Mord beim Donaufest - Helmut Gotschy - E-Book

Mord beim Donaufest E-Book

Helmut Gotschy

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das Ulmer Donaufest wird zur Bühne menschlicher Abgründe. In Ulm ist das Donaufest in vollem Gange. Ein kultureller Höhepunkt jagt den nächsten, bis ein Grillstandbetreiber aus der Donau geborgen wird, getötet mit zahlreichen Messerstichen. Kommissar Bitterle und sein Team von der Ulmer Mordkommission machen sich auf die Suche nach dem Täter, doch um ihn zu fassen, bleiben ihnen nur wenige Tage – dann ist das Fest vorbei und der Mörder womöglich bereits über alle Berge ...

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Nach über drei Jahrzehnten erfolgreichen Musikinstrumentenbaus wechselte Helmut Gotschy zur Schriftstellerei. Neben seinen Kriminalromanen hat er ein Fachbuch über Instrumentenbau, zwei autobiografisch angelegte Romane und einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: pixabay.com/Hans

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lorenz Knieriem

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-101-0

Schwaben Krimi

Originalausgabe

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Dieses Buch ist allen Mädchen und Frauen gewidmet, die in Kriegen ihre Unversehrtheit verloren haben

Da weiß ich als Patriot, welcher von unseren Feinden mir der hassenswerteste scheint!

Karl Kraus,

Prolog

Mai 1992

In der Zeit zwischen Mitternacht und dem ersten Hahnenschrei liegt die Stille wie eine samtene Haube über dem kleinen Ort Donja Vraca. Burhan Hodžić sitzt am Küchentisch, beugt sich über die Straßenkarte und markiert Ortschaften. Er fährt die Hauptstraße R473 mit einem roten Stift nach. Auf losen Blättern macht er Notizen, rechnet und streicht durch. Die Glühbirne über ihm wird von Motten umflogen, und der Mokka, den er sich gekocht hat, ist längst im Kupferkännchen erkaltet. Seine Gedanken sind woanders. Er lässt den Stift fallen und reibt die Hände übers Gesicht. Sie schaben über die Bartstoppeln.

»Was machst du da?« Anka steht im Türrahmen, geht zum Spülstein und lehnt sich dagegen. Sie hat die Schlafdecke über die Schultern gelegt und hält sie vor der Brust zusammen. »Warum schläfst du nicht?«

»Ich weiß jetzt, wie wir es machen.«

Anka blinzelt gegen das Licht.

Burhan richtet sich auf. »Schau her.« Er dreht die Landkarte in Ankas Richtung. »Wenn die Straße von Teslić nach Zenica fertig ist, dann werden die Laster nicht mehr auf dem alten Autoput nach Süden und zurück rollen, sondern direkt bei uns vorbeifahren. Und genau das ist unsere Chance.«

Anka runzelt die Stirn. »Das lässt dir wohl keine Ruhe.«

»Komm her.« Burhan streckt die Hand nach seiner Frau aus.

Sie stößt sich von der Spüle ab, geht um den Tisch und schlingt die Arme um ihren Mann.

Burhan spürt ihre Wärme und die festen Brüste an seinem Rücken. Er presst seinen Kopf gegen ihre Schulter und sagt euphorisch: »Ich werde die Werkstatt vergrößern. Und wenn der Pachtvertrag für die Tankstelle endgültig unterschrieben ist, dann richten wir daneben einen Imbiss ein. Du kochst und kümmerst dich um die Gäste, und ich erledige den Rest.«

»Und wie willst du die Genehmigung dafür bekommen? Das dauert doch Jahre, zudem wird sie ein Vermögen kosten.«

»Eben nicht. Zlatko kennt den Beamten beim Bauamt in der Kreisstadt und weiß, dass der schon lange scharf auf Breitreifen mit Alufelgen ist und seinen alten Opel Manta tiefergelegt haben will«, sagt Burhan und grinst breit. »Die Reifen habe ich schon!«

Anka geht wieder zum Spülstein, lässt Wasser aus dem Hahn in ein Glas laufen und trinkt es zügig leer. Sie stellt es ab und knabbert an der Unterlippe. »Und du meinst wirklich, das lohnt sich?«

»Ganz bestimmt. Die Griechenland-Touristen mit ihren Wohnmobilen werden auch froh sein, wenn sie hier rasten können. Später bauen wir ein kleines Motel dazu.«

»Und das Baby?«

»Meine Mutter ist einverstanden. Sie wird dich unterstützen.«

»Und das entscheidest du einfach so!« Über Ankas Nase bildet sich eine tiefe Falte. »Ohne mich zu fragen?«

»Es ist das Beste, glaub mir.«

Anka kommt zurück an den Küchentisch, schiebt die Blätter hin und her und beugt sich darüber. Sie betrachtet die Skizzen. »Und woher nehmen wir das Geld? So ein Restaurant kostet doch Unsummen. Und dann brauchen wir Personal. Wo willst du das denn herbekommen?«

»Kein Restaurant, Anka. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich dachte an etwas viel Kleineres. An einen Bauwagen oder, noch besser, einen einfachen Schuppen mit Toiletten und Waschgelegenheiten. Mein Cousin hat versprochen, mir zu helfen. Und er hat jede Menge Freunde, die beim Bau arbeiten, die würden alle mitmachen.«

»Glaubst du ihm?«

»Meinem Cousin? Natürlich. Er hat immer gehalten, was er versprochen hat. Nach Feierabend und an den Wochenenden. Keine zwei Monate, dann steht der Laden, und wir können loslegen.«

»Immer noch der alte Träumer.« Anka tritt wieder hinter Burhan, küsst ihn auf den Scheitel und streicht mit den Händen über seine Brust. »Da bin ich dann schon im vierten oder fünften Monat. Das weißt du, oder? Lange kann ich das nicht machen.«

»Apropos – an unser Kleines habe ich natürlich auch gedacht. Und an Eltern, die mit ihren Kindern bei uns Rast machen werden.«

»Aha?« Jetzt klingt Anka neugierig.

»Hinter unserem Haus bauen wir einen Spielplatz. In den Nussbaum hängen wir eine Schaukel, daneben kommt eine Rutsche und davor ein Sandkasten.«

Anka krault Burhans Nacken. »Du denkst wirklich an alles.«

»Also gefällt dir die Idee. Gib’s zu! Und bis dann im Winter unser Kind kommt, haben wir schon das erste Geld verdient.«

Anka löst sich einen Schritt von Burhan und blickt zum Fenster. »Hast du das eben gehört? Was war das?«

»Was meinst du? Was soll ich gehört haben?«

»Na, dieses Donnern. Jetzt schon wieder.« Anka geht zum Fenster und öffnet es. Sie späht ins erste Morgengrau, in dem der Nussbaum nur zu erahnen ist.

Burhan stellt sich neben Anka. Er legt einen Arm um sie und lauscht. Von ferne ist erneut ein dumpfes Rumpeln zu hören. In sorglosem Ton antwortet er. »Ach was, das ist ein Gewitter. Um diese Jahreszeit zwar eher selten, aber es kommt vor. Was sollte es denn auch sonst sein?«

»Ich weiß nicht«, flüstert Anka und schmiegt sich dicht an ihren Mann. »Es ist so unheimlich.«

Ein drittes Rumpeln weiter weg entfernt. Danach herrscht wieder Ruhe.

Die Amsel hat ihr Morgenlied unterbrochen und wird fortan schweigen.

