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In der Stille einer Kirche stolpert der süditalienische Auswanderersohn Achim Crocco über das Geheimnis einer Toten und taucht in eine Welt ein, die seine Vergangenheit aufwühlt. Er ist gezwungen, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen – einer Geschichte von Verlust, Identität und der Suche nach Zugehörigkeit. In den Echos der alten Kirche findet Achim nicht nur die Spuren seines Vaters, sondern auch die Pfade zu seiner eigenen Wahrheit. Eine Hommage an diejenigen, die zwischen zwei Welten leben und die Schönheit in der Konfrontation mit dem Unbekannten finden.
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Seitenzahl: 343
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Für Sandra
Personen in diesem Roman
Anglona
Nicolò und Mario
Vivian
Das Foto
Don Natale
Julia
Nachsicht
Giovanni
Raffaella
Die Hühner
Salvatore
Carmine Filipo
Policoro
Angela
Achims Kinderzimmer
Mutter und Tochter
Angelas Wunsch
Die Erbin
Coverciano
Vito
Rosaria
Fragen über Fragen
Helenes Auftrag
Giuseppina und Nicolò
Pantaleos Onkel
Heimweh
Giovannis Weg
Zio Mauro
Brescia
Seltsame Ideen
Claudios Brief
Rückkehr
Emiliana und Ernesto
Mandelbäume
Das Erbe
Regina di Anglona
Costanzas Grab
Laura
Glossar
Achim Crocco
Sohn eines Lukaners und einer Deutschen, 61-jährig. Wohnt abwechselnd in Heidelberg und Guardia Perticara sowie teilweise in Baltimore und Coverciano
Costanza Gentile
Die Tote von Anglona, 83-jährig. Wohnt in Policoro, benutzt noch das Elternhaus in Anglona. Wittwe von Gianfranco Pierro. Schwester von Claudio und Paolo Gentile
Nicolò
Achims Freund stammt aus Guardia Perticara
Mario
Nicolòs Neffe ist ein Bauer in Guardia Perticara
Vivian Crocco
Achims Ehefrau ist ordentliche Professorin für Molekularbiologie an der John Hopkins University in Baltimore
Robin Crocco
Achims und Vivians Sohn
Jessica Crocco
Achims und Vivians Tochter
Don Natale
Priester in Policoro
Gianfranco Pierro
Costanzas Ehemann starb fünf Jahre vor ihr
Paolo Gentile
Costanzas älterer Bruder ist nach Deutschland ausgewandert, hat eine Deutsche geheiratet und ist bereits gestorben
Claudio Gentile
Costanzas jüngerer Bruder ist mit Paolo zusammen nach Deutschland ausgewandert, später nach Südamerika. Ist seither verschollen
Markus Gentile
Paolos einziger Sohn lebt bereits nicht mehr
Giovanni Crocco
Achims Vater, geboren in Campomaggiore, ist nach Deutschland ausgewandert und hat eine Deutsche geheiratet: Angela
Angela Crocco
Achims Mutter lebt immer noch in Bochum
Albino Pierro
Gianfrancos Cousin. Als einzige Figur in diesem Roman ist Albino Pierro nicht erfunden. Der Dichter hätte beinahe den Nobelpreis für Literatur gewonnen
Julia Gentile
Ehefrau von Markus
Mauro Crocco
Giovannis Bruder lebt in Brescia, wohin er mit seinen Eltern als Dreizehnjähriger ausgewandert war
Raffaella Varasano
Costanzas Nachbarin in Policoro
Salvatore
Costanzas Jugendfreund wohnt in der Nachbarschaft des Elternhauses von Costanza
Pietro Gentile
Der Vater von Costanza ist im zweiten Weltkrieg gefallen
Maria Ginnari
Costanzas Mutter lebte über 35 Jahre allein in dem Haus, das Pietro von seinen Eltern geerbt hatte
Giuseppina
Nicolòs Ehefrau
Vito Di Perna
Giovannis Jugendfreund ist mit ihm zusammen nach Deutschland ausgewandert. Ist als Rentner zurück nach Campomaggiore
Helene Müller
Tochter von Markus und Julia Gentile
Maria Di Stefano
Vitos Ehefrau
Davide Crocco
Giovannis Vater, Achims Grossvater
Giuseppe, Antonio und Francesco
Vitos Freunde in Campomaggiore
Rosaria
Giovanni Croccos Cousine wohnt in seinem Haus in Campomaggiore
Pina, Marco, Giorgio
Rosarias Kinder
Lucia
Giorgios Ehefrau
Renata
Onkel Mauros Ehefrau
Mirabella
Marios Ehefrau
Pantaleo Zotta
Wanderte mit Giovanni Crocco und Vito Di Perna nach Deutschland aus
Emiliana und Ernesto
Sind gleichzeitig Bekannte von Costanza Gentile, Gianfranco Pierro und von Maria und Vito
Julian Müller
Helenes Ehemann
Laura und Ludwig
Helenes und Julians Kinder
Als er näher trat, wurde Achim klar, dass die Frau tot war. Er blieb wie versteinert stehen, sein Atem stockte. Er hatte sie bereits bemerkt, als er die Kirche betreten hatte. Sie hatte nicht reagiert, trotz des lauten Quietschens der Tür. Er hatte angenommen, sie sei im Gebet versunken. Nachdem er die Türe behutsam geschlossen hatte, damit sie nicht knallend ins Schloss zurückfiel, hatte er möglichst geräuschlos begonnen, von hinten nach vorn die Kirche zu besuchen. Er betrachtete sie mit dem Blick, den er jahrzehntelang als Historiker geschärft hatte, und vergaß dabei die Zeit. Aus beruflichen Gründen war er an die schweren Ölbilder der toskanischen Kirchen gewohnt, die Erfahrung im Umgang mit Fresken aus dem 11. und 12. Jahrhundert fehlte ihm. Er wusste, dass die rote Farbe damals nicht mit Vorliebe benutzt wurde, sondern dass sie lediglich weniger schnell verblasste als andere Farben. Die Fresken der Kirche enthielten sehr viel Rot, ein Zeichen, dass sie seit langer Zeit unverändert und nicht renoviert waren. Seine schwarze Schutzmaske hatte er erst aufgesetzt, als er sich der Frau bis auf wenige Meter genähert hatte.
