Das Todesnetz: Ein Ella-Bach-Thriller - Claus Cornelius Fischer - E-Book
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Das Todesnetz: Ein Ella-Bach-Thriller E-Book

Claus Cornelius Fischer

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Beschreibung

Wenn Sie gerade im Internet sind, schweben Sie in größter Gefahr: Der Thriller »Das Todesnetz« von Claus Cornelius Fischer als eBook bei dotbooks. Deutschland im Ausnahmezustand: Ein Selbstmordattentäter verübt einen Anschlag auf die Berliner U-Bahn, wenig später reißt ein zweiter Wahnsinniger noch mehr Opfer in den Tod – und beide streamen ihre Taten bis zum letzten Moment ins Internet! Gibt es einen Zusammenhang mit einem neuen sozialen Netzwerk, das von London aus seinen dunklen Schatten über die Welt wirft? Die Ärztin Ella Bach glaubt zunächst nicht daran, dass es möglich ist, Menschen über das Internet zu ferngesteuerten Waffen zu machen – doch dann verschwindet ihre beste Freundin in der britischen Hauptstadt. Gibt es einen Zusammenhang? Auf der Suche nach ihr muss Ella sich schließlich die Frage stellen, ob jeder ihrer Schritte beobachtet wird … und es überhaupt noch möglich ist, vor einem Gegner davonzulaufen, der unbemerkt überall lauert – und jederzeit zuschlagen kann! »Kein Thriller für Zartbesaitete. Hart, schnell und laut, Spannung ist garantiert.« Luzerner Zeitung Jetzt als eBook kaufen und genießen: der Thriller »Das Todesnetz« von Claus Cornelius Fischer, dem Autor der international erfolgreichen Krimiserie rund um den Amsterdamer Kommissar Bruno van Leeuwen. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 826

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Über dieses Buch:

Deutschland im Ausnahmezustand: Ein Selbstmordattentäter verübt einen Anschlag auf die Berliner U-Bahn, wenig später reißt ein zweiter Wahnsinniger noch mehr Opfer in den Tod – und beide streamen ihre Taten bis zum letzten Moment ins Internet! Gibt es einen Zusammenhang mit einem neuen sozialen Netzwerk, das von London aus seinen dunklen Schatten über die Welt wirft? Die Ärztin Ella Bach glaubt zunächst nicht daran, dass es möglich ist, Menschen über das Internet zu ferngesteuerten Waffen zu machen – doch dann verschwindet ihre beste Freundin in der britischen Hauptstadt. Gibt es einen Zusammenhang? Auf der Suche nach ihr muss Ella sich schließlich die Frage stellen, ob jeder ihrer Schritte beobachtet wird … und es überhaupt noch möglich ist, vor einem Gegner davonzulaufen, der unbemerkt überall lauert – und jederzeit zuschlagen kann!

»Kein Thriller für Zartbesaitete. Hart, schnell und laut, Spannung ist garantiert.« Luzerner Zeitung

Über den Autor:

Claus Cornelius Fischer (1951–2020) arbeitete als Journalist unter anderem für DIE ZEIT und DIE WELT, als Übersetzer und als erfolgreicher Autor von Romanen, Krimis und Thrillern.

Bei dotbooks veröffentlichte Fischer bereits seinen ersten Ella-Bach-Thriller »Das erste Opfer«.

***

eBook-Neuausgabe September 2020

Dieses Buch erschien erstmals 2013 unter dem Titel »Nukleus« im Karl Blessing Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Karl Blessing Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von zwei Bildmotiven von shutterstock/TTstudio und Happy Person

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96655-057-4

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

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Besuchen Sie uns im Internet:

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blog.dotbooks.de/

Claus Cornelius Fischer

Das Todesnetz

Ein Ella-Bach-Thriller

dotbooks.

Hätte der Mensch einen freien Willen – das heißt, könnte jedermann tun und lassen, was ihm beliebt – dann wäre die ganze Geschichte der Menschheit ein Gewirr unzusammenhängender Ereignisse.Leo N. Tolstoi

Gedankenkontrolle bedeutet die Kontrolle über die Ideen, Gedanken und Gefühle einer anderen Person, obgleich diese Person augenscheinlich weder unter physischem Zwang steht noch in Gefangenschaft lebt.Lee Colemanetra

Durch Wissenschaft und Technik werden wir den Aliens begegnen, und das werden wir selbst sein.Norman Spinrad

Kapitel 1

»Sie ist eben aus dem Hausgekommen.«

»Seid ihr ganz sicher, dass sie es ist?«

»Ella Bach, Ärztin, gestern Abend mit BA aus Berlin gelandet und in Bayswater im Lancaster Gate Hotel abgestiegen.«

»Ist sie allein?«

»Mutterseelenallein.«

»Was macht sie?«

»Nichts. Steht nur da vor dem Eingang.«

»Wie sieht sie aus?«

»Als wäre sie einem Geist begegnet.«

»Dem Geist ihrer toten Freundin. Welche Kamera ist im Einsatz?«

»Hans Place.«

»Sorgt dafür, dass das gelöscht wird. Sie war nie da. Was macht sie jetzt?«

»Holt ihr Handy heraus und telefoniert.«

»Kann sie euch sehen?«

»Nein. Sie geht los.«

»Wohin?«

»Richtung Harrods. Sollen wir sie nicht lieber sofort ...?«

»Nein. Erst wenn sie eine Gefahr wird.«

Kapitel 2

Mit locker schwingenden Armen fliegt Shirin über den Asphalt wie eine Schwalbe, den Abendwind im Gesicht. Wenn man traurig ist, gibt es nichts Besseres, als auf Skates über eine leere Straße zu jagen und den Kummer einfach hinter sich zu lassen. Sie fliegt, und der Himmel, rot und blau, stürzt ihr durch die weit aufgerissenen Augen mitten ins Herz. In den Kopfhörern ihres iPods hämmert der Beat von Rihanna. Die Leuchtreklamen und Straßenlampen drehen sich wie ein schimmerndes Rad um ihren Kopf, als sie einen Laternenmast packt und im Kreis herumwirbelt. An der Ampel muss sie warten, dann hat sie die U-Bahn erreicht und drückt auf den Fahrstuhlknopf, weil Mama nicht will, dass sie mit angeschnallten Skates die Treppe nimmt. In letzter Zeit ist Mama immerzu besorgt, besorgt, besorgt.

Der Lift zu den Gleisen fährt so langsam, dass Shirin den Zug verpasst, den sie eigentlich kriegen wollte. Sie sieht die Rücklichter noch in der schwarzen Tunnelröhre verschwinden. Eine Zeit lang ist sie der einzige Mensch auf dem trübe beleuchteten Bahnsteig. Sie nimmt die Kopfhörer ab und hängt sie sich um den Hals. Sie betrachtet die Plakate, die an den Säulen hängen. Die meisten kennt sie schon, deswegen fängt sie an, um die Sitzbänke und Müllkörbe herumzuflitzen, obwohl die Schilder an den Säulen rot durchgestrichene Skates zeigen. Aber sie zeigen auch brennende Zigaretten, die genauso verboten sind, und der Mann, der plötzlich vor ihr steht, raucht trotzdem. Shirin hätte ihn beinahe umgefahren. Eben noch war der ganze Bahnsteig leer, und einen Moment später steht der Mann vor ihr und sieht sie erschrocken an. »Tschuldigung!«, entfährt es ihr.

Der Mann sieht sie nur weiter an, ohne etwas zu sagen. Er ist groß und dünn, und er schwitzt, obwohl es hier unten nicht so heiß ist. Vielleicht weil er einen Mantel trägt, denkt sie. Alles an ihm ist schwarz, der Ledermantel, die Hose, die Sandalen, auch das Haar und der Bart, nur die Füße in den Sandalen nicht; die sind nackt und weiß. Jetzt lächelt er auf einmal, aber so ein Lächeln hat Shirin noch nie gesehen, und es hält auch nicht lange. Sie macht eine ungeschickte Kehrtwende und rollt fort von ihm.

Der Mann folgt ihr langsam. Ein paar Schritte entfernt bleibt er stehen, raucht den letzten Zug von seiner Zigarette und drückt sie am Rand des Müllkorbs an der nächsten Säule aus. Danach holt er ein Handy aus der Tasche und bewegt den Zeigefinger mehrmals über das Display. Er liest etwas, bewegt dabei die Lippen, als wollte er das, was er liest, auswendig lernen. Er verstaut das Handy wieder in der Tasche, und dann verschränkt er die Hände vor dem Bauch, so fest, dass die Knöchel seiner Hand rötlich durch die weiße Haut schimmern.

Shirin schaut weg, zur Treppe, auf der gerade ein Punker herunterkommt. Er trägt eine Lederjacke mit überbreiten Schultern, schmutzige Turnschuhe und Jeans mit Löchern, durch die man seine dünnen Beine sehen kann. Seine nackte Brust ist bleich, eingefallen. In seiner linken Wange steckt eine blitzende Sicherheitsnadel, und auf dem kahlgeschorenen Kopf hat er einen feuerroten Irokesenkamm. Auf seiner Schulter kauert eine weiße Ratte. Während er auf den Zug wartet, gibt er ihr aus einer Dose ein bisschen Bier zu trinken, das er sich vorher in die Hand schüttet.