Teil eins

1

Mittwoch, 6.Juli, 8.30Uhr, Ulm

Als Konrad Bitterle, der Erste Kriminalhauptkommissar des Ulmer Dezernats für Tötungsdelikte – kurz: Mordkommission –, sich auf den Weg ins Böfinger Kraftwerk machte, hatte er bereits die schlimmsten Befürchtungen. Vor dem Einlauf einer Turbine war eine Leiche geborgen worden. Er sah diese Katastrophe geistig direkt vor sich, während er sich durch den Neu-Ulmer Berufsverkehr quälte, weiter über die Gänstorbrücke fuhr und rechts in Richtung Thalfingen abbog. Die Bilder in seinem Kopf waren schrecklich!

Das Plärren des Alarms tobt durch die gesamte Anlage und hallt von den Betonwänden wider. In Gängen, Kontrollräumen, Büros, vor allem im Herzstück, der Turbinenhalle, kann keiner dem Signal entkommen. Warnleuchten werfen ihr giftgelbes Licht an die Fassaden, das an den Oberlichtern reflektiert wird.

Schnelle Schritte trampeln durch Flure. Von allen Seiten eilen Männer herbei und brüllen Befehle in Walkie-Talkies. Sie reißen Türen auf und starren auf Bildschirmwände. Auf einem Monitor zur Rechten blinkt es rot auf.

Eine Szenerie, als hätten Filmemacher einen Meteoriteneinschlag in ein interstellares Raumschiff simuliert.

Aber das ist keine Science-Fiction. Kein Raumschiff in einem Studio in Hollywood. Alles ist echt! Ulm droht ein Blackout in weiten Teilen der Stadt. Zigtausend Haushalte wären betroffen. Mindestens. Ampeln fallen aus, Aufzüge bleiben stecken, Notstromaggregate verpesten die Luft mit ihren Dieselabgasen. Die gesamte Kommunikation bricht zusammen. Und das alles passiert am frühen Mittwochmorgen, während die Friedrichsau im ersten Morgenlicht badet und Enten den Schlaf aus den Flügeln strecken.

Bitterle war klatschnass geschwitzt, als er gegen neun Uhr beim Böfinger Kraftwerk eintraf. Er parkte den neuen Opel neben einem Container, stieg aus und sah sich um. Einsatzkräfte der Polizei hatten bereits einen Bereich mit Absperrband gesichert und bewachten ihn. Ein Laster des THW stand mit laufendem Motor auf dem Parkplatz, und die Techniker begannen, die Gerätschaften mit Dampfstrahlern zu reinigen. Die beiden Taucher hatten ihre Neoprenanzüge zur Hälfte ausgezogen und saßen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, rauchend auf silberfarbenen Transportkisten. Sie sahen mitgenommen und müde aus, vor allem aber wirkten sie geschockt.

Aus dem Kraftwerk kam ein Mann mit aschgrauer Gesichtsfarbe, buschigen Augenbrauen und hoher Stirn auf Bitterle zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Murat Coşkun, Schichtleiter, guten Morgen«, sagte er auf Hochdeutsch mit schwäbischem Einschlag.

Bitterle kam gleich zur Sache. »Was ist passiert?«

Coşkun atmete geräuschvoll aus und rieb sich übers Gesicht. »Schlimme Sache! Gegen Viertel nach sechs gab es einen Alarm. Im Einlassschacht der ersten Turbine wurde ein Fehler gemeldet. Schwemmgut, irgendwas Großes musste sich, nachdem es teilweise durch den Rechen gerutscht war, im Trichter verfangen haben. Damit drohte der Turbine ein Stillstand. Das hätte im schlimmsten Fall das komplette Kraftwerk lahmgelegt.«

»Und wie kann so was passieren?«, wollte Bitterle wissen.

»Der Fangrechen hätte schon längst ersetzt werden müssen, manche Teile sind nicht mehr sicher. Aber durch diese ganzen Corona-Probleme haben sich erst die Lieferungen verzögert, und als das Material endlich da war, konnten wir keine Monteure auftreiben. Das sind Spezialarbeiten. Unterwassermontage kann nicht jeder.«

»Und dann?«

»Dann habe ich das THW mit Tauchern angefordert. Die kamen auch zügig, denn ich habe denen klarmachen können, was ein längerfristiger Ausfall unseres Kraftwerks für Ulm bedeuten würde.«

»Das heißt?«

»Nun ja, am Strom hätte es nicht gemangelt, da springt sofort ein anderer Anbieter ein. Aber uns wäre dann nachgesagt worden, wir hätten die Anlage nicht im Griff. Schlamperei hätte es geheißen. Sie kennen ja die Presse.«

Bitterle ließ das so stehen. »Was genau haben Sie denn gefunden?«

»Kommen Sie mit.« Coşkun ging flussaufwärts um einen Bagger herum, über eine betonierte Fläche und zeigte auf eine grüne Gewebeplane, wie es sie in jedem Baumarkt gibt. Sie lag ausgebreitet auf dem Boden über einer Wasserlache. Coşkun blieb einige Schritte hinter Bitterle stehen und sagte: »Da, sehen Sie selber. Ich tu mir das kein zweites Mal mehr an.«

»Verstehe«, sagte Bitterle, trotzdem runzelte er die Stirn.

Coşkun machte kehrt und wollte zurück in Richtung Kraftwerksgebäude.

Bitterle wandte sich halb zu ihm um. »Moment. Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich noch Fragen habe?«

»Ich bin noch bis mindestens Mittag hier. Bis die Synchronisation mit dem Stromnetz wieder stimmt, das dauert immer eine Weile. Und dann der ganze Papierkram.« Coşkun verdrehte die Augen. »Sicherheitshalber gebe ich Ihnen noch meine Handynummer.« Er klopfte seine Taschen ab und zuckte mit den Schultern. »Hab keine Karte dabei, die liegen drinnen auf dem Schreibtisch. Wenn Sie bitte mitkommen möchten?«

»Danke«, sagte Bitterle und deutete auf die Plane. »Ich komme später darauf zurück.«

Er ging in die Knie, hob einen Zipfel an und schlug ihn beiseite. Ihm stockte der Atem, als er sah, wer da in der Pfütze lag. Er kannte den Mann, hatte erst am Samstag auf dem Donaufest zusammen mit seiner Partnerin Iris bei ihm Cevapcici gegessen und sich dabei ein bisschen mit ihm unterhalten. Der Tote trug sogar die gleiche Kleidung wie letzte Woche hinter seinem Grillstand. Eine grau-weiß karierte Hose und die weiße Jacke mit den zwei schwarzen Knopfreihen, selbst das rot-weiß karierte Tuch war noch um seinen Hals geknotet. An den Namen konnte Bitterle sich allerdings nicht mehr erinnern, wusste nur noch, dass der Mann von irgendwo aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte und mittlerweile seit vielen Jahren hier in Ulm ansässig war. Genauer würde er das aber im Donaubüro erfahren, war er sich sicher.

»Weiß die Gerichtsmedizinerin schon Bescheid?«, fragte Bitterle einen der Uniformierten, der näher getreten war und nun seitlich von ihm stand.

»Ja. Sie meinte, sie würde sich gleich auf den Weg machen.«

»Wann war das?«

Der Beamte sah auf seine Armbanduhr. »Knappe Stunde etwa.«

Dann müsste sie ja bald da sein, dachte Bitterle und beugte sich wieder über die Leiche. Ihr Kopf war ramponiert. Neben Abschürfungen im Gesicht hatte sie eine klaffende Wunde an der linken Schläfe. Die ehemals weiße Jacke war an vielen Stellen zerfetzt und blutig. Ob das von der Strömung herrührte oder der kaputte Rechen gewesen war? Oder steckte da was anderes dahinter, fragte sich Bitterle. Er war sich sicher, Ina Weichselbraun, die aus Wien stammende Gerichtsmedizinerin, würde es herausfinden. Bitterle deckte den Körper wieder zu, stand auf und ging zu den beiden Tauchern.

