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In den Abgründen der menschlichen Seele: Der Thriller-Sammelband »Die Toten von Berlin« von Claus Cornelius Fischer jetzt als eBook bei dotbooks. Wenn es Nacht wird, beginnt für Ella Bach die Arbeit: Die Ärztin ist zur Stelle, wenn ein Rettungswagen gerufen wird – und weiß darum nur zu gut, was Menschen sich und anderen antun können. Doch nun wird sie an Tatorte gerufen, die selbst ihr die Sprache rauben: In einem teuren Appartement liegt eine von Glassplittern durchbohrte Frau in ihrem eigenen Blut, und in einer U-Bahn-Station hat ein Selbstmordattentäter viele Unschuldige mit in den Tod gerissen. Aber was steckt hinter diesen Verbrechen? Ella will verstehen, wer zu solchen Grausamkeiten fähig ist – und gerät dabei selbst in größte Gefahr, als die Spuren sie weit über die Grenzen Berlins hinausführen: zu dunklen Schattenspielern, für die ein Leben keinen Wert mehr hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Die Toten von Berlin« mit den Thrillern »Das erste Opfer« und »Das Todesnetz« von Claus Cornelius Fischer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 1520
Über dieses Buch:
Wenn es Nacht wird, beginnt für Ella Bach die Arbeit: Die Ärztin ist zur Stelle, wenn ein Rettungswagen gerufen wird – und weiß darum nur zu gut, was Menschen sich und anderen antun können. Doch nun wird sie an Tatorte gerufen, die selbst ihr die Sprache rauben: In einem teuren Appartement liegt eine von Glassplittern durchbohrte Frau in ihrem eigenen Blut, und in einer U-Bahn-Station hat ein Selbstmordattentäter viele Unschuldige mit in den Tod gerissen. Aber was steckt hinter diesen Verbrechen? Ella will verstehen, wer zu solchen Grausamkeiten fähig ist – und gerät dabei selbst in größte Gefahr, als die Spuren sie weit über die Grenzen Berlins hinausführen: zu dunklen Schattenspielern, für die ein Leben keinen Wert mehr hat …
Über den Autor:
Claus Cornelius Fischer (1951–2020), arbeitete als Journalist unter anderem für DIE ZEIT und DIE WELT und als Übersetzer – vor allem aber als erfolgreicher Autor von Romanen, Krimis und Thrillern.
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eBook-Sammelband-Originalausgabe April 2022
Die Originalausgabe von »Das erste Opfer« erschien 2011 unter dem Titel »Erlösung« bei Blessing. Copyright © der Originalausgabe 2011 by Karl Blessing Verlag GmbH, München; Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Die Originalausgabe von »Das Todesnetz« erschien 2013 unter dem Titel »Nukleus« bei Blessing. Copyright © der Originalausgabe 2013 by Karl Blessing Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96655-772-6
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Claus Cornelius Fischer
Die Toten von Berlin
Zwei Thriller in einem eBook
dotbooks.
Es ist ein Bild des Schreckens, das sich der Berliner Notärztin Ella Bach bei einem nächtlichen Einsatz bietet: eine Frau liegt brutal verletzt inmitten von Glassplittern und Blut. Im letzten Moment gelingt es Ella, sie ins Krankenhaus zu bringen … doch von dort verschwindet die Unbekannte spurlos. Und nicht nur das: Am nächsten Tag wird der Fahrer des Krankenwagens ermordet aufgefunden. Irgendjemand versucht, die Spuren der Blutnacht zu verwischen – und schreckt vor nichts zurück! Als auch die Polizei beginnt, systematisch Jagd auf Ella zu machen, weiß sie, dass es nur eine Chance gibt, um zu überleben: Sie muss den Spuren des Opfers folgen. Ihre atemlose Suche nach der Wahrheit führt sie schließlich nach Frankreich … und mitten hinein in ein Wespennest aus wirtschaftlichem Kalkül und eiskalter Politik.
»Ein packender Thriller, der seine Leser in einen Strudel aus Korruption, Intrigen und Mord zieht. Eine Geschichte, die großflächig für Gänsehaut sorgt.« MDR
Hinter jedem großen Vermögen steht ein großes Verbrechen
Honoré de Balzac
Die Leitstelle meldete sich um 02:47, gerade als Max fand, dass es Zeit für einen Kaffee wäre. »Blitz für NAW 4305 von Florian Berlin, bitte kommen!« Die Funkleitung knackte und rauschte. »NAW 4305, meldet euch!« Ella hatte das Fenster heruntergekurbelt, um die frische Nachtluft in den Wagen zu lassen. Jetzt drückte sie die Sprechtaste und sagte: »Hier NAW 4305.«
»Wo seid ihr gerade?«
»Luisenstraße, auf Höhe der S-Bahn-Überführung. Was gibt's?«
»Starke Blutung in Kreuzberg«, sagte der Disponent in der Feuerwache durch das knisternde Rauschen. »Vielleicht Schock. Ihr seid am nächsten dran.«
»Adresse?«, fragte Ella.
»Benno-Ohnesorg-Straße 7, Ecke Möckernstraße, oberster Stock. Eine Frau.«
Auf dem Navidisplay am Armaturenbrett erschien die Route vom Standort des Rettungswagens zum Ziel.
»Weitere Angaben?«, fragte Ella, und auf einmal brauchte sie keinen Kaffee mehr.
»Keine weiteren Angaben.«
»Ist jemand bei der Frau?«
»Unbekannt.«
»Wer hat uns gerufen?«
»Ein Mann. Anonym. Er hat nur gesagt, gegenüber stirbt eine Frau. Mehr war nicht, dann hat er aufgelegt.«
Max, der Rettungsassistent, schaltete das Blaulicht des NAW ein, warf einen Blick in den Außenspiegel und sagte: »Schnall dich an, Bambi!« Ella legte den Sicherheitsgurt um. Der Daimler Sprinter schoss mit einem Satz vorwärts, beschleunigte schnell auf siebzig, dann auf neunzig. Die Straße war leer, die Fahrbahn schien ihnen entgegenzufliegen. Der warme Asphalt schimmerte silbergrau im Licht der Straßenlampen. Windböen von der Spree trieben Papier und Staubwirbel durch die Scheinwerferkegel, aber als der Wagen über die Marschallbrücke raste, lag das Wasser ganz ruhig im Mondlicht. Der Fluss blieb zurück, gleich darauf glitt der Reichstag vorbei, die Glaskuppel schwach erleuchtet.
Hinter der mit blauem Neon protzenden ARD-Sendezentrale sprang die Ampel auf Rot, und jetzt schaltete Max auch die Sirene an. Bevor er in die Kreuzung einfuhr, trat er kurz auf die Bremse, beugte sich vor, kein Verkehr von rechts oder links, sodass er wieder Vollgas geben konnte. »Zwei Minuten«, sagte er.
Vor ihnen lag Unter den Linden zwischen grünen Bäumen, Lichterketten, Neon und Schaufensterglanz. Auf der anderen Seite die angestrahlte Fassade des Hotel Adlon, daneben Polizisten mit Maschinenpistolen, die vor der Britischen Botschaft Wache standen. Über den weißen Säulen des Brandenburger Tors der Mond mit einem hellen Hof im tiefen Sommernachtblau.
Max drosselte das Tempo nicht, fuhr geradewegs auf die mit roten Leuchtstreifen gekennzeichneten Eisenpoller zu. »Bremsen!«, rief Ella, aber er dachte nicht daran, und in letzter Sekunde versenkten die Polizisten die beweglichen Eisenpoller im Straßenbelag, gaben die Durchfahrt in die Wilhelmstraße frei.
Ella spürte, wie der scharfe Klang der Sirene über ihrem Kopf auf ihr Zwerchfell drückte. »Drei Minuten«, sagte Max. Ein Doppeldeckerbus, leer bis auf den Fahrer, hielt am Rinnstein, damit sie vorbeikonnten, jetzt noch schneller, hundert, hundertzwanzig unter den blassen, windgeschüttelten Lampen, und die ganze Zeit dachte Ella an die verletzte Frau und dass sie vielleicht zu spät kamen; dass sie gerade starb. Das war ihre größte Angst, zu spät zu kommen, nichts mehr für die Frau oder den Mann oder das Kind tun zu können, zu dem sie gerufen wurden. Sie spürte, wie auch ihr Puls nach oben schoss, auf hundertvierzig, hundertsechzig. Das Blut schien durch ihre Adern zu rasen, schnell und heiß an den Handgelenken, den Schläfen.
Die Kreuzung Leipziger Straße tauchte auf, verwaist und groß wie ein Tennisplatz aus Asphalt, behütet von roten Ampeln im Schatten des Finanzministeriums, früher die Treuhand, und niemand von rechts, niemand von links, nur die schimmernden Hochhäuser des Potsdamer Platzes, und hinter der Kreuzung wieder einsame, breite Fahrbahnen, leer bis auf eine schwarze Luxus-Limousine mit getönten Scheiben und arabischem Nummernschild.
Ella hielt sich am Türgriff fest. Ihr rechter Fuß trat die Fußmatte gegen den Boden, bis die Zehen schmerzten, gib Gas, dachte sie, gib Gas, weg da, Araber, weg da, Taxi, Ampel, werd grün! Plötzlich scherte ein Skoda aus einer Reihe geparkter Fahrzeuge, ohne auf Blaulicht oder Sirene zu achten.
