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Sechs junge Investmentbanker aus Frankfurt und London – Jasper, David, Mark, Ellen, Naomi und Moritz – warten in Bombay auf den legendären Unternehmensberater Stromberg, um unter seiner Führung an einem Training teilzunehmen, das halb Belohnung, halb Survivalurlaub ist. Bei einer Tigerjagd im Norden Indiens sollen sie zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenwachsen, die füreinander töten würde, damit sie nach der bevorstehenden Fusion ihrer Geldhäuser die neue Investmentbank leiten können. Aber Stromberg kommt nicht. Und während sie warten, wird die Gruppe von ihrer Vergangenheit eingeholt – Jasper, der Ellen liebt, aber nicht weiß, wie sie fühlt, zumal sie mit seinem besten Freund Moritz verheiratet ist; Naomi, die einmal von Moritz vergewaltigt worden ist und außer Geld nur noch Männer haben will, die man mit diesem Geld kaufen kann, aber ausgerechnet an den gerät, der sich nicht kaufen lässt: Jasper. Und Moritz selbst, der zu spät begreift, warum er plötzlich in der Gruppe den Spitznamen Francis erhält … Als Strombergs Ankunft sich immer weiter hinauszögert, beschließt die Gruppe, unter Jaspers Führung auf eigene Faust aufzubrechen. Aber hat Stromberg nicht vielleicht längst mit seinem Experiment begonnen? Und beobachtet sie heimlich, um zu sehen, wie sie unter starkem Druck reagieren? Die Bewährungsprobe erzielt den gegenteiligen Effekt: Die Gruppe zerfällt. Leidenschaften und Hass brechen durch die glatte Fassade, bis einer von ihnen sterben muss.
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Seitenzahl: 529
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Claus Cornelius Fischer
Wer den Tiger reitet
Ihr Verlagsname
Sechs junge Investmentbanker aus Frankfurt und London – Jasper, David, Mark, Ellen, Naomi und Moritz – warten in Bombay auf den legendären Unternehmensberater Stromberg, um unter seiner Führung an einem Training teilzunehmen, das halb Belohnung, halb Survivalurlaub ist. Bei einer Tigerjagd im Norden Indiens sollen sie zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenwachsen, die füreinander töten würde, damit sie nach der bevorstehenden Fusion ihrer Geldhäuser die neue Investmentbank leiten können.
Aber Stromberg kommt nicht. Und während sie warten, wird die Gruppe von ihrer Vergangenheit eingeholt – Jasper, der Ellen liebt, aber nicht weiß, wie sie fühlt, zumal sie mit seinem besten Freund Moritz verheiratet ist; Naomi, die einmal von Moritz vergewaltigt worden ist und außer Geld nur noch Männer haben will, die man mit diesem Geld kaufen kann, aber ausgerechnet an den gerät, der sich nicht kaufen lässt: Jasper. Und Moritz selbst, der zu spät begreift, warum er plötzlich in der Gruppe den Spitznamen Francis erhält …
Als Strombergs Ankunft sich immer weiter hinauszögert, beschließt die Gruppe, unter Jaspers Führung auf eigene Faust aufzubrechen. Aber hat Stromberg nicht vielleicht längst mit seinem Experiment begonnen? Und beobachtet sie heimlich, um zu sehen, wie sie unter starkem Druck reagieren? Die Bewährungsprobe erzielt den gegenteiligen Effekt: Die Gruppe zerfällt. Leidenschaften und Hass brechen durch die glatte Fassade, bis einer von ihnen sterben muss.
Claus Cornelius Fischer ist gebürtiger Berliner und lebt heute als Romancier («Die Wälder des Himmels», «Das Ende aller Tage») und Drehbuchautor in München. Sein Roman «Goyas Hand» war für den aspekte-Literaturpreis nominiert. Sein Drehbuch für den Spielfilm «Blueprint» wurde für den Deutschen Drehbuchpreis vorgeschlagen.
Die ganze Fahrt vom Hotel zum Flughafen über spürte Jasper den Druck der Pistole im Rücken. Sie steckte, vom Sakko verborgen, zwischen Hemd und Hosenbund, und ihr Druck sorgte dafür, dass er sie nicht vergaß. Er konnte sie nicht mit ins Flugzeug nehmen, aber er wollte sie auch nicht einfach wegwerfen, weil er sie vielleicht noch brauchen würde. Er hoffte, dass niemxand mehr sterben musste, und am meisten hoffte er, dass er niemanden töten musste, aber er war nicht sicher.
Sie saßen zu fünft in der Limousine, er hätte sie anschauen können, wenn er den Mut aufgebracht hätte. Blass und schweigend saßen sie einander gegenüber und starrten aus den Fenstern. Jasper spürte, dass sie ihn genauso ansehen wollten wie er sie, aber keiner löste den Blick von der Straße draußen vor den getönten Scheiben.
Alles sah so aus wie bei ihrer Ankunft, nur jetzt wirkte es anders, und sie fuhren gemeinsam in dem klimatisierten Daimler, alle, die noch dazugehörten zu der Mannschaft, die keine Mannschaft mehr war, nie zusammengewachsen und trotzdem verbunden durch die Erinnerung an das Unglück. So hatten sie beschlossen, es zu nennen: das Unglück.
Die Stadt glitt an den Fenstern vorbei, doch Jasper nahm sie kaum wahr, weder die Häuser mit ihrem ewigen Braun, Gelb, Ocker und Rot, schmutzig von Abgasen und Regenwasser, noch den Strom der Passanten in weißen Gewändern, schwarzen Anzügen oder schäbigen Fetzen, und überall die nackten Kinder, Bettler, fliegenden Händler und dazwischen Fahrräder, Mopeds, Motorrikschas, Taxis und Busse und neuerdings die patrouillierenden Armeestreifen. Es hatte Feuer und Schießereien gegeben in der Nacht. Aus der Ruine eines Ladens stiegen ölige Rauchschwaden in den Himmel. Davor stand ein ausgebranntes Taxi, an den Fensterrahmen hing Ruß wie Witwenschleier.
Seit das Unglück passiert war, schien Jasper das Straßenbild einem aus der Ordnung geratenen Uhrwerk zu gleichen, einer unkonzentrierten, ziellosen Bewegung. Lärm und Gestank brandeten gegen die Limousine, in der er sich noch vor ein paar Tagen sicher gefühlt hatte. Sicherheit, dachte er, grün und kühl; eine Kreditkarte und eine Klimaanlage. Er fragte sich, ob er den Verstand verlor.
Der Fahrer hielt, weil eine lehmbespritzte Kuh die Straße überquerte. Jasper dachte, dass er nicht viel von Indien begriffen, das Geheimnis nicht entschlüsselt hatte, falls es eines gab. Dafür hatte er eine Menge über sich gelernt, und das war es wohl, weswegen sie ihn hierher geschickt hatten, ihn und die anderen, die sich nicht mehr ansehen konnten.
Ein Bus schob sich neben sie. Er schwankte unter der Last der Fahrgäste, die sich an Heck und Seiten klammerten wie Muscheln an einen Schiffsrumpf. Die zerbeulte, bunt angestrichene Karosserie hing so tief über der Straße, dass sie Funken aus dem Pflaster schlug. Als der Bus wieder zurückfiel, bemerkte Jasper jenseits der Straße einen kleinen Platz. Unter den grellbunten Filmplakaten und Reklametafeln lag darauf ein Körper in einem blutgetränkten safrangelben Gewand, und bei ihm wartete ein uniformierter Wachposten, bis der Leichenwagen kam und den Toten abtransportierte.