Der Fahrstuhl bewegt sich nach oben, aber eine Zeit lang kommt niemand herunter. Dann erscheinen drei weiße Mädchen in Sommerkleidern. Sie kichern ununterbrochen, stoßen sich mit den Ellbogen an und tun so, als wären sie allein auf dem Bahnsteig. Eins der Mädchen holt einen Taschenspiegel heraus, malt mit einem roten Stift ihre Lippen an und zieht dabei Grimassen wie einer von den kleinen Affen im Zoo, wenn sie um Erdnüsse betteln. Obwohl sie so laut sind, achtet niemand auf die Mädchen, weder der Mann in dem schwarzen Ledermantel noch der Punk, nicht einmal die Ratte.

Shirin zieht die Kopfhörer des iPod wieder über die Ohren, und da ist es, als wäre ihr Kopf plötzlich ein ganzes Stadion, in dem Rihanna nur für sie singt, so laut und wild, als wollten sie ihr mit ihren Gitarren das Gehirn zerfetzen. Mama will nicht, dass sie solche Musik hört, Lieder von deutschen oder amerikanischen Bands statt Musik von da, wo sie herkommt, Stücke von Fares Karam oder Haifa Wahbi. Nur Onkel Rashido ist erlaubt. Aber selbst dann nimmt Papa ihr manchmal den iPod weg. Sie kriegt ihn allerdings jedes Mal wieder, denn sie ist seine Schneeflocke. Sie bringt ihm bald viel Geld ein, das sagt er immer.

Jetzt schwebt die Fahrstuhlkabine mit den schmutzigen Glaswänden wieder herab. Am anderen Ende des Bahnsteigs taucht ein Sicherheitsmann der U-Bahn-Wache auf. Er hat eine dunkelblaue Uniform an, und das Leder seines Gürtels, der Stiefel und der Pistolentasche glänzt schwarz. Er trägt eine Sonnenbrille, durch die er bestimmt nicht viel sehen kann, und ein Barett. Sein Gesicht wirkt steif. Der kleine Mund sieht komisch aus, blass und dünn wie eine verheilte Wunde.

Die Liftkabine sinkt den Glasschacht herunter und hält mit einem sanften Ruck. Vier junge Rucksacktouristen mit kleinen US-Wappen auf den Backpacks verlassen den Fahrstuhl, hinter ihnen zwei Frauen. Die beiden Frauen gehen gleich zu einer Bank und setzen sich hin. Beide haben eine Burka an; die eine ist dick, die andere schlank.

Aus der Gleisröhre fegt ein Schwall warmer Luft über den Bahnsteig, als der Zug einfährt. Das Rattern der Räder wird so laut, dass es die Musik in den Kopfhörern übertönt, und dann donnert der Triebwagen der U7 aus dem Tunnel. Die meisten der erleuchteten Waggons mit den bunt beklebten Fenstern sind leer. Als der Zug hält, kommt nur eine Handvoll Passagiere heraus. Fast alle, die auf dem Bahnsteig gewartet haben, steigen in denselben Wagen, in dem schon ein Dutzend Leute sitzen, alte Frauen mit Kopftüchern und Schleiern, Männer mit Aktentaschen, zwei Nonnen, ein paar Jugendliche mit Handys, aber keine anderen Kinder.

Shirin balanciert auf ihren Skates in den Wagen und bleibt neben der Haltestange an der Tür stehen, genau wie der Mann in dem schwarzen Ledermantel am anderen Ende und der Mann mit der Uniform in der Mitte. Der Zug fährt abrupt los und beschleunigt so heftig, dass ihr beinahe die Füße weggerutscht wären. Sie hält sich fest, denn der Wagen schlingert stark. Durch die bunt beklebten Fenster kann sie die Wände der Gleisröhre vorbeiflitzen sehen; sie spürt die Erschütterungen der Räder auf den Schienen unter ihr.

Der Mann am anderen Ende des Gangs fängt an, langsam seinen Mantel aufzuknöpfen, Knopf für Knopf, von unten nach oben. Er sieht niemanden an, und niemand achtet auf ihn. Sein ganzes Gesicht ist jetzt schweißbedeckt. Sogar seine nackten Füße in den Sandalen glänzen nass. Er schaut auf seine Armbanduhr und schiebt eine Hand unter die erst halb geöffneten Mantelschöße.

Shirin beobachtet die anderen Passagiere. Einige lesen Zeitung, einer simst; der Rest schaut ins Leere oder aus den Fenstern, obwohl man da nichts sehen kann. Die beiden Nonnen tuscheln miteinander. Der Sicherheitsmann schwankt leicht im Rhythmus der Erschütterungen. Die Mädchen in den Sommerkleidern kichern immer noch. Der Punker setzt die Bierdose an die Lippen. Die Ratte auf seiner Schulter macht Männchen, ihr rosiges Schnäuzchen vibriert.

Der Zug fährt in die nächste Station ein. Der Mann in dem schwarzen Ledermantel streckt die Hand aus, als wollte er den Knopf zum Aussteigen drücken. Er hat einen verlorenen, sehnsüchtigen Ausdruck im Gesicht, und die Hand zittert. Im letzten Moment scheint er es sich anders zu überlegen. Er zieht die Hand zurück und schiebt sie in die Tasche. Sein Gesichtsausdruck entspannt sich. Jetzt holt er das Handy heraus und richtet es mit dem Display auf die anderen Fahrgäste. Shirin schaut sich um, ob noch jemand außer ihr den Mann komisch findet, aber sie ist wohl die Einzige, und jetzt wird sie von einem Pärchen auf dem Bahnsteig abgelenkt.

Ein junger Araber in Jeans und Lederjacke löst sich gerade aus den Armen seiner Freundin, blickt ihr noch einmal tief in die Augen und springt dann in den Wagen, gerade als sich die automatischen Türen schließen. Das Mädchen auf dem Bahnsteig ruft etwas, aber er sieht nicht mehr hin. Sie weint und wischt sich die Tränen nicht weg.

Ob Yassim sie auch eines Tages so küssen wird?, denkt Shirin; eines Tages, wenn sie groß genug sind, um zu heiraten? Sobald sie an ihn denkt, fängt ihr Magen an zu kitzeln, weil er so süß aussieht, so schmal und zart, und seine Augen sind ganz groß und dunkel. Jetzt muss sie nicht weinen, wenn sie von ihm weggeht, aber sobald er sie das erste Mal geküsst hat, und wenn er ihr dann so tief in die Augen sieht, dann wird sie bestimmt weinen, und sie wird die Tränen auch nicht wegwischen.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Der junge Araber sieht sich um, mustert die anderen Fahrgäste; schaut, ob einer ihm etwa blöd kommen will. Sein Blick bleibt auch an dem Mann in dem schwarzen Ledermantel hängen. Der Mann bemerkt den Blick und erwidert ihn, ohne die Augen oder das Handy zu senken. Der Araber macht einen Schritt auf ihn zu. Da öffnet der Mann mit der freien Hand die letzten Knöpfe des Mantels und schlägt die Schöße auseinander. Sein Gesicht leuchtet, als wäre innen drin eine Kerze angezündet worden.

Der Araber bleibt jäh stehen, starrt auf etwas unter dem Mantel, das Shirin nicht sehen kann. Im selben Moment flackert um ihn herum ein seltsames Licht wie von einem Fotoblitz, erst weiß und dann gelb und rot. Ein Luftstoß schlägt Shirin ins Gesicht, so heftig, dass sie überrascht um Atem ringen muss. Der junge Araber bricht in die Knie, kauert schwankend einen Moment auf dem ruckelnden Boden, dann stürzt er zur Seite. Er zuckt noch ein paar Sekunden mit den Beinen wie ein träumender Hund im Schlaf, und etwas Rotes quillt ihm über die Lippen. Eine Sekunde später rührt er sich nicht mehr.

Jetzt kann Shirin den Mann in dem schwarzen Ledermantel wieder sehen. Rauch steigt von seinem Bauch auf, und kleine Flämmchen tanzen über seine Brust. Sein Gesicht ist verzerrt vor Schmerzen, aber auch verwirrt. Er sieht an sich herunter auf etwas, das er vor dem Bauch trägt, flache braune Pakete und runde rote Stäbe an einem Gürtel. Einer der Stäbe hängt in verkohlten Fetzen von dem Gürtel, und dahinter ist das Fleisch aufgerissen und blutig. Die Flämmchen hangeln sich von Stab zu Stab, ohne dass etwas passiert. Das Handy bleibt weiter auf den Raum vor ihm gerichtet, filmt, was die anderen Fahrgäste machen.

Shirin reißt sich die Kopfhörer von den Ohren. Der Mann auf der Bank neben dem reglos daliegenden Araber öffnet den Mund. Er ruft etwas, das sie nicht versteht, und springt auf. Er läuft zur Tür, rüttelt an den starren Griffen. Er knickt in der Hüfte ein, kippt nach vorn und spuckt Blut auf seine Schuhe. Gut, dass Mama das nicht sieht, denkt Shirin erschrocken.

Der Sicherheitsmann wirft sich zu Boden. Der Mann an der Tür dreht sich um, und ihr scheint, als schaue er sie an, nur sie, und in seinen entsetzt aufgerissenen Augen flackert etwas wie eine graue Motte. Verzweifelt taumelt er zur nächsten Tür. Er blutet auch, aber nur aus einem Ohr. Trotz der weit geöffneten Augen scheint er nichts mehr sehen zu können, denn er dreht sich um sich selbst wie eine verrückte Katze, die ihren eigenen Schwanz fangen will. Die rechte Hand verkrallt sich an seiner Brust. Die Hand ist auch blutig. Die Schreie entstellen sein Gesicht. Die Sehnen an seinem Hals treten hervor, spreizen die Haut zu einem Fächer.