»Schlimme Sache«, sagte er und stellte sich vor, als er vor ihnen stand.

»Kann man wohl sagen.«

Der andere fügte hinzu: »So was hab ich mein Lebtag noch nicht erlebt.«

Bitterle setzte sich auf die Metallbox gegenüber. »Was genau war denn los?«

»Also, der Notruf kam so gegen halb sieben bei uns rein. Wir sind sofort los und hierher. Coşkun hat uns die Stelle gezeigt, wo er das Problem vermutet hat. Wir sind runter und haben ein paar Fetzen Folie aus dem Turbinentrichter gezogen. Ging am Anfang recht flott. Doch dann hat sich irgendwas verhakt.«

»Sie müssen wissen«, sagte der zweite Taucher, »wenn eine Turbine stillsteht, hat’s da unten ’ne Mordsströmung Richtung Wehr auf der Neu-Ulmer Seite. Uns hat’s regelrecht rübergezogen.«

»Genau. Obwohl das von oben so friedlich aussieht, haben wir uns mit Seilen sichern müssen.«

»Gut, und dann?«, fragte Bitterle, der langsam ungeduldig wurde.

»Ja, dann kam unter dem letzten Stück Folie die Leiche zum Vorschein.« Der Taucher warf einen Blick nach rechts, wo der Tote unter der Plane lag.

»Ist ja kein Wunder«, sagte sein Kollege, »so marode, wie der Rechen teilweise ausschaut. Hätte längst erneuert werden müssen.«

Bitterle hatte genug gehört. Die beiden Taucher würden ihm nicht weiterhelfen können. Er beschloss, nicht länger auf Ina zu warten, er würde sie später in der Gerichtsmedizin kontaktieren. Stattdessen machte er sich auf den Weg zum Kraftwerksgebäude, um sich bei Coşkun dessen Nummer zu holen, doch da kam ihm dieser bereits entgegen und drückte ihm seine Karte in die Hand.

»Wollen Sie noch kurz reinkommen und sich die Anlage anschauen?«

Bitterle sah auf die Uhr und dachte an Ina. Zehn Minuten gebe ich dir noch. »Danke, gerne. Wann hat unsereins schon Zeit, sich schlauzumachen, wo unser Strom herkommt?«

Er folgte Coşkun zwischen den THW-Fahrzeugen hindurch. Gemeinsam traten sie durch ein hohes Stahltor, in das ein Lkw gepasst hätte.

»Hier sehen Sie die beiden Turbinen. Durch jede von denen fließen pro Sekunde mehr als fünfundachtzig Kubikmeter Wasser, das entspricht der durchschnittlichen Füllmenge von rund sechshundertfünfzig Badewannen. Und das, wohlgemerkt, pro Sekunde!«

Bitterle sah Coşkun an, wie stolz er war, hier zu arbeiten. Der Schichtleiter zeigte auf eines der blauen runden Monster, zu denen je ein Aufgang mit Stufen führte und die mit einem massiven Geländer gesichert waren. Durch Aussparungen im oberen Teil konnte Bitterle die Seiten blank polierter Scheiben sehen.

»Kommen Sie mit.« Coşkun wies auf die Aussparungen der Turbine. »Hier, das sind die Kollektoren. An denen wird der Strom abgegriffen, und durch die drei Rohre am oberen Ende werden die Leitungen nach draußen in separate Transformatoren geleitet.«

Obwohl Bitterle in Sachen Technik höchstens ein interessierter Laie war, abgesehen von der Kettenschaltung seines Rennrads, fragte er nach: »Kupfer, nehme ich an?«

»Nein. Der Strom wird durch zweieinhalb Zentimeter dicke sogenannte Aluminium-Groblitzenkabel abgeführt.«

»Wozu das denn?«

»Alu ist leichter und viel billiger, und die geringere elektrische Leitfähigkeit fällt kaum ins Gewicht.«

»Aha, und wozu sind die Trafos?«

»Nun, jede Turbine bringt bei einem Schaufelraddurchmesser von knapp vier Metern eine maximale Leistung von fünftausend Volt bei über sechshundert Ampere. Um die Energie ins Netz einspeisen zu können, muss diese dem üblichen Standard von zehntausend Volt angepasst werden, und erst dann geht sie ins Netz.«

»Und wie viele Haushalte können damit versorgt werden?«

»Das kann man so nicht genau sagen. Kein Haushalt gleicht dem anderen, der Verbrauch ist mal höher, mal niedriger.«

»Nur so ungefähr.«

»Hm, ich würde mal sagen, so um die zehntausend. Aber zum Vergleich: Das Zylinderkopfdichtungswerk gegenüber der Donau hat einen bedeutend höheren Stromverbrauch, als wir hier, selbst bei maximaler Auslastung, produzieren können.«

»Dann ist das ja gar nicht so gigantisch, wie ich es mir vorgestellt habe«, murmelte Bitterle vor sich hin.

»Das ist relativ! Als dieses Kraftwerk 1953 gebaut wurde, also vor immerhin rund siebzig Jahren, war die Leistung für damalige Verhältnisse enorm. Möchten Sie ein paar Bilder aus dem Archiv sehen?«, fragte Coşkun und wirkte wieder ganz euphorisch. »Kommen Sie doch kurz mit hoch.«

Bitterle folgte ihm in den ersten Stock und blieb vor einer Wand stehen, an der Holzrahmen mit technischen Zeichnungen und alten, zum Teil schon ausgeblichenen Schwarz-Weiß-Fotografien hingen. Sie zeigten Aufnahmen der damaligen Großbaustelle, Armierungen des Fundaments und die Verschalungen der Auslasstrichter, durch die das Wasser siebeneinhalb Meter tiefer wieder in die Donau fließen würde. Die Monteure, die die Turbine in den Schacht absenkten, wirkten wie Ameisen im Vergleich zu dem monströsen Schaufelrad, das nach Fertigstellung und Inbetriebnahme den Strom erzeugen würde.

Coşkun zeigte auf eine der Aufnahmen. »Rund einhundert Tonnen wiegt so eine Turbine. Das war eine logistische und technische Meisterleistung.«

Aber verglichen mit den Pyramiden ein Klacks, dachte Bitterle und sah auf die Uhr. »Oha. Die Zeit fliegt mal wieder. Herzlichen Dank, Herr Coşkun, aber ich denke, jetzt muss ich mich um den Toten kümmern. Bestimmt ist die Gerichtsmedizinerin schon eingetroffen und wartet auf mich.«

»Aber selbstverständlich, Herr Kommissar. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so in Beschlag genommen habe. Aber, wissen Sie, dieses Kraftwerk hier, das ist mein Ein und Alles.«

»Das merkt man«, sagte Bitterle freundlich. »Und das ist auch gut so. Menschen, die mit so viel Herzblut in ihrer Arbeit aufgehen, werden heutzutage immer seltener. Haben Sie vielen Dank für die außerordentlich interessante Führung.«

»Keine Ursache, gern geschehen. Und falls Sie noch Fragen haben, meine Karte haben Sie ja.«

Mittlerweile waren die Spezialisten der KTU eingetroffen, vorneweg Lederle, der kurz die Hand hob, als er Bitterle sah. Offenbar warteten auch sie auf die Gerichtsmedizinerin.