Der Fahrer drückte auf die Hupe. Die Limousine kam nur langsam vorwärts, aber bevor der Flug Delhi-Frankfurt aufgerufen wurde, blieb noch genug Zeit. Sie passierten einen Kalitempel. Jasper erhaschte einen Blick in den Tempelhof, in dem eine Ziege mit durchschnittener Kehle auf einem Opferblock verblutete. Mönche tauchten ihre Daumen in die Blutlache und pressten sie gegen die Stirn. Vielleicht war auch Francis eine Opfergabe gewesen, nicht mehr als bloß ein Opfer, um Kali oder Vishnu oder Shiva zu besänftigen.
Das Elend, dachte Jasper, die Armut. Die Unruhen. Er dachte nur die Worte, sonst nichts. Rechts, an einer Kreuzung, stand eine junge Frau in einem weißen Salwar und schwenkte eine lange Stange in der Luft herum. An der Stange war ein Baby festgebunden, es schrie, und die junge Frau schwenkte das schreiende Baby immer wieder im Kreis herum, bis die Zuschauer genug Rupien für eine Mahlzeit in den zerdellten Blechteller zu ihren Füßen geworfen hatten.
Armut und Elend und Tod, das waren die neuen Erfahrungen, die Jasper in Indien gemacht hatte, denn den Luxus kannte er schon. Daran war er gewöhnt gewesen, nur nicht an das direkte Nebeneinander von beidem. Und die Ungerechtigkeit. Er dachte an einen Kampf, den er am zweiten Tag nach seiner Ankunft erlebt hatte, ein Duell zwischen einer Tigerschlange und einem Mungo. Der Mungo hatte immer wieder versucht, die Schlange am Schwanz zu packen, doch sie war schneller gewesen und hatte sich blitzschnell um seinen Körper gewunden. Jasper stöhnte, als spürte er selbst den würgenden Druck des Schlangenleibs, der Muskeln, die sich um seinen Brustkorb zusammenzogen, erbarmungslos. Im letzten Moment hatte der Besitzer des Mungos eingegriffen, ein schlanker Mann in weißem Tuch, die Hände voller Rubinringe; er hatte die Schlange gepackt und festgehalten, und der Mungo zerbiss ihr den Kopf. Jasper sah noch das Lächeln des Mannes, voller langer gelber Zähne. Ein seltsames Lächeln, das ihm während ihres Aufenthalts immer wieder auf anderen Gesichtern begegnet war, nicht Mitleid, aber auch kein Hohn und bar jeder echten Heiterkeit.
Wo ist unser Besitzer?, dachte Jasper. Am Anfang der Reise hatte er ihn fast körperlich gespürt, obwohl Stromberg nicht bei ihnen gewesen war. Jetzt spürte er Mark und David, die ihm gegenübersaßen, und Naomi neben sich auf der Rückbank. Er spürte auch Ellen auf seiner anderen Seite, und er spürte den Druck der Pistole. Stromberg spürte er nicht mehr, vielleicht, weil sie ihm nicht länger gehörten.
Sie müssen herausfinden, ob Sie töten können, hatte Stromberg gesagt; Sie müssen es herausfinden und lernen. Und nicht nur Töten müssen Sie lernen, sondern selbst den Fangschuss zu geben. Sie müssen herausfinden, ob Sie dazu in der Lage sind. Und danach werden Sie etwas ganz Neues verspüren, ein neues Gefühl – Zusammengehörigkeit. Mehr als Freundschaft – Blutsbrüderschaft. Und mit dem, was Sie gefühlt und gelernt haben, werden Sie gemeinsam die neue Abteilung leiten.
Sie hatten es herausgefunden, und wissen Sie was, Stromberg, die Fusion ist gescheitert, das Bad im Drachenblut oder Tigerblut oder Francisblut hat uns nicht zusammengeschweißt. Wir sind Feinde geworden, weil Sie nicht gekommen sind. Warum sind Sie nie gekommen, Stromberg?
Ellen lehnte sich leicht gegen ihn, er konnte sie riechen, einen nur schwach staubigen Geruch, notdürftig von Parfum überdeckt. Später, im Flughafen, hielt sie sich dicht hinter ihm. Sie standen in einer langen Reihe vor der Gepäckabfertigung am Zollschalter und warteten, sie, David, Mark und Naomi. Jasper starrte die Spiegelung seines Oberkörpers in der Sicherheitsscheibe an. Trotz der Bräune, die er in den letzten Wochen angenommen hatte, sah er im trüben Licht der Abflughalle bleich und übernächtigt aus, verdächtig – kein Wunder in seiner Lage. Er wusste noch immer nicht, wohin mit der Pistole. Beihilfe zum Mord, dachte er, ohne es wirklich denken zu wollen. Die Worte dachten sich von selbst.
Dann dachte er daran, wie sie vor drei Wochen in Bombay gelandet waren, kurz vor fünf Uhr morgens, und wie ihm damals zumute gewesen war, wie aufgeregt er sich gefühlt hatte, aufgeregt und neugierig und selbstsicher, hungrig nach Bestätigung. Du hast deine Bestätigung bekommen, dachte er, und Ellen ihre. Alle hatten sie ihre Bestätigung gekriegt, die ganze Gruppe, und nur Francis war tot.
Sehnsüchtig blickte Jasper zu dem roten Teppich hinüber, auf dem die Passagiere der First Class gelassen zur ihren Schaltern schreiten konnten, um ihr Gepäck aufzugeben und ihre Tickets gegen Bordkarten einzutauschen. Dort gehörst du hin, dachte er, immer noch, auch wenn etwas in ihm wusste, dass es sich nur um eine weitere Illusion handelte. Es gab keine Flüge mehr in der ersten Klasse und kein Warten auf diese Flüge in der VIP-Lounge, egal, wo auf der Welt. Auch die Tage der Luxussuiten in Grand Hotels waren vorbei, ebenso wie die Fahrten in klimatisierten Limousinen, vermutlich für alle Zeit, und sogar das vermutlich war eine Illusion.
Entweder wurde er noch hier verhaftet, auf indischem Boden, oder in Frankfurt bei der Ankunft. Beihilfe zum Mord, dachte er wieder. Aber dann dachte er: Warum eigentlich? Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren; vielleicht kam er irgendwie davon, er und Ellen, die begreifen würde, wie sehr er sie liebte. Ja, er liebte sie – nicht mehr als sich selbst, aber mehr als jeden anderen Menschen. Und sie, vielleicht konnte sie ihre Liebe zu ihm wieder finden.
Das Pfeifen im linken Ohr, das er seit dem Morgen hörte, überlagerte den Lärm in der Abflughalle, sodass er sich zusätzlich isoliert fühlte. Es trennte ihn von den dunklen Gesichtern ringsumher, den Lautsprecherdurchsagen, den überall paarweise herumstehenden Polizisten in ihren Khakiuniformen, sogar von dem Staub in der Luft und der Hitze. Nur von dem Druck der Pistole in seinem Hosenbund unter dem hellen Leinensakko trennte es ihn nicht.
«Es tut mir Leid», sagte Ellen.
«Was tut dir Leid?», fragte er.
«Alles», sagte sie. «Es tut mir alles so furchtbar Leid.»
«Das geht vorbei», sagte er.
