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Eine bekannte Ulmer Kulturschaffende wird mit zertrümmertem Schädel in der Blau entdeckt – und das ausgerechnet unmittelbar vor dem "Schwörmontag", dem wichtigsten Ulmer Stadtfest, zu dem die Touristen zu Tausenden in die Stadt strömen. Kommissar Bitterle bleiben nur wenige Tage, um den Fall aufzuklären. Doch es geschehen weitere Morde ...
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Seitenzahl: 338
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Nach über drei Jahrzehnten erfolgreichen Musikinstrumentenbaus wechselte Helmut Gotschy gesundheitsbedingt ab dem Jahre 2007 zur Schriftstellerei. Ein Stipendium ermöglichte ihm das Studium des kreativen Schreibens, das er nach drei Jahren erfolgreich abgeschlossen hat. Aufgrund seiner Kenntnisse und der engen Kontakte in die Kunst- und Kulturszene sind seine Krimis dort angesiedelt. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in einer ehemaligen Mühle in Süddeutschland.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Obwohl sich die Räume der Ulmer Kriminalpolizei seit 2015 in der Ulmer Weststadt befinden, wurde der Arbeitsplatz der ermittelnden Beamten aus Lokalitätsgründen im Neuen Bau in der Stadtmitte belassen.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Lukow/photocase.de
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Saskia Römer
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-221-2
Schwaben Krimi
Originalausgabe
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murmelnde quellenstaatenlos auf wanderschaftvom rinnsal zum meer
Catarina Pinto ging auf der Stadtmauer entlang. Es war Nacht, und sie war allein. Bei der Brücke über die Blau hörte sie Stimmen. Sie kamen von unten und klangen nach einem Streit. Sie hielt die Tasche fester unter ihren Arm geklemmt und beschleunigte ihre Schritte. Was ging sie das Gekeife da unten an, sagte sie sich, und überhaupt, warum sollte sie sich um anderer Leute Angelegenheiten kümmern. Aber bestimmt war das gar kein Streit, sondern nur ein paar Nachteulen beim Feiern, die etwas lauter waren, versuchte sie sich zu beruhigen. Morgen wäre sie ohnehin weit weg von allem. Sie freute sich auf ihre Schwester und würde mit ihrem Neffen am Strand von Lissabon Muscheln suchen.
Das Klackern ihrer Absätze entfernte sich mehr und mehr Richtung Herdbrücke.
Dann war es plötzlich still.
Konrad Bitterle legte das Telefon beiseite und ging zum Fenster. Langsam kroch ihm die Bettwärme aus den Knochen. Er begann zu frösteln, denn er war nackt. Er strich gedankenverloren über seinen Bauch, schob die Jalousie zwei Fingerbreit auseinander und sah nach draußen. Der feine Niesel, der seit Tagen die ganze Stadt in trübes Grau hüllte, hatte den Boden über Nacht vollends aufgeweicht und die Schnecken aus ihren Löchern getrieben. Wie er dieses Wetter hasste. Seit über einer Woche ging das schon so. Kalt und windig, nur Regen. Er sah auf die Uhr. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Sein Chef meinte, es sei eilig, sie hätten eine Leiche. Ausgerechnet heute. Am Sonntag. Wo er doch ins Aquarium in der Friedrichsau wollte. All seine Aquarienfreunde waren dort, an diesem beschaulichen Ort, wo man die Fische durch eine Röhre betrachten konnte, die mitten durch das Becken reichte.
Er wandte sich seufzend um und klopfte sacht gegen die Scheibe seines eigenen kleinen Beckens. Im Nu strömten die Fische herbei. Mit drei Fingern griff er nach den Resten in der Futterdose, die immer neben dem Aquarium stand, und streute die Flocken ins Wasser, wo sie vom Sprudeln des Perlators über die Oberfläche getrieben wurden. Die Streifenbarsche jagten ihnen als Erste hinterher. Bitterle sah ihnen eine Weile beim Fressen zu.
So viel Zeit musste sein.
Trotz des Regens entschied er sich fürs Fahrrad. Er brauchte frische Luft. Mit Regenjacke und Hosenklammer gegen das Wetter gewappnet, stapfte er hinaus und holte sein altes Rennrad aus dem Schuppen. Er schob es den Weg vor zur Straße, fuhr den Illerkanal entlang und bog ab in die Wiblinger Straße. Dort fegte es ihm beinahe die Kapuze vom Kopf. Er hielt an, um sie zuzubinden. Nur hundert Meter weiter stadteinwärts bei den Parkplätzen des ehemaligen Donaubades wies ein Schild auf den überfluteten Donausteg beim Ruderclub hin. Schon von hier war die Überschwemmung des Uferweges zu sehen. Somit musste Bitterle notgedrungen über die Kreuzung und über die Adenauerbrücke, entlang der sechsspurigen Fahrbahn nach Ulm. Wenn vorbeifahrende Autos durch Pfützen fuhren, spritzten Fontänen zur Seite und durchnässten seine Hose. Wütend trat er in die Pedale und fluchte still vor sich hin. Er war froh, als er beim Sparkassenneubau endlich links zu seinem Arbeitsplatz abbiegen konnte. Zum Glück hatte es hier noch wenig Verkehr.
Nachdem er schnaufend sein Büro betreten hatte, hielt er einen Moment überrascht inne. Dr. Hinrich Sprekel saß zurückgelehnt auf Bitterles Stuhl und trommelte mit gespreizten Fingern auf die Schreibtischplatte. Der Kriminalrat schob den zartrosa Hemdsärmel zurück, der unter seinem hellblauen Leinensakko mit Lederapplikationen hervorschaute, und sah demonstrativ auf seine Uhr. Während er seine randlose Brille hochschob, spießte er Bitterle mit seinem Blick geradezu auf. Der ließ sich jedoch nicht weiter beirren, wischte sich ungerührt erst einmal gründlich die Nässe von der Stirn und rubbelte über die dichten grauen Locken, die seinen fast blanken Schädel wie ein antiker Lorbeerkranz umwanden. Die Tropfen, die ihm im Haar und an den Wangen hingen, lösten sich und rannen übers Kinn und in den Kragen.