Sie saß in der siebten Reihe, den Blick nach vorne zur Madonna gerichtet. Sie war alt, mindestens achtzigjährig, klein, drahtig und runzelig wie viele alte Frauen in der Gegend. Der kleine Körper war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Ihre hellblaue Schutzmaske hatte sie neben sich auf die Bank gelegt, griffbereit. Achim fielen zwei dünne helle Linien auf ihren Wangen voller Falten auf, die von den Augen bis zum Kinn reichten, wo sie abrupt endeten – sie hatte geweint. Er nahm an, dass sie noch nicht lange tot war. Achim atmete schwer und bekam einen Schweißausbruch. Er riss sich die Schutzmaske so heftig vom Gesicht, dass sie sich teilte. «Nichts anrühren!» war sein erster Gedanke. «Ich muss jemanden benachrichtigen», dachte er als Zweites. Er griff zu seinem Handy, überlegte, welche Nummer er anrufen musste, und entfernte sich dabei von der Toten. In ihrer Nähe zu telefonieren, fand er unpassend.
Achim verließ die Kirche. Einen Polizeiposten gab es hier im Nirgendwo nicht, also nahm er an, dass die Carabinieri zuständig waren. Es war 10 Uhr vormittags und bereits sehr warm an diesem Augusttag, deutlich über dreißig Grad. Er stellte sich deshalb in den Schatten des Vordachs des Kirchenportals. Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab. Achim lief gestenreich im Schatten des Vorbaus umher, während er kurzatmig schilderte, was er wo angetroffen hatte.
Der Mann am Telefon überraschte ihn mit der Frage, ob er bleiben könne, bis eine Streife käme. Er versprach dazubleiben und fragte sich gleichzeitig, was die Frage sollte. Er bekam ein ungutes Gefühl, sein Magen rebellierte. «Sie haben ja meinen Namen, meine Handynummer, wissen, woher ich angerufen habe. Die würden mich eh finden, wenn noch was wäre.»
Achim bekam schlotternde Knie. Wo war er da hineingeraten? Er wollte doch nur diese Kirche besuchen! Er setzte sich auf das Mäuerchen zwischen der Kirche und dem linken Pfeiler des Eingangsbogens des Portals, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch. Es roch intensiv nach Kräutern. Er konnte Rosmarin und Thymian erkennen. Und noch einen Geruch, den er nicht zuordnen konnte. Erst jetzt realisierte er das laute Zirpen der Grillen. Ein trockener, warmer Westwind blies die Hitze zu ihm.
Er wusste nicht wieso, aber er wollte die alte Frau nicht allein lassen. Er lief zu seinem Auto unter den Bäumen, verstaute seine Fotoausrüstung auf den Fußboden hinter dem Fahrersitz und nahm eine neue Schutzmaske, bevor er wieder zur Basilika Santa Maria di Anglona zurücklief. Obwohl ihm dabei nicht wohl war, betrat er die Kirche erneut. Die Eingangstüre öffnete er langsam, konnte aber das Quietschen auch diesmal nicht verhindern. Die Tote saß immer noch so, wie er sie gefunden hatte. «Müsste sie nicht auf die Seite kippen?», fragte sich Achim. Sich in ihre Nähe zu setzen, fand er respektlos. Dennoch musste er irgendwo auf die Carabinieri warten. Zuerst versuchte er es weiter hinten auf der linken Seite des Mittelgangs, kam sich dabei aber so vor, als würde er die Besichtigung der Kirche fortführen – ein seiner Ansicht nach ebenso taktloses Verhalten. In der Kirche herrschte Totenstille.
Er setzte sich an verschiedenen Stellen, aber egal wohin er sich setzte, wohl war ihm dabei nicht. Zumindest bis er letzten Endes vor dem Altar saß und sich im Blickfeld der Toten befand. «Die Frau war wohl im Gespräch mit der Madonna oder mit Jesus am Kreuz gewesen, als sie starb», dachte er sich. Aus sicherer Distanz betrachtete Achim die Frau genauer. Ihre mehrheitlich grauen, teilweise weißen Haare waren kurz geschnitten, nicht sehr kurz, so dass sie nach hinten gekämmt werden konnten. Von seinem Platz aus konnte es Achim nicht mit Sicherheit sagen, aber er hatte den Eindruck, dass die Haare höchstens bis zum Nacken reichten. Er stand auf und schaute nach. Was er für einen Schal gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Kopftuch. Sie trug es aber auf den Schultern und Achim konnte feststellen, dass seine Vermutung über die Haarlänge richtig war. Sie war eine alte, trauernde Frau, wie es Tausende in der Basilikata gab. Achim fragte sich, wieso das Kopftuch auf den Schultern lag. Er ging zurück und setzte sich wieder vor den Altar. Sein Versuch zu erahnen, mit wem die Frau im Gespräch war, scheiterte. Die Madonna, die dieser Kirche ihren Namen gab, stand keine zwei Meter links von ihm und hinter ihm hing Jesus an einem riesigen braunen Kreuz, das in der Luft zu schweben schien, aber von einer schweren Metallstange gehalten wurde, die zwischen den Wänden des Altarraums gespannt war. Achim war überzeugt, dass die Frau entweder mit der Madonna oder dem Gekreuzigten sprach, als sie starb. Woher diese Überzeugung kam, war ihm nicht klar. Er schnaubte verächtlich. Ein Bauchgefühl nicht mit Logik und Verstand erklären zu können, ließ ihn nie in Ruhe. Er musste immer die logische Erklärung finden, auch jetzt. Achim starrte die Frau an, als ob er sie zu einer Reaktion zwingen könnte.
Sie hatte ein Gesicht wie so viele Frauengesichter in der Gegend, gleichmäßig, wenn auch mit etwas groben Gesichtszügen, weshalb Achim sie nicht als eine Schönheit bezeichnet hätte. Auf der blassen Haut hatte er Altersflecken unterschiedlicher Größe gesehen. Das Gesicht wirkte angespannt, wie von einer inneren Wut befallen. Er war überzeugt, dass sie dunkelbraune Augen hatte, allerdings konnte er das nicht überprüfen, da die Augen geschlossen waren. Sicher konnte er sich nicht sein, denn blaue Augen waren in diesem Teil von Süditalien nicht selten, eine genetische Spur der Griechen, Normannen und Deutschen, die vor Jahrhunderten das Land beherrschten.