Der Mann vor ihm beobachtete die suchenden Hände des Zollbeamten, die sich unter die säuberlich zusammengefaltete Wäsche in seinem Koffer schoben. Der Mann trug ein weißes Käppi und ein lang fallendes Gewand, unter dem man ein Dutzend Handgranaten, eine Maschinenpistole und eine Panzerfaust verstecken konnte, sollte einem daran gelegen sein. Seine Augen waren zwei bernsteinfarbene Lohen, das heilige Feuer. Ein Moslem, ging es Jasper durch den Kopf, einer von –
Er reagierte viel zu langsam. Ein merkwürdiger Geruch nach Jasmin, Hibiskus und Weihrauch streifte ihn, da schlug der Mann mit dem Käppi schon die Hände des Zollbeamten beiseite und zauberte ein kleines Fläschchen aus seinem Koffer hervor. Er sprang aus der Warteschlange, stieß einen kehligen Schrei aus und hob die auf magische Weise entkorkte Flasche über seinen Kopf. Dünner Rauch entstieg dem Glasbehälter. Säure spritzte durch die Luft. Der Schrei pflanzte sich fort, von anderen Kehlen aufgegriffen. Die Umstehenden wichen zurück, David und Mark und Naomi und die Inder; der Kreis scharrender Füße um den Moslem wurde größer.
Jasper griff hinter sich, unter das Sakko, und riss die Pistole aus dem Hosenbund. Hier war der Moment, auf den er die ganze Zeit gewartet hatte, ohne es zu wissen; hier war er. Entsichern, das Ziel anvisieren und schießen, alles lief automatisch ab. Nach den ersten Schüssen umklammerte er mit der linken Hand das Gelenk der rechten und feuerte fast bedächtig das ganze Magazin leer. Noch einmal schrien die Wartenden wie beim Anblick der Säure vor Überraschung und Entsetzen.
Der Mann mit dem weißen Käppi stand plötzlich still und hörte auf, das Fläschchen über seinem Kopf zu schwenken. Das heilige Feuer in seinen Augen erlosch. Mit der freien Hand tastete er nach den vom Faltenwurf seines Gewandes verhüllten Einschusslöchern, als wollte er sichergehen, dass er daran auch sterben und bald zu Füßen Allahs sitzen werde. Das Ergebnis schien nicht ganz eindeutig auszufallen, denn er setzte rasch die Säureflasche an den Mund und schüttete den Rest des Inhalts hinunter.
Langsam ließ Jasper die Pistole sinken.
Neben dem Moslem lehnte Naomi an der Barriere des Gepäckschalters und warf ihm einen unsicheren Blick zu, ehe ihre Augen Jasper suchten. Sie ähnelten denen des Attentäters – dasselbe Erstaunen lag darin, dieselbe Enttäuschung, gepaart mit Missmut, das heilige Feuer auch bei ihr zusammengefallen zu Asche. Sogar die Bewegung ihrer rechten Hand, angezogen von den drei schnell größer werdenden hellroten Blutflecken auf ihrer Jeansbluse, ließ sich, wie Jasper fand, mit der des Moslems vergleichen.
Der Mann mit dem weißen Käppi brach zusammen. Rauchfäden fanden ihren Weg zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hindurch über die verätzten Lippen. Gleich darauf kippte auch Naomi einfach um und stürzte auf einen Gepäckwagen, der zu rollen begann. Das Quietschen der Räder mischte sich in das Geschrei der am Boden Deckung suchenden Fluggäste. Im Laufschritt näherte sich ein Trupp uniformierter Antiterrorspezialisten. Zu spät, dachte Jasper, als er aus seiner Betäubung erwachte. Neben sich hörte er Ellen wimmern. Erst klang es wie das Winseln eines Tiers, dann tiefer, als versuchte sie, einen unerträglichen Schmerz aus sich herauszupressen.
«Ich kann nichts mehr sehen», schrie Ellen. «Ich kann nichts sehen. Warum kann ich nichts mehr sehen …» Sie presste beide Hände, zu Fäusten geballt, gegen das Gesicht und warf den Kopf hin und her, hin und her. Dann rutschten die Fäuste von ihren Augen, und Jasper musste sich abwenden, obwohl er es nicht wollte.
Grosny ist keine Stadt, die regelmäßig von der Concorde angeflogen wird, um inkognito reisende Vorstandssprecher, Investmentbanker und Wirtschaftsanwälte zu Geheimverhandlungen über das Schicksal eines in Bedrängnis geratenen Unternehmens abzusetzen. Auf Besuch von alten Freunden musste ich daher hier in den letzten Jahren verzichten, und ich habe angefangen, Generäle, Politiker oder Konzernherren zu beneiden, die sich bei der Abfassung ihrer Erinnerungen auf einen Stab eifriger Berater stützen können. Selbst die mühsam zusammengetragenen Bruchstücke meines Lebens unter Berufung auf meinen eigenen Namen als die einzige Wahrheit angeben zu können – «So ist es gewesen! Ich erinnere mich genau! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!» –, hätte mir das Gespräch mit Krüger in meinem gegenwärtigen Zustand beträchtlich erleichtert.
Und weiter im Westen, stromaufwärts, zeichnete sich der Ort der Riesenstadt noch immer dräuend gegen den Himmel ab, eine brütende Düsternis im Sonnenschein, ein gespenstischer Glanz unter den Sternen. Und auch dies, sagte Marlow unvermittelt, ist einer der dunkelsten Plätze der Erde gewesen.
Kennen Sie die Stelle, Krüger? Wer eine so weite Reise antritt, sollte Das Herz der Finsternis gelesen haben. Wie haben Sie mich gefunden? Wissen Sie um mein Geheimnis, die verschlungenen Wege, die mich hierher geführt haben?
Ich bin kein Held. Ich habe keine Angst, schon lange nicht mehr, aber ich war auch nie besonders tapfer, nicht mal in Frankfurt. Damals bin ich gern ein Risiko eingegangen, aber das hatte nichts mit Mut zu tun, denn es war ja nie mein Geld, das ich riskierte. Wie viele Feinde kann ein Mann haben? Wenn ich aus meiner Tür trete und durch die Straßen wandere, durch diese Ruinenlandschaft, in der sie mich untergebracht haben, kommt man auf die komischsten Gedanken, aber die Antwort ist einfach: nur einen. Nur sich selbst.
«Die Wahrheit», hat Krüger gestern gesagt, «Ihr Feind ist die Wahrheit, und ich kann sie in einen Freund verwandeln, mein Junge. Genau genommen ist die Wahrheit nur ein Tor, man kann sie aus zwei Richtungen durchschreiten.» Das waren seine Worte, und da er der Mann mit dem Geld ist, habe ich nicht widersprochen. Außerdem ist er, seinen eigenen Worten zufolge, ein berühmter Journalist in der Welt, die ich hinter mir gelassen habe, jenseits der Trümmer. Obwohl ich viel lese, sagt mir sein Name nichts. Er schreibt eine Reportage über unsere Reise nach Indien, für solches Zeug gibt es einen Markt da draußen, sagt er, und nachdem Naomi tot ist und Ellen offenbar verschollen und aus den anderen Überlebenden des Unglücks kein Wort rauszukriegen sei, bleibe angeblich nur ich. Aber warum sollte ich ihm oder irgendjemandem sonst gegenüber mein Schweigen brechen?
Ich hatte ein Zitat für ihn: Lehre mich leben, dass vor dem Grab so wenig Angst wie vor dem Bett ich hab’. Lehre mich sterben … Es stammt aus einem Roman von Thomas Hardy – oder waren es seine Tagebücher? –, den ich hier in Grosny zu lesen begonnen habe. Nichts könnte meine Zeit im Versteck besser beschreiben, warum also sollte ich reden?
Krüger ist gestern eingetroffen, und heute Nachmittag will er mich besuchen, nachdem er sich in seiner Unterkunft ausgeruht hat. Ein unangenehmer Mensch mit einem perversen Interesse an Schicksalsschlägen und anderen Katastrophen, als würde er für eins dieser wie Pilze aus dem Boden schießenden Boulevardmagazine im Privatfernsehen arbeiten. Trotzdem tut er mir fast Leid; er hätte mich niemals finden dürfen.