Shirin steht da wie gelähmt. Sie will sich bewegen, aber sie kann nicht, genau wie die anderen Fahrgäste. Alle starren auf den Mann in dem schwarzen Ledermantel, der immer wieder hektisch auf eine Stelle an dem Gürtel drückt, während der verrückte Katzenmann sich neben dem Mann in der Uniform auf dem Wagenboden wälzt. Das Ohr blutet inzwischen sehr stark. Endlich werden seine Bewegungen langsamer. Er rollt auf den Rücken; er zittert; das Zittern erstirbt.

Auf einmal hat Shirin Angst, so große Angst, dass sie es für etwas anderes hält, etwas, für das es keinen Namen gibt.

Die Ratte huscht von der Schulter des Punkers, rennt seinen Arm hinunter und springt auf den Boden, wo sie hin und her flitzt und sich dann in eine Ecke kauert.

Plötzlich springen alle auf, und eine Frau schreit etwas. Wieder versteht Shirin das Wort nicht. Die Frau schreit weiter, hinter ihr. »Hilfe!«, schreit sie. »O Gott! Eine Bombe! Hilfe! Hilfe ...!« Im selben Moment kommt der Uniformierte wieder hoch. Er drückt auf einen Knopf in der Wand neben seiner Tür und ruft etwas in das runde Sprechsieb unter dem Knopf, bevor er nach der Pistole an seinem Gürtel greift.

Der Mann in dem Ledermantel lacht laut. Shirin kann alle seine Zähne sehen und die Zunge, aber als sie genau hinsieht, stellt sie fest, dass er gar nicht lacht; er schreit etwas. Die Hand streckt das Handy vor wie ein Kreuz, mit dem er Ungläubige einschüchtern will. Immer mehr Rauch steigt aus seinem Bauch, und dann gibt es den nächsten weißen Blitz, weiß und gelb und rot wie ein Feuerwerk. Diesmal hört Shirin das Krachen, das den Luftstoß begleitet. Sie spürt, wie ihre Haut anfängt zu kribbeln. Ihre Stirn, der Hals, das ganze Gesicht juckt, als krabbelten Ameisen darüber.

Was ist das?

Sie reibt sich die kitzelnde Nase. Ihre Finger werden rot. Der nächste Atemzug ist scharf und sticht in der Brust, die sich zusammenzieht, bis es nicht mehr enger geht. Was ist das bloß? Sie schnappt nach Luft, ihr wird schwindlig. Ihre Augen brennen, und sie kann alles nur noch wie durch einen schwarzen Schleier sehen. Der Zug bremst, und ohne dass sie es will, rollt sie den Gang hinunter, auf den Mann im Ledermantel zu.

»Nicht, Kind!«, ruft eine der beiden Nonnen, die schwankend aufsteht und Shirin ansieht, »nicht, komm weg da, Kind!« Sie packt Shirins Arm und zerrt sie hinter sich her, fort von dem Mann, zurück zu der Tür im hinteren Wagenteil. Der Mann hat die Arme ausgebreitet. Er zittert und zuckt und brennt. Mit zurückgeworfenem Kopf bricht er in die Knie. Es ist auf einmal schrecklich heiß und stickig in dem Waggon. Das letzte Stück schleppt die Nonne Shirin mit über den Boden schleifenden Skates. »Leg dich hin«, keucht sie, »schau nicht auf.« Sie wirft sich neben Shirin, deckt sie mit ihrem eigenen Körper zu.

Yassim. Mama. Passim!

Hier an der Türritze kann man atmen, der Fahrtwind streicht Shirin über den Hals, und sie hört das Rattern der Räder auf den Schienen, aber das Schreien der anderen Leute hört sie nicht mehr. Sie hebt den Kopf, um zu sehen, was mit ihnen passiert ist. Sie entdeckt den Punker, der unter einer Bank liegt und den Kopf zurückgeworfen hat. Kein Laut dringt aus seiner Kehle, nur die Zunge in dem aufgerissenen Mund blutet. Dahinter sieht Shirin die drei Mädchen, die jetzt nicht mehr kichern, sondern aneinandergeklammert zwischen den Sitzen kauern. Auch sie geben keinen Laut von sich.

Kein Ruf, kein Schrei, nur ein unheimliches Scharren, Stöhnen und Keuchen. Und das Kreischen der Bremsen. Und das Rattern der Räder auf den Schienen. Und da – ein Klicken! Der Sicherheitsmann hat seine Pistole auf den Mann gerichtet und drückt ab. Nichts passiert. Der Hammer schlägt bloß klickend auf die Kammer. Er legt einen Hebel an der Waffe um, aber auf einmal reicht seine Kraft nicht mehr aus, die Pistole fällt ihm aus der Hand. Er bückt sich, um sie aufzuheben, greift ins Leere, bückt sich noch tiefer und greift noch einmal ins Leere. Er verliert das Gleichgewicht und rutscht an der Tür herunter, langsam, als wäre er aus Knetmasse, die an der glatten Fläche nicht halten will. Eine Hand hat er in den Hemdkragen geschoben, unter dem alles rot ist, die ganze Uniformjacke und das Hemd.

Und da, ein Flüstern dicht an Shirins Ohr: »Lieber Herr Jesus, hilf uns, sieh her und hilf uns in der Stunde unserer Not, hilf diesem Kind an meiner Seite, hilf unserer Schwester Bonita und vergib mir, vergib uns, unsere Sünden, unsere ...« Shirin sieht die andere Nonne auf sie zu kriechen, bis die Kraft Schwester Bonita verlässt und sie einfach liegen bleibt, mit dem Gesicht auf dem schmutzigen Boden. Diesmal sieht Shirin kein Blut.

Die Männer mit den Aktentaschen tippen verzweifelt auf den Tasten ihrer Handys herum, die Frauen auch. Zwei oder drei pressen ihre Köpfe gegen das Fenster des dahinrasenden Zuges, und noch immer ist draußen alles dunkel, die nächste Station nicht in Sicht. Sie erblicken nur ihre eigenen verzerrten Gesichter, während sie mit nachlassender Kraft an den Scheiben kratzen.

Und da, Shirin spürt den zitternden Körper der Nonne und hört sie um Luft ringen. »Herr Jesu, Herr Jesu, sei bei uns, Herr Jesu, sei bei uns.« Dann lauter: »Schau nicht hin! Schau nicht hin, Kind!« Aber auch wenn alles in Shirins Brust zu brennen scheint, sie kann nicht aufhören hinzuschauen, staunend, gebannt vom Anblick der Menschen, die sich gegenseitig mit Ellbogen und Fäusten beiseitestoßen oder übereinander hinwegtrampeln oder auf die Knie sinken oder einfach zur Seite kippen oder sich auf dem Boden winden oder auf die Türen zu kriechen, langsam wie Schnecken.

Shirin hört sie wimmern und scharren und stöhnen. Sie sieht die Gesichter: den Punker, die Jugendlichen mit den Handys, die Geschäftsleute, die toten Mädchen in den Sommerkleidern. Sie sieht die weiße Ratte, die auf der anderen Seite des Gangs liegt, die dünnen rosigen Beinchen steif von sich gestreckt. Sie denkt, dass es jetzt nicht mehr lang bis zur nächsten Station dauern kann und dass dort die Türen aufgehen werden, und vielleicht erwachen dann alle wieder zum Leben, nur die Ratte ist zu klein, die Ratte wird es vielleicht nicht schaffen, und deswegen zwängt Shirin sich unter der Nonne hervor und kriecht zu der Ratte.

Ihr ist so übel, als müsste sie jeden Augenblick auch sterben. Sie hat kaum noch Kraft. Ihre Brust zieht sich zusammen, sie kriegt keine Luft mehr, und noch immer keine Haltestelle, nur das kalte, metallische Rattern der Räder. Und da – die Hand des Sicherheitsmannes, die nach der Pistole tastet und sie aufhebt und zitternd auf das richtet, was von dem Mann in dem Ledermantel übrig ist. Bloß dass sie es nicht schafft, abzudrücken, sondern zurückfällt und schwer auf den Boden kracht. Der Zeigefinger krümmt sich um den Abzug.

In diesem Moment schlägt eine winzige Flamme aus der Mündung seiner Waffe. Das Peitschen des Schusses ist noch nicht verklungen, als eine blendende Explosion den Mann mit dem Sprengstoffgürtel in Stücke reißt, und alles fliegt durch die Luft, brennende Kleiderfetzen, Leder, Metall, Knochen, Glassplitter, Haut. Winzige Objekte schießen heran aus dem Rauch, eins blitzt kurz auf, zerreißt den Schleier vor Shirins Augen und explodiert in ihrem Kopf.

Ein Schlag gegen die Brust wirft sie von Knien und Händen, schleudert sie gegen die nächste Bank. Benommen kauert sie halb auf der Seite und ringt nach Luft, beide Beine mit den Skates von sich gestreckt wie die weiße Ratte. Dann, gerade als der Zug in die nächste Station einfährt und die Räder aufhören zu rattern, rutscht langsam der Ellbogen unter ihr weg. Sie fällt, und ihr Kopf prallt auf den Boden, und das Geräusch – das Letzte, was Shirin hört –, ist wie ein schwerer Schlag auf einen dunklen Gong.

