

Kollegen sagten aus, er habe sich im Laufe von zwei Monaten verändert, sei verschlossen und abweisend geworden, griesgrämig und kritisch gegen den amerikanischen Lebensstil. Die Besatzung seines Müllwagens habe ihn schließlich geschnitten, weil es schwierig geworden sei, mit ihm zurechtzukommen. Sie hätten seinen Stimmungswandel auf sein Heimweh zurückgeführt.

Aber das war nicht der Grund. Der Grund war, wie eine Hausdurchsuchung ergab, seine Bekehrung zum Ultradschihadismus, die anscheinend durch eine Serie von Onlinepredigten zustande gekommen war. Seine Vermieterin hatte sie durch die Zimmertür hören können. Ein umfassender Bericht ging an das FBI in Orlando und von dort zur Zentrale im Hoover Building in Washington, D. C.

Hier überraschte diese Story niemanden mehr. Die gleiche Geschichte – die Bekehrung nach stundenlangem Genuss der Onlinepredigten eines nahöstlichen Predigers mit tadellosem Englisch und die unvorhersehbare Ermordung eines angesehenen Bürgers in der Umgebung – war in den USA inzwischen viermal und nach den Informationen des FBI zweimal in Großbritannien gemeldet worden.

Man hatte sich bereits mit der CIA, der Terrorismusbekämpfung und dem Ministerium für Heimatsicherheit kurzgeschlossen. Jede amerikanische Behörde, die auch nur im Entferntesten etwas mit dem islamistischen Terrorismus zu tun hatte, war informiert worden und hatte die Akte bekommen, aber niemand konnte mit hilfreichen Erkenntnissen dienen. Wer war dieser Mann? Woher kam er? Wo zeichnete er seine Predigten auf? Er bekam den Namen »der Prediger« und begann, auf der Liste der High-Priority-Ziele nach oben zu klettern.

In der amerikanischen Diaspora leben weit über eine Million Muslime, die entweder selbst oder über Eltern aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Zentralasien stammen. Das war ein gewaltiges Reservoir an potenziellen Konvertiten für die ultraharten dschihadistischen Reden des Predigers mit seiner unablässigen Aufforderung an die Bekehrten, einen Schlag gegen den Großen Teufel zu führen, bevor sie zu Allah in die ewige Seligkeit eingingen.

Schließlich war es so weit, dass der Prediger am Dienstagmorgen in der Besprechung im Oval Office genannt und auf die Todesliste gesetzt wurde.

Die Menschen verarbeiten ihre Trauer auf unterschiedliche Weise. Für manche beweist nur hysterisches Klagen ihre Aufrichtigkeit. Andere reagieren mit einem lautlosen Kollaps und hilflosen Tränenfluten in der Öffentlichkeit. Aber es gibt auch solche, die sich mit ihrem Schmerz ganz zurückziehen wie ein verletztes Tier.

Sie trauern allein, wenn es keinen Verwandten oder Freund gibt, der sie in den Arm nehmen könnte, und sie teilen ihre Tränen mit der Wand. Kit Carson besuchte seinen Vater in dessen Pensionärshaus, doch sein Posten war in Lejeune, und er konnte nicht lange bleiben.

Allein in seinem leeren Haus auf dem Stützpunkt, stürzte er sich in die Arbeit und trieb seinen Körper mit einsamen Querfeldeinläufen und Krafttraining an seine Grenzen, bis der körperliche Schmerz die innere Qual abstumpfte, ja, bis der Arzt des Stützpunkts ihm riet, es ruhiger angehen zu lassen.

Carson gehörte zu den Architekten des Kämpfer-Jäger-Programms, in dem Marines Spurensuche und Menschenjagd im wilden, ländlichen und städtischen Gelände trainierten. Das Ziel dieses Kurses war, niemals zum Gejagten zu werden, immer der Jäger zu bleiben. Aber während er in Portsmouth und Lejeune war, nahmen große Ereignisse ihren Lauf.

Nine/Eleven hatte eine grundlegende Veränderung in der Haltung des amerikanischen Militärs und der Regierung gegenüber allem bewirkt, was auch nur im Entferntesten als vorstellbare Bedrohung der USA gesehen werden konnte. Die nationale Alarmbereitschaft näherte sich Schritt für Schritt der Paranoia, und die Folge war eine explosive Expansion der Welt der »Nachrichtendienste«. Aus den ursprünglich sechzehn Informationen sammelnden Diensten der USA wurden mehr als tausend.