Er war immer noch in Gedanken versunken, als zwei Carabinieri die Kirche betraten. Achim schaute auf, als das Quietschen der Tür ertönte. Die Türe fiel knallend hinter den Carabinieri ins Schloss, es hallte durch die ganze Kirche. Der eine war ein junger, hagerer Großer mit einer sehr geraden Haltung, der andere ein etwas rundlicher Kleinerer, ungefähr fünfzig. Sie trugen die Uniform ohne Jacke, den weißen Säbelgürtel quer über das blaue Kurzarmhemd. Ihre Schutzmasken waren normale hellblaue Handelsmasken, die sie bereits aufgesetzt hatten. Beim Betreten der Kirche nahmen sie die Mützen und Sonnenbrillen ab und bekreuzigten sich. Die Schritte der Militärstiefel schlugen auf dem Steinboden auf und störten dadurch den Frieden, der in der Kirche geherrscht hatte.
«Sind Sie Signor Crocco?», fragte der Ältere beim Nähertreten mit einer tiefen, sonoren Stimme, die viel zu laut wirkte.
Achim wartete, bis die beiden in seiner Nähe waren, bevor er die neue Schutzmaske anzog und aufstand. Er musste sich beim Aufstehen auf die linke Hand abstützen, denn seine Beine waren fast eingeschlafen. Mit einer raschen Bewegung putzte er den imaginären Staub von seiner beigen Hose ab und lief die fünf Stufen zu den Carabinieri hinunter. Diese wichen einen Schritt zurück, als er sich vor die beiden stellte, denn Achim überragte auch den Größeren um einen halben Kopf. Achim fiel das nicht auf, denn er war es mit seinen ein Meter dreiundneunzig gewohnt, dass er größer als die meisten Menschen war. In Deutschland waren die meisten Menschen kleiner als er, hier in Süditalien eigentlich alle.
«Ja, ich bin Achim Crocco», sagte er nun endlich mit gedämpfter Stimme.
Achim sah dem Mann trotz Schutzmaske die Verwunderung an, dass er wirklich gewartet hatte. «Haben Sie die Frau gefunden?», fragte der Mann unnötig laut.
Die Frage setzte Achim unter Anspannung. Er versuchte ruhig zu wirken, als er auf die Frau zeigte. «Ja, ich habe sie dort gefunden, wo sie immer noch ist.»
Er schaute Richtung Eingangstüre und zeigte mit einer Armbewegung, wo er durchgegangen war, bis er beim Nähertreten gemerkt hatte, dass sie tot war. «Ich habe sie schon beim Betreten der Kirche gesehen. Sie hat nicht reagiert, als ich reingekommen bin und die Türe gequietscht hat. Ich nahm an, sie habe es nicht bemerkt, weil sie im Gebet versunken sei. Ich habe die Kirche besichtigt, die Fresken und so, und erst als ich in ihrer Nähe war, fand ich es komisch, dass sie immer noch nicht reagierte. Also bin ich zu ihr gegangen und ich weiß nicht wieso, aber es war für mich sofort klar, dass sie nicht mehr lebte. Dann habe ich Sie gleich angerufen.»
Der jüngere Carabiniere war wirklich noch ziemlich jung, mindestens zwanzig Jahre jünger als der andere. Achim schätzte ihn auf fünfundzwanzig Jahre, aber mit den Schutzmasken war es nicht so einfach, das Alter eines Gesichts zu schätzen. Die stramme Haltung und die sehr kurzen Haare fand Achim mehr lächerlich als bedrohlich. Sein Tonfall war harsch, als er das Wort ergriff, aber er hatte seine Lautstärke im Griff. «Ich habe Ihren Vornamen am Telefon nicht verstanden?»
«Achim ist die deutsche Version von Gioacchino», antwortete Achim geduldig. Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Vornamen erklären musste. Zu seiner Überraschung musste der ältere Carabiniere schmunzeln. «Jetzt verstehe ich, wieso Sie die Carabinieri angerufen haben!»
Achim schaute ihn fragend an. Der Carabiniere erklärte mit einem kurzen Schulterzucken: «Ein Einheimischer hätte nach dem Priester gesucht oder sonst jemandem von der Kirche. Der Priester hätte dann die Carabinieri angerufen. Vielleicht!»
Achim entspannte sich nicht, obwohl die Aussage ja auch bedeutete, dass man ihm nicht ansah, dass er Deutscher war. Schließlich war er genauso Süditaliener und reagierte oft eingeschnappt, wenn man ihn in der Basilikata als Fremden bezeichnete.
Der ältere Carabiniere war ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen. Ein kleiner Mann mit deutlichem Übergewicht, dem Essen und Trinken nicht abgeneigt, mit misstrauischem Blick. Militärfrisuren mochte Achim sowieso nicht, egal ob blond oder pechschwarz wie bei diesem Mann. Von Uniformen ganz zu schweigen. Zumal der Mann stark schwitzte. Große dunkle Schweißflecke hatten sich unter den Achselhöhlen gebildet.
«Kennen Sie die Frau?», fragte der ältere Carabiniere nun mit angemessener Lautstärke. Obwohl er viel kleiner als Achim war, schien es ihm nichts auszumachen, dass er den Blick nach oben richten musste, um Achim ins Gesicht zu schauen. «Vielleicht will er nicht weiter hinten stehen als sein jüngerer Kollege», ging Achim durch den Kopf.
Leider stand der Carabiniere so nah, dass der beißende Geruch des Schweißes Achim zu einem Nasenrümpfen verleitete. Immerhin wurde sein Puls langsam wieder normal. Er schüttelte zunächst den Kopf, ehe er hinzufügte: «Nein, die Frau kenne ich nicht. Ich bin das erste Mal hier. Ich bin als Tourist unterwegs und wollte diese Basilika besuchen, weil sie mir empfohlen wurde. Ich habe diese Frau vorher noch nie gesehen.»
Der jüngere Carabiniere hatte sich in der Zwischenzeit der Leiche genähert und rief seinen Kollegen zu sich: «Das sieht nicht nach einem gewaltsamen Tod aus, Michele. Man könnte meinen, sie sei beim Beten gestorben.»
«Bist du nun auch noch Gerichtsmediziner, oder was?» Der ältere Carabiniere stampfte zu seinem Kollegen und nahm die Leiche selbst in Augenschein. Achim lief es kalt den Rücken hinab. Die Carabinieri hatten an einen gewaltsamen Tod gedacht und ihn verdächtigt! Fast wäre er nun selbst wütend geworden, aber bevor er etwas sagen konnte, gab der ältere Carabiniere dem jüngeren schon Anweisungen: «Sie muss in die Gerichtsmedizin, organisiere den Transport! Danach kannst du die Personalien von Herrn Crocco aufnehmen. Er darf danach gehen. Ich suche den Priester.»