»Morgen, Herr Kriminalrat«, grüßte er seinen Vorgesetzten. »Wie ich höre, hat’s eine Leiche.«
»Wird auch Zeit, dass Sie kommen. Ja, wir haben eine Leiche, und dazu noch stadtbekannt. Ausgerechnet jetzt!«
»Ausgerechnet jetzt? Wie meinen Sie das?«
Dr. Sprekel sah ihn verständnislos an. »Das Stadtfest? Dieses Lambada? Touristen, die Presse … Sie wissen doch, wie das läuft. Eine Schlagzeile in der Art ›Ein Mörder läuft in Ulm frei herum. Wer wird sein nächstes Opfer? Sind die Besucher in Gefahr?‹, so etwas können wir jetzt absolut nicht brauchen. Wir stehen unter Zeitdruck.«
»Also, Herr Kriminalrat, mit Verlaub. Ich glaube, Ihnen ist die Seriosität der hiesigen Presse noch nicht so recht geläufig. Solche Schlagzeilen werden Sie dort nicht finden. Das ist Boulevardblatt-Rhetorik. Und der Schwörmontag ist auch nicht irgendein Stadtfest. Also da lassen wir Ulmer nichts drauf kommen. Wo sonst schwört der Bürgermeister in aller Öffentlichkeit Treue gegenüber seinen Bürgern und legt dazu noch Rechenschaft ab über das, was er das vergangene Jahr gemacht hat? Und das immerhin schon seit dem 14. Jahrhundert. Und die Feier auf der Donau hinterher, das Nabada«, Bitterle hob den Zeigefinger, »mit Betonung auf ›Na‹, das steht einem Karnevalsumzug in nichts nach. Im Gegenteil. Aber eben zu Wasser. Und statt Konfetti gibt’s kalte Duschen.«
Dem Kriminalrat war anzusehen, dass er nicht im Geringsten verstand, was Bitterle ihm zu erklären versuchte. »Wie auch immer, Sie wissen, was ich sagen will.«
»Gut, wie Sie meinen. Also zum Opfer. Wer ist es?«
Der Kriminalrat atmete hörbar aus und blickte ihn über den Rand seiner Brille, die bereits wieder seine Nase hinuntergewandert war, an. »Vera Steinle.«
»Ach du verdammte …« Bitterle schluckte den Rest im letzten Moment hinunter, da er wusste, dass sein Chef kein Freund schwäbischer Kraftausdrücke war.
Sprekel lehnte sich auf Bitterles Stuhl zurück. »Sie haben es erfasst. Ich habe mich über diese Frau informiert. Soweit mir berichtet wurde, war sie eine bekannte Ulmer Persönlichkeit, die durch ihre Aktivitäten im Kulturleben, insbesondere die Organisation des Donaufestes während der letzten Jahre, von sich reden gemacht hat. Ferner war sie wohl in verschiedenen Vereinen tätig, vor allem im Fotoclub.« Dr. Sprekel hob den Arm und wies Richtung Flur. »Und draußen sitzt der Mann, der ihre Leiche gefunden hat. Ein US-Bürger. Sagt, er sei wegen eines Kongresses hier und hätte am Mittag einen Termin. Sie sollten schnellstens das Protokoll aufnehmen.«
»Ich? Mein Englisch reicht höchstens, um einen dieser … dieser matschigen Hamburger zu bestellen. Aber niemals, um –«
»Er spricht Deutsch. Und dann sehen Sie zu, dass Sie zum Tatort kommen.«
»Gern, wenn Sie mir noch sagen, wo der ist.«
»Blaubrücke«, kam es knapp vom Chef.
»Aha. Gut, und welche?«
»Wie, welche?«
»Wir haben mehrere Brücken über die Blau. Außerdem wären da noch der Kobelgraben, der Blaukanal und die Krautgartenblau.«
Bitterle genoss es, zu sehen, wie sich Sprekels Mund langsam öffnete, wieder schloss und nochmals öffnete. Er musste an seine Fische denken und hatte Mühe, ernst zu bleiben.
Schließlich hatte sich der Kriminalrat gefasst. »Na, die an der Stadtmauer«, blaffte er Bitterle an. »Bei diesem Metzgerturm. Und nun sehen Sie zu, dass Sie den Zeugen vernehmen. Die Zeit drängt, wie gesagt.« Damit erhob er sich, richtete seine mintgrüne Krawatte und schritt majestätisch nach draußen, wobei er eine Spur süßlichen Rasierwassers hinter sich herzog.
Bitterle wedelte sie beiseite und sah ihm kopfschüttelnd nach. Was hatte sich nicht alles verändert in den letzten paar Monaten. Ob das auf Dauer gut geht?, fragte er sich. Erst kommt der Fischkopf angetanzt, soll sich hier wohl bewähren, nachdem er in Stuttgart beim LKA Ärger bekommen hat – aber jeder tut gerade so, als wisse er von nichts. Und dann krieg ich auch noch diese junge Griechin zur Seite gestellt. Eine, auf die ich aufpassen muss, hat mir gerade noch gefehlt.
Dennoch hatte Bitterle lange heimlich geübt, den Namen seiner neuen Kollegin ohne Stocken auszusprechen: Ku-la Skou-la-to-pu-los. Mit Betonung auf »to«.
Seufzend erhob er sich und ging in den Flur, wo der Zeuge wartete: grauer Nylondress, grüne Nikes, auf dem Kopf saß ein gelbes Basecap, unter dem schwarze Locken hervorlugten. Die Ellbogen hatte er auf den Oberschenkeln abgestützt, dabei wippte er mit den Zehen und sah ständig auf seine Uhr, ein besonders teures Sportmodell, das womöglich nur den Zweck hatte, allen zu zeigen, dass er es sich leisten konnte.
Kommissar Bitterle bat ihn in sein Büro. Er klemmte sich hinter den Schreibtisch und wies auf den leeren Stuhl gegenüber. Obwohl er mit seinen eins zweiundachtzig ein gestandenes Mannsbild abgab, überragte ihn der Zeuge um mindestens einen halben Kopf.
»Listen, I’m in a great hurry, Sir.«
Bitterle musterte ihn eingehend. Irgendetwas irritierte ihn an ihm, an seinem Äußeren. Aber er kam beim besten Willen nicht dahinter, was es war. »Man sagte mir, Sie sprächen Deutsch, Sir«, sagte er schließlich, wobei er das Sir etwas in die Länge dehnte. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen verraten?«
»Jameson, Patrick W. Jameson.«
»Und wofür steht das Dabbelju?«
»Walker, so wie die Präsident Bush von die Vereinigte Staaten.«
»Gut, danke. Woher kommen Sie, und was machen Sie in Ulm?«
»Chicago, Illinois, un ick muss halten eine Vortrag for die Medical University am Mittag.«
»An einem Sonntag?«
Jameson machte eine Geste des Bedauerns und sagte: »Ist eine Art Geschenk für Gastfreundschaft hier.«
»Und wo?«
»Keine Ahnung, es ist in ein Hotel. ›Largo‹ oder so ähnlik. Nur für ein paar von die Professoren.«
Bitterle machte sich Notizen. »Wo wohnen Sie in Ulm?«
»In die ›Krumme Haus‹. Hören Sie, ick muss sein punktlick.« Er sah erneut auf seine Uhr.