Auf dem Parkplatz blieb Bitterle vor seinem Wagen kurz stehen und zog sein Handy aus der Tasche. Ihm war bewusst, dass er diese Nummer nur im absoluten Notfall wählen durfte. Aber jetzt pressierte es! Er schaute himmelwärts, und nach kurzem Zögern schob er seine Skrupel beiseite und drückte eine Kurzwahltaste.

»Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Sie haben aber die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.«

Auch das noch! Bitterle versuchte es ein zweites Mal – mit demselben Ergebnis.

Da die Gerichtsmedizinerin Ina Weichselbraun immer noch nicht am Fundort der Leiche eingetroffen war, beschloss Bitterle, sich nach dem Namen des Grillstandbetreibers zu erkundigen. Dazu musste er ins Donaubüro zu Jens Liebeskind. Dessen Arbeitsplatz war im schönsten Fachwerkhaus weit und breit untergebracht, in der Kronengasse 4, nur einen Steinwurf von der Zentralbibliothek entfernt und direkt an der Stadtmauer gelegen. Der Direktor des Donaufestes würde ihm bestimmt weiterhelfen können.

Bitterle ging zurück zu seinem Wagen, bekam dann allerdings zunächst Probleme, ihn zu starten, vor allem, da ihn die Ansagen des Fahrerassistenzsystems nervten.

Zwanzig Minuten später hatte er die Innenstadt erreicht und parkte im Hof des Neuen Baus, seines alten Arbeitsplatzes im Polizeipräsidium, bevor die Kriminaldirektion nach Söflingen umgezogen war. Das Donaubüro würde erst um zehn Uhr öffnen, also blieben Bitterle noch zwanzig Minuten Zeit, um zu frühstücken. Da Mittwoch war, fiel die Entscheidung des Wohin leicht. Er steuerte den Bratwurststand auf dem Ulmer Wochenmarkt an, gleich vor dem ehemaligen Abtgebäude, das inzwischen ein Hotel war, und dachte dabei an die armen Touristen, die den ganzen Weg vom Bahnhof bis zum Münster ihre Rollkoffer durch die Fußgängerzone würden zerren müssen. Heute ging er aber nicht wie normalerweise quer über den Münsterplatz, um hier und dort einen Blick auf die Gemüse-, Obst- und Käsestände zu werfen, sondern schlenderte entlang der Häuser und vorbei am ehemaligen Café Tröglen, das den Betrieb nach mehr als zweihundert Jahren eingestellt hatte. Und zu den üblichen morgendlichen Stammbummlern und Käufern kamen die Massen an Donaufestbesuchern und sonstigen Touristen hinzu, denn der Ulmer Wochenmarkt galt bei vielen Reiseanbietern inzwischen als Geheimtipp.

Bitterle bahnte sich einen Weg bis vor zur Ecke und staunte: Sogar jetzt, am frühen Morgen, reichte die Schlange vor dem Imbissstand schon bis in die Platzgasse hinein – alle schienen hungrig. Doch Bitterle hatte Glück. Der Standbetreiber hatte ihn entdeckt und auch gleich erkannt, er winkte ihn zu sich her und legte ihm die nächste fertige Bratwurst, eine rote in der Semmel, in die Hand.

»So, isch unser Münsterplatz-Columbo au scho wieder um den Weg. Gell, wie immer, groß und kross und mit viel Senf.«

»Ganz genau«, sagte Bitterle, nahm die Wurst entgegen und drückte dem Mann fünf Euro in die Hand. »Stimmt so. Ich hab’s heut eilig.«

Der hob zwei Finger und sagte: »Jaja, weiß ich doch! Stets im Dienst.«

Bitterle nahm den gleichen Weg zurück, setzte sich am oberen Ende der Hirschstraße auf die runde Ziegelmauer, die den Baum umfasste, und genoss seine Rote. Mit der freien Hand fischte er sein Handy aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung. »Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer …«

Verdammt, wo steckst du? Wir brauchen dich!

Kaum hatte er aufgelegt, rappelte sein Handy.

»Morgen, Ina, was gibt’s?«, mümmelte er mit halb vollem Mund.

»Viel habe ich noch nicht, aber eines kann ich dir sagen: Es war nach meiner bisherigen Einschätzung aller Wahrscheinlichkeit nach kein Unfall. Oder besser gesagt: nicht nur.«

»Sondern?«

»Das, lieber Konni, müssts ihr rausfinden.«

»Also Mord?«

»Ich schließe nichts aus. Wann kommst du?«

»Mal sehen, muss jetzt zuerst ins Donaubüro. Ich denke, wenn ich hier fertig bin, schau ich vorbei.«

»Also, bis dann. Servus, baba.«

Auch das noch, dachte Bitterle, tupfte sich den Senf von den Lippen und sah auf seine Uhr. Zehn nach zehn. Er machte sich auf den Weg. Am Stadthaus vorbei überquerte er beim Optiker die Neue Straße, ließ die blaue Pyramide links liegen und bog rechts in die Kronengasse ein. Das Donaubüro lag hinter einer gutbürgerlichen und traditionsbewussten Gaststätte versteckt im Innenhof, zu dem ein schmales, tunnelartiges Gässchen führte. Das Pflaster dort war kunstvoll mit verschiedenen Steinen belegt, und Bitterle ärgerte sich wie so oft, dass er nie genügend Zeit fand, die vielen verborgenen Schönheiten seiner Stadt in Ruhe zu bewundern.

»Haus der Donau« stand auf der Briefkastenklappe neben dem Klingelknopf. Bitterle drückte die Glastür auf und trat ein. Kaum war er im Inneren, befand er sich am Fuß einer kurzen Treppe, die zu einem Foyer mit weiß betuchten Stehtischen führte. Dort sortierte eine Frau, jung, dunkelblond, in blauer Jeans und gelber Bluse, einen Stapel Flyer in den Aufsteller. Sie bemerkte Bitterle, kam auf ihn zu und fragte, ob sie ihm helfen könne. Laut dem Clip am Revers handelte es sich um »Verena Strunk, Direktionsassistentin«.

Bitterle wies sich aus. »Ich möchte zu Herrn Liebeskind, dem Direktor des Donaufestes. Wo finde ich ihn?«

»Die Treppe hoch, dann gleich links. Aber ich muss Sie enttäuschen. Der Chef ist noch in einer wichtigen Sitzung im Rathaus.«

»Wie lange noch?«

Frau Strunk lächelte entschuldigend. »Ich denke, gegen halb zwölf müsste er wieder da sein. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

Bitterle schürzte die Lippen. »Sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn unbedingt sprechen muss, dass er auf jeden Fall auf mich warten soll.«

Sie wirkte irritiert. »Polizei, sagen Sie? Ist denn was passiert?«

»Tut mir leid, das kann ich nur mit Ihrem Chef persönlich besprechen.«

Er verließ das Gebäude, ging zurück zur Stadtbibliothek und setzte sich dort auf die oberste Stufe des halbkreisförmigen Rondells. Während ihm die Sonne im Nacken brannte, drückte er in unregelmäßigen Abständen die Wahlwiederholung seines Handys und dachte nach.

Wer zum Teufel brachte auf dem Donaufest einen Grillstandbetreiber um? Einen Jugoslawen, der schon lange in Ulm wohnte? Gab es Streit mit jemandem, hatte das Ganze womöglich einen politischen Hintergrund? Auf serbischer Seite fingen einige ja wieder an zu zündeln, hatten wieder irgendwelche Gebietsansprüche aus der Mottenkiste gezogen. Erzkonservative Machthaber, die einfach keine Ruhe gaben. Aber wieso hier in Ulm, beim Donaufest, diesem zumeist doch so friedlichen und fröhlichen Miteinander der Menschen aus den Anrainerstaaten, wenn es auch manchmal recht hektisch zuging und eng wurde? Welche Länder waren das eigentlich noch mal genau – zehn an der Zahl, oder?