Kapitel 3

Am schlimmsten war das Klingeln der Handys. Erst war es nur eins, dann setzte ein zweites ein, gleich darauf ein drittes und viertes, und danach wurden es immer mehr. Sie klingelten in den Jacken, den Rucksäcken, den Aktenkoffern und Handtaschen, als riefen all die Toten sich gegenseitig an, und keiner konnte die Anrufe mehr entgegennehmen. Die leblosen Körper lagen nebeneinander auf dem Bahnsteig, mit dem Gesicht nach oben. Ein paar waren zugedeckt, aber die meisten hatten bloß die Augen geschlossen wie Schlafende, und manche hatten gar kein Gesicht mehr. Die Einsatzkräfte hatten sie zwischen den weiß gekachelten Säulen mit den Köpfen zu den Gleisen ausgerichtet, auf denen noch immer der Zug stand. Die Wagen waren hell erleuchtet, die Türen standen offen.

Nur ein Waggon lag im Dunkeln, aber durch die leeren Fenster konnte man das Blut auf dem Boden und den verkohlten Sitzen sehen. Glassplitter der aus den Rahmen gesprengten Scheiben glommen im Licht der Milchglaslampen an der Gewölbedecke. Es roch nach verschmortem Plastik, versengten Haaren, verbrannter Haut. Feuerwehrleute mit Atemmasken liefen neben dem Zug auf und ab. Bundespolizisten mit Schutzwesten und Maschinenpistolen sperrten die Zugänge der Bahnsteige.

Ärzte, Sanitäter und Rettungsassistenten beugten sich über die Verletzten, knieten neben den Körpern. Einige Opfer lagen in einer Blutlache. Ein paar schrien – laut, dann leise, dann wieder laut. Einige stöhnten und wimmerten. Andere zitterten krampfartig oder warfen sich hin und her. Von den meisten sah man nur die Füße oder den Kopf oder eine Hand zwischen den knienden Helfern, den Notfallkoffern und Beatmungsgeräten. Die Ärzte, Sanitäter und Rettungsassistenten versorgten die Wunden, stoppten die Blutung, stabilisierten den Kreislauf. Sie sedierten, reanimierten, betäubten, und manchmal stand einer auf und schüttelte den Kopf oder zog sich erschöpft die blutverschmierten Handschuhe aus. Es gab weniger Blut zu sehen als erwartet, Blut an der Kleidung der Helfer, Blut aus den Wunden der Opfer.

Ein Mann in einem hellen Overall ging von einem Toten zum nächsten und fotografierte jeden aus mehreren Perspektiven. Nach und nach hörten die Handys wieder auf zu klingeln. Das Grauen hatte viele Gesichter, und Ella Bach hatte immer gedacht, dass sie jedes einzelne bereits kannte. Sie lief zum Leitenden Notarzt und fragte: »Kann ich noch irgendwas tun?«

»Das Mädchen da neben der Bank – Shirin, neun Jahre, aber wahrscheinlich wird sie's nicht schaffen.«

»Woher wisst ihr, wie sie heißt?«

»Sie hatte einen Organspenderausweis dabei. Selbstgemalt.«

Sie ist neun und hat sich selbst einen Organspenderausweis gemalt?, dachte Ella. Sie lief zu der Bank und beugte sich über die Trage, auf der Shirin lag. Finn, ihr Rettungsassistent, blieb hinter ihr. Das Mädchen war zart, der Körper klein unter der grünen Decke. Der Kopf der Kleinen war bandagiert, das Gesicht dunkler als der Rest der Haut. Über der linken Wange hatte sich der Verband rot gefärbt, aber nicht sehr stark. Aus Shirins Mund führte ein Trachealtubus zu einem Beatmungsgerät. Durch einen weiteren Schlauch floss farblose Infusionslösung in einen dünnen Arm, der unter der Decke hervorragte. Ein tragbarer Überwachungsmonitor gab in kurzen Intervallen leise Pieptöne von sich.

Der junge Notarzt, der sie erstversorgt hatte, kauerte neben Shirins Schulter. »Sie hat eine Verletzung unter dem linken Auge«, erklärte er. »Es gibt einen Wundkanal, aber wie tiefer ist ... Etwas könnte die Wange durchschlagen haben. Vielleicht ist eine Scherbe oder ein Stück Eisen in ihren Schädel eingedrungen. Wenn, darin steckt es wahrscheinlich hinter dem rechten Auge, etwa in Höhe der Nasenwurzel.«

»Warten wir auf das CT«, sagte Ella.

Der Notruf war um 18:47 Uhr in der Leitzentrale der Feuerwehr eingegangen und gleich weitergeleitet worden: »Massenanfall von Verletzten Stufe eins nach einer Explosion in der U7 Richtung Rudow. NEF 4305, wo seid ihr gerade?«

»Mehringdamm«, hatte Ella geantwortet. »Wo ist die Patientenablage?«

»U-Bahnhof Hermannplatz.«

»Wie viele Betroffene?«

»Neunzehn Verletzte, fünf Tote. Bis jetzt.«

Es war wie der Startschuss zu einer Rallye gewesen, den Mehringdamm hoch, über die Gneisenaustraße und die Hasenheide runter zum Hermannplatz, ein Katzensprung, nicht besonders viel Verkehr an diesem frühen Herbstabend, gerade mal acht Minuten, und trotzdem waren sie nicht als Erste eingetroffen. Sie war gern die Erste. Meistens schaffte sie das: ein paar Sekunden schneller zu sein als der Tod.

Auf dem Platz und den Straßen rings um die U-Bahn-Schächte schleuderten schon ein Dutzend Streifenwagen, Feuerwehrfahrzeuge und RTW-Sprinter ihre blauen Blitze gegen die Fassaden von Karstadt und Commerzbank. Dazu die Trauben von Schaulustigen an den Aufgängen, die ersten TV-Journalisten – Wo die immer so schnell herkommen?–, trotzdem so nah ran wie möglich mit dem Einsatzwagen und raus, und da spürte Ella schon den schwachen Rauchgeruch von den Bahnsteigen, und die Treppe runter mit Notfallkoffer und Defi, und jetzt gehörte Shirin ihr, als hätte sie auf sie gewartet. Als wären sie verabredet gewesen, dachte Ella.

»Blutverlust?«, fragte sie, zwei Finger am Hals des Mädchens.

»Die Kopfwunde hat stark geblutet«, sagte der junge Arzt, der vor ihr dagewesen war. »Wir haben ihr schon zwei Ringer gegeben.«

»Warum ist ihr Gesicht so dunkel?«

»Wahrscheinlich ist sie Türkin oder ...«

»Ich meine dunkler als der übrige Körper«, fiel Ella dem Arzt ins Wort. Sie schob das linke Augenlid des Mädchens hoch. Nur schemenhaft nahm sie die Feuerwehrleute und Polizisten wahr, die über und neben ihr auf dem abgesperrten Bahnsteig erschienen und wieder verschwanden; von den meisten sah sie nur die Stiefel. Die Zugluft aus den schwarzen Gleisröhren verfing sich in den Decken, unter denen die Toten lagen. Von oben drang das Heulen der Sirenen herunter, es wurden immer mehr. Ella hörte schnarrende Walkie-Talkies, das Rauschen, Knacken und Zischen des Funkverkehrs. Eine Metallsäge kreischte, weiße Funken stoben in kleinen Fontänen aus dem dunklen Waggon, und magnesiumblauer Lichtschein flackerte über die hellen Kachelwände.

Shirins Pupille war mittelweit geöffnet und reagierte nicht. Jetzt verfärbte sich ihr Gesicht bläulich. »Blutdruck?«, fragte Ella.

Der Rettungsassistent warf einen Blick auf den Monitor. »Schockig. Tachykard mit hundertdreißig pro Minute.«

Der Blutdruck war viel zu niedrig, die Herzfrequenz viel zu hoch, und dazu noch die Blaufärbung. Was bedeutet das, wieso ist der Kreislauf kollabiert? »Wie sieht's unter den Verbänden aus?«, wollte Ella wissen. »Spuren von grauer Masse?«

Der junge Arzt, den Ella nicht kannte, schüttelte den Kopf. »Nein. Liquorfluss Nase links. Schwache Blutung Mund, Nase rechts und links.«

Irgendwas stimmt mit der Sauerstoffversorgung nicht, dachte Ella, öffnete ihren Koffer und zog die sterilen Handschuhe an. »Ist das die einzige Verletzung?«

Das Piepen des tragbaren Herzmonitors wurde schneller. »Druck neunzig zu fünfzig«, sagte der Rettungsassistent, »das sieht nicht gut aus – Sättigung achtundachtzig Prozent, CO2 fällt!«

Ella sagte: »Volumen geben, tief sedieren, mit hundert Prozent Sauerstoff beatmen, und dann ab mit ihr in die Charité!«

»Sollen wir sie nicht erst stabilisieren?« Der junge Arzt sah in die Runde, als erwarte er Beifall. »Wenn wir sie in diesem Zustand transportieren, besteht da nicht die Gefahr, dass das Objekt in ihrem Kopf zu wandern beginnt?«

»Und?«, fragte Ella.

»Wenn das Objekt hinter dem rechten Auge steckt, sitzt es wahrscheinlich dicht am Hirnstamm«, sagte der Arzt. »Die kleinste Bewegung in diesem Bereich kann vitale Gehirnfunktionen für immer vernichten und ...«

»Wie heißen Sie?«, unterbrach Ella ihn.