Max drückte auf die Lichthupe und versuchte auszuweichen. Der Sprinter geriet aus der Spur, aber Max steuerte gegen, und der Skoda bremste, und jetzt prallte der Sprinter mit dem rechten Vorderreifen an den Bordstein, schrammte daran entlang und wurde auf die Fahrbahn zurückgeschleudert. Max kuppelte, schaltete und brachte ihn wieder auf Kurs. Mit kreischenden Reifen schoss der Wagen in eine Biegung, auch diesmal behielt Max die Kontrolle über das Fahrzeug und jagte es dicht an der nächsten Kolonne parkender Autos entlang. Ella beugte sich vor, über das Armaturenbrett, als könnte sie den Sprinter so noch schneller machen. Sie starrte auf das Navidisplay, das ihr die ganze Route anzeigte, der Wagen ein roter Punkt, der sich ruckend vorwärtsbewegte, noch ein Stück die Wilhelmstraße entlang, über den Landwehrkanal, dann weiter den Mehringdamm hoch, bis rechts die Yorckstraße kam und gleich wieder links die Möckernstraße.
»Vier Minuten«, sagte Max. Er war nie aufgeregt, nicht äußerlich. Gelassen saß er hinter dem Lenkrad in seinem hellblauen, kurzärmeligen Hemd, kaute Kaugummi und blickte starr nach vorn, ganz selten zur Seite, höchstens mal kurz in den Außenspiegel, außer wenn er in eine Kreuzung einfuhr. Seine Bewegungen waren sparsam, er lenkte, kuppelte, schaltete, gab Gas oder bremste so beiläufig, als säßen sie in einem Autoscooter. Seine Beine in der feuerwehrblauen Hose mit den reflektierenden Streifen schienen Impulsen zu gehorchen, die vom Wagen ausgingen, nicht von ihm. Ella war immer froh, wenn er die Schicht mit ihr teilte. Er war ein guter Rettungsassistent, und er war ein guter Freund, und zwischendurch war er eine Zeit lang ein guter Liebhaber gewesen. Außerdem stand ihm Blau besser als ihr, besonders im Sommer.
»Warum ruft jemand anonym die Rettung an?«, fragte Ella. »Warum meldet ein Mann eine sterbende Frau, ohne die Hausnummer zu nennen, wo wir die Frau finden können? Warum sagt er, oberste Wohnung, und nicht, in welchem Haus? Was bedeutet ›Sie stirbt‹? Das kann alles bedeuten. Und wenn er nicht bei ihr ist, woher weiß er dann, dass die Frau stirbt?«
»Vielleicht hat er sie durchs Fenster gesehen«, sagte Max. Sein Gesicht leuchtete auf und erlosch im Widerschein der Peitschenlampen, leuchtete und erlosch, ein Flackern in Zeitlupe.
Ella schwieg, versuchte sich die Situation vorzustellen, die sie vorfinden könnten. Dann fragte sie: »Hast du den Koffer aufgefüllt?«
Eigentlich eine überflüssige Frage. Das war das Erste, was sie taten, wenn sie einen Patienten abgeliefert hatten: Sie ersetzten die verbrauchten Medikamente, die benutzten Spritzen und geleerten Ampullen. Sie tauschten halb leere Sauerstoffflaschen gegen frische aus und überprüften die Batterien des Monitor-Defibrillator-Systems.
»Vielleicht habe ich den Wodka vergessen«, sagte Max. »Wir haben aber Wein und Bier, Eis ist in der Kühlbox. Ich musste den Defi und den Sauerstoff rauswerfen, damit noch etwas kaltes Huhn reinging.«
»Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich mal geliebt habe.«
»Warum hast du aufgehört, mich zu lieben?«
Sie antwortete nicht, sah ihn nur an und dachte, warum hört man auf jemanden zu lieben?
Rechts huschte eine beleuchtete Kebabbude vorbei, im Fenster drehte sich ein Dönerspieß. »Hast du Hunger?«, fragte Max. »Ich habe Hunger.« Nach einer Minute ein Imbiss – Halbes Hähnchen, Fritten und Cola 2,60 Euro, unschlagbar – und ein 24-Stunden-Kiosk. »Ich komme um vor Hunger!« Max raste auf die Kreuzung zu, ohne vom Gas zu gehen, trotz roter Ampel. »Achtung, rechts!«, rief Ella, denn auf der Anhalter Straße näherte sich ein Taxi. Der Wagen fuhr schnell, bremste aber in letzter Sekunde, denn Max bremste nicht. Eine schwarz verschleierte Frau mit einem Fahrrad voller Tüten blieb gerade noch rechtzeitig am Bordstein stehen, und Max sagte: »Was hat die denn jetzt noch hier zu suchen?!«; und Ella rief: »Pass auf!«, denn der Wagen geriet wieder mit zwei Rädern auf den Bürgersteig, rammte beinahe eine Litfaßsäule, aber nur beinahe, und jetzt war die Straße frei, fast bis zur S-Bahn-Überführung. »Fünf Minuten«, verkündete Max und sah Ella zum ersten Mal an, seit sie losgefahren waren. »Wo wir gerade von Liebe reden: Ich bin Silvan begegnet, auf dem Gang vor der Kardiologie. Er sah aus, als würde er am offenen Herzen operiert, live vor meinen Augen und bei vollem Bewusstsein.«
»Ich habe ihn vor die Tür gesetzt«, sagte Ella.
»Und er ist tatsächlich gegangen?«
»Nein. Deswegen habe ich seine Sachen gepackt und an seiner Stelle rausgeschmissen.«
»Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben, bis ihr alles geklärt habt«, sagte Max.
»Es ist schon alles geklärt.« Der Sprinter raste auf die Mehringbrücke zu und gerade, als er die sechsspurige Brücke über den Landwehrkanal erreichte, schaltete die Ampel die Hallesche Straße für den Gegenverkehr frei. Die Sirene reichte Max nicht mehr, er drückte auch noch auf die Hupe, hupte und schaltete, niemand rechts, niemand links, und dann waren sie auf der Brücke, und vor dem nachtblauen Himmel über ihnen ratterten die gelb leuchtenden Fenster eines S-Bahn-Zugs von Stahlträger zu Stahlträger.
»Sechs Minuten«, sagte Max. »Diesmal schaffen wir es nicht unter acht.«
Hinter dem Kanal fing es auf einmal an zu regnen, ein dichter Sommerregen, schwere Tropfen, silberne Lamettafäden, die hart auf den warmen Asphalt schlugen und zu kleinen Fontänen zerplatzten. Die Scheibenwischer klappten hin und her, schabten zwei Halbkreise auf die Windschutzscheibe, um die herum die Nacht in schimmernden Bächen zerlief.
Auf einem kleinen Asphaltplatz rechts vor einem Club neben dem Tanz Palast stand ein Pulk Raver am Rinnstein, feierte eine Freiluftparty, in den Händen Red Bull-Dosen, Handys und brennende Zigaretten. Etwas weiter lärmte ein halbes Dutzend junger Türken oder Araber in weißen Trainingsanzügen, taten so, als gehörte der Bürgersteig ihnen. Unter dem Vordach eines Biomarktes lungerte eine Horde Punker, Bierflaschen zwischen den Füßen, bunte Frisuren, Lederjacken, alle betrunken, nur die Hunde nicht.
Eine Ampel blitzte vorbei, noch mehr Lichter, die Ecke Yorckstraße, ein Imbiss, Tag-und-Nacht-Betrieb, hungrige Streuner am Straßenrand. »Festhalten!« Max riss das Steuer nach rechts, mitten auf der Fahrbahn, die Reifen jaulten, schmierten Gummi auf den Asphalt. Der Wagen neigte sich, schien zu kippen und kippte doch nicht. Max gab wieder Gas, schlug das Lenkrad leicht nach links ein, jagte den Wagen über einen Riss in der Straße, und der Sprinter hob ab, schoss durch die Luft, ein paar Millisekunden Zauberteppich auf Speed, dann die Landung und noch einmal links rein und runter vom Gas, mehrmals kurz bremsen, endlich rechts die Benno-Ohnesorg-Straße. »Sieben Minuten.«
Es war eine schmale Straße, gesäumt von ein paar Bäumen, einem Gewerbehof und ein paar kleinen Läden in einer Häuserzeile aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bäume waren dicht belaubt, und die Blätter schimmerten nach dem Regen, der genauso plötzlich wieder aufgehört hatte. Die nasse Fahrbahn dampfte im Licht der Scheinwerfer. Die Wischer quietschten auf der schnell trocknenden Scheibe, und Max stellte sie ab.
Das Flackern der Blaulichtleiste auf dem Dach huschte über die Gebäudefassaden und die Straße. Max schaltete auch das Martinshorn aus. Langsam steuerte er den Sprinter die Straße hinauf, an den rechts und links geparkten Fahrzeugen entlang. Der rote Punkt auf dem Display des Navis blieb stehen. »Da vorn muss es sein, das vierte Haus«, sagte Ella, und jetzt konnte sie ihren rasenden Herzschlag in ihrer Stimme vibrieren hören. »Das mit dem Gerüst.«
»Ich kann kein Licht sehen«, sagte Max.