Klar, in Deutschland ging es los mit der Donau. Bitterle dachte an den Spruch seiner Mutter, den sie ihm immer wieder bei Spaziergängen am Fluss eingebläut hatte: »Brigach und Breg bringen die Donau zu Weg.« Und dann natürlich in der Schule im Heimatkundeunterricht: »Iller, Lech, Isar, Inn fließen rechts zur Donau hin. Altmühl, Naab und Regen fließen ihr entgegen.« Wie er gestaunt hatte, wie breit die Donau beim Kloster Weltenburg war. Damals, auf der Klassenfahrt, als einer der Lehrer so betrunken war, dass ihm beim Pinkeln das Toupet in die Schüssel rutschte und er glatzköpfig und mit einer Tüte in der Hand zum Bus zurückgetorkelt kam. Mein Gott, war das lange her! Was der jetzt wohl machte? Ob er überhaupt noch lebte?

Und dann in Passau, am Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz, da wurde aus der in Ulm noch so friedlichen kleinen Donau ein mächtiger Strom. Bitterle hatte damals einen Kloß im Hals bekommen, als er die Hochwassermarken am Rathaus gesehen hatte. Erst im Juni 2013 war die Donau fast so weit über die Ufer getreten wie damals im August 1501, als ganze Landstriche weggespült worden waren, Dörfer einfach von der Bildfläche verschwanden und ganze Familien ausgelöscht wurden. Bitterle dachte an vorhin in Böfingen. Nicht umsonst hieß es Wasserkraft.

Aber er war ja bei den Ländern gewesen, richtig. Also, ab Passau floss die Donau durch Österreich, Wien war klar, dann vorbei an der Slowakei und weiter nach Ungarn. Budapest war berühmt für seine Kettenbrücke – da wollte Bitterle auch schon lange noch mal hin. Dann weiter durch Belgrad in Serbien, durch Rumänien und Bulgarien. Und bis zur Mündung ins Schwarze Meer floss sie noch durch Moldawien und durch die Ukraine.

Bitterle zählte die Länder an den Fingern ab, brachte es jedoch nur auf neun. Was fehlt mir, fragte er sich, kam aber beim besten Willen nicht drauf. Er musste sich überwinden, um bei Google nachzusehen, wischte dann so lange übers Display seines Handys, bis er das zehnte Land gefunden hatte: Kroatien. Immerhin auf fast zweihundert Kilometern Donauland. Das hätte ich jetzt nicht gedacht, staunte Bitterle. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr erhob er sich und machte sich wieder auf den Weg ins Donaubüro.

Gleich im Foyer kam ihm Frau Strunk mit verlegener Miene entgegen. »Das tut mir jetzt wirklich leid, Herr Kommissar, aber Herr Liebeskind lässt Ihnen ausrichten, dass die Sitzung im Rathaus unerwartet länger dauert.«

»Wieso das denn?«, maulte Bitterle die Direktionsassistentin an. »Haben Sie ihm nicht gesagt, dass es eilt?«

Frau Strunk biss sich auf die Unterlippe und holte tief Luft. »Doch, natürlich! Mein Chef hat versprochen, so schnell wie nur irgend möglich hierher zurückzukommen.«

»Und was heißt ›so schnell wie irgend möglich‹?«

»Also in spätestens einer Stunde, denke ich, können Sie ihn sprechen.«

Bitterle stieß den Zeigefinger in Strunks Richtung. »Ich nehme Sie beim Wort!« Dann machte er kehrt, riss die Eingangstür auf und verschwand um die Ecke.

Unglaublich, schnaubte er innerlich. Aber nun gut, würde er halt die Zeit nutzen und Ina einen Besuch abstatten. Vielleicht hatte die Gerichtsmedizinerin inzwischen schon mehr herausgefunden. Und Kula hatte er auch immer noch nicht erreicht. Apropos … Bitterle holte erneut sein Handy hervor und drückte die Wahlwiederholung.

2

Mittwoch, 6.Juli, 12.00Uhr, Naxos, Griechenland

Während Spiros die noch lauwarmen Oktopusstückchen mit Zitronensaft beträufelte und Pfeffer darüberstreute, schlenderte Kula den Sandweg vom Meer hoch und rubbelte ihre Haare trocken. Kula Skoulatopulos, Kriminalhauptkommissarin der Ulmer Kripo, hatte sich die lange geplante Woche Urlaub genommen und war nun bei ihren Eltern auf Naxos zu Besuch.

Zwei Jahre vor Kulas Geburt hatten Spiros und Despina Skoulatopulos Hals über Kopf geheiratet und diese griechische Kykladeninsel in der Ägäis verlassen. Kulas Vater hatte, obwohl nur einfacher Bootsbauer und Motorenmechaniker, ein Jobangebot bei Liebherr in Ehingen erhalten, das er unmöglich hätte ausschlagen können. Seine Frau war begeistert gewesen und hängte von heute auf morgen ihren Job beim Hafenamt an den Nagel. Nun, ein halbes Leben später, nachdem Spiros in Rente war, war die Sehnsucht nach der alten Heimat so groß geworden, dass sie beide in Mikri Vigla, einem kleinen Ort direkt am Meer, etwa fünfzehn Kilometer südlich der Inselhauptstadt, ein kleines Hotel mit Restaurant eröffnet hatten. Viele inzwischen alt gewordene Hippies aus früheren Zeiten durften sie zu ihren Stammgästen zählen. Das Geschäft lief prima, obwohl Spiros sich von Beginn an gegen die Vereinnahmung durch die üblichen Reiseveranstalter gewehrt hatte. Er hatte schon immer seinen eigenen Kopf.

Nachdem Kula einen Becher Brunnenwasser in kleinen Schlucken getrunken hatte, goss sie sich ein Glas Retsina ein. Dieser einst für Griechenland typische geharzte Weißwein war seit Jahren out, aber ihr Vater hatte noch seine Quellen, und Kula hatte nichts gegen ein wenig seiner Nostalgie einzuwenden. Sie spießte ein Stück Oktopus auf und genoss die Vorspeise. Inzwischen werkelte Spiros am Grill, und es duftete verführerisch nach Lammkoteletts mit Bergthymian.

»Dein Handy hat die ganze Zeit geklingelt, während du im Meer warst.«

Kula sah sich um und entdeckte es auf dem Fenstersims neben dem Topf mit den Margeriten. Sie stand auf und fragte: »Wer war’s denn?«

»Also bitte! Glaubst du, ich gehe an dein Handy?« Ihr Vater klang entrüstet.

Sie wischte durch die Anruferliste. Bitterle, Bitterle und nochmals Bitterle. »Verdammt!«, entfuhr es ihr.

»Ist was passiert?«

»Ich fürchte, ja. Wenn mein Kollege mich privat anruft, dazu so oft hintereinander, brennt die Hütte. Moment, bin gleich wieder da.«

Kula verschwand hinter der Terrasse und hockte sich auf einen Felsen, der aus dem spärlichen Gestrüpp ragte. Für den Moment hatte sie das Bild vor Augen, wie gestern ihr Vater den Kraken unermüdlich gegen den Felsbrocken geschlagen hatte. Sonst würde er zäh wie Gummi bleiben, hatte Spiros gemeint.