»Sie meinen wohl ›Schiefes Haus‹?«
»Schief – krumm, is das nickt das Gleiche?«
»Nicht ganz. Aber nun gut. Was haben Sie denn nun gesehen? Und wo?«
»Ick war walking un hab mir mein Schuhe gebunden an eine Brucke, bei die Holzboote in die Bach. Un da ick seh schwimmen etwas in Wasser. Zuerst ick dachte, ein Sack oder ein Folie, doch dann ick seh die Kopf un eine Arm. So ick wusste – oh my god – das muss sein eine Mensch. Bin sofort zuruck in – wie war das? – die ›Schiefe Haus‹.« Mister Jameson dehnte das »Schiefe« und zwinkerte dem Kommissar zu. »Un die Lady-Manager hat telefoniert Polizei, un die hat gesagt, ick soll kommen hier.«
»Wann war das? Um welche Uhrzeit?«
»Sieben aktundreißig.«
»Das wissen Sie so genau?«
Der Angesprochene wedelte mit dem linken Handgelenk, wobei der Chronometer hörbar schlackerte. »Ick hab nachgeschaut, Sir.«
»Gut, Herr Jameson«, Bitterle warf nun auch einen Blick auf die Uhr, es war kurz vor halb elf, »das wäre so weit alles. Wenn wir noch Fragen haben – wie lange gedenken Sie, in Ulm zu bleiben?«
»Ick habe eine Flug nach Rom am Dienstag.« Er zog sein Smartphone aus der Tasche, wischte übers Display und sagte: »Secksehn fumpfunvierzig von Munich.«
Die Tür flog auf, Kommissarin Kula Skoulatopulos rauschte mit einem Motorradhelm unterm Arm ins Zimmer und zog den Verschluss ihrer Jacke auf. »Sorry, ich konnte nicht früher. Musste auf meine Freundin warten, ihr Prinzesschen war über Nacht bei mir, und sie hat sich verspätet, wie immer.«
Bitterle erwiderte nichts darauf, sondern wandte sich wieder dem Zeugen zu. »Nun, Mister Jameson, ich denke, das war’s fürs Erste. Haben Sie vielen Dank, und entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.« Er erhob sich, streckte dem Amerikaner die Hand entgegen und wünschte ihm noch einen schönen Aufenthalt.
Kula sah ihm hinterher, als er aus dem Raum verschwand. »Worum geht’s eigentlich?«
»Vera Steinle wurde tot in der Blau aufgefunden, der Ami hat ihre Leiche beim Joggen entdeckt.«
Sie runzelte die Stirn. »Die Steinle? Weiß der Bürgermeister schon davon?«
»Denke schon. So was spricht sich schnell rum. Deswegen sollten wir schleunigst zum Tatort, bevor die ganze Stadt angetanzt kommt.«
Kula musste sich sputen, um mit Bitterle Schritt zu halten. Ihr schwarzer Pferdeschwanz wippte hin und her wie bei einem Zirkuspony. Gleich nachdem sie durch das Tor des Metzgerturms Richtung Blaubrücke abgebogen waren, sahen sie, wie die Donau bereits am Uferweg leckte. Wenn es weiterhin so regnete, würde hier in ein, zwei Tagen alles unter Wasser stehen, und das Nabada, der feuchte Karnevalsumzug auf der Donau, müsste komplett abgesagt werden.
Vor ihnen bot ein maximales Aufgebot an Einsatzkräften das ganz große Programm. Der Platz war weiträumig mit weißrotem Band abgesperrt, und an den Fahrzeugen von Polizei und Feuerwehr funkelten die Blaulichter. Die Wasserwacht war mit mehreren Booten angerückt, und zwei Taucher watschelten mit ihren Flossen über die Wiese. Auch Presse und Lokalsender waren bereits vor Ort. Und natürlich jede Menge Schaulustige, die die Köpfe reckten, mit ihren Smartphones Fotos machten und sich gegenseitig mit ihren Mutmaßungen und Kommentaren überboten.
Bitterle stieg über das Absperrband, Kula duckte sich darunter her. Sie gingen direkt zum Brückchen, das die Blau überspannte, und schauten über die Mauer. Unten waren drei Kriminaltechniker in ihrer weißen Montur mit Schabern, Kunststoffbehältern, Messgeräten und Kameras zugange.
»Hallo, Jungs! Wo ist die Leiche?«, fragte Bitterle.
Der Einsatzleiter der Wasserwacht ergriff ungefragt das Wort: »Wurde schon in die Rechtsmedizin gebracht.« Noch bevor Bitterle deswegen aufbrausen konnte, hob der Beamte abwehrend die Hände. »Anordnung von ganz oben. Der Kriminalrat scheut ja bekanntermaßen öffentliches Aufsehen. Versteh ich auch, schauen Sie mal hoch, was da droben auf der Stadtmauer los ist. Aber Ihre Kollegen haben alles fotografiert, jedes Detail.«
»Gut«, sagte Bitterle, bemüht, sich seinen Unmut nicht weiter anmerken zu lassen. »Was wissen wir?«
»Sie klemmte zwischen den beiden vorderen Zillen. Muss schon länger dort gehangen haben, so wie die ausgesehen hat, schätze mal zwei Tage.«
»Und wieso wurde sie dann erst jetzt gefunden?«, fragte Kula.
»Hochwasser. Die Donau hat die Blau gestaut und die Boote auseinandergeschoben.«
»Versteh ich nicht.«
»Normalerweise fließt die Blau in die Donau, und die Strömung drückt die Zillen zusammen. Aber wegen der Baustelle weiter oben wird das Wasser momentan umgeleitet. Deswegen gibt es hier keine Strömung. Und durch den hohen Wasserstand der Donau fließt das Ganze rückwärts. Dabei treibt’s diese offenen Holzboote auseinander, so weit das wegen der Ketten eben geht. So einfach ist das, mein junges Fräulein«, sagte der Chef der Wasserwacht und lächelte herablassend.
»Soso.« Sie musterte ihr Gegenüber, fügte ein spöttisches »Vielen Dank auch, der gnädige Herr« an und musste dabei schwer an sich halten, ihm nicht gegen sein Schienbein zu treten. Den »blöden Haubentaucher« behielt sie für sich.