«Ich habe Ihnen ein paar Fotos mitgebracht – Schnappschüsse, die mir in Frankfurt in die Hände gefallen sind.» Mit der müden Gestik eines seiner Fingerfertigkeit überdrüssigen Zauberers hatte er mir zwei Abzüge über den Tisch geschoben. Meine Überraschung wäre kaum größer gewesen, wenn er die Ohren eines in seiner Flugtasche versteckten Kaninchens in den Händen gehalten hätte.
Die Bilder zeigten Francis, Naomi, Ellen und mich, aufgenommen an einem Oktobermorgen vor dem Hauptportal der Bank. Wir schwenken eine geöffnete Champagnerflasche. Naomi strahlt mich an, und Ellen lacht direkt in die Kamera, und selbst Francis – ich habe mir angewöhnt, ihn Francis zu nennen, obwohl er damals noch bei seinem richtigen Namen, Moritz, gerufen wurde – lächelt, wenn auch nicht so glücklich wie ich. Seltsam, ich wirke von allen am glücklichsten, sonst hätte mein Fall ja auch nicht so tief sein können. Genau betrachtet, sind Naomi, Ellen und Francis natürlich wesentlich tiefer gefallen, aber an ihnen, an ihren Mienen ist etwas – sie schienen es zu ahnen …
Wir feierten die bevorstehende Fusion und unseren unaufhaltsamen Aufstieg zum Gipfel, bis dicht unter diesen unglaublich blauen Oktoberhimmel. Bereit zum Flug zur Sonne, mit Flügeln aus Wachs. Wie naiv wir damals gewesen waren, vor kaum drei Jahren, wenn auch nicht unschuldig. Die anderen erkannte ich wieder, nur der, der ich selbst sein musste, schien mir so fremd, als hätte ich außer dem Namen nichts mehr mit ihm gemeinsam. Ohne die anderen drei, ohne die Erinnerung an den Moment, in dem das Foto gemacht worden war – von wem? David? Mark? –, hätte ich in mir nur einen weiteren jungen Ikarus gesehen, berauscht von sich selbst, zweifellos anziehend, zweifellos gut aussehend mit den dunklen Haaren, den blauen, ganz leicht ausweichenden Augen und dem vielleicht etwas zu weichen Gesicht, von dem inzwischen nur noch eine Art Blaupause übrig geblieben ist: Kanten, scharfe Linien, hervorstechende Knochen.
Wir waren keine besonders netten Menschen damals, dachte ich, aber wir wussten es nicht. Wir wussten es nicht, bis Francis nach Indien kam und uns zwang, in den Spiegel zu sehen.
Krüger ist erst eine Nacht hier, und schon habe ich wieder angefangen, schlecht zu schlafen. Die Schnappschüsse geisterten durch meine Träume, ebenso wie die Menschen, von denen sie nur einen außergewöhnlich treffenden Eindruck vermittelten. Ich stand vorzeitig auf und trank einen Kaffee am Fenster, sah hinaus auf die Ruine des ausgebombten Plattenbaus gegenüber. Wenn ich die Augen ein wenig schloss, wurde das Fenster zum Rahmen der Fotos, aus denen Francis winkend auf mich zukam.
Der Himmel hatte eine schwefelgelbe Farbe wie die Seiten alter Bücher, selten umgeblättert oder immer wieder an derselben Stelle aufgeschlagen, an der die Zeit stehen geblieben war. Francis kam und kam und winkte, und jeder seiner Gesichtszüge und jede Bewegung war mir vertraut. Bruder Francis, der beste der alten Freunde, hätte jemand wie Rudyard Kipling wahrscheinlich geschrieben, auch einer der Schriftsteller, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Ich hob die Hand und winkte zurück und erkannte sofort, wie töricht diese Geste war. Er kam ja nie an.
Ich überlegte, ob ich Krüger retten konnte, indem ich ihm einen anderen Stoff vorschlug, eine andere Geschichte über andere Menschen. «Schauen Sie, Krüger», sagte ich, «man wird in ein fremdes Land geschickt, um etwas zu lernen, und das geht schief. Aber ich bin weder der Einzige noch der Erste, der so was erlebt hat und –»
«Um was zu lernen?», unterbrach Krüger mich. «Was genau sollten Sie da unten lernen, mein Junge?»
«Überleben», antwortete ich, «und am Ende siegen.»
Er sah sich in meiner Wohnung um: die rostigen Eisenbeschläge der Eingangstür, die Kugellöcher in den Betonwänden, die Deckenlampen ohne Schirm, die ramponierten Möbel, die Schichten dünner Teppiche auf dem nackten Betonboden. Auf einem provisorischen Schreibtisch standen ein Laptop und ein Faxgerät, aber es waren vor allem die Teppiche, die mich an Indien erinnerten.
«War es nicht etwas anderes?», widersprach er mir. «War es nicht etwas ganz anderes, mein Junge?»
Mein Junge. «Das habe ich lange nicht mehr gehört», sagte ich leise und spürte ein kurzes Unbehagen, als hätte ich mich in Krüger getäuscht. «Sie sollten mich so nicht nennen. Ich heiße Jasper Mozart.»
«War es nicht das Fürchten, Jasper, mein Junge?», fuhr er unbeirrt fort. «Ich glaube, Sie wurden ausgeschickt, um das Fürchten zu lernen, und das haben Sie auch getan. Sie haben es gelernt, nicht wahr?»
Ich sagte nichts. Was weißt du schon, dachte ich; was weiß schon jemand wie du mit deinem Pathos des zweitklassigen Journalisten?
An jenem Morgen im April vor drei Jahren stand Jasper um kurz nach vier Uhr in der Ankunftshalle des International Airport von Bombay und wartete auf die verspätete Landung der Lufthansa-Maschine aus Frankfurt. Von seinem Platz am Aussichtsfenster konnte er die Rollfelder mit den startenden und landenden Maschinen im Auge behalten. Er fragte sich, ob er Stromberg erkennen würde. Manchmal gelang es ihm, einen Menschen zu erkennen, den er nie zuvor gesehen hatte, einfach anhand der Erinnerung an seine Stimme am Telefon.
Bis auf die Rollfeldbeleuchtung und die Scheinwerfer der Düsenjets lagen die Startbahnen in der Dunkelheit, aber selbst um diese Nachtzeit war es noch so heiß, dass Jasper schwitzte. Er hatte zu schwitzen begonnen, kaum dass er aus dem Taxi gestiegen war, und er schwitzte weiter, während er wartete. Er stellte sich vor, die Markierungslampen längs der Startbahnen wären herabgefallene Sternbilder, etwas Kühles aus dem Himmel, denn wenn Stromberg ihm gegenüberstand, wollte er kühl und souverän wirken.
In der Scheibe spiegelte sich die belebte Halle, das Gewimmel aus Turbanen, Kopftüchern und bunten Gewändern. Die Leute, die mit ihm auf die zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens eintreffenden Linienflüge warteten, wirkten müde, aber nicht ungeduldig, im Gegensatz zu den an den Ausgängen herumstehenden Polizisten und Soldaten mit ihren verkniffenen Mienen. Die schwach flackernde Beleuchtung der Halle verlieh allen ein kränkliches Aussehen, dem Flughafenpersonal, den Geldwechslern an den Bankschaltern, den Gepäckträgern, den Taxifahrern, den ankommenden Passagieren und denen, die sie abholen wollten.