Auf der anderen Straßenseite lag ein Park, die schwarzen Kronen der Bäume rauschten im Wind. Die Bürgersteige waren verwaist. Die Laternen spendeten nur wenig Helligkeit, und die Fenster der Häuser waren dunkel. Max hielt vor dem Haus mit dem Gerüst und schaltete zusätzlich zum Blaulicht noch die Warnblinkanlage ein.
»Hoffentlich macht einer auf«, sagte er. »Wo bleibt die Feuerwehr?«
»Ist wahrscheinlich jeden Moment da«, sagte Ella. »Wir gehen schon mal rauf.«
Sie stöpselte den Ohrhörer ein, stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Sie griff nach dem tragbaren Defibrillator, Max nahm den großen Notfallkoffer. »Bestimmt gibt es wieder keinen Fahrstuhl«, sagte er. »Es gibt nie einen Fahrstuhl, wenn wir in den obersten Stock müssen.«
Aus einem der Hinterhöfe drang Partylärm, Musik und Gelächter. Die nassen Plastikplanen, die das Haus verhüllten, schlugen knatternd gegen das Gerüstgestänge. Ella lief zur Eingangstür und drückte gegen den Türknopf. Die Tür gab nicht nach. Ella sah an der verhüllten Fassade hoch; nirgendwo im Haus brannte Licht. Unter dem Gerüst war die Dunkelheit so dicht, dass sie die Klingelknöpfe nicht sehen konnte. Sie holte eine Stablampe aus ihrer Jackentasche und richtete den Leuchtstrahl auf das Schloss, dann auf die Klingeltafel neben der Tür. Fünf Stockwerke mit je zwei Klingeln, nur eine für die oberste Etage, einige Namensschilder fehlten. Eine Gegensprechanlage gab es nicht. Die Hausnummer war unleserlich, verschwunden unter weißer Malerfarbe.
Ella drückte erst den obersten Klingelknopf und dann alle anderen so lange, bis der Türöffner schnarrte. Sie lehnte sich gegen die massive Holztür. Ein kühler, feuchter Hauch schlug ihr entgegen, vermischt mit der Ausdünstung von Farbe. Sie stieg über die Schwelle und rief: »Rettungsdienst!«
Im Treppenhaus suchte sie den Lichtschalter mit dem Strahl ihrer Lampe. Es war ein alter schwarzer Drehknopf, und als sie ihn betätigte, ging weit oben eine Behelfslampe in einem Drahtkorb an, die einen kaum sichtbaren Lichtschimmer in den Stiegenschacht warf. Noch einmal rief sie: »Hallo?! Hat hier jemand den Notarzt gerufen?!« Ihre Stimme hallte im Treppenhaus. Auch diesmal gab es keine Antwort, nur das Geräusch einer Tür, die geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde.
»Also los«, sagte Max und lief schnell voran, die schmale Treppe hinauf. Seine weißen Turnschuhe und die reflektierenden Streifen an den Hosenbeinen schimmerten silbrig. Auf den Holzstufen lag Bauschutt, ein Presslufthammer. Stromkabel schlängelten sich über Teerpappe. Ella versuchte mit Max Schritt zu halten, in der einen Hand den schweren Defi, in der anderen die Lampe. Sie hörte ein Krachen über sich, dann einen unterdrückten Fluch, gefolgt von einem Stöhnen. »Verdammter Mist! Bambi?«
»Was ist?«
»Ich glaube, ich hab' mir den Knöchel verstaucht!«
Sie erreichte den Absatz auf dem zweiten Stock, richtete die Lampe auf Max, auf sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Das Scheißding lag unter der Pappe!« Er betastete sein linkes Fußgelenk, das bereits anzuschwellen begann. Daneben ragte ein Schraubenzieher ein Stück unter einem Streifen Teerpappe hervor. »Mach schon, warte nicht auf mich!«
»Bist du sicher?«
»Klar, ich komme gleich nach.«
»Nein, ruf lieber Hilfe. Sorg dafür, dass sie noch einen Notarztwagen oder ein Einsatzfahrzeug schicken.«
Ella nahm die Stablampe in den Mund, hielt sie mit den Zähnen. Sie griff nach dem Notfallkoffer und stieg weiter die Treppe hinauf, folgte dem Lichtstrahl über die Stufen, ließ sich vom Adrenalin nach oben tragen. Sie erreichte die oberste Etage, auf der es nur eine Tür gab, mit gehämmertem Aluminium beschlagen, kein Namensschild, keine Klinke über dem Schloss, aber ein Klingelknopf. Einen Moment lang war ihr schwindlig, und sie spürte einen stechenden Druck hinter den Augen.
Sie stellte Koffer und Defibrillator ab und nahm die Taschenlampe aus dem Mund. Sie klingelte. Sie konnte die Klingel nicht hören. »Hallo?! Können Sie aufmachen?! Rettungsdienst!« Sie schlug mit der Faust gegen die Tür und klingelte noch einmal, und wieder geschah nichts. »Brauchen Sie da drinnen einen Notarzt?«
Weit unten auf der Treppe hörte sie Max stöhnen. Gleich darauf erklang ein Scharren, als versuchte er, sich die Stufen hochzuziehen. Guter Max, gab niemals auf, ein Assistent, auf den man sich verlassen konnte. Warum musste er sich ausgerechnet jetzt den Knöchel verstauchen? Verdammt, wie soll ich in die Wohnung kommen ohne Feuerwehr? Was ist, wenn die Patientin stirbt, weil wir nicht rechtzeitig –
Plötzlich ertönte ein Schrei. Es war ein lang gezogener Schrei von jenseits der Tür. Noch nie hatte Ella jemanden so schreien hören, keine Frau, keinen Mann, überhaupt kein lebendes Wesen. Mein Gott, was ist das?! Gerade als sie glaubte, der Schrei werde niemals enden, verstummte er abrupt, und da war nur noch Stille.
»Max?«, sagte Ella leise, den Mund dicht am Schultermikro des Sprechfunks, »hörst du mich? Hast du die Feuerwehr erreicht?«
Es knisterte in ihrem Ohrstöpsel, aber Max antwortete nicht. Vielleicht ist sein Mikro bei dem Sturz kaputtgegangen, vielleicht kann er mich hören, nur nicht antworten.
»Max, hier stimmt was nicht. Kannst du mich hören?«
Noch immer keine Antwort, nur das tote Knistern.
Ella kniete nieder, nahm die Lampe wieder zwischen die Zähne und öffnete den Notfallkoffer. Hoffentlich war die Tür nicht abgesperrt. Sie leuchtete in die Tasche, suchte das Aqua Gel. Sie öffnete eine Ampulle und spritzte das Gleitmittel in das Schloss und zwischen Türfüllung und Rahmen, dorthin, wo sie die Eisenzunge vermutete. Sie nahm eins der einzeln verpackten Einmalskalpelle aus der sterilen Verpackung und schob die Klinge in den Spalt, in den sie das Gel gespritzt hatte, bis sie Widerstand spürte.
Langsam gab die Eisenzunge nach, erst nur zäh, aber als das Gel darüberglitt, ging es leichter. Ella stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, setzte ihr ganzes Körpergewicht ein. Das Schloss hakte einen Moment, dann löste sich eine Sperre, und die Eisentür schwang nach innen, ohne dass Licht herausfiel. Ein warmer Luftzug strich ihr über das Gesicht, und plötzlich zog sich ihre Kopfhaut zusammen. Ella ließ das Skalpell fallen.
Was ist das für ein Geruch?
Sie nahm die Lampe wieder aus dem Mund, schloss den Notfallkoffer und hob ihn auf. »Rettungsdienst!« Sie hinderte die Tür mit der Schulter am Zufallen, richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden vor sich und trat über die Schwelle in die Dunkelheit dahinter. »Hallo?!«
Der Lichtkegel geisterte über schwarz gebeizte Holzbohlen, durch einen weitläufigen Flur, an hellgrau gestrichenen Wänden hinauf, erfasste ein gerahmtes Gemälde, Pastellfarben, und glitt wieder hinunter. Ein Schleier winziger roter Punkte, wie mit einer Sprühpistole aufgetragen, zog sich über eine der Wände.
Was ist das bloß für ein scheußlicher Geruch?
»Max? Wenn du mich hören kannst, ich brauche Hilfe hier oben!«
Sie suchte nach einem Lichtschalter und drückte ihn. Es blieb dunkel. Vorsichtig ging sie weiter, tiefer in die Wohnung hinein. Der Strahl der Lampe huschte über die besprühten Wände, über wertvoll aussehende Möbel und Teppiche, alle mit roten Punkten übersät. Ella achtete nicht darauf, wohin sie trat, und auf einmal spürte sie, wie die Sohle ihres rechten Turnschuhs den Halt verlor. Sie rutschte aus, fing sich aber, bevor sie stürzen konnte.
Sie richtete den Strahl wieder auf den Boden. Glassplitter blinkten, als hätte jemand die Lampen zerschlagen. Glänzende Wasserlachen bedeckten die Ebenholzbohlen. Etwas weiter in den Salon hinein wurden sie rot, und da begriff Ella; endlich begriff sie, dass es gar keine rote Farbe war überall vor ihr in der Wohnung.