»Wilhelm.«

»Ist das Ihr erster Einsatz, Doktor Wilhelm? Wenn wir sie nicht in die Notaufnahme schaffen, stirbt sie gleich hier auf dem Bahnsteig, und zwar an Herzversagen. Sie muss ein schwaches Herz haben oder irgendetwas anderes, sonst wäre sie nicht so instabil.« Und sie hätte sich wahrscheinlich nicht den Ausweis gemalt, dachte sie. »Bringt sie weg!«

Die Sanitäter hoben die Trage an. Im selben Moment beschleunigte sich das Piepen des Monitors. Shirins Herz pumpte auf einmal viel zu schnell, es raste, statt hundertmal in der Minute schlug es jetzt zweihundertmal. Die Herzstromkurve zuckte über den kleinen Schirm wie ein endloser grüner Blitz.

»Kammertachykardie, sofort absetzen!«, rief Ella. »Schnell, legt sie wieder hin!« Eine Ewigkeit lang schien Shirins Herz weiterzurasen und sämtliche verbliebene Kraft darauf zu verwenden, sich selbst zu zerstören. Auch Wilhelm, die Rettungsassistenten und die Sanis vergaßen zu atmen, lauschten dem piependen Gerät. Dann – von einer Sekunde auf die nächste – herrschte Stille. Der eine Herzschlag verklang, der nächste blieb aus. Die Pause – Es muss eine Pause sein! – dehnte sich so lang, dass Ella plötzlich spürte, wie hart der Boden unter ihren Knien war.

Die Zeit blieb stehen. Die Funken sprühten weiter, von den Gleisen stieg Rauch auf, und auch die Beine mit den Stiefeln liefen weiter hin und her, aber Ella und der Arzt und die Sanis hielten für endlose Sekunden in ihrem Leben inne, atmeten weder ein noch aus, genau wie Shirin.

»Sie ist weg!«, rief der Rettungsassistent. »Adrenalin?«

»Nein!« Ella überlegte fieberhaft. Sie riss die Decke vom Körper des Mädchens und stützte sich auf Shirins Brustkorb, drückte ihn, einmal, zweimal, erst vorsichtig, denn die Rippen waren dünn, alles war so winzig, dann schneller und heftiger, in dem Rhythmus, den das stehende Herz jetzt wiederfinden musste – stayin' alive –, drücken und drücken und drücken – stayin' alive, stayin' alive – , der beste Rhythmus, nicht nur zum Tanzen, auch zum Reanimieren – stayin' alive – , ohne Innehalten – stayin' alive, stayin' alive – , aber nichts geschah, das kleine Herz sprang nicht wieder an, und sie pumpte weiter – ah, ah, ah, ah, stayin' alive – , und als sie aufblickte, sah sie den fassungslosen Ausdruck auf dem blassen Gesicht des Rettungsassistenten, denn sie hatte laut mitgesummt, und noch immer geschah nichts, sodass sie mit dem Pumpen aufhörte und auch mit dem Summen.

Es muss noch eine andere Verletzung geben, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Eine, die wir bisher übersehen haben. Warum hat sie sich einen Organspenderausweisgemalt? Woran leidet sie? Herz? Niere? Die Brust des Mädchens federte wie eine aufgepumpte Luftmatratze, als staute sich der Sauerstoff in der unnatürlich geweiteten Brusthöhle. Ein Spannungspneumothorax, dachte Ella, die Lungen müssen verletzt sein. Und dann dachte sie: Das Gehirn – nicht mehr lang und wir haben einen irreparablen Hirnschaden!

Sie schob Shirins blutbespritztes T-Shirt bis zum Hals hoch und legte die flache Brust frei. Schweiß rann ihr kitzelnd den Nacken hinunter. Auch in ihren Wimpern glitzerten Schweißtropfen. Sie wischte sich mit dem rechten Unterarm über Stirn und Augen. Was ist los? Was ist verdammt nochmal mit dir los, Shirin? Sie starrte das blau angelaufene Gesicht des Mädchens an, die Verfärbung lief bis zum Halsansatz hinunter.

Ella drehte den kleinen Körper auf die Seite, und da war es, ein Loch unter der linken Brustwarze, zwischen der dritten und vierten Rippe. Es war nur ein kleines Loch, das sich schon wieder geschlossen hatte, kaum Blut, leicht zu übersehen. Aber was, wenn es die Öffnung eines Wundkanals ist, der bis in die Lunge reicht? Wenn hier auch ein Objekt eingedrungen ist?

»Taschenlampe!«, rief sie. »Ich brauche eine starke Lampe!«

Einer der Feuerwehrleute reichte ihr seine Stablampe. Sie knipste sie an und presste sie schräg hinter der linken Achselhöhle gegen Shirins Oberkörper, sodass der Lichtstrahl durch die Haut und das übrige Gewebe in den Brustkorb des Mädchens drang. Unterhalb des Herzens leuchtete die Vorderseite der Brust stark rötlich, unnatürlich stark. Das ist es, dachte Ella, das tötet Shirin gerade. Ein Metallstück vielleicht, irgendetwas, das die Lungen verletzt hat. Sie hörte den Respirator pumpen, und sie hörte sich selbst atmen und sogar den Atem der anderen, und sie dachte: Bitte, Shirin mit dem gemalten Organspenderausweis, ich will dein Herz nicht, ich will es niemand anderem geben, auch sonst keins deiner kleinen Organe. Ich will, dass du lebst.

»Ein Milligramm Adrenalin!«

Sie wartete die Wirkung der Spritze nicht ab, sondern setzte dem Mädchen die Hände auf die Brust, und es war, als schösse das Adrenalin durch ihren eigenen Körper. Sie fing wieder an, Shirins Herz zu massieren – stayin' alive, stayin' alive –, und jetzt rann der Schweiß ihr in die Augen und die Schläfen hinunter. Sie wischte sich wieder mit dem Unterarm über das Gesicht, und sie drückte und drückte – Komm schon, verdammt, du schaffst es! – rauf und runter, ohne an irgendetwas anderes zu denken als das Lied der Bee Gees – stayin' alive, stayin' alive –, aber das Mädchen war noch immer zyanotisch, die Blaufärbung des Gesichts blieb unverändert. »Übernehmen Sie!«, sagte sie zu Doktor Wilhelm.

»Was haben Sie vor?«, fragte Wilhelm, aber als Ella ihre Hände von Shirins Brustkorb nahm, sprang er sofort ein, setzte die Herzmassage fort.

Sie griff in den Notfallkoffer und suchte in fliegender Hast eine Stahlkanüle und ein Skalpell. Durch das von dem unbekannten Objekt verursachte Loch strömte die Luft von der Beatmungspumpe direkt in den Brustkorb und presste die Lunge so stark zusammen, dass sie nicht mehr arbeiten konnte – sogar das Herz wurde fast zerdrückt. Die Luft muss raus, bevor es zu spät ist! »Beatmung abstellen!«

»Willst du das wirklich?«, fragte Finn. Sein blasses, schmales Gesicht mit den lebhaften blauen Augen war eine Studie in Besorgnis. Die glatte Stirn warf bedenkliche Falten, der dünne blonde Ziegenbart unter dem Kinn zitterte.

Sie fand die Kanüle – Gut, jetzt noch das Skalpell –, und da erklang wieder das Signal eines einzelnen Handys. Aber diesmal gehörte es keinem der Opfer, sondern einem der Helfer, die damit beschäftigt waren, die Toten und Verletzten nach Ausweispapieren oder anderen Hinweisen auf ihre Identität zu durchsuchen. Der Sanitäter, dessen Handy klingelte, ging von Leiche zu Leiche und beugte sich über sie, als hielte er Ausschau nach jemandem, den er kannte. Oder, dachte Ella, als wollte er ganz sicher sein, dass sie wirklich tot waren.

Bei dem letzten Körper in der Reihe klingelte sein Handy immer noch, jetzt so laut, dass er es mit einer Hand aus der grau-roten Jacke zog, während er die andere unter die Decke schob, die über Kopf und Oberkörper des Toten gebreitet war. Er schien nach etwas zu suchen, von dem er schon wusste, dass es da sein musste. Rasch schaltete er sein Handy aus und verstaute es wieder in der Jackentasche. Er wandte sich um. Seine Augen begegneten Ellas Blick. Obwohl er ein gutes Stück von ihr entfernt war, konnte sie den jähen Schrecken in seinem Gesicht sehen; die Panik des Ertappten.

Das Zischen des Respirators hörte abrupt auf. »Beatmung abgestellt«, sagte Finn.

»Herzmassage unterbrechen«, befahl Ella.

»Sind Sie wahnsinnig?«, fragte Dr. Wilhelm, gehorchte aber auch diesmal. »Was soll das denn werden?«

Ella antwortete nicht. Sie entfernte die Verpackung des stählernen Einmalskalpells, tastete nach einer weichen Stelle zwischen der zweiten und dritten Rippe unter der Mitte des Schlüsselbeins und durchstach Shirins Haut. Sie schnitt nicht, sie stach, und das Blut, das aus der Wunde quoll, stoppte sie sofort mit dem Zeigefinger, den sie in die Stichwunde steckte. Sie nahm einen dicken Drainageschlauch, zog den Zeigefinger heraus und schob den Schlauch durch das Wundloch. Es gab ein lautes Zischen; fast sofort entspannte sich der Brustkorb. Gleich darauf – da! – ein Piepton aus dem Monitor, ein grüner Punkt, keine flache Linie mehr, keine flache Linie mehr.