Eine harte weibliche Stimme verbreitete über die knisternde Lautsprecheranlage Informationen, die durch das schlechte Englisch der Sprecherin etwas irritierend Geheimnisvolles erhielten. Jasper lauschte, versuchte den Namen Stromberg herauszuhören. Passenger Mister Stromberg, arrived with Lufthansa flight 375from Frankfurt, please come to the information desk immediately. Passenger Strombergfrom Frankfurt …
Immer wieder schaute er auf seine Armbanduhr und streifte anschließend die Flughafenuhr mit ungeduldigen Blicken. Es kam ihm vor, als hätte er sein halbes Leben damit zugebracht, an irgendeinem Fenster zu stehen und zu warten. Ein paar Schritte entfernt von ihm saß eine junge Frau auf einem kleinen Kunststoffkoffer und sah ihn an wie jemand, der hofft, wieder erkannt oder angesprochen zu werden. Sie trug Bluejeans, Sandalen und ein olivfarbenes T-Shirt. Ihre Hände waren unablässig in Bewegung: kleine, nervöse Gesten, knöpfend, zupfend, schnippend. Ihre dunklen Augen waren groß vor Übermüdung, die Lippen aufgeworfen, und die Blässe ihrer Haut verlieh ihr einen Hauch von Verlorenheit. Das kurz geschnittene blonde Haar war so fein, dass die Spitzen über der Stirn im kaum spürbaren Luftzug der Klimaanlage leicht zitterten.
Kurz erwog Jasper, ihr den Gefallen zu tun und sie anzusprechen, nur aus Neugier, unterließ es dann aber. Er hielt sie für eine Französin, und seine Französischkenntnisse waren begrenzt. Außerdem wusste er nie, was er in solchen Momenten sagen sollte. Wenn es nicht um Aktien oder andere Vermögenswerte ging, fiel ihm selten eine halbwegs intelligente Gesprächs-eröffnung ein. Auf Fragen reagierte er mit den falschen Antworten, die Unterhaltung entglitt ihm, oder er verlor den Faden, und am Ende war die Frau genauso enttäuscht und verärgert wie er selbst. Er hatte sich mit diesem Unvermögen abgefunden; Liebe verging, Immobilienbesitz blieb. Und Ellen, vielleicht blieb sie auch.
Der Lärm der anfliegenden Maschine drang in die Halle. Jasper stellte sich die mächtigen Gummireifen vor, wie sie die Piste berührten, wieder abhoben und endlich quietschend Vertrauen fassten. Sein Lieblingsmoment beim Fliegen, Schwerkraft plus Grazie und nochmal davongekommen … Das Landed-Zeichen auf der Ankunftstafel leuchtete auf. Etwas später passierten die ersten Ankömmlinge aus Deutschland die Zoll- und Visakontrolle. Das Gepäckband in der Abfertigungshalle begann seinen Kreislauf.
«Passenger Mr. Stromberg from Frankfurt, please contact Mr. Mozart at the information desk», verkündete die blecherne Frauenstimme, und Jasper begab sich zur Information. Die Französin mit dem kurz geschnittenen blonden Haar sah sich unruhig um, bevor sie aufstand und ihm folgte. Ihr Koffer war so schwer, dass sie ihn immer wieder von einer Hand in die andere wechselte.
Ein Dutzend Passagiere marschierte mit Koffern und Taschen durch die Absperrung, wo es von einer Traube lärmender Taxifahrer bestürmt wurde. Keiner der Fluggäste sah so aus, wie Jasper sich Stromberg vorstellte. Er dachte an die anderen, Ellen, Naomi, David und Mark, die im Hotel warteten, und was sie machen sollten, wenn Stromberg nicht in der Maschine wäre. Er versuchte, die Aufmerksamkeit der Flughafenangestellten hinter dem Mikrophon zu erregen, damit sie die Durchsage noch einmal wiederholte. Als sie ihn endlich registrierte, sagte er: «Could you repeat the message for Mr. Stromberg, please?»
Auch von den anderen wusste keiner, wie der Mann aussah, mit dem sie hier in Bombay verabredet waren. Erst kurz vor dem Abflug aus London hatten sie per E-Mail erfahren, unter wessen Leitung das Seminar stattfand; Löckchen hatte es als Erste so genannt, das Kampfzonen-Seminar. Sie kannten seinen Namen, natürlich, Stromberg war eine Legende, aber zu alt, als dass sie sich jemals ernsthaft mit ihm befasst hatten. Bestimmt existierten Fotos von ihm, sie hätten bloß im Internet nachschauen müssen. Aber zu Hause hatte keiner daran gedacht, und hier gab es keine Möglichkeit mehr. Die Anweisungen waren eindeutig: keine Laptops, kein Besuch in Internet-Cafés, keine Kommunikation außerhalb der Gruppe. Stromberg hatte Jasper ausgewählt, damit er die Einhaltung der Gebote – auch diesen Begriff hatte Löckchen geprägt – überwachte, und er achtete darauf, dass keiner aus der Reihe tanzte. Er allein wusste, weswegen sie hier waren, welchem Ziel der Trip diente, und wenn der richtige Zeitpunkt da war, würde er es einem anderen aus ihrer Mannschaft mitteilen, das Privileg teilen. Er dachte, dass es Löckchen sein würde. Vielleicht bedeutete er ihr noch nicht so viel, wie es ihm wünschenswert erschien, aber damit hielt er einen Trumpf in der Hand, mit diesem Wissen. Und es gab die kleinen Gesten, die ihm an ihr aufgefallen waren. Sie sprach zu ihm, ohne Worte und noch ohne Berührungen, und dennoch verstand er sie. Es erregte ihn, dass sie sich Zeit ließ. Er konnte manchmal nicht einschlafen, weil er an sie dachte; es war ein süßes Gefühl, zart, ein sachtes Pochen.
Im selben Augenblick hörte er eine Stimme hinter sich sagen: «Jasper? Jasper Mozart?» Er wandte sich hastig um, überrascht, dass Stromberg ihn beim Vornamen nannte. Aber der Mann, der vor ihm stand, war nicht der, den er erwartete. Er war schlank und jung und trug einen beigen Leinenanzug von Peek & Cloppenburg zu einem Khakihemd, außerdem eine rote Baseballkappe, graue Prada-Turnschuhe und einen Nylonrucksack. Zu seinen Füßen stand ein Aluminiumkoffer. «Mo!», entfuhr es Jasper. «Scheiße, was machst du denn hier?»
Moritz lächelte. Sein Blick überwand einen Moment der Unsicherheit, der auf die Überraschung gefolgt war, als hätte er die Begegnung vielleicht doch lieber vermieden, jetzt, wo es zu spät war. «Ich dachte – bist du nicht hier, um mich abzuholen?»
«Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass du kommst», antwortete Jasper. «Ich bin hier, um Stromberg abzuholen.»
«Stromberg ist noch nicht da?»
«Nein.» Jasper hielt weiter Ausschau, beobachtete die Passagiere, die hinter Moritz zu den Fahrern der Taxis gingen. «Er hat ein Telegramm geschickt, dass er heute aus Frankfurt kommt, mit dem Lufthansa-Flug, der eben gelandet ist.»
«Vielleicht hat er die Maschine verpasst», sagte Moritz. «Jedenfalls saß er nicht drin.» Er nahm die Baseballkappe ab, fuhr sich mit der Hand über das Haar und setzte die Kappe mit dem Schirm nach vorn wieder auf.
«Du weißt, wie er aussieht?»
Moritz nickte. «Ich habe ihn mal bei Goldman Sachs kennen gelernt. Ich dachte, er wäre längst hier, bei euch. Ich dachte, ich würde euch vielleicht gar nicht mehr antreffen, weil ihr schon weitergefahren seid. Und eben, als ich deinen Namen gehört habe, dachte ich, du wärst hier, um mich abzuholen.»