»Wann wurde das Opfer weggebracht?«, kam Bitterle wieder zurück zum eigentlichen Thema.
Einer der Polizisten mischte sich ein. »Die von der Rechtsmedizin sind gleich um acht gekommen.«
Bitterle sah auf die Uhr und zog sein Mobiltelefon hervor. »Hallo, Ina, kannst du schon was sagen?« Er lauschte, zupfte an seinem Schnurrbart und wischte sich dann mehrmals über die Stirn. »Ja, ist ja gut. – Na schön, dann eben morgen. Wir sehen uns dann.«
Kula sah ihn fragend an.
»Es ist doch immer das Gleiche. ›Näheres nach der Obduktion‹«, maulte Bitterle und drehte sich zu seiner Kollegin um, die ihm ihre beiden Wangengrübchen zeigte. »Warum lächeln Sie?«
»Na ja, das klang eben so wie im Sonntagskrimi, ›Näheres nach der Obduktion‹.«
Bitterle wandte sich kommentarlos wieder dem Polizisten zu. »Sonst irgendetwas? Tasche, Papiere, Handy?«
»Nichts. Außer in der Jacke. Darin fanden sich ein Schlüsselbund und ein Taschentuch. Aber das ist auch schon unterwegs. Falls sie noch etwas bei sich gehabt haben sollte, ist es längst den Bach runter.« Der Polizist schmunzelte über sein Wortspiel und fügte hinzu: »Wenn am Ufer Fließgeschwindigkeitskontrollen stünden, gäb’s ein Blitzlichtgewitter bis runter zum Schwarzen Meer.«
»Sehr witzig.« Bitterle hielt ihm die offene Hand entgegen. »Geben Sie mir lieber die Bilder.«
Der Polizist fummelte den Chip aus der Kamera. »Brauch ich aber wieder.«
»Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Auf dem Weg zurück zur Dienststelle hielt Bitterle abrupt unter dem Bogen des Metzgerturms inne und drehte sich zu Kula. »Jetzt weiß ich, was ich an dem Ami so seltsam fand.«
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Wieso hat einer bei pechschwarzen Haaren und einem braunen Teint so kornblumenblaue Augen? Gibt’s so was bei euch Griechen?«
Kula neigte den Kopf zur Seite und schürzte die Lippen. »Nicht dass ich wüsste. Ich tippe eher auf Kelte. Die Bräune hat er entweder aus dem Urlaub oder von der Sonnenbank. Woher kam der?«
»Chicago.«
»Und können Sie sich an den Namen erinnern?«
»Jameson oder so ähnlich. Ja, Patrick Dabbelju Jameson.«
»Ha«, lachte Kula, »ganz klar, ein waschechter Ire. Bei dem Namen. Und das Dabbelju steht doch nicht etwa für Walker?«
»Doch, woher wissen Sie das? Und was meinen Sie mit ›bei dem Namen‹, was hat das damit zu tun?«
»Ich erklär’s Ihnen irgendwann mal bei einem Feierabendbier.« Kula rieb sich die Nase und fügte hinzu: »Mir tut bloß seine Mutter leid.«
Im Büro schob Bitterle den Chip in den Rechner und betrachtete die Fotos. Die Leiche von vorne, von hinten, von oben und von unten. Erst im Wasser, dann an Land. Er erkannte die Ketten, die den Körper fixiert und daran gehindert hatten, abgetrieben zu werden. Bei einer Aufnahme war zudem deutlich zu sehen, dass sich ein Arm in den Schlaufen eines Strickes verfangen hatte. Bitterle schluckte. Obwohl ihm die Steinle nie so ganz geheuer gewesen war, ihr übertriebenes Getue bei öffentlichen Veranstaltungen, ihr ganzes Gehabe – das hatte sie nicht verdient. Aber wer verdient so etwas überhaupt?, dachte er, beugte sich vor, studierte die Bilder erneut und suchte nach ersten Hinweisen. Vergebens.
Endlich zu Hause, konnte sich Bitterle wieder seinen Fischen widmen. Sie standen im Becken, ließen Wasser durch die Kiemen strömen und wedelten sacht mit den Flossen. Die perfekte Idylle. Er trauerte dem verpassten Besuch im Aquarium nach. Als er vor vier Wochen dort gewesen war, hatte ihn die harmonische Atmosphäre beeindruckt. Normalerweise hatte er mit Veranstaltungen dieser Art nicht viel am Hut, aber die Aufführung vor den Raubfischbecken war einfach beeindruckend. Insbesondere mit der musikalischen Untermalung eines Fagottisten. Improvisationen über Themen von Händel. Selbst er, Konrad Bitterle, der sich ansonsten nur für Jazz begeistern konnte und seit dem letzten Livekonzert mit Jan Garbarek dessen »Rites« wieder rauf und runter hörte, hatte sich der Stimmung nicht entziehen können. Er nahm sich vor, sich diese spezielle CD zu besorgen, und wandte sich wieder seinen Fischen zu.
Ich muss dringend Futter kaufen, stellte er nach einem Blick in die Dose fest. Ein, zwei Tage noch – höchstens –, dann würden seine Lieblinge hungern müssen. Kaum im Sessel, die Beine auf dem Couchtisch, läutete es an der Tür. Grummelnd stand er auf und öffnete. Vor ihm stand Reinhold, sein alter Freund und Kollege von der Neu-Ulmer Polizei. »Ja hoppla. Was machst du denn hier?«
»Servus, Konrad, ich war grad in der Gegend, wie wär’s mit einem Dämmerschoppen beim ›Jockel‹?«
»Gute Idee. Mir steht’s eh bis hier«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern quer über die Stirn.
Die ehemalige Gartenlaube mit Flaschenbierausschank gegenüber dem Freizeitbad hatte sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem Geheimtipp gemausert. Obwohl Josef die Kneipe schon längst übergeben hatte, trug sie immer noch seinen Spitznamen. Tagsüber war die Terrasse von der Jugend gut besucht. Am Abend jedoch zog es die alten Hasen an den Stammtisch, an dem sie in Abgeschiedenheit über ihr vergangenes Leben brüten oder in aller Ruhe Skat klopfen konnten.
Die beiden begrüßten den Wirt mit einem Nicken, brummten der Bedienung ihre Bestellung zu und setzten sich etwas abseits an einen Zweiertisch.
»Was treibt dich denn in meine Gegend, noch dazu um diese Uhrzeit?«, fragte Bitterle und spielte mit einem Stapel Bierdeckel.