Genau in diesem Moment hörte sie ein unheimliches Wimmern. Langsam ging sie weiter. Sie richtete den Strahl der Taschenlampe erst auf die Glassplitter in den Blutlachen auf dem Boden und dann auf ein rot glitzerndes Bündel in der Mitte des großen Raums gleich vor ihr, aus dem das Wimmern zu dringen schien.
Kehr um! Warte auf Hilfe!
Ihre Schuhe quietschten auf dem nassen Boden. Mit jedem Schritt sah sie mehr von dem Raum und dem wimmernden Bündel, und erst als sie schon ganz nah war, erkannte sie, dass es sich bei dem Bündel um einen Menschen handelte. Er oder sie lag auf dem Rücken, und dort, wo die Brust sein musste, die nackte Brust, hob und senkte sich etwas in unregelmäßigen Abständen. Die Arme und Beine zitterten, und das entstellte, blutüberströmte Gesicht wandte sich nun fast bedächtig Ella und dem Licht zu.
O Gott, dachte Ella. O Gott. Etwas Fürchterliches war mit diesem Gesicht geschehen. Ich bin Ärztin, sagte sie. Dann sagte sie es noch einmal, »Ich bin Ärztin«, denn beim ersten Mal war kein Ton herausgekommen. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« Sie stellte Defi und Koffer ab und beugte sich über die wimmernde Frau – es ist doch eine Frau, sie haben gesagt, dass es eine Frau ist–, und dabei versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Sie sah die Hand mit den fehlenden Fingernägeln in der Blutlache, in der die Frau lag, und sie sah die Wunden, die nackte, in Streifen geschnittene Haut, und sie versuchte immer noch, sich nichts anmerken zu lassen.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie. In ihrem Verstand formte sich ein Bild, das sie sofort wieder verdrängte. »Können Sie sprechen?«
Die Frau sah zu ihr auf und öffnete die entstellten Lippen, aber sie brachte nur ein Röcheln zustande, denn auch der ganze Mund war voller Blut. Trotzdem versuchte sie weiter, ihr etwas zu sagen, jetzt mit den Augen. Ella kniete sich hin, neben den Oberkörper der Frau. Sie öffnete den Koffer, holte ein Paar sterile Handschuhe heraus und streifte sie über. Behutsam drehte sie den Kopf der Verletzten auf die Seite, damit sie nicht erstickte.
Sie muss Unmengen von Blut verloren haben. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wo soll ich bloß anfangen?
Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, wo sie sacht hin und her rollte. Sie tastete über der Halsschlagader der Frau nach einem Puls, der so schwach war, dass sie ihn kaum fühlen konnte, aber schnell, rasend schnell. Sie beugte sich über den Mund der Frau, und da bemerkte sie hinter ihrem Kopf die großen, glitzernden Glasscherben in dem schwankenden Lichtkegel und dazwischen seltsame, wimmelnde Bewegungen. Etwas zuckte, zappelte und hüpfte in der roten Nässe auf den Holzbohlen.
Fische.
Der ganze Boden war voll davon, kleine und große Zierfische in schimmernden Farben, Rot, Türkis, Hellblau, Gelb, Farben wie tropische Sonnenuntergänge mit irisierenden Schuppen, die leuchteten, erloschen und wieder aufleuchteten. Zitternde Körper mit starren, glimmenden Augen und breiten, nach Sauerstoff schnappenden Mäulern.
Ella hörte ein Knistern im Ohrstöpsel. Doch ehe sie antworten konnte, vernahm sie noch etwas anderes, ein Geräusch, das nicht von der verletzten Frau und auch nicht von den Fischen herrührte. Es klang, wie wenn jemand, der lange still gestanden hatte, sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte.
Die Atmung der verletzten Frau beschleunigte sich, das Zittern ihrer Beine wurde stärker. Sie versuchte den Kopf zu heben, nackte Panik in den Augen. »... est là«, flüsterte sie röchelnd, »... est là ...«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Ella und beugte sich noch weiter vor, bis ihr Ohr fast die zerfetzten Lippen der Frau berührten.
»... ist noch da ... ist noch da ...«
»Was?«, fragte Ella.
»... ist noch da ...«
Ella spürte, wie die Atmosphäre in dem Zimmer sich veränderte. Ein eiskalter Fleck bildete sich zwischen ihren Schulterblättern. Auf einmal hörte sie Laute, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Zu dem leisen Klatschen der erstickenden Fische in dem ausgelaufenen Wasser und dem winselnden, röchelnden Atmen der blutenden Frau gesellte sich das flüsternde Ablaufen der letzten Regentropfen aus der Rinne draußen vor den Fenstern, der ferne Partylärm in einem der Hinterhöfe, das Rascheln der Plastikplanen an dem Gerüst, mit dem das Haus verkleidet war.
Aber das war nicht alles, es gab noch mehr, kein Geräusch, etwas, in einem der anderen Räume.
Wir sind nicht allein. Etwas ist in der Wohnung. Jemand.
Ella spürte das Kräftefeld eines menschlichen Wesens, das sich näherte. Gleichzeitig schälten sich mehr und mehr Einzelheiten aus der Dunkelheit: ein wuchtiger Schreibtisch, eine lederbezogene, dreiteilige Sitzgruppe, ein großer Flachbildfernseher an der Wand vor der Couch. Ein Kamin, ein deckenhohes Bücherregal, eine Stehlampe neben dem Gang, der tiefer in das offenbar weitläufige Penthouse führte. Die zersprungenen und verbogenen Trümmer eines Aquariums auf dem Boden vor dem Fenster. Halb zugezogene Vorhänge. Eine Stereoanlage auf einer Kommode unter dem Fernsehschirm. Bilder an den Wänden und noch mehr Bücher in Stapeln auf dem Boden. Das Fenster stand offen.
Plötzlich geschah etwas mit der Zeit, ein Teil von ihr verlangsamte sich, der Teil, in dem Ella sich befand. Während um sie herum alles weiter mit der üblichen Geschwindigkeit passierte, verlangsamte sich ihr eigenes Leben, ihr Herzschlag, ihr Atem, ihre Bewegungen, sogar ihre Gedanken.
Sie dachte, ich muss die Frau intubieren, wahrscheinlich ist die Sauerstoffsättigung schon unter 80, sie braucht Sauerstoff sonst erstickt sie.
Sie dachte, ich muss sie ans EKG anschließen, einen Zugang legen und ins Koma versetzen, ihr Kochsalz geben, sonst stirbt sie am Blutverlust.
Sie dachte, ich muss sie stabilisieren, ihren Kreislauf stützen, sonst erleidet sie einen Herzstillstand.
Sie dachte, ich muss ihr Morphium spritzen gegen die Schmerzen.
Aber vor allem dachte sie, er ist noch hier. Der Jemand, der das getan hat, ist noch hier, und er ist noch nicht fertig.
Sie hörte seine Schritte. Die Haut in ihrem Nacken kribbelte. Schweiß rann ihr über den Rücken, zwischen die Beine. Sie hörte, wie er näher kam; leise, langsam, kaum wahrnehmbar. Ein Rascheln von Stoff, das Knistern von Plastik. Gedämpftes Atmen, wieder ein Knacken, ein anderes diesmal, als versuchte jemand, eine Verspannung zu lösen, indem er den Kopf hin und her drehte.
Sie dachte, wir haben ihn gestört, bevor er fertig war. Er kann nicht zulassen, dass wir sie mitnehmen, dass wir sie retten, dass sie redet. Sie hat ihn erkannt.
Sie dachte, du bist keine Ärztin mehr. Du bist das nächste Opfer.
»Max!«, rief sie. Die beiden Zeitebenen verschmolzen wieder, und sie rief noch einmal: »Max, ich brauche dich hier!«, damit der Mann, der fast geräuschlos durch den dunklen Flur näher kam, wusste, dass sie nicht allein war. Sie griff nach der Lampe und leuchtete in den Flur, in dem sie das Rascheln gehört hatte. Der Lichtkegel glitt über die zappelnden Fische, verlor sich in der Finsternis. Unvermittelt schnappte die verletzte Frau mehrmals nach Luft, dann hörte sie auf zu atmen; sie zitterte auch nicht mehr.
Ella brauchte Hilfe, allein konnte sie die Frau nicht versorgen. Aber ich muss es versuchen, selbst wenn im Lehrbuch was anderes steht. Ich muss es wenigstens versuchen. Bloß wo sollte sie eine Vene finden, um die Injektionsnadel zu setzen? Die Frau hatte keine fühlbare Venenspannung mehr, weil es kaum noch Blut in ihrem Körper gab. Man musste erst ein Stauband anlegen, aber wo?
Es hat keinen Sinn, lauf weg! Lauf weg und warte auf Hilfe.
Nein, ich kann sie nicht alleinlassen.
Warum nicht, verdammt? Warum kannst du sie nicht einfach hier liegen lassen? Sie stirbt wahrscheinlich sowieso.
Nein.
Denk an das Kaninchen. Denk an den Habicht.
Wenn du jetzt wegläufst, wird der Habicht zurückkommen und seine Arbeit beenden.