«Kein Mensch wusste, dass du kommen wolltest. Du gehörst nicht mehr zu unserem Verein, schon vergessen?»
«Du könntest mal wieder zum Friseur gehen.» Moritz räusperte sich. «Wir sind doch noch Freunde?», fragte er mit einem Anflug von Sorge in der Stimme. Sein Mund, der stets etwas Schmollendes hatte, zitterte leicht, wahrscheinlich vor Erschöpfung von dem langen Flug. Auch seine Lider unter der hohen Stirn hingen tiefer über die dunkelbraunen Augen herab als sonst, und das rundliche Kinn zeigte einen Bartschatten. Das rötlich blonde Haar, das er in London zu einem Pferdeschwanz gebunden getragen hatte, war nun streichholzkurz geschnitten und an einigen Stellen schweißverklebt.
Jasper ließ sich Zeit mit der Antwort, dann konnte er sein Lächeln nicht mehr verbergen. «Klar sind wir das.» Er widerstand der Versuchung, Moritz zu umarmen und an sich zu pressen. «Sag mal, was willst du überhaupt hier?»
«Löckchen», antwortete Moritz leise. «Ich bin wegen Löckchen da.»
Jasper hielt das Lächeln aufrecht, bis es zu schmerzen begann. Er warf einen letzten nervösen Blick auf den Ausgang der wieder verwaisten Abfertigungshalle, dann griff er nach dem Koffer, der zwischen ihm und Moritz stand. «Mein Gott, ist das dreckig hier! Komm, lass uns verschwinden.»
«Ist es weit bis in die Stadt?», fragte Moritz erleichtert. «Wie seid ihr untergebracht? Ich habe gehört, die Hotels in Bombay –»
«Lass dich überraschen», unterbrach Jasper ihn schroff und steuerte den Ausgang an, wobei er die auf ihn zustürzenden Taxifahrer mit barschem «No! No! No!» auf Distanz hielt. «Pass auf deinen Rucksack auf!» Er hörte Moritz rufen: «Hey, Finger weg!», und gleich darauf eine weibliche Stimme: «Wartet mal! Wartet doch!» Er warf einen Blick über die Schulter. Das Mädchen, das ihm zur Information gefolgt war, lief hinter ihnen her, den Plastikkoffer jetzt in beiden Händen. Es war der kleine, harte Koffer, der Jasper dazu veranlasste, stehen zu bleiben. «No chance, I have a prepaid cab!», rief er und deutete auf einen der ruhig neben dem Ausgang wartenden Sikhs, damit die anderen Taxifahrer ihn in Ruhe ließen.
Außer Atem gesellte sich das Mädchen mit dem Plastikkoffer zu ihnen. «Entschuldigung, ich hab euch deutsch sprechen hören. Fahrt ihr nach Bombay? Könnt ihr mich mitnehmen? Meine Freunde wollten mich abholen, aber sie sind nicht gekommen. Ich hab ein bisschen Angst, und mein Hotel hat bestimmt schon zu –»
Moritz blinzelte müde. «Klar, kein Problem –»
«Nein.» Jasper betrachtete die Französin, die keine Französin war, wie sie es schaffte, sogar im Stehen und mit beiden Händen am Koffergriff nervös zu wirken, die unruhigen Augen und den Schweißfilm am Haaransatz und unter den Achseln. «Nein, sorry, das geht nicht, unmöglich …»
«Warum nicht?» Ihre Brüste hoben und senkten sich unter dem T-Shirt. «Ich hab Geld, meinen Anteil zahle ich –»
«Nein, tut mir Leid.» Jasper schüttelte den Kopf, wandte sich ab und nickte Moritz zu. «Komm schon.» Aus den Augenwinkeln sah er noch die Enttäuschung, die das Gesicht des Mädchens zusammenzog.
«Wieso hast du sie denn nicht mitfahren lassen?», fragte Moritz, als sie draußen vor dem Flughafengebäude in eins der wartenden schwarz-gelben Taxis stiegen. Im Fond des Wagens herrschte eine feuchte Hitze, die nach Gummi und Zimt und fauligem Obst roch. Der Sitzbezug war rissig, aus den Rissen quoll Tierhaar. Der Fahrer trug einen Turban; ein Bart verbarg Mund und Kinn.
«Ich kannte sie nicht», antwortete Jasper. «Es hätte ein Test sein können, von Stromberg.»
Moritz sah ihn ungläubig an und erkannte, dass Jasper es ernst meinte. «Ich könnte auch ein Test von Stromberg sein», sagte er schließlich.
«Ich weiß.» Zum ersten Mal ahnte Jasper, dass diese Reise vielleicht nicht das Abenteuer werden würde, das er sich von ihr erhofft hatte. Er kannte Moritz seit drei Jahren, und jetzt hatte er das Gefühl, als wären sie einander fremd und keiner von ihnen gehöre wirklich hierher. Im Rückspiegel begegnete er dem Blick des Taxifahrers. «Bombay, Hotel Vishnu.»
«Mumbai», verbesserte ihn der Fahrer.
«Meinetwegen – Mumbai», sagte Jasper. «Mumbai, Hotel Vishnu, klar?»
«Oh, maybe all overbooked», rief der Fahrer. Die Augen unter seinem Turban schimmerten dunkel. «Mister Singh knows nice little hotel of good quality –»
«My friends are staying there and I stay there and it’s not overbooked», sagte Jasper entschieden. «Go!»
Der Fahrer seufzte und steuerte den Honda auf den Highway nach Bombay. Durch das offene Fenster auf der Fahrerseite drang frische Seeluft. Jasper roch das Meer, es lag gleich hinter einem dunklen Landstreifen, aber noch konnte er es nicht sehen. Trotz des dröhnenden Dieselmotors hörte er das Zirpen von Zikaden im Sommergras neben der Straße. Er war um einen beiläufigen Tonfall bemüht, als er sagte: «Ich dachte, ihr wärt auseinander, Ellen und du …»
«Früher hast du sie Löckchen genannt», sagte Moritz. Die Fahrbahn glitzerte im Licht der Scheinwerfer. So kurz vor Morgengrauen gab es nur wenig Verkehr. «Nur weil wir uns vielleicht scheiden lassen, brauchst du mir zuliebe nicht förmlich zu werden. Wir sind immer noch auseinander. Deswegen bin ich nämlich hier, weil wir auseinander sind und ich das nicht will. Dass es zu Ende ist, meine ich.» Sein Kopf lag auf der Rückenlehne, ein Schatten vor dem Meer, das silbern in Jaspers Blickfeld erschien. «Und du, was genau tust du hier?»
«Warten», sagte Jasper.
«Worauf?»
Jasper zuckte mit den Schultern, bis ihm einfiel, dass Moritz die Geste nicht sehen konnte. «Que la manège commence», erklärte er, amüsiert darüber, dass der Anblick des Mädchens mit dem Koffer einen ganzen französischen Satz aus seinem Unterbewusstsein zutage gefördert hatte, nur weil sie ihm wie eine Französin erschienen war.
«Und du bist der Zeremonienmeister in dieser Manege?»
«Bis Stromberg kommt.» Jasper spürte, wie seine Nase zu jucken begann, achtete aber nicht darauf. «Menschen denken, also sind sie, also haben sie eine Funktion, also müssen diese Funktionen koordiniert werden.»
«Du, Löckchen, Naomi – und wer noch?»
«Mark und David vom Londoner Büro.»
«Großer Gott», Moritz klang mit seiner sanften Stimme fast wie ein britischer Lord im Oberhaus, «auf was für ein gemeinsames Ziel könnte man derart verschiedene Geschosse abfeuern?»