Der ältere Carabiniere verabschiedete sich wortlos von Achim mit einem militärischen Gruß aus drei Fingern an die Stirn. Der Jüngere kramte sein Handy hervor und lief dem anderen hinterher. Achim schaute den beiden Carabinieri verdutzt nach. Der Ältere hielt seinem Kollegen nicht einmal die Türe offen, so dass dieser einen Zwischenspurt einlegte, um die Türe aufzufangen, bevor sie schloss.
Achim musste sich setzen. Ohne zu überlegen, nahm er auf derselben Kirchenbank wie die Tote Platz. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, er verstand nicht, was da vor sich ging. Er musste grinsen, als er sich selbst die Frage stellte, was um Himmels willen da los sei. Er, der nüchterne Historiker, der nur bei besonderen Anlässen zur Messe ging, hatte «um Himmels willen» in einer Kirche gedacht. Er ermahnte sich, nicht paranoid zu werden. Nach einigem Abwägen kam er zum Schluss, dass er vertrauenswürdig war, weil er angerufen und gewartet hatte. Deshalb ließen ihn die Carabinieri allein mit der Toten warten.
Der jüngere Carabiniere ließ die Türe wieder zuknallen, als er die Kirche betrat, steckte sein Handy in die Brusttasche seines Hemds, nahm die Sonnenbrille und die Mütze ab, zog die Schutzmaske über die Nase und bekreuzigte sich nochmals. Achim stützte sich mit den Händen an der Rückenlehne der vorderen Sitzreihe ab und stand schwerfällig auf.
«Gut, nun zu Ihnen. Ich brauche Ihren Vornamen, Namen, Ihre Adresse und Telefonnummer!», sagte der Carabiniere wieder in diesem harschen Tonfall, als er bei Achim angelangt war. In dem Moment realisierte Achim, dass sich die beiden gar nicht mit Namen vorgestellt hatten. Der junge Carabiniere holte ein schwarzes Notizblöckchen hervor, an dem ein kleiner blauer Kugelschreiber in die Spiralen gesteckt war. Er suchte eine leere Seite und begann zu schreiben.
Achim schaute zu, wie der Carabiniere aufschrieb, als er diktierte: «Achim Crocco, Achim schreibt sich A, C, H, I, M.»
Der Carabiniere wiederholte jeden Buchstaben und überraschte Achim mit einer seltsamen Frage: «Crocco wie der Brigant, sind Sie ein Nachfahre?»
Aufgrund der Gesichtszüge, der groben Nase, die nicht wirklich in das hagere Gesicht passte und nur knapp von der Schutzmaske bedeckt wurde, der schwarzen Haare, dem dunklen Ton der Haut und den dunkelbraunen Augen, nahm Achim an, der Mann sei möglicherweise ein Einheimischer. Wieso würde er sonst den Brigantenanführer kennen? Der junge Carabiniere fasste nach: «Sind Sie ein Nachfahre des Briganten Carmine Crocco?»
«Nicht, dass ich wüsste. Meine Adresse lautet Via Armando Diaz 10, Guardia Perticara.»
«Wieso Guardia Perticara, die Familie Crocco ist doch aus Rionero?» Der Carabiniere blickte erstaunt drein. Von seiner strammen Haltung war nichts mehr übriggeblieben. Jetzt war er plötzlich ein netter junger Mann, der sich für sein Gegenüber interessierte.
Achim wusste nicht recht, was er antworten sollte. Wieso sollte er in Rionero del Vulture wohnen? Nur weil ein berühmter Namensvetter vor über hundert Jahren dort gelebt hatte? Er versuchte gar nicht erst zu erklären, wieso er nicht dort wohnte. «Ich habe viele der ‹borghi più belli d’Italia› besucht und Guardia Perticara hat mir besonders gefallen», erklärte er schulterzuckend.
«Schön ist Guardia Perticara in der Tat. Etwas abgelegen, aber schön», bestätigte der junge Carabiniere mit einem Kopfnicken.
Nachdem er noch seine Handynummer hinterlassen hatte, durfte Achim gehen. Mit langen Schritten verließ er die Kirche so schnell er nur konnte. Die Türe ließ auch er zuknallen, zuckte wegen des Knalls zusammen und murmelte eine Entschuldigung. Unter dem Portal zog er die Schutzmaske ab und musste tief durchatmen. Er war völlig durcheinander. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er pflichtbewusst angerufen hatte. Er lief weiter zum Parkplatz. Die Carabinieri hatten ihren Alfa Romeo 159 hinter seiner roten Giulia Veloce im Schatten der Bäume entlang der Straße geparkt. Der eigentliche Parkplatz bot keine Beschattung, ein Auto auf dem Parkplatz wäre rasch zum Backofen geworden. Als er die Autotür öffnete, stutze Achim und blickte sich um. Wenn nur sein Auto und das der Carabinieri hier standen, wie war die Frau hierhergekommen? Abgesehen von der Kirche stand hier oben nur ein Gebäude, ein gelbverputztes Haus mit großen Fenstern direkt neben der Kirche. Wohnte die Frau etwa dort? Für eine Sakristanin war sie zu alt.
Er zog es vor, möglichst schnell Distanz zwischen sich und den Carabinieri zu schaffen, stieg in sein Auto und fuhr geradeaus los. Zwei Straßen führten vom Hügel der Basilika hinunter und Achim nahm die Richtung Policoro, weil er in der Aufregung nicht daran dachte, dass er mit einem Wagenwenden über die Straße wegfahren konnte, die er bei der Hinfahrt benutzt hatte. Zwischen dem Weiler und der Basilika standen keine Häuser, schattenspendende Bäume gab es nur um die Kirche herum. Der größte Teil der Straße zum Weiler lag in der Sonne, zudem betrug der Höhenunterschied etwa hundert Meter. Wer steigt bei dieser Hitze vom Weiler aus zu Fuß zur Basilika hinauf? Im Weiler Anglona bog er Richtung Tursi ab.
In Guardia Perticara fand er einen Parkplatz in der Via San Lorenzo ganz in der Nähe zur Treppe, die zwischen zwei Häusern zur Via Armando Diaz führte. Nach dem großen Erdbeben von 1980 war jemand auf die grandiose Idee gekommen, Altes nicht durch Neues zu ersetzen, sondern das Alte hervorzuheben und in Wert zu setzen. Nur wenige Häuser im alten Dorfkern waren außen verputzt, die anderen offenbarten die Steine, aus denen die Häuser gebaut waren. Guardia Perticara wurde deshalb auch ‹il paese della pietra› genannt, das Dorf des Steines. Die Häuser waren ineinander verschachtelt und schützten sich so im Winter gegenseitig vor der Kälte und im Sommer vor der Hitze. Achims Haus war angenehm kühl, als er die Eingangstüre öffnete und direkt ins Esszimmer trat.