Ella richtete den Strahl der Lampe auf das zerstörte Gesicht, sah nur Blut und aufgerissenes Fleisch und weite, lichtstarre Pupillen. Rasch tastete sie nach der Arteria carotis communis, suchte einen Puls und fand keinen mehr, nicht den geringsten. Alles stand still, Herz, Kreislauf, die Frau starb. Verdammt, ich verliere sie, ich brauche den Defi. Aber das Risiko war zu groß: Die Brust der Frau war nass, sie lag in einer Lache aus Blut und Wasser.
Ella nahm die Lampe zwischen die Zähne, richtete sich halb auf und stemmte sich mit beiden Händen auf die Brust der Frau, auf das zerschnittene Fleisch. Als sie auf den gebrochenen Rippen Halt gefunden hatte, drückte sie und ließ nach, drückte und ließ nach und drückte, drückte, drückte. Komm schon, atme, atme! Sie ließ die Augen nicht vom Gesicht der Frau, aber nichts geschah, die Augen blieben leblos, die Atmung setzte nicht wieder ein.
Sie hob beide Hände, verschränkte die Finger und schlug mit aller Kraft auf die Brust, keine Sorge mehr wegen der Rippen, sie ist ja schon tot. Der Körper der Frau hüpfte ein wenig, und als Ella noch einmal zuschlug, so heftig, wie sie konnte, hüpfte er wieder, und das war alles. Die Atmung blieb weg, der Puls kehrte nicht zurück.
Ella kauerte sich auf die Fersen, zog hastig den Koffer heran und holte eine Injektionsnadel und eine Phiole mit Noradrenalin heraus. Dazu brauchte sie die Taschenlampe nicht, das konnte sie blind, die Spritze auspacken, die Phiolenkappe abbrechen, die Spritze aufziehen, die Luft rausdrücken und die Nadel zwischen den Rippen ins Herz stoßen, um den Inhalt hineinzupumpen. Sie konnte spüren, wie der Herzmuskel zündete und ansprang; fast wurde ihr die Spritze aus der Hand geprellt.
Ein Ruck lief durch den Körper der Frau. Sie schnappte wieder nach Luft, verschluckte sich, und auf einen Schlag kehrte das Leben in ihre Augen zurück. Jählings schrie sie vor Schmerz. Ein endloser Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie schrie und hörte nicht wieder auf.
Ella fuhr entsetzt zurück, ihr Blick irrte Hilfe suchend durch den Raum. Da sah sie ihn. Dort, wo der Flur zu den hinteren Räumen begann, veränderte sich die Dunkelheit, schien sich zu verdichten, nahm Kanten und Konturen an, die Gestalt eines Mannes. Der Mann stand völlig bewegungslos da und starrte sie an. Wie ein Raubtier, dem der Wind ihre Witterung zugetragen hatte. Wie der Habicht.
Sein Gesicht blieb im Schatten, nur die Augen glänzten wie schwarzer Quarz, und noch etwas glänzte, etwas, das er in der Hand hielt. Ein Messer. Ella spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog, alles in ihr erstarrte. Ihre Nerven, zu dünnen Saiten gespannt, rissen mit einem Schlag.
»Max«, schrie sie, »Max, Max, Max –«
»Wo bist du?« Das war er, das war Max, ächzend stemmte er die Tür zum Treppenhaus auf, Gott sei Dank, Gott sei Dank, und Ella rief: »Hier, hier, bin ich!« Sie suchte die Taschenlampe, packte sie und schwenkte sie hin und her, bevor sie den Strahl auf den Flur richtete, auf die Stelle, wo sie für Sekunden die Gestalt des Mannes gesehen hatte. Aber jetzt war die Stelle leer, und der Vorhang an dem Fenster zum Hinterhof schlug sacht hin und her. Das Gerüst vor dem Fenster erbebte unter hallenden Schritten, die schnell leiser wurden.
»Du meine Güte, was ist denn hier los«, sagte Max leise, während er sich humpelnd an der Korridorwand entlangtastete.
Ellas Stimme überschlug sich. »Die Patientin muss sofort ins Koma versetzt werden. Komm, hilf mir den Zugang zu legen, wir müssen eine Vene finden, die noch nicht schlappgemacht hat. Such die Medis raus, Kochsalz, Morphium. Ich schließe das EKG an. Sie braucht Sauerstoff, wir müssen intubieren. Sie war schon klinisch tot, ich habe sie zurückgeholt, aber wenn wir nicht –«
Max stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Ach, du Scheiße ...« Er balancierte auf dem unversehrten Bein, drehte den Kopf und begann zu würgen. Er schluckte und schluckte.
Von der Tür her fiel ein weiterer Lichtstrahl in die Wohnung. Eine Männerstimme rief: »Hallo? Waren Sie das im Treppenhaus? Ich habe Ihnen aufgemacht, zwoter Stock! Brauchen Sie Hilfe?«
»Ja.« Ella stand auf und warf Max einen Blick zu. »Ich hole die Trage. Ist die Feuerwehr da?«
Max sagte nichts.
»Max, ich geh runter. Bleib solange bei ihr.«
Max nickte. Er sagte noch immer nichts. Er starrte sie nur an, und als sie zur Tür kam, starrte der Nachbar aus dem zweiten Stock sie genauso an. Ihre Handschuhe waren voll Blut, und ihr hellblaues Hemd war schweißnass. »Laufen Sie runter zum Rettungswagen und holen Sie die Trage«, bat sie den Mann, der nicht mehr jung, aber kräftig wirkte. »Die Hecktür ist unverschlossen. Sie müssen mir helfen, die Verletzte nach unten zu tragen.«
»Was ist denn hier passiert?«, fragte der Mann. Er versuchte, an Ella vorbei in die Wohnung zu spähen. »Sieht das schnieke aus hier! Sind wohl feine Leute, die hier wohnen, was? Und uns im zweiten Stock drehn se den Strom ab und –«
»Jetzt gehen Sie schon die Trage holen!«, sagte Ella, und ihr selbst kam ihre Stimme gar nicht so laut vor, aber der Mann wich zurück, die Hände erhoben, als hätte sie ihn bedroht. »Ist ja gut, bin schon unten ...«
Ella sah ihn noch die Treppe hinunterlaufen, dann gaben ihre Beine nach. Sie kippte gegen die Wand und rutschte daran zu Boden. Einen Moment lang saß sie nur da und zitterte, und ihre Knie schlugen gegeneinander wie Kastagnetten.
Zum ersten Mal bemerkte sie den grauen Audi Quattro im Rückspiegel, als sie von der Yorckstraße auf den Mehringdamm bog, und etwas später wieder kurz vor der Brücke. Obwohl sie schnell fuhr, über hundert, folgte er ihr, ohne zurückzufallen. An der ersten roten Ampel hinter dem Kanal musste er aber stehen bleiben, und als sie ihn danach nicht mehr entdeckte, dachte sie, dass sie sich wahrscheinlich getäuscht hatte. Mit Blaulicht und Sirene steuerte sie den Sprinter über die Wilhelmstraße, und die ganze Zeit betete sie, lass sie nicht sterben, bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben.
Sie nahm den Fuß kaum vom Gaspedal, obwohl die Straße hier noch nass war, und das Licht der Scheinwerfer auf dem glitzernden Asphalt sie blendete. Ihre Augen brannten; sie war gleichzeitig todmüde und hellwach.
Durch das Überwachungsfenster konnte sie Max und die Trage mit der verletzten Frau hinter sich unter Beobachtung halten. Sie blickte in den Innenspiegel und sah das Blut und manchmal Max, wenn er sich von seinem Platz auf der Seitenbank vorbeugte, um den Sauerstoff zu regulieren oder eine neue IV-Einheit anzuschließen. Die Frau regte sich nicht. Sie hatten sie ins künstliche Koma versetzt und einen Trachealtubus gelegt, weil die Sauerstoffmaske auf dem zerstörten Gesicht keinen Halt fand. Dann war der Nachbar aus dem zweiten Stock mit der Trage gekommen und hatte ihr geholfen, die Frau und den Sauerstoff auf die Trage zu legen und nach unten zu tragen.
Max war hinter ihnen her gehumpelt, eine Hand am Treppengeländer, EKG und Infusionsbeutel in der anderen. Unten hatten sie die Frau in den Wagen gehoben, und danach war sie noch einmal nach oben gegangen, um Defi und Notfallkoffer zu holen. Max hatte sich zu der Verletzten gesetzt, um die Instrumente im Auge zu behalten und die Herzaktivität zu überwachen. Von dem Mann, der in der Wohnung gewesen war, hatte Ella nichts gesagt; einen Moment lang war sie nicht einmal mehr sicher gewesen, ob sie ihn überhaupt gesehen hatte.
Vielleicht hast du ihn dir nur eingebildet, eine Halluzination.
Sie war hinters Steuer geklettert und hatte Funkkontakt mit der Leitstelle aufgenommen. »NAW 4305 an Florian Berlin. Wir sind noch in der Benno-Ohnesorg-Straße und fahren jetzt los. Wir bringen die Patientin in die Rettung der Charité Campus Mitte. Die sollen einen OP und ein Bett auf der Intensivstation vorbereiten. Die Frau hat viel Blut verloren und steht unter Schock. Sie war schon klinisch tot.«
Sie hatte den Motor gestartet, das Martinshorn eingeschaltet und den Sprinter wieder auf die Yorckstraße gesteuert. An der Ecke zum Mehringdamm war ihr dann endlich die Feuerwehr entgegengekommen, viel zu spät. Der Leiterwagen fuhr vorbei, aber im Rückspiegel sah Ella, dass er plötzlich bremste und wendete, und da hatte sie auch den Audi Quattro entdeckt, der abbog, wenn sie abbog, und beschleunigte, wenn sie beschleunigte.