Nach dem dritten Klingelton nahm Bitterle ab, und Kula lauschte mit zunehmend frustrierter Miene, was ihr Kollege berichtete. »Und das hat wirklich nicht noch bis nächste Woche Zeit?«

»Auf keinen Fall! Die Hälfte des Donaufestes ist bereits um. Von den zehn Tagen bleiben nur noch fünf, den Fall aufzuklären. Bis nächste Woche sind vielleicht alle, die mit dem Mord zu tun haben könnten – Zeugen, Verdächtige, Täter –, wieder über alle Berge verschwunden, besser gesagt: den Bach runter, und wir haben nichts Greifbares mehr in Händen.«

»Und was ist mit Lukas?«

»Keine Chance. Den brauchen wir am Computer! Du weißt doch, wie unschlagbar er dort recherchieren kann.«

Kula seufzte. »Okay. Aber ich habe keinen Schimmer, wie schnell ich von hier wegkomme. Ich vermute, alle Flüge sind ausgebucht, jetzt, wo es keine Reisebeschränkungen mehr gibt.«

»Dann flieg meinetwegen Business-Class, wenn es gar nicht anders geht. Ich nehme das auf meine Kappe.«

»Du weißt schon, was du von mir verlangst?«

»Ja, weiß ich.« Damit beendete Bitterle das Gespräch.

Langsam ging Kula zurück. Sie blickte zu ihrem Vater, der die Lammkoteletts zusammen mit den gebackenen Kartoffeln auf den Tisch stellte.

Er sah sie besorgt an. »Probleme?«

Kula zuckte mit den Schultern. »Sieht so aus.«

»Jetzt iss erst mal, dann sehen wir weiter.«

Kula nippte am Retsina und schnupperte über den Teller. Im Nu war ihr Ärger verflogen, und sie lächelte.

Ihre Mutter stellte eine Schüssel Risogalo auf den Tisch. Auf dem Reisbrei schimmerten Zimtzucker und abgeraspelte Zitronenschale. Früchte aus dem Garten. Despina setzte sich dazu und kniff in Kulas Wangengrübchen. »Die haben mir so gefehlt! Weißt du das?«

Kula nickte und legte den Kopf an Despinas Schulter. »Danke, Mama.«

»Was ist denn passiert?« Despina strich über Kulas Arm.

»Ich fürchte, ich muss zurück nach Deutschland.«

»Aber du bist doch erst seit drei Tagen hier, noch nicht mal richtig angekommen!«

»Ich weiß doch …« Kula tätschelte die Hand ihrer Mutter.

»Wie geht es dir denn sonst so? Du hast noch fast gar nichts erzählt. Vor allem, wie geht es dir mit Svenja? Seid ihr glücklich in eurem neuen Häuschen?«

Kula atmete lange aus und sah Despina direkt in die Augen. »Das Häuschen ist toll, und mit der Nachbarin verstehe ich mich auch gut. Aber mit Svenja ist es in letzter Zeit schwierig. Sie ist fast nur noch am Arbeiten und dabei so oft in Karlsruhe, dass wir uns kaum noch sehen. Und wenn sie endlich heimkommt, ist sie müde.« Kula senkte den Blick. »Sagt sie jedenfalls.«

Despina legte den Arm um Kulas Schulter. »Ach, was glaubst du, wie oft ich das mit deinem Vater erlebt habe.« Sie drehte sich um, sah, dass sie unter sich waren. »Da gab es immer mal wieder Phasen, in denen wir uns am liebsten an die Gurgel gegangen wären. Manchmal waren Streitereien und laute Worte die Regel. Aber das hat sich immer wieder nach kurzer Zeit eingerenkt. Und schau, wie glücklich wir heute immer noch sind.«

»Das meine ich nicht, Mama. Es ist vielmehr … Wie soll ich sagen? Es kommt mir vor, als hätte sich eine Art Interesselosigkeit bei ihr eingestellt. So nüchtern und nur noch funktional irgendwie.«

Despina legte den Kopf in den Nacken, sah über Kula hinweg in die Ferne und sagte dann: »Auch das haben dein Vater und ich erlebt. Immer dann, wenn die Arbeit keinen Platz mehr für Persönliches gelassen hat. Wir haben nur noch funktioniert.« Sie strich Kula über den Rücken. »Habt ihr schon darüber geredet?«

»Keine Zeit bisher.«

»Dann mach das. Und dann fahrt ihr gemeinsam ein paar Tage weg. Einfach mal raus aus dem Alltag. Du wirst sehen, das hilft.«

Kula gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Du hast bestimmt recht. So werden wir es machen.«

Sie lächelten sich an.

»Wolltest du nicht auch noch deinen Cousin Ioannis besuchen? Er und Larissa haben letztes Jahr geheiratet und ein Töchterchen bekommen.«

»Ja, das hatte ich mir fest vorgenommen. Sonst verliert man sich ja komplett aus den Augen. Aber ich glaube, das muss ich auf den nächsten Besuch verschieben.«

»Bist du wirklich so sehr in Eile, Kula?«

»Ich habe keine Wahl, Mama. So bald wie möglich komme ich aber wieder. Bestimmt noch in diesem Jahr. Versprochen!«

Nach dem Risogalo und einem überzuckerten Mokka zog sich Kula zurück in ihr Zimmer und checkte die Verbindungen. Alle Direktflüge von Santorini nach München waren wie zu erwarten ausgebucht. Über Athen würde sie zwei ganze Tage verlieren, denn die Schnellfähre nach Piräus würde in einer halben Stunde von Naxos-Hafen ablegen. Keine Chance, die noch zu erwischen.

Was mach ich denn jetzt?

Sie ging zurück auf die Terrasse, wo ihr Vater saß, mit seinem Kugelkettchen spielte und aufs Meer blickte.

»Und«, fragte er, »wann musst du los?«

»Der letzte Flug von Athen nach München geht heute Abend kurz nach sieben. Aber das schaffe ich unmöglich. Nicht bei dem Verkehr durch die Stadt.«

»Hm …« Spiros schürzte die Lippen. »Kannst du dich noch an Larissas Vater Dimitrios erinnern?«

»Klar. Ist das nicht der ehemalige Fischer, der das riesige Agia-Anna-Beach-Resort mitten in die Plaka gepflanzt hat, diesen steingewordenen Schandfleck?«

»Tja, so ist das nun mal. Jeder steckt in seinem eigenen Leben fest, und alles andere verschwindet allmählich in den Hintergrund. Und wenn einer erst einmal Geld gerochen hat, diese Sucht wird man schwer wieder los.«

»Und Larissa? Was sagt die dazu?«

»Die kümmert das nicht weiter. Sie liebt ihre Arbeit als Fremdenführerin und ist glücklich mit deinem Cousin.«

»Wie schön. Aber zurück zu Dimitrios, was ist mit dem?«

Spiros legte seine Hand auf die seiner Tochter und tätschelte sie sanft. »Der ist so reich geworden, der hat jetzt sogar ein eigenes Flugzeug. Komm, mach dich fertig, und in spätestens drei Stunden bist du in Athen am Flughafen.«

»Ist nicht dein Ernst, oder?«

»Und ob. Weißt du, Dimitrios ist mir noch was schuldig.«

Kula packte ihre Sachen zusammen. Zwanzig Minuten später saß sie neben ihrem Vater, der seinen Mazda Pick-up das Ufersträßchen entlang Richtung Naxos-Stadt steuerte und wegen der Touristen langsam und in Schlangenlinien fahren musste. In Agios Prokopios bog er links ab und hielt am Fuße des Stelida vor einem würfelförmigen Gebäudekomplex, der in den typischen Kykladenfarben Weiß und Blau gehalten war. Sie stiegen aus. Kula bewunderte die Blumenpracht in Keramiktöpfen, die im selben Blau wie die Fensterläden leuchteten.