Ella hörte förmlich, wie den beiden Männer der Atem stockte, spürte, wie sie erstarrten, ungläubig, überrascht, erleichtert. »Ach, du heilige Scheiße«, murmelte Wilhelm.

»Sie kommt zurück«, rief Finn aufgeregt.

Die Stromkurve auf dem Monitor belebte sich, die Pieptöne folgten wieder schneller, erst zögernd, dann regelmäßig, hundertmal in der Minute. Das Geräusch der durch die Kanüle entweichenden Luft war kaum mehr zu hören. »Sie haben es geschafft«, sagte Wilhelm. »Du heilige ... Sie haben es tatsächlich geschafft!«

»Und beatmen!«, verlangte Ella. Das Beatmungsgerät fing wieder an, leise zu fauchen. Sie blickte noch einmal zu dem Sanitäter bei den Leichen hinüber. Er beugte sich jetzt nicht mehr über den toten Mann – es musste ein Mann sein –, sondern hatte sich aufgerichtet und steckte etwas in seine Tasche, das sie nicht erkennen konnte. Er stiehlt, dachte Ella, er bestiehlt die Toten. Dabei starrte er sie noch immer an, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, und dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sagen: Nicht, schauen Sie nicht her, sehen Sie mich nicht an.

Sie sah weg, auf Shirins Gesicht, aus dem langsam, ganz allmählich die Blaufärbung wich, dann auf den Monitor, Herz und Kreislauf arbeiteten wieder. Plötzlich spürte sie jeden Muskel und jeden Knochen in ihrem Körper. Sie blinzelte. Es kam ihr vor, als kehrte sie durch einen Zeitriss in die Gegenwart zurück. Sie sah, dass die blaue Verfärbung von Shirins Gesicht inzwischen fast ganz verblasst war, weil auch die Lungen wieder zu arbeiten begonnen hatten.

Der grau-rot gekleidete Sanitäter, der die Taschen der Toten durchsucht hatte, stand jetzt am Fuß der Rolltreppe. Er redete mit einem der Polizisten, sah ihn aber nicht an, sondern starrte die ganze Zeit zu Ella herüber, und dabei hatte er denselben Gesichtsausdruck wie vorhin. Wieder schüttelte er kaum merklich den Kopf. Seine Augen schienen in den Höhlen zu brennen. Wir sehen uns nicht zum letzten Mal, schienen sie zu sagen.

Ella hatte ein Gefühl, als zöge sich die Haut kalt um ihren Körper zusammen.

Kapitel 4

Die Sanitäter hoben das reglose Mädchen in den hell erleuchteten Patientenraum des Rettungswagens, arretierten die Trage und schlossen Shirin an die Apparate an. Ellas Sprechfunk knackte und knisterte. »Bringt sie ins Klinikum Neukölln«, verlangte der Leitende Notarzt.

»Nein«, sagte Ella in den Hörer des Funkgeräts. »Wir fahren ins Virchow.«

»Neukölln ist doch gleich um die Ecke«, sagte der Notarzt. »Die Kollegen sind schon informiert.«

»Das Virchow hat die beste Neurochirurgie«, sagte Ella. »Die Patientin ist stabil genug, um es bis dahin zu schaffen. Informieren Sie die Rettungsstelle. Wir warten noch auf den zweiten Sanitäter, dann fahren wir los.«

Sie schaltete das Funkgerät aus. Sie verstaute den Notfallkoffer in dem Fach neben der Trennwand zur Fahrerkabine, stieg in den Wagen und schnallte sich auf dem Betreuerstuhl an. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie noch immer ihre blutigen Gummihandschuhe anhatte. Sie zog sie aus und warf sie in den Abfallkorb. Die Ärmel ihrer Jacke waren ebenfalls blutbefleckt. Finn schlug die Türen zu, dann lief er nach vorn und schwang sich hinters Steuer. Die Sirene gab einen kurzen, jaulenden Heulton von sich.

Ella kontrollierte Sauerstoff, Infusion und Monitor, alles war in Ordnung. Jetzt wünschte sie sich nur noch Flügel. Sie ließ die Augen nicht von Shirins Gesicht. Die Farbe war unverändert, blass unter der Bräune, nicht mehr blau. Der Wagen ruckelte, als Finn ihn vom Gehweg auf die Straße steuerte. Die blendend hellen Lichtröhren an der Decke flackerten kurz, erloschen und gingen wieder an. Die Augäpfel unter Shirins Lidern reagierten nicht.

Plötzlich wurde die Seitentür aufgerissen, und der zweite Sanitäter kletterte herein. Ella sah die Fahrbahn unter ihm davongleiten, das blaue Schild U-Hermannplatz blieb zurück, die Zuschauer am Bordstein auch. Der Sanitäter zog die Tür wieder zu. Mit gesenktem Kopf ließ er sich auf den Tragestuhl neben der Tür fallen, und schließlich hob er den Kopf und sah Ella über Shirins Körper hinweg an.

Sie erkannte ihn sofort wieder, obwohl er von Nahem und im grellen Licht anders aussah als auf dem Bahnsteig. Wortlos starrte er ihr in die Augen, so eindringlich wie vorhin am Fuß der Treppe. Er saß jetzt sehr gerade, steif, seine Hände lagen auf den Oberschenkeln. Das Mädchen auf der Trage zwischen ihnen schien er gar nicht zu bemerken.

Der Sprinter beschleunigte, fuhr aber nicht so schnell, dass er die Patientin gefährdet hätte. Trotzdem spürte Ella die Fliehkraft, so wie sie den Zeitdruck spürte, der umso größer wurde, je kontrollierter sie fuhren. Der Sanitäter bewegte sich nicht, bis auf seine Lippen, die heftig zitterten. Rede mit ihm, dachte Ella. »Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie bei uns mitfahren sollen?«, fragte sie. »Die Einsatzleitung?«

Sie kannte die Symptome. Sie kannte das Zittern der Lippen, den Schweiß auf seiner Stirn und die unnatürlich geweiteten Pupillen. Sie gab sich Mühe, ruhig zu sprechen, so ruhig es eben ging mit der heulenden Sirene auf dem Dach und dem Zischen und Piepen der Apparate, an denen Shirins Leben hing. Sie versuchte, seine Augen festzuhalten.

»Ich bin Doktor Bach«, sagte sie. »Ella Bach.«

Ich habe gesehen, wie du dir auf dem Bahnsteig an den Toten zu schaffen gemacht hast. Ich habe gesehen, wie du die Leichen bestohlen hast.

Der Sanitäter beugte sich ein wenig vor. Er schien innerlich zu vibrieren. Seine Stirn glänzte fahl, und Schweiß bedeckte auch seine Wangen und die Oberlippe. Die Spitzen seiner blonden Haare klebten an der milchigen Haut. Die Augen waren dunkelblau, aber der Glanz der Iris war wie ein undurchdringlicher Schutzschild gegen die Außenwelt.

Heroin, dachte Ella, vielleicht sogar Crack, etwas, das ihn unberechenbar macht. »Wollen Sie mir etwas sagen?«, fragte sie.

Jäh riss Finn den Wagen zur Seite. Der Sprinter schlingerte so heftig, dass Ella sich an dem Medikamentenschrank festhalten musste. Die Reifen kreischten, und einige Sekunden lang schleuderte das Fahrzeug im Zickzack hin und her. Durch das Rückfenster konnte Ella den Widerschein des Blaulichts auf den Frontscheiben der Autos hinter ihnen blitzen sehen. Am Straßenrand flogen Trauben junger Touristen mit Bierdosen in den Händen vorbei, und da wusste sie, dass Finn eben den Scherben von zersplitterten Flaschen auf der Fahrbahn ausgewichen war. Weiter hinten gab es noch mehr Rettungsfahrzeuge mit hellen Fenstern und zuckendem Blaulicht auf dem Dach.

»Wie heißen Sie?«, fragte Ella.

Der Sanitäter atmete flach, und seine unverwandt auf sie gerichteten Augen schienen größer und größer zu werden, als wollte er sie hypnotisieren. Oder, dachte sie, als würde etwas durch sie nach außen dringen. Etwas Verzweifeltes. Dasselbe brennende Flehen, das ihr schon auf dem Bahnsteig aufgefallen war. Unter der halb geöffneten, grau-roten Jacke bemerkte sie ein Kreuz aus reflektierendem Metall, das er an einem Kettchen um den Hals trug.

»Alles in Ordnung bei dir, Ella?«, meldete sich Finn über die Sprechverbindung.

Mit einem Ruck beugte der Sanitäter sich vor und hielt eine Hand über Shirins Gesicht, berührte es nicht einmal, und doch wusste Ella, was er ihr damit sagen wollte, mit seinem glühenden Blick, dem breiten Handteller über Mund und Nase des Kindes.