Und da dachte sie, das ist er, er ist nicht weggelaufen, er hat gewartet.
Sie trat das Gas voll durch. Das Licht der Straßenlampen wischte über ihre mit getrocknetem Blut verklebten Hände, die das Lenkrad fest umklammerten. Sie war plötzlich müde, und als der Audi hinter dem Kanal nicht wieder auftauchte, dachte sie, du spinnst, und musste lachen, einen winzigen Augenblick lang.
Die Currybude an der Yorckstraße war noch offen, der Tutti Frutti Club lockte weiter mit Frauen, die an Stangen tanzten. Aber die meisten Streuner waren verschwunden, genauso wie die Rayer, die Türken und Araber. Auch die Skins, die Punker und die letzten Prostituierten hatten sich mit der Dunkelheit aufgelöst wie Gestalten im bunten Geflitze eines Videoclips.
Die Leitstelle meldete sich, und als Ella den Empfang bestätigte, sagte der Disponent: »Hör zu, Ella, ihr müsst eure Patientin in die Charité nach Wedding bringen, in Mitte ist alles voll –«
»Geht nicht«, sagte Ella. »Ist zu weit.«
»Dann nimm ein anderes Krankenhaus in der Nähe, bring sie ins Urban«, beharrte der Disponent. »Es hat ein Feuer in einer Diskothek gegeben, fünfzehn Tote und über fünfzig Verletzte. Die meisten werden in die Notaufnahme von Mitte gebracht, und die Intensivstation hat kein Bett mehr frei!«
»Sie stirbt, wenn ich sie woanders hinbringe«, erklärte Ella. »Sie hat praktisch kein Gesicht mehr, jemand hat ihr ein paar Zähne ausgeschlagen, mehrere Rippen gebrochen, die Haut von Oberkörper und Gesicht in Streifen geschnitten und sämtliche Fingernägel der rechten Hand ausgerissen.«
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen am anderen Ende, nur Rauschen und Knistern und Stimmen im Hintergrund. »Jemand? Wovon sprichst du?«, fragte der Disponent endlich.
»Von einem Wahnsinnigen«, sagte Ella erschöpft, »einem Monster. Kannst du bitte die Polizei anrufen? Die Kripo sollen sich das mal ansehen ...«
»Wie ist der Name des Opfers?«
»Wir haben keinen Namen.«
»Was stand denn an der Tür?«
»Da stand nichts. Ich mache jetzt Schluss.«
»Ella«, der Disponent hob die Stimme, »du musst eine andere Notaufnahme ansteuern, in der Luisenstraße stauen sich die Rettungsfahrzeuge –«
»Ich bin gleich da«, sagte Ella. »Ich sorge dafür, dass sie drankommt. Sie ist meine Patientin, und ich bringe sie durch.«
Der Wind blies einen Schwall Wasser von der S-Bahn-Überführung auf ihre Windschutzscheibe herunter. An der Kreuzung dahinter schaltete eine Ampel auf Rot. Das Wasser auf der Scheibe glühte auf, wurde von den Wischerblättern beiseite gefegt. Ella trat kurz auf die Bremse und blickte in den Innenspiegel. Max hielt die Trage mit der Verletzten fest. Die Kreuzung war leer. Ella trat das Gaspedal wieder durch. Sie spürte die Kraft des Motors in ihrem Bein, dann in der Brust. Der Mehrklang des Martinshorns auf dem Dach höhlte sie aus, legte sich wie ein Druck auf die Ohren. Sie neigte den Kopf nach vorn, rieb sich die Augen, die trockenen Lider.
Bitte, lass sie nicht sterben, ich habe doch getan, was ich konnte, was ich konnte, was ich –
Sie riss die Augen auf. Plötzlich wieder hellwach, sah sie einen Hund nur wenige Meter vor dem Sprinter auf einem Zebrastreifen. Im letzten Moment konnte sie den Wagen nach rechts ziehen, und einige Sekunden lang hatte sie das Gefühl, die Gewalt über den Sprinter zu verlieren. Es war, als schwebte sie. Der Sanka, Max, die Verletzte und sie selbst – wie losgelöst von der Straße trieben sie in den Morgen hinein, schwerelos, und sie hörte nichts mehr, keinen anderen Laut außer ihrem langsam pochenden Herzschlag.
Mit einem Krachen landete der Zauberteppich wieder auf allen vier Rädern, und sie beschleunigte noch mehr. Der Himmel über der Stadt veränderte seine Farbe, schien sich von den Häusern zu lösen. Die Nacht war nicht mehr tintenblau, die Spree bereits heller als das Ufer. Die Straßenlaternen und die Scheinwerfer der Autos verblassten, und das ARD-Blau nahm einen schmutzigen Farbton an. Die deutsche Fahne vor dem Reichstag bewegte sich im staubigen Wind, und es würde wieder ein heißer Tag werden, heiß und windig. Ella tippte ein paarmal auf die Bremse, denn auf der anderen Seite der S-Bahn-Überführung ragte das Bettenhochhaus der Klinik in den Himmel, einundzwanzig Stockwerke, mit dem leuchtenden Schild auf dem Dach, Charité. Die Fenster in den unteren Stockwerken waren noch erleuchtet, während ganz oben schon das Grau des Morgens die aufgehende Sonne ahnen ließ. Ein kurzes Glücksgefühl stieg in Ella auf, du hast es geschafft! Dann hörte sie die anderen Sirenen, und gleich darauf sah sie das blaue Flackern vor sich. Schon auf der Höhe des dreistöckigen Verbindungstraktes zwischen den Gebäuden ging es nicht mehr weiter, und als sie in den Außenspiegel blickte, blitzte auch hinter ihr ein dichter Schwarm von blauen Lichtern: weitere Rettungsfahrzeuge, Streifenwagen und Feuerwehrautos, immer mehr, die aus Richtung des Tiergartentunnels und vom Kappeleufer heranrasten und sich an ihre Stoßstange hängten.
Sie fuhr so weit sie kam, und als es nicht mehr weiterging, stieg sie aus und rannte die Rampe zum Eingang der Notaufnahme hinauf. Hinter dem grünen Glasschutz der Rampe schoben gehetzte Sanitäter Rolltragen mit Schwerverletzten durch die automatischen Türen, reichten Sauerstoffflaschen und W-Beutel an Pfleger und Schwestern weiter und liefen wieder hinaus, um die nächsten Opfer zu holen. Der Widerschein der Blaulichtleisten auf den in der Zufahrt haltenden Rettungswagen zuckte über die Gebäudefassaden. Ärzte und Verwundete schrien durcheinander. Ella hielt einen Pfleger am Ärmel fest. »Kommen Sie mit, ich brauche draußen Ihre Hilfe!«
»Jetzt nicht«, der Pfleger schüttelte heftig den Kopf, »Sie sehen doch, wie's hier zugeht!«, aber sie ließ ihn nicht los. »Ich habe eine sterbende Frau im Wagen«, sagte sie, »die verblutet mir, wenn ihr nicht sofort geholfen wird.«
»Hier sterben noch mehr«, antwortete der Pfleger. Sie hielt ihn weiter fest und stand ihm einfach im Weg, bis er aufgab. Max hatte schon die Hintertüren geöffnet und alles vorbereitet, damit die Trage mit der Frau aus dem Sanka gerollt werden konnte, und als der Pfleger die Patientin sah, wurde er blass und packte mit an. Sie hievten die Trage von der Ladefläche und rollten sie in die Klinik. Die ganze Zeit konnte der Pfleger die Augen nicht von der Frau lösen. Sie bahnten sich einen Weg durch die anderen Rettungsteams in der Notaufnahme, und hier war die Frau plötzlich nur einer von vielen verstümmelten Körpern.
Ein Arzt in einem blutbefleckten grünen Kittel lief ihnen entgegen und wedelte abwehrend mit einem Clipboard. Er schüttelte den Kopf. »Wir können niemand mehr aufnehmen.«
»Sie stirbt«, sagte Ella. »Sie muss sofort versorgt werden!«
»Wir haben keinen Platz«, sagte der Arzt. »Sie müssen sie woanders hinbringen!«
»Noch eine Fahrt überlebt sie nicht!«
Für einen Moment gelang es dem Arzt, sie festzuhalten, aber dann sah er ihr in die Augen, und was immer er da sah, veranlasste ihn, zur Seite zu treten. »Bringt sie da hinten hin, ich kümmere mich gleich um sie.« Er schwenkte das Clipboard in Richtung des Gangs zur Intensivstation.
Ella und der Pfleger rollten die Trage durch eine weitere Tür, vorbei an der Notaufnahme, in der alle Bänke und auch die durch Vorhänge voneinander getrennten Pritschen belegt waren. Die Räder der Trage quietschten, eins blockierte immer wieder. Im Laufen beugte Ella sich über die verletzte Frau. Das Blut in ihrem Gesicht war jetzt bräunlich, aber die Haut klaffte wachsbleich, und der Körper wirkte wie geschrumpft unter dem grünen Tuch. Der Trachealtubus, der aus ihrem Mund zum Beatmungsgerät führte, wirkte nicht wie ein Luftschlauch, sondern wie ein Kanal für die Seele, ein Weg, ihren Körper zu verlassen.