Dimitrios, ein braun gebrannter Mann in den Fünfzigern mit markantem Kinn, Haarzopf, Vollbart und lauernden Reptilaugen, trat aus der Tür und sagte: »Gib mir fünf Minuten, Spiros. Die müssen eh erst meine Cessna startklar machen.«

Spiros winkte ab und setzte sich zu seiner Tochter, die auf einer Steinbank aus schneeweißem Naxos-Marmor Platz genommen hatte. Sie kraulte einen Kater zwischen den Ohren, der sich gegen ihr linkes Bein drückte. Eine junge Frau kam aus dem Garten und steuerte auf die Besucher zu, ein friedlich vor sich hin schlummerndes Kleinkind auf dem Arm.

Kula erhob sich, ging auf Larissa zu, nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Yassu, meine Liebe, wie geht’s dir? Schön, dass wir uns doch noch sehen.«

»Kula! Deine Mutter hat erzählt, dass du da bist. Aber was ist los? Musst du schon wieder zurück?«

»Tja, leider. Leichen nehmen keine Rücksicht.« Kula kniff das kleine Mädchen auf Larissas Arm, das inzwischen erwacht war, zärtlich in die Wange. »Und wer bist du denn?«

»Dorea, unser Sonnenschein.«

Als Dorea ihren Namen hörte, wurde ihr Mund breit, und sie strampelte mit den Beinchen.

»Wo steckt Ioannis? Ihn wollte ich doch auch noch sehen. Arbeitet er immer noch so viel?«

Larissa hob die Schultern und seufzte leise. »Die Gäste werden immer anspruchsvoller und wollen alles auf einmal. Segeltörn mit Tauchen, am nächsten Tag eine Bergtour zum Zeus, hinterher zum Weingut, gleich danach in die Käserei. Und, und, und. Anstatt dass sie mal Urlaub machen und sich erholen.«

»Jaja, die Zeiten haben sich geändert«, murmelte Spiros und zupfte die kleine Dorea zärtlich an den Zehen. »Wie alt ist sie jetzt noch mal?«

»Ein Jahr«, sagte Larissa. »Sie fängt schon an zu laufen.«

»Dann pass gut auf sie auf! Ab dem Alter gehen die ersten Probleme los.«

Larissa verdrehte die Augen. »Erzähl mir nichts. Jeden Tag bekomme ich zu hören, was ich damals alles angestellt habe.«

»Mein Gott, so sind sie halt. Wenn ich da an die kleine Kula denke. Kaum konnte sie stehen …« Spiros wandte sich seiner Tochter zu.

»Jetzt übertreib nicht so, Papa. Sonst machst du immer einen auf gaaanz stolz!«

Kaum hatte Dorea Kulas Stimme wieder gehört, drehte sie sich und streckte ihr die Ärmchen entgegen. Kula nahm sie auf den Schoß, und Dorea gluckste glücklich vor sich hin.

»Du bist ja ganz eine Süße, du kleiner Fratz. Wirst bestimmt mal genauso schön wie deine Mama.«

Larissa strahlte.

Dimitrios kam aus der Tür, hatte einen Lederblouson über der Schulter hängen, und die dunkle Pilotenbrille funkelte im Haar. Er schenkte weder seiner Tochter noch dem Enkelkind einen Blick, schnippte den Zigarettenstummel seiner filterlosen Karelia zwischen die Bougainvillea und fragte: »Was ist jetzt? Wir können. Worauf wartet ihr?«

3

Mittwoch, 6. Juli, 12.30 Uhr, Ulm

»Sie werden erwartet, Herr Kommissar.« Frau Strunk ging auf Bitterle zu und lächelte. »Kommen Sie bitte mit.« Nach wenigen Schritten klopfte sie an einer historischen Eichenholztür und drückte gleich danach die Klinke. Sie hielt die Tür auf, Bitterle trat ein und sah sich flüchtig um. Außer an den schmalen Fenstern merkte man dem Raum nicht das Alter dieses Gebäudes an.

Der Direktor des Donaufestes, Jens Liebeskind, sommerlich gekleidet in Jeans und hellem Poloshirt, schob seinen Stuhl nach hinten. Er stand auf, beugte sich über den Glastisch, der vor Akten, Schnellheftern und losen Blättern überquoll, und streckte Bitterle die Hand entgegen.

»Herr Kommissar, bitte entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten, aber eine dringende Sitzung im Rathaus«, er drehte die Hände nach außen, »da musste ich teilnehmen. Bitte setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?«

Bitterle ließ sich in den Freischwinger aus Stahlrohr und schwarzem Leder fallen, betrachtete Liebeskind und atmete hörbar aus. »Sie haben mittlerweile gehört, was im Umfeld des Donaufestes passiert ist?«

»Überhaupt nichts Genaues bisher. Nur, dass einer unserer Gastronomen spurlos verschwunden sein soll. Ich habe noch nicht einmal den Namen.«

»Genau deshalb bin ich hier. Ich habe zwar letzten Samstag bei ihm gegessen, aber an den Namen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.«

»Da kann ich Ihnen bestimmt helfen. Ich zeige Ihnen den Lageplan, bitte schauen Sie selbst.« Liebeskind fischte einen dunkelblauen Flyer aus dem Papierstapel neben sich, faltete ihn auseinander und schob ihn über den Tisch. Er hatte ihn so gedreht, dass Bitterle die einzelnen Nummern über den farbigen Kästchen erkennen konnte.

»Hier.« Bitterles Finger tippte zuerst auf den Metzgerturm und fuhr dann weiter bis auf eines der Gastronomiesymbole. »Das war der Stand, an dem ich gegessen habe. Können Sie mir bitte den Namen sagen? Herkunft, Wohnort und so weiter. Das Einzige, an das ich mich noch erinnern kann, ist, dass er ursprünglich aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt und in Ulm wohl noch ein Lokal betreibt, ›Plitschka‹ oder so ähnlich.«

»Sie meinen bestimmt das ›Plitvička‹ in der Friedrichsau, ein bekannter Biergarten, der Milan Zivković gehört, der wiederum während des Donaufestes hier einen Imbissstand gleichen Namens hat. Herr Zivković ist seit Beginn des Donaufestes dabei, und es gab nie irgendwelche – wie soll ich sagen? – Unstimmigkeiten mit ihm. Was ist denn überhaupt passiert?«

»Herr Zivković wurde heute Morgen tot im Einlass des Böfinger Kraftwerks aufgefunden. Bislang deutet vieles auf ein Gewaltverbrechen hin.«

»Mein Gott, das ist ja schrecklich! Wer tut denn so was?«

»Genau das, Herr Liebeskind, versuche ich herauszufinden.« Bitterle hob den Kopf, beugte sich vor und sah den Direktor des Donaufestes an. »Und zwar möglichst schnell, bevor das Fest am Sonntag zu Ende geht und sich alles in sämtliche Himmelsrichtungen zerstreut, darunter womöglich auch Zeugen oder sogar Tatbeteiligte.«

»Verstehe.« Liebeskind schluckte. »Natürlich, dann hoffe ich, dass ich Sie dabei unterstützen kann.«

»Das hoffe ich auch. Zuerst bräuchte ich die Nationalität.«

»Nun, meines Wissens hat er die deutsche Staatsbürgerschaft, stammt aber ursprünglich aus Kroatien.«

»Feinde? Es gibt ja zum Beispiel auch Serben auf dem Fest.«

»Um Gottes willen, Herr Kommissar, wo denken Sie hin? Seit Jahren geben wir uns hier alle Mühe, ein friedvolles Miteinander zu veranstalten, bei dem von allen zehn Anrainerstaaten die große Gemeinsamkeit im Vordergrund steht.«

»Sie meinen die Donau?«

»Ganz genau. Aber nicht nur.«

»Sondern?«

»Eine zehntägige große Feier, bei der Teilnehmer wie Besucher endlich einmal die Probleme, die im jeweiligen Heimatland manchmal vorherrschen, vergessen können.«

Bitterle musste sofort an Ungarn denken, wie dort die einst hart erkämpfte Demokratie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach und nach ausgehöhlt worden war und nun zusammenzubrechen drohte. Und das unter den immer wieder zugedrückten Augen der Europäischen Union.