»Eine Kollegin liegt in der Donau-Klinik. Ich habe sie und ihr Baby besucht und gedacht, ich schau auf einen Sprung bei dir vorbei. Du klangst nicht so gut, neulich am Telefon.«
»Ich glaub, ich werde alt. Die letzte Woche hat mich geschafft. Diese Vertretung für den Chef, ich sag dir, der Kerl nervt. Ich hoffe nur, der bleibt nicht ewig. Und dann noch die neue Kollegin.«
»Jetzt mal der Reihe nach«, sagte Reinhold. »Was ist los mit deinem neuen Chef?«
Die Bedienung brachte die Getränke, fragte, wer den Rotwein bekäme, und stellte anschließend das Hefeweizen vor Bitterle hin. Der trank den Schaum ab, nahm einen kräftigen Zug und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Er seufzte. »Der Sprekel? Ein Nordlicht aus Flensburg. Ist mit einer der hiesigen Unternehmerinnen liiert. Hat wohl mit Pferden zu tun. Er selbst reitet Dressur, so dieses steife Gehopse in Frack und Zylinder – passt zu dem. Und sie hat eine Zucht, jede Menge Geld und Verbindungen nach ganz oben. Irgendwie hat er es ins LKA nach Stuttgart geschafft. Da lief wohl was schief, und jetzt ist er bei uns, auf Bewährung sozusagen. Allein wie der schon spricht, so mit einem scharfen S am Anfang. So wie wenn einer auf sspitzen Ssteinen durch die Welt sspaziert. Grauenhaft! Und dann wie der daherkommt, mit seinem roten Bart unterm Kinn und den roten Haaren mit Seitenscheitel.«
Reinhold grinste schief. »Arme Sau. Seit wann ist der denn da?«
»Noch keine Woche. Kannst du dir das Chaos vorstellen? Von nichts eine Ahnung, aber immer die große Lippe. Hoffe nur, dass der alte Samhäupel bald wiederkommt. Aber die Frage ist, ob der überhaupt noch will.«
»Wieso das denn? Wie geht’s ihm denn?«
»Nach der Bypass-OP wohl ganz gut. Keiner weiß was Genaues. Aber wenn der sich jetzt zukünftig dem Reisen und seinen Segeltörns widmen würde – ich könnt’s ihm nicht verübeln. Hat lang genug den Kopf hinhalten müssen für eine verfehlte Justizpolitik.«
»Wem sagst du das. Denkst du, bei uns in Bayern sieht’s anders aus?«
Konrad winkte ab, trank aus und wedelte mit seinem Weizenglas in Richtung Theke. »Und dann die Neue, eine Griechin. Soll wohl ganz schön auf Zack sein, aber mit ihrer unkonventionellen Art muss sie aufpassen, heißt es. Wenn die mal an den Falschen gerät, hat sie ein Problem.«
»Wo war die vorher?«
»Jugend.«
»Oha, na, da herrschen eh andere Spielregeln. Ist bei uns nicht anders. Die jungen Kerle tricksen, was das Zeug hält. Wenn du denen nicht genauso kommst, hast du keine Chance. Und hier ist’s ja noch harmlos. Was glaubst du, was in München abgeht. Da wünscht man sich doch manches Mal um vierzig oder fünfzig Jahre zurück.«
Bitterles zweites Weizen wurde gebracht, und Reinhold bestellte einen weiteren Wein.
»Und du meinst, wir waren so viel besser damals?«
»Ich denke schon.« Reinhold legte die Handflächen aneinander und tippte sich gegen die Nasenspitze. »Aber das ist doch immer eine Frage des Standpunktes. Von heutiger Warte aus betrachtet, waren wir zwar keine Engel, aber … Nimm einfach mal eine Schlägerei, was weiß ich, Streit im Wirtshaus zum Beispiel. Da gab’s eins aufs Maul, vielleicht noch einen in den Bauch, und gut war’s. Aber heute? Die geben keine Ruhe, bis sich der Gegner nicht mehr rührt. Und wenn er dann am Boden liegt, treten sie auf ihn ein, immer weiter. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie soll das nur weitergehen?«
»Was fragst du mich? Keine Ahnung.« Konrad lehnte sich zurück, legte die Hände nebeneinander auf den Tisch und sah Reinhold an. Er verstummte, während die punkig toupierte Serviererin ein Weinglas vor seinem Freund abstellte.
Reinhold blickte dem Mädchen hinterher, als diese sich wieder Richtung Theke wandte. Er stieß mit seinem Rotwein gegen Konrads Weizenglas, die beiden nickten sich zu und tranken. »Also komm. Du kannst doch zufrieden sein. Wie sag ich immer: Was der Bienzle für Stuttgart, ist unser Bitterle für Ulm.«
»Soso. Und warum nicht gleich Brunetti?«
»Brunetti? Der ist doch in Venedig.«
»Eben! Gib acht, ich sag dir was. Was denkst du, wie viele Blaubrücken es wohl gibt in Ulm?«
»Blaubrücken? Keine Ahnung, vielleicht zwanzig. Warum fragst du?«
»Der Sprekel hat gesagt, die Leiche läge bei der Blaubrücke. Und da hab ich natürlich zurückgefragt, bei welcher, und hab so ins Blaue hinein behauptet, wir hätten davon mehr als dreißig. Aber dann hat es mich doch interessiert, und ich habe mich bei der Stadtverwaltung erkundigt. Und jetzt pass auf! Da gibt es doch tatsächlich einen, der ist nur dafür zuständig, die ganzen Brücken über die Blau zu kontrollieren.«
»Aha. Und? Wie viele sind’s denn nun?«
»Exakt fünfzig.«
»Donnerwetter. Also dann doch Venedig.«
»So ist es. Und jetzt gehe ich ins Bett. Genug für heute. Wie kommst du nach Hause?«
»Ich lauf, brauch noch frische Luft und Bewegung.« Dabei tätschelte Reinhold seinen Bauch.