Er stellte die Fotoausrüstung auf den Tisch und lief weiter zur Küche. Achim hatte bei der Renovierung des Hauses die Wand zwischen dem Esszimmer und der Küche entfernen lassen. Weil die Mauer aus statischen Gründen nicht vollständig entfernt werden konnte, bildeten Mauerreste einen Bogen, der dem Raum einen rustikalen Charme verlieh. Ein Fenster zum Tal und eins zur Straße hin ließen recht wenig Tageslicht ins Erdgeschoss eindringen, weshalb Achim alle Wände weiß streichen ließ.
Der Nachmittag war angebrochen und Achim hatte keine Lust, noch etwas zu unternehmen. Die Salsiccia aus dem Proviant schnitt er in runde Scheiben und legte sie zusammen mit den zwei Panini auf den Tisch, die er ebenfalls als Proviant vorgesehen hatte. Die Oliven und die getrockneten Tomaten räumte er wieder in den Kühlschrank.
Er bereitete sich einen Teller Insalata Caprese zu, Mozzarella und Tomaten hatte er am Vortag gekauft. Er liebte das Gericht mit frisch gemahlenem Pfeffer. Er tropfte ein wenig vom Olivenöl der letztjährigen Ernte seiner Familie über die Tomaten und den Käse, zupfte ein paar Blätter des Basilikums in einem Topf, die sofort einen starken Geruch verströmten, und legte sie darüber. Nach einigem Hin und Her entschied er sich für ein Glas Falanghina von Terredora Di Paolo. Etwas Alkohol konnte er wirklich vertragen.
Da es draußen auf der Terrasse viel zu warm war, entschloss er sich, im Esszimmer zu essen. Achim setzte sich wie immer ans Tischende zur Küche hin, mehr aus Bequemlichkeit, um den Weg zur Küche kurz zu halten, als aus dem Bedürfnis heraus, Eintretende zu sehen, ohne sich umdrehen zu müssen. In Gedanken versunken aß er, ohne das Essen zu beachten, und betrachtete das Bild, das ihm gegenüber an der Wand hing. Mit dem Bild hatte er die Lücke zwischen der Eingangstüre und dem vergitterten Fenster zur Straße hin gefüllt. Wie überall im Haus war es eine Fotografie, die Achim selbst gemacht, selbst entwickelt, vergrößert und eingerahmt hatte. Sie zeigte ein eingefallenes Bauernhaus außerhalb von Campomaggiore, dem Geburtsort seines Vaters. Achim hatte das Foto bewusst schwarzweiß entwickelt, obwohl es nur drei Jahre alt war. Es symbolisierte für ihn eine Vergangenheit, die nicht wiederhergestellt werden konnte. Nach dem ersten Glas Weißwein trank Achim Wasser ohne Kohlensäure.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er alles gegessen hatte. Achim räumte das Geschirr in den Geschirrspüler und holte seine kleine Bialetti-Espressokanne hervor. Er leistete sich zwei verschiedene Kaffeesorten, Illy Espresso einerseits und Lavazza Suerte anderseits. Er entschied sich für den starken Lavazza. Als er wieder Platz nahm und das Bild erneut betrachtete, merkte er, dass er nicht mehr wusste, worüber er beim Essen nachgedacht hatte. Er schüttelte verwundert den Kopf.
Hier in der Basilikata hatte Achim keine Klimaanlage, im Gegensatz zu seiner Wohnung in Coverciano, dem Außenbezirk von Florenz. Dank der Bauweise des Hauses konnte er sein Mittagessen drinnen bei angenehmen Temperaturen einnehmen. Die Terrasse hatte zwar eine schattige Ecke dank einer Pergola, aber auch in deren Schatten war es viel zu heiß, um sich dort am frühen Nachmittag aufzuhalten. Achim liebte diese Terrasse, deren einziger Nachteil die Distanz zur Küche war. Vergaß er etwas in der Küche, musste er einige Treppen laufen.
Weil er sein eigentliches Tagesziel, diese Basilika zu besuchen, nicht erreicht hatte, eine ehemalige Kathedrale, eine Bischofskirche, die einsam auf einem Hügel stand, beschloss er, am nächsten Tag wieder hinzufahren. Achim hasste es, wenn er bei der Umsetzung seiner Pläne behindert wurde. Da seine Familie wegen der Pandemie in den USA blockiert war, wollte er die Zeit nutzen und diese Region entdecken, die ihm sein Vater nie gezeigt hatte.
Achim reiste nach dem Tod seines Vaters erstmals in die Basilikata. Sein Vater wanderte Ende der 50er Jahre nach Deutschland aus, heiratete eine Deutsche und ging nie mehr in die Basilikata zurück. Da Achims italienische Großeltern nur wenige Jahre später nach Norditalien zogen, war er mit seinen Eltern zwar häufig nach Italien gereist, aber nie bis ganz in den Süden. In der Basilikata gebe es nichts zu sehen, das sei eine Gegend ohne Zukunft, hatte sein Vater immer behauptet. Zu seinem Erstaunen hatte Achim ein Haus und Land in Campomaggiore geerbt. Als er im Sommer nach dem Tod seines Vaters zusammen mit seiner Familie in den Süden fuhr, entdeckte er etwas ganz anderes als die Basilikata, die sein Vater beschrieben hatte.
Diese Erfahrung hatte ihn massiv verwirrt. Nur die langen Gespräche mit seiner Frau Vivian hatten ihm geholfen, zu verstehen, was die Verwirrung auslöste. Ohne ihre sachliche, methodische Art, Probleme zu lösen, hätte er nie akzeptiert, dass er die Basilikata mit ganz anderen Augen als sein Vater anschaute. Für seinen Vater war die Perspektivlosigkeit maßgebend, die nicht nur ihn, sondern auch seine Eltern zur Auswanderung gezwungen hatte. Als Historiker sah Achim den historischen Reichtum der Region. Vivian hatte seine ablehnende Haltung seinem toten Vater gegenüber mit einem einzigen Satz gebrochen: Steine ernähren nicht, Achim, außer man ist Historiker!