Bis 2012 veranschlagten präzise Schätzungen die Zahl der Amerikaner mit höchster Sicherheitsfreigabe auf 850 000. Mehr als 1200 staatliche Organisationen und 2000 Privatunternehmen arbeiteten an streng geheimen Projekten zur Terrorismusbekämpfung und Heimatsicherheit an mehr als 10 000 Orten im ganzen Land.

Nach dem 11. September 2001 hatte man sich zum Ziel gesetzt, dass sich die fundamentalen Nachrichtendienste nie wieder weigern dürften, ihre Erkenntnisse miteinander zu teilen. Nie wieder sollten neunzehn Fanatiker, die einen Massenmord planten, durch die Maschen schlüpfen. Zehn Jahre später hatte der Preis dafür die Wirtschaft in die Knie gezwungen, doch die Situation war noch weitgehend die gleiche wie 2001. Die Abwehrmaschinerie produzierte schon wegen ihrer ungeheuren Größe und Komplexität rund 50 000 streng geheime Berichte pro Jahr, so viele, dass kein Mensch sie alle lesen, geschweige denn sie verstehen, analysieren, auswerten oder zusammenführen konnte. Also wurden sie einfach zu den Akten gelegt.

Den massivsten Zuwachs erfuhr das Joint Special Ops Command, das gemeinsame Spezialeinsatzkommando, kurz J-SOC. Diese Einheit hatte schon Jahre vor Nine/Eleven existiert, jedoch als unauffällig operierende und prinzipiell defensiv strukturierte Organisation. Zwei Männer sollten sie in die größte, aggressivste und tödlichste Privatarmee der Welt verwandeln.

Das Wort »privat« ist gerechtfertigt, denn es ist das persönliche Instrument des Präsidenten und nichts anderes. Es kann einen verdeckten Krieg führen, ohne die Erlaubnis des Kongresses einzuholen. Sein Multi-Milliarden-Dollar-Etat kommt zustande, ohne dass der Haushaltsausschuss behelligt wird, und es kann jemanden töten, ohne dass die Generalstaatsanwaltschaft mit der Wimper zuckt. Alles daran ist streng geheim.

Der Erste, der das J-SOC umgestaltete, war Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Dieser skrupellose und machtgierige Washingtoner Insider störte sich an der Macht und den Privilegien der CIA. Ihrer Satzung nach war die Agency nur dem Präsidenten verantwortlich, nicht dem Kongress. Mit ihren Special-Activities-Einheiten konnte sie auf Geheiß des Direktors verdeckte und tödliche Operationen im Ausland durchführen. Das war Macht, echte Macht, und Verteidigungsminister Rumsfeld war entschlossen, sie auch zu bekommen, denn das Pentagon ist dem Kongress mit dessen fast grenzenlosen Möglichkeiten der Einmischung weitgehend unterworfen.

Rumsfeld brauchte eine Waffe, die nicht der Aufsicht des Kongresses unterstand, wenn er jemals mit George Tenet, dem Direktor der CIA, konkurrieren wollte. Ein vollständig umgestaltetes J-SOC war diese Waffe.

Präsident George W. Bush gab seine Zustimmung, und J-SOC wuchs und wuchs. Größe, Etat und Macht nahmen immer weiter zu. Es absorbierte sämtliche Spezialeinsatztruppen des Landes. Dazu gehörten Team Six der SEALs (das später Osama bin Laden töten sollte), die DELTA Force oder D-Boys, die aus den Green Berets, den »Ledernacken«, rekrutiert wurden, das 75. Rangerregiment, das Speziallufteinsatzregiment der Air Force (die mit Langstreckenhubschraubern operierenden »Night Stalkers«) und andere. Es verschlang auch TOSA.

Im Sommer 2003, als der Irak noch von einem Ende bis zum anderen brannte und kaum jemand woandershin schaute, geschahen zwei Dinge, die die Neuerfindung des J-SOC vollendeten. Mit General Stanley McChrystal wurde ein neuer Kommandant eingesetzt, und wenn jemand geglaubt hatte, J-SOC werde weiterhin eine bedeutende Rolle hauptsächlich im Inland spielen, war es damit vorbei. Und im September 2003 sicherte sich Verteidigungsminister Rumsfeld die Zustimmung des Präsidenten und unterzeichnete die EXORD.

Die Exekutivorder war ein achtzigseitiges Dokument, und tief in diesen Seiten verborgen steckte so etwas wie eine riesige präsidentiale Verfügung, die höchste Anordnung in den Vereinigten Staaten, unbelastet von spezifischen Bedingungen. Die EXORD besagte buchstäblich: Tun Sie, was Sie wollen.