Nach den hausgemachten Ravioli mit Lachsfüllung, zwei Gläsern eines bemerkenswert fruchtigen Gavi, den Dolci und einem abschließenden Espresso spürte Vera Steinle endlich wieder die Energie, die sie so lange vermisst hatte. Eine Kraft, die ihr wieder den Mumm gab, ihren kreativen Gedanken zu folgen. Sie in die Tat umzusetzen, um Graziella endlich eins auswischen zu können. Die Fotoclubs entlang der Donau machten mit, ihre Bilder waren gerade angekommen: Wasserspaß in Budapest, auf dem Balkan und in Wien. Dazu natürlich ihre eigenen Werke. Grafiker und Druckerei standen in den Startlöchern. Plakate waren gedruckt, teilweise schon gehängt, und die Zusage für die Räumlichkeiten im Haus der Begegnung war auch in trockenen Tüchern. Zu Sonderkonditionen. Auf ein paar ihrer ehemaligen Mitstreiter in Sachen Kultur konnte sie sich eben immer noch verlassen. Wenigstens das. Blieb nur noch die Aufgabe, die Fotos auszuwählen, sie vergrößern und rahmen zu lassen. Sie zahlte, gab ein ungewöhnlich üppiges Trinkgeld und verließ das Restaurant.
Der Weg auf der Stadtmauer war voll. Touristen, die üblichen Bummler und Mütter mit ihren Buggys. Wenige Meter weiter entdeckte sie einen letzten freien Tisch vor dem »Leporello«, einer Cocktailbar, und dachte: Warum nicht hier? Nach Hause kann ich immer noch. Sie nahm Platz, überflog die Karte, blieb aber wie gewohnt ihrem Geschmack treu und bestellte sich einen Melonen-Daiquiri. Während sie wartete, lehnte sie sich zurück und hob ihr Gesicht Richtung Sonne, die heute ausnahmsweise einmal wärmte. Obwohl sich donauaufwärts schon die ersten Makrelenwölkchen in ihrem tückischen Zartrosa gebildet hatten, hoffte Vera auf ein paar weitere trockene Tage. Danach fiel ihr Blick auf die zahlreichen Kräne der Großbaustelle gegenüber, die dem eh schon unansehnlichen Neu-Ulm den Rest gaben. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte, die geschwollenen und schmerzenden Knöchel ihrer Hände zu ignorieren. Vergeblich, alles Reiben, alles Kneten und Massieren half nichts. Sie taten einfach weh. Vera war froh, als sie das Trinkröhrchen zwischen den Lippen hatte, und nahm einen Zug bis weit unter die Mitte. Mit dem Rest spülte sie ihre Tabletten runter. Inzwischen hatte die Dämmerung begonnen, ihr dunkles Tuch über die Stadt zu ziehen, und ein leiser Windhauch trug den Duft eines Fliederstrauches von der Donauwiese hoch. Die Mauersteine und Bodenziegel waren durch die Hitze des Tages noch aufgeheizt und verströmten eine beinahe schon mediterrane Atmosphäre. Dazu das Geplauder und Gelächter ringsum, lauter fröhliche Menschen in Sommerlaune. Einzig ein paar Raser und Motorräder, die über die Herdbrücke donnerten, störten diese Idylle.
Nachdem sie den zweiten Daiquiri bestellt hatte, zog sie ihr Tablet aus der Tasche, rückte die Brille zurecht und wischte durch die Fotos.
Budapest. Im Hintergrund das Parlament mit wehender Nationalflagge. Csárdás-Tänzerinnen in rot-grünen Röcken und weißen Blusen wirbeln über die Kettenbrücke, flankiert von ebenso folkloristisch gekleideten Herren in blank polierten schwarzen Stiefeln und mit Furcht einflößenden Schnurrbärten. Danach eine Serie über ein Ausflugsboot. Köche rühren in einem Gulaschtopf. Mädchen, ähnlich gekleidet wie die Tänzerinnen zuvor, recken die Arme in die Höhe. An Bug und Heck wieder Wimpel in Rot-Weiß-Grün. Vera überlegte, wohin sie diese Fotos hängen sollte. Am ehesten in den Keller.
Dann die Bilder aus Belgrad. Welch ein Kontrast. Eine Horde Kinder in zerschlissener Kleidung – löchrige Hemdchen oder gleich ganz nackt – planschte ausgelassen an der Einmündung eines Industriehafens in brackig-trüber Brühe. Ein zigfach geflickter Autoreifen diente als Boot, ein gesplittertes Brett als Paddel. Doch alle lachten, zeigten ihre Zahnlücken und spritzten das Wasser fröhlich in Richtung des Fotografen. In ihren Augen schimmerte die Hoffnung auf eine Zukunft. Tatkraft und Aufbruchstimmung sprühte aus ihren Blicken. Karl Kraus kam ihr in den Sinn. Dank ihres Referats über diesen Wiener Wirrkopf hatte sie ihr Deutsch-Abitur mit eins Komma null gestemmt. Sein Werk »Die letzten Tage der Menschheit« war ihr deswegen bis zum heutigen Tag im Gedächtnis haften geblieben. Von wegen »Serbien muss sterbien«! Die schaffen es. Wenn nicht die, wer dann? Im Hintergrund Container, Raffineriekomplexe und die Seile einer ultramodernen Brücke, darauf Züge und Autos. Eine der nächsten Aufnahmen zeigte eine Gruppe Buben, die flache Kiesel übers Wasser flitzen ließen, in den Gesichtern die gleiche Hochstimmung wie zuvor.
Die Serie des österreichischen Fotografen war außergewöhnlich. Sie hatte etwas geradezu historisch Provokantes. Tanzende Paare in festlicher Kleidung aus den Glanzzeiten des Wiener Walzers drehten ihre Runden an Deck eines Raddampfers. Er war dabei, anzulegen. Im Vordergrund Matrosen, schlecht rasiert und ölverschmiert, mit Ankern, Steuerrädern oder Nymphen auf den Armen. Daneben Aristokratie in Ballkleid und Smoking, auf den Tischen Gläser und perlender Champagner. Am Heck lehnte ein Streichquartett gegen die Reling und schien zu spielen. In ihren Fräcken, vor allem jedoch durch ihre Zylinder, boten sie eher das Bild von Vogelscheuchen als das von seriösen Musikern. Auf der Brücke salutierte der Kapitän in weißer Paradeuniform, die Mütze unterm linken Ellbogen. Weitere Fotos zeigten Herren mit Zwirbelbärten und Monokel, Damen mit gewagtem Dekolleté und Sissi-Löckchen. Und fortwährend lachende Gesichter – zwischen angeheitert und betrunken, manche schon Fratzen –, die ihre Gläser vor der Linse schwenkten. Einer, mit schon offenem Hemd, hielt den Tanzschuh seiner Dame am Absatz und soff daraus den Schampus, die freie Hand an deren Hintern unterm Kleid. Auf dem letzten Foto kämpfte ebenjene Dame scheinbar um ihr Leben, schlug verzweifelt um sich und hielt sich leidlich über Wasser. Der Rest der Truppe stand winkend am Geländer, während ihr Partner in Seelenruhe über die Reling pisste, die Hose unten an den Knöcheln. Ein peinlich ausgelassenes Was-auch-immer.