Sein Interesse für die Vergangenheit weckte in ihm einen Drang, Zugang zur Heimat seiner Vorfahren zu finden. Sein Freund Nicolò half ihm dabei. Vor rund zwanzig Jahren hatte ihm jemand Nicolò mit der Begründung vorgestellt, Nicolò sei Lukaner wie er. Damals war Nicolò noch berufstätig, hatte seine Existenz in der Toskana aufgebaut, aber sein Herz war immer in der Heimat geblieben. Obwohl beide inzwischen achtzigjährig waren, kamen seine Frau und er jeden Sommer zurück ins Dorf. Von ihm wusste Achim, dass Guardia Perticara zu den schönsten Dörfern Italiens gehört, und hatte ihm versprochen, einmal zu kommen. Dieses Versprechen löste Achim bei seiner ersten Reise in die Basilikata ein.
Achim versuchte sich mit einer Siesta zu entspannen. Er hatte diese süditalienische Angewohnheit übernommen, die heißen Stunden mit Entspannung und Schlaf zu überbrücken, seit er den Sommer in der Basilikata verbrachte. Er wälzte sich in seinem Bett, fand keinen Schlaf, stand auf, ging zur Toilette, kam zurück, legte sich wieder hin und fand immer noch keine Ruhe. Er wechselte in das Wohnzimmer, das gleichzeitig sein Arbeitszimmer war, und setzte sich auf das Sofa. Er wollte sich mit jemandem austauschen, aber hier im Dorf machten alle Siesta und seine Frau in Baltimore war noch bei der Arbeit. Der Gedanke an die allabendliche Videokonferenz mit seiner Frau beruhigte ihn etwas. Er nahm ein Buch zur Geschichte der Basilikata, begann zu lesen und schlief ein.
Am frühen Abend erzählte er Nicolò und Mario, was passiert war. Sie saßen auf den Plastikstühlen neben dem Denkmal für die Gefallenen auf dem Platz, der offiziell Piazza Vittorio Veneto hieß, aber von allen ‹al ponte› genannt wurde. Achim hatte nie danach gefragt, war aber überzeugt, dass hier früher eine Brücke über einen Graben in den ältesten Teil des Dorfes führte.
Achim saß mit dem Rücken zum Denkmal. Einerseits weil er Denkmäler für Gefallene auf einem Dorfplatz als etwas Grässliches empfand. Anderseits auch, weil es ihn nervte, dass es auf einem Aufbau aus roten Ziegelsteinen stand. Die Terrasse war quadratisch, eine geometrische Figur, die im Dorf sonst kaum vorkam, und von einer Mauer aus denselben roten Ziegeln umsäumt, die dem Denkmal als Sockel dienten. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, nicht die gleichen Steine wie sonst im Dorf zu verwenden – Achim hätte ihn am liebsten erwürgt. Die Aussicht von der Terrasse aus war allerdings sehr schön und nachts konnte man oft die Stichflamme des großen Erdölfelds Tempa Rossa hinter dem ersten Hügelzug Richtung Norden sehen.
Das Erdöl war eine Quelle vieler Spannungen in der kleinen Dorfgemeinschaft. Während für die Befürworter die Hoffnung auf Arbeitsplätze entscheidend war, sahen die Gegner vor allem die Gefahren. Achim hatte überrascht feststellen müssen, dass damit nicht nur die Gefahren für die Umwelt gemeint waren. Viele fürchteten, dass das Geld mafiöse Organisationen anlocken könnte. Bisher war diese Gegend vom organisierten Verbrechen verschont gewesen, weil sie zu arm und damit unattraktiv für die Mafia war. Die Spannungen wegen des Erdöls waren harmlos im Vergleich zu einem anderen Thema, welches wirklich spaltete: die Sondermülldeponie für den Abfall aus der Erdölförderung. Sie stand nur wenige hundert Meter vom Dorf entfernt und der Betreiber wollte sie mit der Unterstützung der regionalen Regierung zur größten Sondermülldeponie Europas ausbauen. Die Meinungen waren gemacht, die Lager unversöhnlich. Achim hatte nur Kopfschütteln ausgelöst, als er gesagt hatte, das Problem sei doch nur, dass die Deponie viel zu nahe am Dorf sei, man solle sie doch weiter weg bauen. Niemand mehr wollte mit ihm über die Deponie reden und alle sprachen nur noch in Dialekt darüber, damit er nichts verstand. Erst als er der Bürgerbewegung Salva Guardia beitrat, die die Deponie bekämpfte, löste sich die Ablehnung auf. Für die Befürworter war er zwar ein Gegner, aber immerhin einer mit der sympathischen Haltung, nicht komplett gegen die Deponie zu sein. Für die Gegner war seine Haltung zwar das Hirngespinst eines deutschen Utopisten, aber seine finanzielle Unterstützung hatte manche zum Schweigen gebracht.
Wie überall in Süditalien diente die Piazza als Treffpunkt. Männer, jung und alt, standen herum, diskutierten, liefen weiter oder setzten sich auf die vielen Sitzgelegenheiten, holten ihre Getränke in der Bar. Frauen waren wenige zu sehen, die meisten bereiteten um diese Zeit das Abendessen vor. Mehrere Jungen spielten Fußball auf dem kleinen Platz unterhalb der Terrasse, ein halbes Dutzend Männer schaute ihnen von oben zu und kommentierte das Geschehen, die Ellbogen auf die Balustrade aus Stein gestützt.
Mit Nicolò und Mario traf er sich im Sommer praktisch jeden Abend vor dem Abendessen auf der Piazza. Manchmal auch danach, wenn auch alle Frauen und Kinder kamen. Als er sein Versprechen einlöste und nach Guardia Perticara kam, entdeckte Achim einen ganz anderen Nicolò. Der distinguierte Herr im Anzug, der in Florenz lupenreines Italienisch ohne jeglichen toskanischen Einschlag sprach, war hier ein entspannter Mann, zwar weiterhin elegant gekleidet, glattrasiert und Lederschuhe tragend, die er selbst hergestellt hatte, aber Dialekt sprechend. Die weißen, nach hinten gekämmten Haare gaben Nicolò zusammen mit den dunklen Augen, die tief in den Augenhöhlen lagen, einen strengen Gesichtsausdruck. Obwohl nur knapp einen Meter sechzig groß, hatte der alte Mann eine unglaubliche Ausstrahlung.
«Die Tote hat wohl kurz zuvor geweint», sagte Achim mit einer Flasche birra moretti in der Hand.
«Wie kommst du darauf?» Nicolò senkte die Lemonsoda wieder, die er gerade an die Lippen gesetzt hatte.