Jasper schwieg. Stromberg hatte ihm verboten, die anderen ins Bild zu setzen, aber Moritz gehörte ja nicht mehr dazu, außerdem war er trotz allem sein bester Freund, vielleicht sein einziger, und dazu noch Ellens Mann. «Tiger», platzte er heraus.
«Was Tiger?»
«Wir unternehmen eine Tigerjagd.» Jasper spürte, wie aus dem Jucken in der Nase ein Kitzeln in der Brust wurde. «Wir reiten den Tiger, und sobald die Fusion über die Bühne gegangen ist, sind wir die neue Bank, die Besten der Besten.»
Moritz wandte ihm den Kopf zu, und selbst im Dunkeln konnte Jasper sehen, dass er ihn erwischt hatte, er spürte geradezu das fassungslose Staunen auf Mos Gesicht.
«Tiger», murmelte Mo kaum hörbar. «Tiger.» Und dann noch einmal: «Scheiße – Tiger …»
Am Highway-Rand tauchten die ersten Lampen auf. Über dem weißen Licht, das sie auf den Asphalt schütteten, wirkte der Himmel noch tiefer und blauer. Straßenschilder wechselten sich mit riesigen Filmplakaten ab. Ein bärtiger Mann mit leuchtend grünen Augen beugte sich vor dem Hintergrund einer Flammenwand über eine Frau mit einem roten Fleck auf der Stirn, das Gesicht eine Studie in lüsterner Gier.
«Ist es gefährlich hier?», fragte Moritz auf einmal.
«Das Wasser ist nicht gut.» Jasper unterdrückte ein Gähnen. «Du solltest nur Mineralwasser trinken, aus der Flasche.»
«Ich meine die Unruhen», präzisierte Moritz.
«Was für Unruhen?»
«Zwischen Hindus und Moslems, irgendwo im Norden. Habt ihr hier kein Fernsehen?»
Jasper antwortete nicht. Dann wurde vor ihnen der Himmel hell, weil der Tag anbrach und gleichzeitig die Lichter von Bombay in Sicht kamen, ausgeschüttet an der Küste des Arabischen Meers wie Diamanten aus einer Schatztruhe. Da lag das Meer, es war fast schwarz, und ein Streifen Rot stieg hinter den Hütten und Häusern auf und stemmte sich gegen das Blau der Nacht, und ein jäher Windstoß brachte den Geruch tropischer Pflanzen ins Innere des Taxis, und jetzt sah Jasper im ersten Licht das staunende Gesicht seines Freundes.
«Bombay», flüsterte Moritz. «Ich bin in Indien!» Er fing an zu lachen. «Ich bin tatsächlich in Indien!» Er riss sich die Baseballkappe vom Kopf und schlug damit nach Jasper, der den Schlag mit der Hand abwehrte, plötzlich genauso glücklich. Sie lachten und fielen sich um den Hals, glücklich und arglos und müde, aber vor allem glücklich, zum letzten Mal.
Im Rückspiegel über dem Armaturenbrett hing das Lächeln des Fahrers, ein Sikh-Lächeln mit gelben Zähnen, an das Jasper sich noch erinnerte, als er fast alles andere von dieser Nacht vergessen hatte.
«Stromberg sagte immer: Indien ist ein Mikroskop, durch das man die gesamte Menschheit studieren kann. Vom Exotischen zum Universellen und zurück, die Textur der Welt, die Strukturen von Macht und Untergang –»
«Darf ich Sie hier für einen Moment unterbrechen, mein Junge?», Krüger drückte auf die Stopptaste des Kassettenrecorders, den er vor mir auf einen Stuhl gestellt hatte. Er rieb sich den Nacken, bevor seine Hand tiefer wanderte und die Muskulatur der linken Schulter zu massieren begann. «Ich wüsste gern, was Sie dachten –»
«Sie dürfen mich unterbrechen, aber Sie sollen mich nicht mein Junge nennen», fiel ich ihm ins Wort, «das habe ich Ihnen schon mal gesagt.» Ich sah ihn dabei nicht an, sondern hielt den Blick auf das schmutzige Fenster gerichtet, vor dem der Herbst alles mit frühem Frost überzog. Für einen Moment schien mir, als wäre in dem ausgebrannten Mietshaus jenseits der Straße eine Lampe an- und ausgegangen.
«Meinetwegen, wie Sie wollen.» Krüger klopfte die Außentaschen seiner Splitterweste ab. «Stört es Sie, wenn ich rauche?»
«Nein.» Ich saß auf der Klappliege, die ich anstelle eines Sessels benutzte, und beobachtete, wie er eine Schachtel Shepherds herausholte, eine Zigarette anzündete und sich dann erst nach einem Aschenbecher umsah. Als er keinen entdeckte, ging er zum Fenster und öffnete es.
«Sie sollten sich nicht unbedingt in der Nähe des offenen Fensters aufhalten», sagte ich, «trotz der schönen Weste, die Sie da tragen.»
«Ist es nicht sicher?», fragte Krüger. Seine Augen, dunkelblau, leuchteten, als könnte er dem Gedanken, unter Beschuss zu geraten, beträchtlichen Reiz abgewinnen. Er wandte mir den Rücken zu und beugte sich ein wenig vor, um mir und jedem möglichen Heckenschützen da draußen zu zeigen, dass er so was wie Angst nicht kannte. Er war groß und breitschultrig, vielleicht zehn Jahre älter als ich und gut in Form, Tennis oder Squash, vielleicht sogar Gewichte, auf alle Fälle kein Golf. Außer der Splitterweste, die ihm gegen einen gezielten Schuss aus einer Kalaschnikow ungefähr so viel nutzen würde wie eine Fangopackung, trug er einen grauen Rollkragenpullover, Docker Pants und gefütterte Stiefeletten. Er nahm noch einen Zug aus der Zigarette, bevor er sie ins Freie schnippte und das Fenster wieder schloss. «Hat man hier schon mal auf Sie geschossen?»
«Auf mich nicht», antwortete ich. «Nicht hier.»
«Was ich Sie fragen wollte», er trat an den Schreibtisch und betrachtete die Fotos auf der Platte, nachlässig ausgelegt wie eine unvollendete Patience: Löckchen, Naomi, Moritz, David und Mark. «Sie hatten doch nicht wieder angefangen?»
«Womit?»
«Sie wissen schon, dieses kleine Laster, das Sie in London mal hatten, das haben Sie doch nicht wieder angenommen? Ein paar von den Leuten, die ich interviewt habe, erwähnten, dass Sie eine Zeit lang ein Problem mit –»
«Dass ich ein Problem mit Kokain hatte?» Ich schüttelte den Kopf. «Ganz im Gegenteil, ich hatte nicht das geringste Problem damit. Ich habe es zu jeder Zeit und überall genommen, aber damals nicht. In Indien habe ich nicht wieder angefangen, obwohl die Verlockung nie größer war.»
Er nickte zufrieden. «Zurück zu Stromberg – was dachten Sie, als er an jenem Morgen nicht in der Maschine aus Frankfurt war? Wie fühlten Sie sich? Kamen Sie sich verraten vor?»
«Damals noch nicht», antwortete ich nach einer kurzen Pause. «Ich dachte ja, er käme noch. Wir alle dachten das.»
«Ellen Sorkin, genannt Löckchen», sagte er, «Naomi Kleist, Moritz Wunderlich, Mark Needham, David Whistler und Sie – Sie saßen also da in Bombay und warteten auf Passenger Mister Stromberg, der gar nicht in der Maschine war. Sechs junge, reiche Investmentbanker, bereit für das große Abenteuer, eine Tigerjagd. Was mich interessieren würde, wie war eigentlich Ihr Verhältnis zueinander? Mochten Sie sich? Sie waren doch mehr Kollegen als Freunde, oder? Kollegen und Konkurrenten … Warum gerade Sie? Wo hatten Sie sich kennen gelernt?»