»Trotzdem. Wir müssen jeder Spur nachgehen, und sei sie auch noch so abwegig.«

»Woran denken Sie?«

»Ich brauche eine Liste sämtlicher Teilnehmer am Donaufest.«

»Gut, da muss ich allerdings bezüglich des Datenschutzes alle Augen zudrücken.«

»Dann tun Sie das bitte, Herr Liebeskind. Uns bleibt nur sehr wenig Zeit. Wenn wir uns nicht beeilen, ist der Täter womöglich über alle Berge. Außerdem lässt sich bis jetzt selbst ein terroristischer Hintergrund nicht ausschließen.«

Liebeskind zerrte am Kragen seines Shirts. Sein Blick huschte unstet im Raum umher, von Bitterle zur Tür und zurück.

»Und zwar nicht nur von diesem Jahr, sondern auch vom letzten. Angefangen bei Deutschland bis runter zur Ukraine. Ich denke, am schnellsten wird uns zudem geholfen sein, wenn Sie mir gleich die Adresse des Toten geben, sowohl die von seinem Lokal als auch die der Wohnung, sowie Festnetz- und Handynummer.«

Liebeskind nickte bedächtig. »Ich glaube, ich habe verstanden.« Er machte sich an der Tastatur auf seinem Schreibtisch zu schaffen. Gleich darauf schob der Drucker mehrere Blätter aus dem Fach. Er reichte sie weiter zu Bitterle, der einen Blick darauf warf, sie mehrfach faltete und in die Tasche stopfte.

Na, geht doch, dachte er und fügte hinzu: »Ich gebe Ihnen die Mailadresse meines Kollegen Lukas Langenwalter. Dorthin schicken Sie bitte sämtliche relevante Dateien.«

»Und bis wann brauchen Sie die?«

»Bis wann? Sie sind gut. Am besten natürlich sofort! Wie gesagt, Herr Liebeskind: Die Zeit drängt! Was glauben Sie, was los ist, wenn da noch etwas hinterherkommt und man dann Ihnen und der Organisationsleitung vielleicht Schlamperei oder sogar Hinhaltetaktik nachsagen wird.«

Das saß! Liebeskind schluckte. »Verstehe. Sie haben die geforderten Daten innerhalb der nächsten Stunden.«

»Gut.« Bitterle sah auf seine Uhr. »Jetzt ist es Viertel vor eins. Um fünfzehn Uhr heute Nachmittag sind die Daten bitte in der Dienststelle in Söflingen. Unser Recherchespezialist wird sich dann darum kümmern. Wird es später, kann ich für nichts garantieren, weder mit Blick auf einen Fortgang des Festes noch auf sich daraus dann womöglich für Sie ergebende Konsequenzen.«

Liebeskind trat der Schweiß auf die Stirn, und irgendwie tat er Bitterle nun doch leid. »Schauen Sie, das ist keine Gängelei unsererseits, sondern wirklich zwingend notwendig, um einen weiterhin ruhigen Ablauf des Donaufestes gewährleisten zu können. Das werden Sie sicher verstehen. Und falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, auch wenn es noch so unwichtig scheinen mag, hier können Sie mich immer erreichen.« Bitterle fingerte eine knittrige Karte aus der Hosentasche und reichte sie Liebeskind. »Zu jeder Zeit!«

Nachdem sich Bitterle verabschiedet hatte, steuerte er wieder die Stufen hinter der Zentralbibliothek an und hockte sich hin. Er fummelte das Papier mit Zivkovićs Geschäfts- und der Privatnummer hervor und wählte. Niemand nahm ab. Weder im »Plitvička« noch in der Wohnung in Böfingen.

Bitterle schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach eins. Er studierte den Lageplan, den er ebenfalls von Liebeskind bekommen hatte, und suchte nach direkten Nachbarn des kroatischen Grillstandes. Schräg gegenüber fand er den Stand eines gewissen Adrian Popescu. Ein Rumäne, der laut Flyer handwerklich gefertigte Lederwaren anbot. Vielleicht hat der etwas gesehen, überlegte Bitterle und wollte sich auf den Weg machen.

Doch kaum dass er stand, meldete sich Julia Michalek auf seinem Handy. »Was gibt’s?«, fragte er knapp.

Die Sekretärin der Dienststelle atmete hektisch und klang besorgt. »Herr Bitterle, hier steht das Telefon nimmer still. Die rennen mir quasi die Bude ein. Ich hab nimmer gewusst, was ich machen soll, da dacht ich, Sie täten am besten selber mit den Leuten reden.«

»Mit welchen Leuten?«

»Presse, Rundfunk, Fernsehen. Im Internet geht wohl das Gerücht rum, dass ein Standbetreiber vom Donaufest tot ist, und alle wollen jetzt wissen, was passiert ist und ob eine Gefahr für die Donaufestbesucher besteht.«

»Himmelherrgottsakrament aber auch! Bleibt mir denn gar nichts erspart?« Bitterle fluchte so laut, dass Passanten stehen blieben und sich nach ihm umdrehten. Er wünschte sich, Kriminalrat Dr. Hinrich Sprekel wäre anwesend und würde sich nicht im Chiemgau auf einem Golfturnier rumtreiben. Immer wenn man diesen Pfau mal brauchte, war er nicht da! Bitterle kratzte sich am Nacken und wischte sich den Schweiß an der Hose ab. »Und jetzt?«

»Ich hab denen gesagt, sie wären um halb zwei im Neuen Bau und würden die Fragen beantworten.«

»Wie bitte?« Bitterle sah auf seine Uhr. »Das ist ja schon in zwanzig Minuten!«

»Ja, ich weiß. Tut mir auch wirklich leid. Aber was hätte ich denn machen sollen?«

»Was ist mit Lukas?«

»Der ist schon unterwegs und hat gemeint, er würde alles so weit organisieren. Bestimmt ist er schon da.«

Langsam beruhigte sich Bitterle, denn ihm wurde mal wieder klar, dass auf die Michalek Verlass war – immer! Und dass sie ihm, so weit wie möglich, Steine aus dem Weg räumen würde, selbst wenn es Felsbrocken waren. »Also gut. Vielen Dank, dass Sie sich darum gekümmert haben.« Damit drückte er das Gespräch ohne weiteren Kommentar oder Abschied weg. Ihm blieben noch fünfzehn Minuten.

Auf dem Weg zum Ulmer Polizeipräsidium, diesem wuchtigen, hohen Backsteinbau südlich des Münsterplatzes, fragte sich Bitterle, wo das Informationsleck zu suchen war. Spontan fielen ihm nur die Taucher vom THW ein. Saubande, dachte er. Schon von Weitem sah er nun die Kombis der Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie die kleinen Stadtflitzer der lokalen Presse, als er von der Neuen Straße aus durch den Torbogen trat.