«Auf dem Gesicht der Frau war ein feiner heller Staub, wie Sand, und die Tränen haben dort Spuren hinterlassen.»
Mario nickte und überraschte Achim mit seiner Schlussfolgerung: «Deshalb hast du kein weiteres Auto gesehen. Die Frau ist zu Fuß gekommen.» Er hielt Achim seine Bierflasche hin, damit sie anstoßen konnten.
«Woher willst du sowas wissen?», fragte Achim skeptisch. Mario nahm einen Schluck. «Mein Gesicht ist auch dreckig, wenn ich von den Tieren zurück ins Dorf laufe und nicht mit dem Auto fahre. Dieser Staub ist feine Erde, die sich mit etwas Wasser problemlos entfernen lässt.» Mario zuckte mit den Schultern. «Die Frau wohnte wahrscheinlich in der Nähe.»
Achim vertraute Mario. So naturverbunden wie dieser war, musste seine Interpretation stimmen. Dialekt war Marios Hauptsprache, Italienisch sprach er nur ungern. Mario hatte das Dorf nie verlassen und den Bauernhof des Vaters, Nicolòs Bruder, übernommen, als dieser starb. Das Leben mit seinen Kühen, Schafen, Ziegen und Hunden bedeutete ihm alles. Im Gegensatz zum dünnen und drahtigen Nicolò war Mario muskulös, hatte ein rundliches Gesicht und gekrauste schwarze Haare, die leicht ergraut und schwierig zu kämmen waren. Größer als Nicolò war er aber nicht wirklich und mit seiner unordentlichen Kleidung, unförmigen Jeans, den Turnschuhen und einem T-Shirt mit Aufdruck hatte er auch einen anderen Look als sein Onkel.
Von Nicolò und Mario hatte Achim vieles über die Basilikata, die Menschen und die Kultur gelernt. Nicolò hatte ihm vor Jahren das Buch von Carlo Levi ‹Cristo si è fermato a Eboli› geschenkt und gesagt, er solle es lesen. Ein besseres Buch, wie die Basilikata von außen gesehen wirke, gebe es nicht.
Vor fünf Jahren hatte Achim noch keinen Bezug zu Guardia Perticara. Diese lukanische Identität, die Nicolò so pflegte, war ihm völlig fremd gewesen, obwohl sein Vater nur fünfzig Kilometer entfernt in Campomaggiore aufgewachsen war. Er war sich nicht bewusst gewesen, dass er selbst Lukaner war, bis ihm Nicolò eines Tages erklärte: Non si diventa Lucano, si nasce Lucano. Er hatte den Satz jahrelang nicht verstanden. Von seinem Vater hatte er ihn jedenfalls nie gehört.
Erst als seine Familie und er von Nicolòs Familie bei ihrem ersten Besuch in Guardia Perticara herzlich aufgenommen wurden, begann er den Satz zu verstehen. Die Menschen hier verstanden die Auswanderer und ihre Nachfahren als Teil ihrer Gemeinschaft. Nicht nur Achim war in ihren Augen ein Lukaner, sondern auch seine Tochter Jessica und sein Sohn Robin waren es. Sie waren alle als Lukaner geboren, während Vivian nicht Lukanerin werden konnte. Achim und seine Kinder waren Teil einer Gemeinschaft, die sich über ihre Wurzeln identifizierte und nicht über ihren Wohnort. Wohin das Leben die Menschen vertrieben hatte, war nicht entscheidend, zu oft hatte die Basilikata Auswanderungswellen erlebt. Dass Achim Halbdeutscher war und alle um mindestens einen Kopf überragte, war egal. Hier hatte er in viele Gesichter geschaut, die seinem Gesicht ähnlich waren, er glich seinem Vater mehr als seiner Mutter. Von ihrer Familie hatte er hingegen die Körpergröße geerbt.
«Ein Einheimischer hätte den Priester gesucht, nicht die Carabinieri! Das waren seine Worte.» Achims Erzählung war bei seiner Begegnung mit den Carabinieri angelangt.
Mario brach in lautes Gelächter aus. «Du bist halt immer noch Deutscher», sagte er schließlich und schlug ihm so stark auf die Schulter, dass Achim noch Stunden später meinte, den Schlag zu spüren.
Nicolò schaltete sich ein und hob einen mahnenden Finger: «Der Priester hätte sicher die Carabinieri angerufen. Man ruft immer die Carabinieri an, wenn es Ärger geben kann, weil man sie nicht gerufen hat. Niemand will Ärger mit den Carabinieri, die ehrlichen Menschen noch weniger als die Gauner. Es geht aber nicht um die Carabinieri, Achim, es geht um die Beziehung zu Gott. Gott hat die Frau in seinem Haus zu sich gerufen, deshalb hätte ein Einheimischer den Priester gesucht. Das ist der entscheidende Punkt!» Auch nach zwanzig Jahren sprach Nicolò seinen Vornamen Akim aus, aber Achim hatte sich längstens daran gewöhnt.
Während seine Freunde für das Abendessen nach Hause gingen, entschied sich Achim eine Pizza in einem Restaurant zu essen, das nur die Einheimischen fanden, in der ‹Piccolo Ranch› an einer kleinen Nebenstraße an der Grenze zur Nachbargemeinde Gorgolione.
Gegen 23 Uhr nahm er eine Cola Zero aus dem Kühlschrank und lief die moderne Holztreppe ins obere Stockwerk hinauf. Auf halber Höhe führte eine Türe zum Wohnzimmer und einem Schlafzimmer, die links von der Treppe über der Wohnung der Nachbarin lagen. Achims Eingangstüre war am höchsten Punkt der Straße, die danach so abschüssig war, dass bereits der Eingang seiner Nachbarin ein halbes Stockwerk tiefer lag. Die Treppe führte weiter zu zwei Schlafzimmern und dem Badezimmer oberhalb des Erdgeschosses. In diesem obersten Stockwerk ging nach links eine Steintreppe weg, die das halbe Stockwerk zur Terrasse überwand, die der Vorbesitzer in den Dachstock über dem Wohnzimmer integriert hatte. Achim setzte sich so, dass er ins Tal blicken konnte.
Nicolòs Satz ging ihm nicht aus dem Kopf. Gott hat die Frau in seinem Haus zu sich gerufen. Achim war sich nicht sicher, ob Nicolò das als Vorwurf gemeint hatte. Vielleicht war es auch eine Belehrung, ein Hinweis, wie sich Achim in solchen Situationen verhalten muss, damit er wie ein Einheimischer handelt. Achim spürte die Wut über seinen Vater wieder aufkochen, weil dieser ihn solche Werte seiner Vorfahren nicht gelehrt hatte.