»Alles in Ordnung«, antwortete sie rasch und sah zu, wie er die Hand noch einen Moment über Shirins Gesicht schweben ließ, ehe er sie wieder auf seinen Oberschenkel legte. »Ich habe Sie noch nie gesehen«, redete sie weiter. Nur reden, dachte sie, seine Aufmerksamkeit fesseln. »Sind Sie an der Charité oder einer anderen Klinik? Bei der Feuerwehr? Gehören Sie zu den Johannitern? Oder den Maltesern?«

»Ich bin allein«, stieß der Sanitäter hervor. Obwohl er so blass war, wirkte er, als glühe er in dem weißen Deckenlicht, nicht wie Feuer, sondern wie Phosphor, das sich mit dem Sauerstoff in der Luft verband. Auf einmal hatte Ella Schwierigkeiten zu atmen. Sie spürte ihren Puls hart an den Handgelenken. Sie schluckte, um die Ohren freizukriegen. Der Raum zwischen ihr und dem Mann schrumpfte, er flimmerte und sirrte vor Spannung. Die Atmosphäre bebte unter einem betäubenden Druck, als könnte gleich alles um sie herum in Flammen aufgehen.

»Sie waren auf dem Bahnsteig«, sagte sie erschöpft. »Sie haben etwas aus den Taschen der Toten geholt.«

»Ich bin allein«, sagte der Sanitäter noch einmal, aber vielleicht dachte sie auch nur, dass er es sagte; seine Lippen bewegten sich. Danach bewegten sie sich nicht mehr, denn er presste sie so fest zusammen, dass sie einen schmalen farblosen Strich bildeten.

In dem Rückfenster neben seiner Schulter glitt ein Spätkauf mit einem Pulk kreischender Jugendlicher davor ins Bild und fiel ins Dunkel zurück. Der Sprinter überholte einen fast leeren Bus. Eine Zeit lang waren sie allein auf dem Mehringdamm, aber an der nächsten Kreuzung tauchten wieder Scheinwerfer hinter ihnen auf.

Die Reifen kreischten und quietschten noch einmal, als Finn den Sprinter nach rechts riss. Ein hohles Donnern fegte über den Wagen hinweg. Im nächsten Moment ragte im Rückfenster eine Eisenbrücke auf, ein gelber U-Bahn-Zug ratterte unter dem tiefblauen Himmel Richtung Hallesches Tor.

Ein Tablettenfläschchen kippte von der Ablage neben dem Medikamentenschubladen und rollte auf dem Boden hin und her. Der Sanitäter folgte dem hin und her rollenden Fläschchen angestrengt mit den Augen, als wäre es ein faszinierender Gedanke tief in seinem Inneren, der sich ihm immer wieder entzog.

»Was haben Sie genommen?«, fragte Ella. »Wann haben Sie es genommen? Wissen Sie, wo Sie sind?«

Mühsam hob er den Blick wieder, schien aber einen Moment zu brauchen, bis er die Situation, in der er sich befand, rekonstruiert hatte.

»Ich kann Ihnen vielleicht helfen, wenn Sie mir sagen, was Sie wollen«, drängte Ella.

Plötzlich veränderte sich das Piepen des Monitors, wurde schneller. Shirins schmächtiger Körper bäumte sich auf, stemmte sich gegen die Riemen, mit denen sie auf der Trage festgeschnallt war, als würde sie von einem inneren Krampf geschüttelt. Die Augäpfel flogen unter den geschlossenen Lidern hin und her.

Rasch beugte Ella sich über das Mädchen. Sie kontrollierte den Sitz der Schläuche und Kabel, das Beatmungsgerät, die Infusion und den Anschluss des Monitors. Nur aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Sanitäter sich vorneigte. Seine rechte Hand fuhr in die Jackentasche, kam wieder heraus, etwas blitzte darin, und als Ella aufblickte, sah sie, dass er ein Einmalskalpell mit Stahlklinge hervorgeholt hatte.

»Leg das Skalpell weg, du Arsch!«, rief Ella, während Shirins Herz weiter raste und das Piepen des Monitors alle anderen Laute übertönte. Aber der Sanitäter kümmerte sich gar nicht um sie, auch nicht um das Mädchen. Sein Mund stand halb offen, dann riss er ihn ganz auf wie zu einem stummen Schrei – sein Zahnfleisch glänzte rosig und glatt – und setzte sich die Klinge an die Kehle.

Ella warf sich nach vorn, gegen seinen Stuhl. »Tu das nicht!«, rief sie und packte seinen Arm. »Das willst du doch gar nicht – das ist der Stoff – das Zeug, das du in dir hast!« Durch den Stoß drang die Klinge in seinen Hals, aber nicht tief. Etwas Blut quoll hervor, die Schlagader war unverletzt. Ella hielt seinen Arm fest, mit beiden Händen, an Ellbogen und Handgelenk. Ihr Gesicht befand sich nur Zentimeter von seinem entfernt, so nah, dass sie seinen Angstschweiß riechen konnte. »Lass schon los, du beknackter Idiot!«

Verblüfft gab er nach, alle Kraft wich aus seinem Arm, nur die Panik blieb in seinen Augen. Ein Laut, halb Zischen, halb Stöhnen, entfuhr ihm. Ella entwand ihm das Skalpell und warf es unter Shirins Trage. Fast in derselben Sekunde normalisierte sich der Zustand des Mädchens. Es fiel zurück, die Krämpfe schienen abzuebben, und das Herz hörte auf zu rasen.

Was war das?, dachte Ella. Was ist hier gerade passiert?

Ein weiterer Ruck schleuderte sie zurück auf ihren Stuhl. Der Sprinter drosselte das Tempo und hielt mit einem scharfen Schwenk am Bordstein. Finn starrte durch das Fenster in der Trennwand. Dann war sein Gesicht verschwunden, und Ella sah wieder zu dem Sanitäter, hinüber. Er hielt ein Handy hoch, hielt es in beiden Händen, fast wie eine Monstranz, und fotografierte sie mehrmals schnell hintereinander.

Finn riss die rückwärtige Tür auf. »Was geht denn hier für eine Scheiße ab?« Der Sanitäter sprang ihm entgegen, rammte ihn mit der Schulter und schlug ihm damit die Tür aus der Hand. Wie von Furien gehetzt, stürzte er auf die Straße und rannte zwischen den heranrollenden Wagen davon – erst noch eine schwankende, Haken schlagende grau-rote Silhouette vor den Scheinwerfern, im nächsten Moment ein Schatten, der mit der Nacht verschmolz.

Kapitel 5

Fünfzehn Minuten später fuhr der Sprinter am Nordhafen vorbei, bog in die Fred-Krause-Straße und dann auf die Brücke über den Spandauer Kanal. Von der Seestraße lenkte Finn den Wagen auf das schwach beleuchtete Gelände der Virchow-Klinik. Er schaltete Sirene und Blaulicht aus, drosselte das Tempo und rollte langsam die Zufahrt zum Tiefgeschoss der Unfallchirurgie 3 hinunter.

Ella löste die Arretierung der Trage, des Monitors und der Sauerstoffflasche. Als der Daimler unter dem Dach vor der Rettungsstelle hielt, sprang Finn hinter dem Steuer hervor und riss die hintere Tür auf. Zusammen mit Ella hob er Trage und Apparate aus dem Wagen und rollte sie in den Vorraum, wo ihnen ein Pfleger im grünen Overall entgegeneilte. »Die Patientin muss sofort in den Schockraum«, sagte Ella. »Ist Dr. Auster schon da?«

»Er hat gleich nach Ihrem Anruf alles Erforderliche in die Wege geleitet«, sagte der Pfleger fast ehrfürchtig, während er einen Blick auf das Krankenblatt warf. »Radiologie, Anästhesie und alle sonst noch infrage kommenden Abteilungen stehen Gewehr bei Fuß. Sobald wir mit der Primärdiagnostik durch sind, kann sofort das CT gemacht werden. Aber wie haben Sie das nur geschafft? Ich meine ... Julian Auster, der Oberguru persönlich!«

»Ich habe was gut bei ihm«, sagte Ella. Ein zweiter Pfleger half ihnen, die Trage zu den automatischen Türen zu bugsieren, hinter denen der Schockraum lag.

»Die Familie der Patientin ist schon unterwegs hierher«, fuhr der erste Pfleger mit veränderter Stimme fort. »Machen Sie sich auf einiges gefasst.«

»Wieso?«, fragte Ella. Sie behielt auch jetzt noch Shirins Gesicht und die Apparate im Auge, während sie neben der Trage herlief. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will gar nichts sagen.« Er tat, als studiere er noch einmal das Krankenblatt an der Trage. »Behaupten Sie etwa, Sie haben noch nie von der Familie Abou-Khan gehört?«

»Nein.«

»Und der Name des Vaters, Halil Abou-Khan, sagt Ihnen auch nichts?«

»Sollte er?«

»Warten Sie's ab, bis Sie ihn kennengelernt haben«, sagte er an der Tür zur Röntgenstation. »Vorsichtshalber informiere ich schon mal den Sicherheitsdienst. Warum konnten Sie die Kleine nicht nach Neukölln bringen lassen wie die anderen Verletzten?«

»Ich wollte, dass Dr. Auster sie operiert.«

Die Pfleger schoben Shirin auf den Korridor der Radiologie, und Ella zwängte sich mit durch die Tür. »Ich bleibe noch etwas bei ihr.« Gerade als die Tür sich schloss, hörte sie auf dem Gang vor der Rettungsstelle Geschrei. »Da sind sie schon«, sagte der erste Pfleger. »Wenn man vom Teufel spricht ... Vielleicht wollen Sie mal einen Blick auf die Verwandtschaft Ihrer Patientin werfen, Frau Doktor? Ich piepe Sie an, sobald wir die Kleine nach oben in die Neurochirurgie weiterreichen.«

Ella sah den Pflegern nach, wie sie das Mädchen den langen, leeren Gang entlangrollten, dann trat sie hinaus in den Bereich vor der Notaufnahme. Eine Gruppe arabisch aussehender Männer und Frauen hatte sich am. Fuß der breiten Treppe zum Empfangsbereich eingefunden und drängte jetzt durch den Eingang der Notaufnahme, wo sich ihnen ein Pfleger entgegenstellte. Die Frauen trugen dunkle Kleider und Schleier oder Kopftuch. Die Männer hatten Jeans und Lederjacken an, bis auf zwei Jungen in weißen, mit roten Streifen verzierten Trainingsanzügen und den Ältesten, der alle anderen um gut einen Kopf überragte.