»War die auch in der Disko?«, fragte der Pfleger.
»Nein.«
»Was ist denn dann mit ihr passiert?«, fragte der Pfleger. »Sind das Schnittwunden? Sieht aus, als wäre sie durch eine Glasscheibe gefallen.«
»Ja«, sagte Ella, »so sieht es aus.« Nur schemenhaft nahm sie Chirurgen und Pfleger in grünen Kitteln wahr, Rettungssanis in Rot, Notärzte in Blau, Feuerwehrleute mit gelben Helmen und Polizisten in Uniform, die neben oder vor ihnen auftauchten und verschwanden. Im Laufen schob sie das linke Augenlid der Frau hoch. Die Pupille war mittelweit, reagierte aber nicht.
»Sie scheint kaum noch Blut im Körper zu haben«, sagte der Pfleger. Er warf einen Blick auf das unleserliche Krankenblatt, das Max ausgefüllt und an die Trage geklemmte hatte. »Wie viel haben Sie ihr gegeben?«
»Alles, was wir hatten.« Ella kontrollierte den Druckmesser. »90 zu 60. Blutdruck fällt schnell! Sie hat praktisch keinen Puls mehr, von 100 auf 57 seit eben. Ich habe ihr Noradrenalin direkt ins Herz gespritzt, sonst wäre sie jetzt schon –«
»Wie heißt sie? Hier steht kein Name.«
»Sie ist noch nicht dazu gekommen, das Aufnahmeformular auszufüllen«, sagte Ella. Das blockierende Rad klapperte jetzt hin und her.
»Kein Grund, kiebig zu werden«, sagte der Pfleger. »Ich brauche einen Namen.«
»Dann geben Sie ihr einen.«
Ella sah ihn nicht an, sie hatte nur Augen für die Frau auf der Trage. Sie bogen um eine Ecke in einen Korridor, schlugen die Flügel einer durchsichtigen Plastikschwingtür zur Seite und rollten weiter einen langen Korridor entlang, an dessen Ende ein Fahrstuhlschacht lag. »Wie sieht's auf der Intensiv aus?«, fragte Ella.
»Platzt aus allen Nähten.«
»Ich will ein Bett, egal wie.«
»Keine Chance.«
Die Pieptöne des Herzmonitors wurden schneller. »Druck 70 zu 40«, rief der Pfleger, »Scheiße, das sieht nicht gut aus –«
Ella drehte das Sauerstoffventil weiter auf, und warum hören die Räder nicht auf zu quietschen, und »Dr. Carsten in die Kardiologie«, rief eine Frauenstimme über die Lautsprecheranlage, »Dr. Carsten, bitte sofort in die Kardiologie!«, und ein weiterer Arzt tauchte auf und lief neben ihnen her. Er trug einen Mundschutz, aber trotzdem konnte sie erkennen, dass es ein anderer war als der, der ihr versprochen hatte, sich um die Frau zu kümmern. »Ich übernehme jetzt!«, rief er und lief voraus zum Fahrstuhl. Er drückte auf den Rufknopf, und sie hatten Glück, die Tür öffnete sich sofort.
Die Kabine war leer bis auf einen Jungen mit kahl rasiertem Schädel in einem Klinikhemd.
»Wo bringen Sie sie hin?«, fragte Ella.
»Nach oben, da ist mehr Platz«, antwortete der Arzt, und später, als sie sich alles noch einmal in Erinnerung rief, suchte sie nach einem Anzeichen, das ihr hätte auffallen müssen, einem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber alles, was ihr wieder einfiel, war der Junge mit dem kahl rasierten Schädel in dem Fahrstuhl, dieser kleine bleiche Junge, höchstens sieben Jahre alt, der allein und barfuß in dem grellen Licht des edelstahlverkleideten Lifts stand, in einem knielangen, weißen Klinikhemd, sich ein Auge zuhielt und mit dem anderen herausschaute, als wäre der Lift ein Raumschiff von einem anderen Planeten, in dem er gerade auf der Erde gelandet war, umgeben von außerirdischem Glanz.
»Dr. Carsten, melden Sie sich umgehend in der Kardiologie!«, rief die Stimme in der Lautsprecheranlage.
»Wie heißen Sie?«, fragte Ella den Arzt. »Sagen Sie mir Ihren Namen.« Der Arzt antwortete, nannte vielleicht seinen Namen, bloß dass sie ihn wegen des Mundschutzes nicht verstand, dann schob er die Trage mit der Frau und die Geräte in den Fahrstuhl. Er drückte einen Knopf. Der Junge sah erst die Patientin an, dann den Arzt und schließlich Ella. Die Fahrstuhltür schloss sich vor dem Arzt und dem Jungen und der Frau.
Auf einmal spürte Ella ihre Müdigkeit wiederkehren, eine Erschöpfung, in der sie versank wie in Treibsand. Sie ging den Korridor zurück, durch den sie noch nie vorher gegangen war. »Gute Nacht«, sagte der Pfleger, aber das hörte sie kaum noch. Nur mit Mühe konnte sie die Augen offen halten; es kam ihr vor, als hätte sie zerstoßenes Glas unter den Lidern. Sie war so durstig, dass die Zunge am Gaumen klebte. Sie ging durch die Plastiktür mit den transparenten Flügeln, und hinter der nächsten Tür trat sie erneut ins Chaos.
»Können Sie mal mit anpacken?«, rief eine Schwester. Sie drückte Ella eine Sauerstoffmaske in die Hand und beugte sich über einen jungen Mann, der in Silberfolie gepackt auf einer Trage lag und verzweifelt nach Luft rang. Ella half ihr, den Mann zu halten, während eine zweite Schwester den Körper festschnallte. Ein beißender Geruch nach Rauch, verbrannter Haut und Urin stieg von dem Körper auf.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums scharte sich ein Notfallteam um einen anderen Körper auf einer weiteren Trage. Es war ein sehr schmaler Körper, und hinter den Ärzten und Sanitätern stand eine türkische Frau mit angesengtem Kopftuch wie erstarrt, beide Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Junge in rußiger Freizeitkleidung versuchte, sie von den Ärzten wegzuziehen. »Mama, komm, Mama ...«
Für einen Moment gelang es ihm, sie festzuhalten, dann riss sie sich los und schrie, »Ayshe, meine Ayshe, oh Allah!« Ihre Augen waren gerötet und von Rauch und Tränen fast zugeschwollen. Immer wieder schrie sie, »Oh Allah, Allah, Herr Doktor, meine Ayshe!« und gerade als das Team die Trage wegrollen wollte, warf sie sich über den schmalen Körper. Hilflos zuckte der Junge in der Freizeitkleidung mit den Schultern. Dann fasste er sie wieder bei den Armen und zog sie zurück. Behutsam aber fest schloss er sie in seine Arme, drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und sagte leise: »Alles wird gut, Mama, alles wird gut, ja? Alles wird gut ...«
Der junge Mann unter Ellas Händen bäumte sich auf. Sie beobachtete die flatternden Lider oberhalb der Sauerstoffmaske und wusste plötzlich, dass er sterben würde. Zusammen mit der Schwester schob sie die Trage in einen Korridor, auf dem noch mehr Rolltragen standen, eine hinter der anderen. Der Gang war erfüllt vom Fauchen der Respiratoren, die Luft in die Lungen der Opfer auf diesen Tragen pumpten. So viele, dachte Ella, so viele, für die es um vier Uhr morgens keinen Platz auf der Intensivstation mehr gab.
Sie befestigte die Maske mit dem Gummizug im Nacken des alten Mannes, dann ging sie zur nächsten Trage, um zu sehen, ob sie dort etwas tun konnte.
Ein Jugendlicher, bewusstlos, die Haare weggebrannt bis auf die Kopfhaut. Sie ging weiter zur übernächsten: eine Frau, vielleicht in ihrem Alter, die Lider zuckten, Brandsalbe glänzte auf dem dunkelroten Gesicht. Einige Sekunden lang flimmerte die Luft vor Ella, und wieder drohten ihre Beine nachzugeben. Doch das Gefühl ging vorüber, und als sie in die Gesichter der Menschen sah, der Männer, Frauen und Kinder, verspürte sie kein Entsetzen mehr, nur Mitleid, das sich ihr schwer aufs Herz legte.
Sie hörte ein leises Klirren hinter sich, erst unregelmäßig, dann so präzise wie ein Metronom. Sie drehte sich um. Der sterbende junge Mann hatte ihr das Gesicht mit der Sauerstoffmaske zugewandt und klopfte mit einem Ring an der rechten Hand gegen das Metallgestell der Trage, als wollte er ihr eine Botschaft morsen. Dabei sah er sie unverwandt an. Sie kannte diesen Blick, der kein Ziel hatte, der durch sie hindurchging, weiter und weiter. Im nächsten Moment fiel der Mann zurück und lag still. In seine Miene trat ein Ausdruck, der vorher nicht da gewesen war. Erlösung.