«Wie siehst denn du aus? Bist du krank?», fragte Vivian erschrocken, als sie ihren Mann über Video sah. Seit Vivian 2018 zur ordentlichen Professorin an der Johns Hopkins University in Baltimore berufen worden war, sprachen sie jeden Abend um Mitternacht miteinander. Wenn möglich über Zoom, sonst kurz telefonisch. Wegen der Zeitverschiebung war seine Frau noch an der Universität und trug noch ihre ‹Berufskleidung›, wie sie es nannte. Unter dem weißen Laborkittel schauten ein hellgelbes T-Shirt und eine schlichte Goldkette hervor. Weil sie den Laborkittel noch trug, ging Achim davon aus, dass seine Frau bis zur letzten Minute im Labor gearbeitet hatte, dann zum Arbeitszimmer zurückgeeilt war, das ihr als Professorin zustand, und sich auf den schweren schwarzen Ledersessel hinter dem Schreibtisch gesetzt hatte, ohne den Kittel auszuziehen.
Achim saß im Wohnzimmer auf dem weißen Sofa und hatte seinen Laptop an den Fernseher angeschlossen. Der große Flachbildschirm hing direkt an der Wand, die Achim bei der Renovierung von Verputz und Farbe hatte befreien lassen und die wie eine Außenwand aussah.
So froh ihr Gesicht zu sehen, war Achim wohl schon lange nicht mehr gewesen. «Nein, nein. Ich bin nicht krank!» Achim erschrak über seine Blässe, als er sich selbst auf dem Bildschirm sah. «Ich habe heute eine Tote gefunden», sagte er matt.
«Wie eine Tote gefunden? Im Dorf? Kenne ich sie?», fragte seine Frau mit geweiteten Augen. Sie vergaß, den Mund zu schließen.
«Nein, nicht im Dorf. Gestern habe ich doch von der Basilika erzählt, die ich besuchen wollte. Ich war heute dort und da saß sie. Sie ist einfach auf der Kirchenbank gestorben. Saß einfach aufrecht da.» Achims Stimme brach weg und er schwieg wieder.
Die Unruhe, die ihn am Nachmittag herumgetrieben hatte, kam wieder auf. Seine Frau ließ ihm keine Zeit, sich zu beruhigen. «Schrecklich! Jung? Alt? Erzähl doch etwas!» Ihr leichter amerikanischer Akzent hatte sich wieder verstärkt, seit sie von Heidelberg zurück in ihre Geburtsstadt gezogen war.
«Na ja, so viel gibt es eigentlich nicht zu erzählen», meinte Achim. «Gestern habe ich doch gesagt, dass ich heute nach Anglona fahren will, um mir diese Kirche anzuschauen. Die Kirche ist so, wie man sie mir beschrieben hatte. Da steht eine Kirche in the middle of nowhere, wie ihr Amerikaner sagt. Eigentlich gab es dort schon eine Ortschaft, als die alten Griechen in Süditalien ankamen, aber es ist wirklich nur noch eine Kirche da. Abgesehen von einem Nebengebäude, das zur Kirche gehört und viel jünger ist. Eine wunderschöne Kirche, alt, sehr alt, mit alten Fresken. Diese Kirche hat etwas Ursprüngliches. Sie hat mir sehr gut gefallen. Nur saß da auf einer Sitzbank eine tote Frau. Sie muss beim Beten dort gestorben sein. Ich habe keine Ahnung, wer sie war. Ein Gesicht wie so viele Gesichter in der Gegend. Voller Falten, die Augen in tiefen Augenhöhlen, die grauen oder weißen Haare kurz geschnitten und nach hinten gekämmt. Du hast hier auch viele solche Frauengesichter gesehen, diese groben und gleichzeitig gleichmäßigen Gesichter alter Frauen. Ein Gesicht wie das meiner Großmutter, vom harten Leben gezeichnet und doch irgendwie harmonisch.»
«Das ist mir bei unserer ersten Reise in die Basilikata aufgefallen, wie viele alte Frauen deiner Großmutter geglichen haben.» Vivian schien jedes kleinste Zeichen in seinem Gesicht lesen zu wollen, so konzentriert und irgendwie eindringlich schaute sie ihren Mann an. «Also nicht wirklich geglichen, aber so ähnlich. Du hast doch einmal einen Roman einer Autorin aus Matera gelesen. Da waren ein junges Mädchen und eine alte Frau auf dem Cover. Die alte Frau glich deiner Großmutter, obwohl sie kaum miteinander verwandt sein konnten. Diese Ähnlichkeit meine ich.»
«Mille anni che sto qui, von Mariolina Venezia.» Achims Stimme hatte wieder an Kraft gewonnen, er sprach wieder deutlich. «Ich habe kürzlich zufälligerweise die deutsche Übersetzung auf Amazon gesehen, da wurde genau das gleiche Bild verwendet. Genau so sah die Tote aus, wie die alte Frau auf dem Cover!»
«Und dann? Was hast du gemacht?», fragte Vivian und lehnte sich zurück, deutlich ruhiger als noch wenige Augenblicke zuvor.
«Die Carabinieri angerufen wie ein guter Deutscher», sagte Achim und schmunzelte. «Sowohl der ältere Carabiniere als auch Mario und Nicolò haben mir erklärt, ein Einheimischer hätte den Priester gerufen.»
«Bei deiner Liebe für Priester kann ich nachvollziehen, wieso du den nicht gesucht hast», sagte Vivian und rückte lächelnd wieder näher an die Kamera. Er betrachtete die halblangen blonden Haare, die sie gerne offen trug, die freundlichen blauen Augen, die schmale Nase mit dem breiten Ende und das breite Kinn. Bevor sie zur Professorin in Baltimore berufen wurde, trug sie ihr Haar länger, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seither war sie klassischer unterwegs, das sei sie ihrem Status schuldig, so ihre Erklärung. Immerhin war ihre Frisur dadurch asymmetrisch geworden, die linke Hälfte der Stirn war durch eine Haarsträhne verdeckt, während die rechte Hälfte der Stirn freigelegt war. Achim fand, ihre Zahnlücke käme durch die neue Frisur besser zur Geltung und so wirkte sie viel freundlicher als die anderen Professoren, die ohnehin meistens ältere Herren waren.
«Danke!», atmete Achim auf. Die Frage, ob er falsch gehandelt