Vera musste wieder an Karl Kraus denken:
O, o, o, wie sind die Wiener froh.
Mir wern’s euch schon einigeigen,
Lasst’s euch das Wiener Blut nur zeigen,
O, o, o, wie sind die Wiener froh.
Sie war von den Perversitäten beeindruckt, und ein schmallippiges Lächeln erhellte ihre sonst so konzentrierte Miene. Selbst die steile Falte über der Nasenwurzel glättete sich für einen Moment. Damit stecke ich Graziella in die Tasche, dachte sie. Locker! Und wenn die hundertmal im Stadthaus ausstellt. Damit stehle ich der die Schau. Die mit ihrem blöden Karneval in Venedig. Und ihrem anderen Mist. Lächerlich!
»Ist dieser Platz noch frei?«
Vera blickte auf. Ein Mann stand vor ihr. Groß und schlank, sommerlich elegant gekleidet mit einem Polohemd und weißen Leinenhosen, die von einem schmalen braunen Gürtel gehalten wurden. Vor der Brust baumelten die Ärmel eines leichten blau-weiß gestreiften Kaschmirpullis. Eine dunkle Tolle hing ihm in die Stirn, die Haare über den Ohren waren kurz geschoren. Vera musterte ihn und war augenblicklich von seiner Ausstrahlung elektrisiert. Sie brauchte ein paar Sekunden, um aus ihrer Bilderwelt aufzutauchen und die Sprache wiederzufinden.
»Aber ja. Natürlich, bitte nehmen Sie doch Platz. Ist ja schrecklich voll heute Abend. Alles ist auf den Beinen.«
»Na, muss doch! Die paar Sommertage. Wer die nicht zu genießen weiß, ist selbst schuld. Ich find’s schön.«
Vera nickte eifrig. Sie meinte, in seiner Stimme ein leichtes Sächseln zu hören, und fragte: »Und Sie? Sind Sie zu Besuch in Ulm?«
»Ha«, Veras Gegenüber lächelte, »das werde ich öfters gefragt. Sie spielen sicher auf meinen Dialekt an. Ich stamme aus Weimar, lebe aber jetzt in Ulm. Wenzel, Alexander Wenzel, aber die meisten meiner Freunde nennen mich Sascha.«
»Angenehm, Steinle, Vera Steinle.« Sie mühte sich so gut es ging aus ihrem Stuhl, reichte ihre Hand über den Tisch und fuhr schwärmerisch fort: »Weimar, die Heimat unseres großen deutschen Dichters.«
»Ach, Sie kommen aus der Literatur?«
»Nun, was man eben so kennt. So dies und das. Aber Goethe gehört schon zu den ganz Großen, finden Sie nicht?«
Herr Wenzel senkte Stirn und Stimme. »Nun, ich bin quasi mit ihm aufgewachsen. Mein Vater nahm mich oft mit in den Park, wir spazierten entlang der Ilm. Unter der mächtigen Kastanie haben wir Rast gemacht, immer mit Blick auf Goethes Gartenhaus. Und dort rezitierte mein Vater aus dessen Werken. Hauptsächlich Gedichte. Und im Herbst sammelte er die Maronen ein und röstete sie im Ofen, während er weiter von Goethe schwärmte. Da muss wohl irgendwas hängen geblieben sein.«
»Das heißt, Sie dichten auch? Sind Sie Schriftsteller?« Vera betrachtete ihr Gegenüber mit wachsender Neugier und fand Gefallen an seiner Jugendlichkeit, an der Art, wie er wieder und wieder eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn schob.
»Gewissermaßen. Aber jetzt erwarten Sie bloß nichts Großes. Es sind eher Kleinigkeiten, Kurzgeschichten in Literaturzeitschriften, ab und an ein Artikel in einer Zeitung, hin und wieder etwas Lyrik, dabei vorwiegend Haiku.«
»Haiku?«
»Ja, Haiku! Kurze Verse mit der Silbenfolge fünf, sieben, fünf. Sie stammen aus Japan. Scheint im ersten Moment recht einfach. Die Kunst dabei ist, dass sich dahinter ein höherer Gedanke verbergen muss. Oft kommen sie einfach angeflogen in der Art wie zum Beispiel …« Herr Wenzel wandte sich halb um und wies mit dem Arm Richtung Donau. »Sekunde noch.« Er legte zwei Fingerspitzen an die Stirn, räusperte sich und begann betont langsam. »Fließende Freude, Lust und Laune beiderseits, am Ende das Meer. – Da müsste natürlich noch daran gefeilt werden, aber so in etwa funktioniert das.«
Vera lauschte seiner Stimme nach. Sie ließ ihren Blick über die Gäste an den Tischen ringsum schweifen, bis ihr Auge auf der beinahe stillen Oberfläche der Donau zur Ruhe kam. »Wie recht Sie haben.« Nach einem weiteren Augenblick des Innehaltens sagte sie: »Fünf, sieben, fünf, scheint ganz einfach. Aber fürs Dichten eigne ich mich doch eher weniger. Ich habe es mehr mit der Fotografie beziehungsweise mit Kulturorganisation ganz allgemein.«
Endlich kam der Service. Herr Wenzel bestellte einen Caipirinha für sich und nach einem »Sie doch auch, oder?« für Vera gleich einen mit, ohne ihre Reaktion abzuwarten.
Bei dem einen blieb es nicht. Alexander Wenzel erzählte hauptsächlich von sich, von seinen Versuchen, sich als Schriftsteller einen Namen zu machen und Anerkennung zu erhalten. Von seinen Fehlschlägen und manch raffgierigen Verlagen, die das Blaue vom Himmel versprechen und nach einer saftigen Unkostenbeteiligung – wie sie es nennen – den Dichter auf einem Stapel Bücher sitzen lassen. Vera Steinle hing an seinen Lippen, wobei ihre Blicke immer wieder zu seinen gepflegten schmalen Händen wanderten, die wie Schmetterlinge hin und her flatterten, und zu diesem goldenen Ring, den ein verschlungenes großes A zierte. Ihre eigenen Hände hielt sie fest zwischen die Knie geklemmt.