Der große, ältere Mann trug ein taubenblaues Hemd, eine rostfarbene Hose und ausgetretene braune Schnürschuhe. Um den kräftigen Hals hatte er ein nachlässig geknotetes Tuch geschlungen, vom selben verwaschenen Kastanienton wie die abgewetzte Lederweste, zwischen deren Taschen sich eine goldene Uhrkette über den ausladenden Bauch spannte. Im Gehen stützte er sich auf einen Spazierstock mit einer ziselierten Silberkugel als Knauf.

Der Mann und seine Familie erfüllten den Warteraum und die Gänge bis in den letzten Winkel mit ihrer Anwesenheit, die sich wie ein Geruch ausbreitete, ein herrischer Geruch, nach starkem Tabak, scharf gewürztem Fleisch und einer unbestimmten, quecksilbrigen Aura von Gewaltbereitschaft. Obwohl es gar kein wirklicher Geruch war, konnte Ella ihn doch riechen; er schlug ihr wie die wabernde Hitzewolke über einer frisch geteerten Straße entgegen. Plötzlich ahnte sie, was der Pfleger gemeint haben mochte. Die Familie war kaum eine Minute da, und schon trat alles andere in den Hintergrund, die anderen Patienten, die auf den Stühlen neben der Treppe wartenden Angehörigen, die Pfleger und Reinigungskräfte.

»Sind Sie die Angehörigen von Shirin?«, fragte Ella.

»Ich bin Halil Abou-Khan«, sagte der große Mann, und als er sie ansah, war in seinem Gesicht keine Freundlichkeit, keine Sorge oder Angst, nichts, was Angehörige eines Patienten sonst erkennen ließen. Stattdessen spürte sie, wie er sie seine Stärke fühlen lassen wollte, mit dem kalten, durchdringenden Blick eines Herrschers, der selbst dann jeden Winkel in seiner Umgebung überwachte, wenn er sich nicht bewegte.

»Sie sind der Vater von Shirin?«

»Ist das ihr Blut?«, fragte der große Mann und starrte auf die roten Flecke an Ellas Jackenärmel. »Ist das Blut von meiner Tochter da?«

Er hatte graues, öliges Haar und ein hartes, dunkles Gesicht mit tiefen Falten und großen Tränensäcken, das wie gebeizt wirkte. Als hätte er lange Zeit zu dicht an einem qualmenden Feuer gestanden, dachte Ella. Seine Augen waren braun, die Pupillen umgeben von trübem, gelblichem Weiß. Graue Bartstoppeln überzogen die fleischigen Wangen bis zum Adamsapfel hinunter, nur unterbrochen von einer sichelförmig gezackten Narbe über dem linken Mundwinkel. Seine ganze Erscheinung wirkte, als wäre sie darauf angelegt, Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umwelt auszudrücken. Ich schaue nicht mehr in den Spiegel, schien sie zu sagen, es ist mir egal, wie ich aussehe, weil es mir egal ist, was ihr von mir denkt.

»Mein Vater, Präsident Abou-Khan, will zu seiner Tochter«, sagte der junge Mann in dem weißen Trainingsanzug rechts von ihm. »Du bringst ihn zu ihr, Ärztin.«

Wie das Gesicht seines Vaters zeigte auch seine Miene keinen sanften Zug, nur an der Stärke, die er ebenso ausstrahlen wollte, mangelte es noch. Die Muskeln, die sich unter der eng sitzenden Trainingsjacke abzeichneten, die goldene Rolex und das Kilo Gold in Kettenform um seinen kräftigen Hals mussten als Ersatz herhalten, bis er mit eigenen Narben und natürlicher Autorität auftrumpfen konnte.

»Shirin ist gerade in der Primärdiagnostik«, sagte Ella, »und danach muss sie sofort operiert werden. Später können Sie sie sehen, aber nur kurz.«

»Ich will zu ihr«, beharrte der große Mann, der sich Präsident nennen ließ. »Sofort.« Die kräftige kleine Frau dicht hinter ihm murmelte etwas auf Arabisch, und die vier jüngeren Frauen nickten, wobei sie Ella herausfordernd anblicken. Die anderen jungen Männer standen nur da, breitbeinig, mit geradem Rücken und Lederjacken, die sich über Schultern und Brustkorb spannten. Sie sahen aus, als fühlten sie sich zutiefst beleidigt, weil sie hier stehen und mit einer Frau verhandeln mussten.

»Ihre Tochter schwebt in Lebensgefahr«, sagte Ella. »Sie ist bei der Explosion sehr schwer verletzt worden.«

»Was für Verletzungen?«

»Ein winziges Objekt ist in ihren Schädel eingedrungen und ein anderes in ihre Brust. Es ist uns gelungen, sie zu reanimieren, aber ihr Gehirn war vorübergehend ohne Sauerstoff, und wenn sie nicht sofort ...«

»Sie war tot?«, fragte Abou-Khan.

»Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.«

»Aber jetzt ist sie am Leben?«

»Ihr Herz schlägt wieder, und sie wird beatmet.«

»Sie wird nicht sterben?«

»Das kann man zu diesem Zeitpunkt nicht mit Sicherheit sagen. Meine Kollegen und ich ...«

»Sagen Sie mir, dass Sie nicht wird sterben, Ärztin«, befahl der große Mann.

»Ich hoffe, dass sie am Leben bleibt und wieder ganz gesund wird«, sagte Ella. »Dr. Auster, der die Operation durchführen wird, ist unser bester Neurochirurg.«

»Haben Sie Kinder, Ärztin?«

»Nein.«

Der Mann, der sich Präsident nennen ließ, schwieg gerade lang genug, damit das Nein noch ein paar Sekunden nachklingen konnte. »Beten Sie für Shirin«, sagte er. »Beten Sie zu Ihrem Gott. Ich bete zu meinem.«

»Das ist gut«, sagte Ella. »Wir können alle Gebete brauchen.«

»Ja«, sagte Shirins Vater. »Und Sie beten auch für sich. Denn wenn meine Tochter stirbt, Sie sterben auch.«

Ella dachte, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte, und suchte auf seinem Gesicht, in seinen schwarzen Augen nach einem Zeichen der Bestätigung, doch stattdessen fand sie eine Kälte, die ihr den Atem stocken ließ. »Drohen Sie mir?«, fragte sie. »Haben Sie mir gerade hier vor allen Leuten gedroht?«

Shirin war doch schon tot, dachte sie, ich habe sie ins Leben zurückgeholt.

»Man hat mir erzählt, was Sie getan haben«, sagte Halil Abou-Khan. »Sie haben ihr geholfen. Es gab ein Krankenhaus in der Nähe, aber Sie wollten, dass meine Tochter hierhergebracht wird, viel weiter weg. Bekommen Sie Geld dafür, dass Sie Patienten in diese Klinik bringen?«

»Nein!«, rief Ella. »Die Versorgung kann hier nur schneller erfolgen, und Shirin ist bei Dr. Auster in den besten ...«

»Sie ist meine Schneeflocke«, sagte der große Mann, und zum ersten Mal schwankte seine Stimme kurz. »Da, wo ich herkomme, im Libanon, ist Schnee selten, jede Flocke ist einzigartig. Kostbar. Sehr kostbar.«

»Können Sie mir sagen, ob sie einen Herzfehler hat?«, fragte Ella, und als er nicht antwortete, blickte sie die stämmige Frau an, die vielleicht die Mutter war. »Gibt es irgendetwas, das wir wissen müssen, bevor wir sie operieren?«

»Unsere Mutter spricht kein Deutsch«, sagte der Junge. »Du brauchst nicht mit ihr reden.«

Die stämmige kleine Frau griff nach dem Arm ihres Mannes, eine ungeduldige Bewegung, die wie eine Welle durch ihre braunen und schwarzen Gewänder lief. Ein Duft nach Zwiebeln und Zimt stieg aus den groben Stofffalten auf. Der dunkle Flaum über ihrer nussblassen Oberlippe schimmerte feucht, und ihre Augen glänzten wie Schellack. Mit einem Ruck, der an ein pickendes Huhn erinnerte, presste sie ihre Stirn an den Bizeps ihres Mannes. Shirins Vater schien einen kurzen Moment zu erstarren, ließ die Berührung dann jedoch zu. Eine Strähne glatten schwarzen Haars floss unter dem Kopftuch der Frau hervor. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie etwas sagte.

»Wie kommen Sie darauf, dass meine Tochter ein krankes Herz hat?«, wollte der große Mann wissen.

»Sie hatte einen Organspenderausweis bei sich«, erklärte Ella. »Selbstgemalt. Wir dachten, sie könnte das gemacht haben, um zu zeigen, wie wichtig es ist, weil sie selbst vielleicht ein fremdes Organ braucht und weiß, dass sie auch jederzeit sterben könnte.«