Ella ergriff seine Hand und legte sie ihm auf die Brust. Sie nahm ihm die Sauerstoffmaske ab und zog das grüne Tuch, das ihn bedeckte, bis zur Stirn hoch. Dann wandte sie sich ab und ging zurück zum Ausgang der Notaufnahme.
»Dr. Carsten, melden Sie sich umgehend in der Kardiologie«, sagte die Frauenstimme in der Lautsprecheranlage.
Ella entdeckte den Pfleger, der ihr mit ihrer Patientin geholfen hatte. »Haben Sie Max gesehen?«
»Wen?«
»Max Jansen, meinen Rettungsassistenten. Der sich den Fußknöchel verstaucht hat.«
»Sie suchen jemanden, der sich den Knöchel verstaucht hat?«
Sie fand Max draußen im Rettungswagen. Er saß bei offenen Türen hinten auf der Kante der Transportfläche und rauchte einen Zigarillo. Der rechte Fuß war in einen Stützverband gewickelt. »Ist das schon geröntgt worden?«, fragte sie.
»Na klar«, sagte Max. »In der Radiologie hatten sie gerade nichts zu tun.«
Sie merkte, dass sie lächelte, aber es tat weh. »Komm, ich fahre dich in eine andere Klinik.«
»Nein, fahr mich nach Hause.«
Der dunkelgraue Audi Quattro stand in der Parkbucht vor der Einfahrt zum Campusgelände, halb hinter dem Virchow-Denkmal verborgen. Ella sah ihn erst, als sie schon fast vorbeigefahren war. Gerade ging die Sonne auf, und die Fenster des Bettenhauses warfen das Licht zurück. Das blendende Gleißen der Fenster füllte den ganzen Rückspiegel aus, und Ella konnte nichts mehr erkennen, bis sie den Rettungswagen durch eine Lücke im Gegenverkehr in die Reinhardtstraße gesteuert hatte. »Ich glaube, da war er wieder«, sagte sie.
Max hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt und summte vor sich hin, Bruchstücke eines Songs, den sie nicht kannte. Dann sagte er: »Ich habe Hunger«, ohne die Augen zu öffnen.
»Worauf?«
»Wodka. Eine ganze Flasche.«
»Wodka ist ein Getränk«, sagte Ella. »Hunger hat man auf Essen.«
»Hast du Hunger?«, fragte Max.
»Weiß ich noch nicht«, sagte sie.
»Möchtest du einen Wodka?«
»Später.«
»Und einen Döner?«
»Nein.«
»Ich möchte einen Döner«, sagte er.
»Soll ich zum Türken fahren?«
Er nickte. »Fahr zum Türken.« Er schloss die Augen und schien wegzudämmern.
Sie fuhr ein Stück weit die Reinhardt entlang in Richtung S-Bahn Oranienburger Straße. Jetzt gehörte die Stadt dem Morgen – den Sprengwagen der Straßenreinigung, den Briefträgern, den Zulieferern der Supermärkte. Sie gehörte den ersten Ladenbesitzern, die ihre Rollläden hochzogen. Sie gehörte den Arbeitern und Angestellten, den Geschäftsleuten und berufstätigen Frauen, die aus den Eingängen der U-Bahn-Stationen quollen, die Eisentreppen der S-Bahnhöfe herabeilten oder mit Bussen, auf Fahrrädern und in ihren Wagen in die Stadt strömten. Sie gehörte dem Leben, dem Licht.
Studenten, Ärzte und Pfleger bevölkerten die Bürgersteige rund um die Charité. Servicekräfte, die man früher Kellner genannt hatte, stellten die Stühle an die Tische vor den Straßencafés, Backfactorys und vegetarischen Frühstücksshops. Schulkinder mit Rucksäcken und bunten Ranzen überquerten fröhlich kreischend die Zebrastreifen, und Ella dachte, sie sind so unschuldig, jeder von ihnen, keiner hat gesehen, was ich heute Nacht gesehen habe. Keiner weiß, wie nah sie dem Grauen sind; wie nah es ihnen ist. Und der Himmel war von einem strahlenden Blau.
»Er war da. Er war in der Wohnung«, sagte sie unvermittelt.
»Wer war in der Wohnung?«, fragte Max schläfrig.
»Der Mann, der sie so zugerichtet hat.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe ihn gesehen.«
Er öffnete nicht einmal die Augen. »Ach ja? Wie sah er aus?«
Sie antwortete nicht. Sie versuchte Ordnung in die Gedanken zu bringen, die in ihrem Kopf kreisten. Max fragte: »Was hast du eigentlich vor dem Haus noch mit dem Nachbarn der Frau geredet?«
Ella sagte: »Ich hab mir seinen Namen notiert und ihn gefragt, ob er es war, der den Notruf gewählt hat. Icke? Nee ...«, machte sie ihn nach. »Dann hab ich ihn gefragt, ob er weiß, wie die Frau heißt, und er sagt, nee, ich glaub, die ist nicht von hier. Er hätte aber mal Post für sie angenommen, einen Brief mit französischer Marke drauf und einem Absender in Paris. Aber ihr Deutsch wäre tadellos.«
Sie setzte den Blinker und bog nach rechts ab. »Und wie die Leute heißen, wüsste er auch nicht, sagt er, nee, die hätten immer schön Abstand gehalten. Feine Leute. Er glaubt, denen gehört das Haus sogar. Ich hab ihm gesagt, dass wir sie in die Charité bringen und ihn gebeten, die Polizei zu informieren.«
»Wetten, das wollte er nicht«, sagte Max.
»Nee, nee, das machen Sie mal lieber selbst!« Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, aber der Verkehr war inzwischen zu dicht, und alle Frontscheiben reflektierten die Sonne. »Max, fragst du dich nicht, was da los war, in der Wohnung? Wer war der Mann? Wer ist die Frau? Warum hat er das mit ihr gemacht, warum hat er sie so zugerichtet? Wer hat uns gerufen? Warum war der Mann noch da, als wir gekommen sind? Wir haben über acht Minuten gebraucht – zehn, bis wir oben waren –, und die ganze Zeit ist er da oben durch Blut gewatet. Sie muss geschrien haben vor Schmerzen, also warum war er noch da? Warum war er nicht längst weg? Interessiert dich das alles nicht?«
»Mich interessiert, wann ich was zu essen kriege.« Max öffnete ein Auge, musterte sie kurz, richtete es dann auf die Straße. »Da vorn ist der Türke.«
Ella schaltete das Blaulicht ein und ließ kurz das Martinshorn aufheulen, um einen Mercedes zu vertreiben, der gerade rückwärts in die einzige Parklücke vor dem Imbiss manövrieren wollte. Während sie bremste, kuppelte, in den Rückwärtsgang wechselte und das Lenkrad einschlug, redete sie weiter. »Ich hatte jedenfalls Angst, richtig Angst! So ein Gefühl hatte ich noch nie bei einem Einsatz. In Neukölln bin ich mal angespuckt und von so 'nem verrückten Kickboxer bedroht worden. In Wedding haben Araberclans unseren Wagen mit Steinen beworfen, und in Marzahn haben sie uns die Reifen zerstochen. Bei einer Demo ist vor meinen Augen ein Mädchen von Bullen in voller Montur mit Schlagstöcken dermaßen zusammengeknüppelt worden, dass ich den Schädel knacken gehört habe. Ich war nur eine Handbreit weit weg, als vermummte Autonome Polizisten mit Pflastersteinen und Brandsätzen beworfen haben, und ich hab Decken über die brennenden Männer geworfen. Ich bin umgerannt, umgestoßen und einmal beinahe überfahren worden. Aber das alles«, sie schwieg kurz, dann holte sie tief Luft, »das alles war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, als ich plötzlich in der Wohnung spürte, dass da noch jemand war. Es war nichts gegen diese würdelose Angst.«
Sie hielt am Bürgersteig, meldete sich in der Leitstelle ab und schaltete den Funk aus. Max hievte sich mühsam von seinem Sitz. »Ich glaube, ich nehme keinen Döner«, sagte er. »Ich nehme ein Hähnchen.« Er stützte sich auf Ellas Schulter und humpelte neben ihr auf die offene Tür des Imbissladens zu. Über dem Eingang stand in grünen Buchstaben auf rotem Grund Dürüm Salat Iskender Pommes Burger Pizza Pasta Hähnchen, und neben dem großen Schaufenster prangten Farbfotos von krossen Grillhähnchen, goldgelben Pommes frites, überquellenden Dönertüten und bunten Salaten. Im Inneren gab es eine Reihe schlichter Holztische und einen Kühlschrank mit Getränkedosen. Türkische Musik hallte von den rot gestrichenen Wänden wider. Ein Dönerspieß drehte sich langsam vor den glühenden Grillstäben, und in der öligen Hitze wurde man fast schon vom Luftholen satt.
»Jeder Mensch hat über zweihundert Knochen«, sagte Ella zehn Minuten später und schwenkte einen Hühnerknochen, den sie eben heißhungrig abgenagt hatte, »die meisten davon in Händen und Füßen. Wir haben über sechshundert Muskeln, ein Herz, ein Gehirn, Nieren, Leber, Augen, aber das größte Organ ist unsere Haut, und da hat der Kerl gründliche Arbeit geleistet. Er hat sie ihr praktisch in Streifen geschnitten.«