»Wenn man bedenkt, wie dagegen seriöse Verlage arbeiten, nach welchen Kriterien die sich ihre Autoren aussuchen, statt Qualität meist nur Mainstream und dabei den Gewinn im Auge, kommt irgendwann die Idee, selbst einen Verlag zu gründen.«
»Bewundernswert, absolut bewundernswert! Dass Sie sich nicht unterkriegen lassen, dass Sie, wie soll ich sagen, dass Sie immer einen Weg finden, Ihr Ziel zu verfolgen. Das muss doch auch eine enorme Summe Geld kosten.«
»Ach ja, das Geld. Glücklicherweise habe ich Rücklagen.«
Inzwischen war es spät geworden. Die meisten Tische waren leer, und nur noch vereinzelt flanierten Nachtschwärmer auf der Stadtmauer entlang. Zudem war eine kühle Brise aufgezogen, und die wenigen noch aufgespannten Schirme flatterten im Wind. Sascha hatte längst seinen Pulli übergezogen, Vera fröstelte hin und wieder. Die beiden gingen hinein, landeten an der Bar bei Wodka und lästerten weiter über den Kulturbetrieb. Bald waren sie beim Du, und irgendwann kam Vera zum Zug und schwärmte von ihrer Ausstellung.
»Du willst wirklich meine Bilder sehen?« Noch während sie dies fragte, zog sie ihr Tablet aus der Umhängetasche mit der lachenden Minnie-Maus und schob es Sascha hin. Gleich beim ersten Bild, welches die Wiener Gesellschaft zeigte, improvisierte er, nachdem der Wodka gekippt war, mit schon etwas schwerer Zunge: »Eitelkeitenwahn – Gefangene des Ego – mehr scheinen als sein.«
Vera hielt für einen Moment den Atem an. Ihr kam ein Gedanke. Sie fasste sich ein Herz und fragte geradeheraus: »Sascha, was hältst du davon, bei meiner Vernissage in zwei Wochen dabei zu sein und ein paar deiner Haiku zum Besten zu geben?«
Sascha richtete sich langsam auf. Er wandte sich ihr in voller Breite zu und fragte: »Vernissage? Wie viele Besucher kommen da?«
Vera strahlte und gab dem jungen Mann hinter dem Tresen zu verstehen, ihnen nachzuschenken. »Ich rechne mit gut hundert bei der Eröffnung. Und in der Folgezeit ein ebenso volles Haus.« Sie hob den Zeigefinger. »Und zwar täglich! Und, was ist? Komm, sag Ja!« Dabei blickte sie mit großen Augen zu ihm auf.
»Wann, sagtest du, ist das?«
»In zwei Wochen.« Nun legte sie ihre Hand auf seinen Arm und strich über die weiche Kaschmirwolle seines Pullovers. »Mir tät’st du eine Riesenfreude machen. Das wird die Show, glaub mir. Und für dich, mein Lieber, gibt’s Presse, Radio und Regionalfernsehen. Alles, was geht.«
»Zwei Wochen. Das ist verdammt knapp. Dazu brauche ich die Bilder.«
»Kein Problem.«
»Was ist mit Honorar? Das ist ja ein Riesenaufwand. Da muss ich alles andere liegen lassen.«
Vera war irritiert. Sie war der Meinung, mit der Öffentlichkeit und der Werbung wären sie quitt. Vorsichtig fragte sie: »An was denkst du?«
»Dreitausend?«
»Dreitausend? Unmöglich. Ich muss eh schon bei der Stadt wegen allem betteln gehen. Jeden Flyer muss ich denen aus der Nase ziehen. Mehr als fünfhundert sind nicht drin. Aber dafür bekommst du einen Büchertisch.«
Sascha musterte sie, sein Blick war nicht zu deuten. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht, er neigte den Kopf zur Seite, legte die Stirn in Falten und kam dicht an Veras Ohr heran. So nah, dass sein Parfüm ihre Nase reizte. Etwas orientalisch Betörendes, dabei gleichzeitig frisch und jugendlich. »Sagen wir tausend. Dafür bekommst du die Texte exklusiv mit allen Verwertungsrechten. Schon mal an einen Bildband gedacht?«
Vera lehnte sich zurück und musterte ihn voller Bewunderung. »Du bist auch wirklich ein Profi. Also gut, du tausend und ich alle Rechte. Schlag ein!« Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er klatschte sie lässig ab.
»Gib noch mal her.« Dabei zog er ihr Tablet zu sich herüber und wischte durch die Bilder. »Hier!« Er zeigte auf das Bild mit dem Kerl, der den Schampus aus dem Schuh soff, im Hintergrund die Streicher. »Zu so was gehört Musik! Ganz authentisch. Was glaubst du, wie das reinhaut, wenn da ein Quartett aufspielt. Wiener Walzer, am besten richtig ordinäre Stehgeiger.«
»Stehgeiger? Du hast Nerven. Wo soll ich in Ulm so was hernehmen?« Vera sah auf die Flaschen, die vor den Spiegeln standen, tippte die Fingerspitzen unterm Tresen aneinander und murmelte: »Aber etwas anderes ließe sich möglicherweise machen. Die vom Jugendorchester sind mir eh noch was schuldig. Hab denen einen Kulturaustausch beim Donaufest ermöglicht. Damals. Da können die gar nicht Nein sagen.« Sie wandte sich wieder Sascha zu, strahlte ihn an. »Super Idee. So machen wir es.«
Sascha lächelte, erhob sich und zog seine Geldbörse.
»Lass«, sagte sie, »ich mach das schon.«
»Aber ich –«
»Komm, bei dem Rabatt und den ganzen Tipps, die du mir gegeben hast – das ist das Mindeste.«
»Na, dann dank ich mal schön«, sagte er und hauchte Vera einen flüchtigen Kuss ans Ohr.
»Und du? Kommst du noch mit auf einen Absacker? Es sind nur ein paar Schritte zu meiner Wohnung.«
Sascha sah auf sein Handgelenk. Vera fiel die alte Eleganz der Armbanduhr auf, ähnlich wie bei seinem Ring, und sie war sich sicher, dass es keine billigen Repliken aus Fernost waren.
»Zu schade. Aber ich muss leider! Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin. Außerdem bin ich eh schon jenseits von Gut und Böse.« Sascha deutete eine Trinkbewegung an und fügte hinzu: »Ein anderes Mal, ganz bestimmt.«
Sie tauschten E-Mail-Adressen und Handy-Nummern, vereinbarten ein geschäftliches Treffen in den nächsten Tagen und verabschiedeten sich mit Wangenküsschen. Vera musste zugeben, ihre neue Bekanntschaft gefiel ihr. Der Rest wird sich zeigen, dachte sie mit einem Schimmer Hoffnung.