«Wir wurden ausgewählt, glaube ich.»
«Wo? Bei welcher Gelegenheit?»
«Wir haben uns bei einem Seminar kennen gelernt, jedenfalls die, die sich bis dahin noch nicht begegnet waren. Moritz und Ellen und ich, wir waren schon vorher befreundet. David und Mark auch, aber wir lernten sie erst dort kennen, genau wie Naomi.»
«Survivaltraining für Führungskräfte, richtig? Eine Halle, ein Park, in der Nähe von London, rund achtzig Meilen entfernt. Dort haben Sie auch von der Fusion erfahren – die Gotha Bank und die neue Central Kommerz schmeißen zusammen, aus den beiden Londoner Investmenttöchtern wird eine, die Hälfte der Leute fliegt raus oder wandert freiwillig ab, der Rest wird neu strukturiert, und die hier», Krüger deutete auf die Fotos, «schwimmen im neuen Bassin ganz oben. Vorausgesetzt, sie können miteinander. Und damit die neue Führungsmannschaft schnell zusammenwächst – der gemeinsame Blick durchs Mikroskop auf die Textur der Macht, in einem Land, das einmal die Größe des britischen Empire symbolisierte und das trotzdem ebendieses Empire in die Knie gezwungen hat! Clever, clever, war das Strombergs Idee?»
«Anzunehmen», bestätigte ich. «Unternehmensberater müssen sich immer wieder was Neues einfallen lassen, damit sie nicht überflüssig werden, aber das hat er nicht nötig. Er ist mehr als nur ein Consultant, er zieht die Drähte, verstehen Sie. Er spielt gern, aber nur, um zu gewinnen. Soweit ich weiß, hatte er das Konsortium zusammengestellt, dem die Central Kommerz in die Hände gefallen war. Jetzt lag ihm auch daran, den reibungslosen Ablauf zu garantieren.»
«Und Sie dachten tatsächlich, dass er Ihnen dabei persönlich das Händchen halten würde?» Der Journalist – wenn er überhaupt ein Journalist war – schüttelte den Kopf. «Moritz Wunderlich gehörte also nicht mehr zu Ihnen. Er hatte die Gotha Bank verlassen und das Management eines Hedgefonds übernommen, was Sie alle ihm nie richtig verzeihen konnten, zumal er ja offenbar sehr erfolgreich war. Die Wondergroup, Inc. verwaltete fast eine Milliarde Dollar diverser, nicht nur privater Anleger. Sein Besuch kam völlig überraschend – auch für seine Frau?»
«Ich hatte den Eindruck, ja.»
«Und für Naomi auch, da bin ich mir sicher.» Krüger ergriff eines der Fotos auf der Schreibtischplatte und betrachtete es. «Grüne Augen – die Pupillen einer Katze, oder? Einer müden Katze. Hohe Stirn, glatt wie Porzellan. Braune Haare – haselnussbraun, würde ich sagen –, die sie morgens einfach mit den Fingern kämmt und nie ganz aus der Stirn kriegt. Ausgezupfte Augenbrauen, eine kräftige, gerade Nase, aber das Tollste sind die Lippen, finden Sie nicht? Haben genau den richtigen Schwung. Eine Schönheit, verletzlich und verstehend zugleich. An wem hat sie am meisten gelitten, an Moritz, an Ihnen oder an sich selbst?»
«An Moritz?», wiederholte ich begriffsstutzig. «Wieso sollte Naomi an Moritz gelitten haben?»
«Sagen Sie bloß, das haben Sie nicht gewusst! Sie hatten wirklich nicht den leisesten Schimmer?» Er lächelte zufrieden und strich sich mit der flachen Hand über den kahlen Schädel. «Entzückend … Ich sage Ihnen, das verkauft sich wie geschnitten Brot: Ellen und Moritz sind auseinander, getrennt von Tisch und Bett, und der beste Freund macht sich Hoffnung auf den Rest der angeschnittenen Torte, während der selbst gleichzeitig umschlichen wird von einer lüsternen Hyäne, der seine Gefühle für Löckchen ein Dorn im Auge –»
«Wie kommen Sie denn darauf?», unterbrach ich ihn scharf.
«Wie komme ich worauf? Auf Sie und Ellen? Du meine Güte, sollte das etwa ein Geheimnis sein? Die Spatzen haben es von den Dächern gepfiffen, gleich nachdem Sie beide sich zum ersten Mal begegnet waren. Deswegen ist Ellen damals nicht mitgekommen zu dem Seminar in Bedford. Ihre Ehe war schon den Bach runter, und sie wollte nicht … Na ja, Sie kennen ja das Vaterunser – und führe uns nicht in Versuchung. Stattdessen ist diese Sache mit Wunderlich und der Kleist passiert. Und nicht zuletzt deswegen ist das Ganze – wie genau haben Sie es überhaupt bezeichnet: als weiteres Seminar? als Urlaub? als Test? als Belohnung? wie auch immer –, deswegen unter anderem ist das Ganze dann ja wohl auch so aus dem Ruder gelaufen», meinte Krüger und schaltete den Kassettenrecorder wieder ein. «Liebe in der Kampfzone, was halten Sie von dem Titel?»
Auf einmal merkte ich, wie meine Augen zu brennen begannen und der ganze Schmerz wieder in mir aufstieg, den ich drei Jahre lang unterdrückt hatte, bis aus Wunden endlich Narben geworden waren. Ich sah sie wieder vor mir, jeden Einzelnen, so deutlich und so nah, dass ich versucht war, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Immer wieder hatte ich darüber nachgedacht, wessen Schuld es gewesen war, aber während ich für und wider jeden Einzelnen gesprochen hatte, waren sie so abstrakt geworden, keine Menschen mehr aus Fleisch und Blut, bis jetzt.
Mein Mobiltelefon piepte. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich erinnerte, wo ich es hingelegt hatte. «Hallo?», meldete ich mich.
«Heute Abend?», fragte die Männerstimme am anderen Ende der Leitung mit ihrem starken russischen Akzent.
«Noch nicht», sagte ich und unterbrach die Verbindung wieder.
«Wer war das?», fragte Krüger.
«Niemand.»
Er sah mich an wie jemand, der im Dunkeln etwas zu erkennen versucht, etwas, wovon er nur ahnte, dass es da war. «Na gut, vergessen wir erst mal den Titel», meinte er endlich. «Sie hatten also Ihren Freund am Flughafen getroffen und mit nach Bombay genommen, in Ihr Hotel. Wie ging’s dann weiter?»
Jasper erwachte am späten Vormittag in drückender Hitze. Die Jalousie dämpfte das Mittagslicht, aber der Lärm der Straße unter seinem Zimmer wurde durch das geschlossene Fenster kaum gedämpft. Er blieb noch einen Moment mit geschlossenen Augen liegen, um die langsam wiederkehrende Aufregung auszukosten. Als er glaubte, an der feuchten Luft ersticken zu müssen, stand er auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Sonnenschein flutete so heftig ins Zimmer, dass er geblendet die Augen schloss; Sonne am Himmel und Sonne auf dem Meer, das er über den braunen Dächern sehen konnte.
Die dünnen Teppiche waren warm unter seinen Füßen. Überall im Hotel lagen diese abgetretenen Teppiche, in den Zimmern, auf den Korridoren, den Treppen, im Foyer, sie lagen da im klammen Halbdunkel, und wenn man sie an den Rändern hob, schlug einem der Geruch von Schimmel entgegen. Es war kein sehr komfortables Hotel, das Stromberg für sie gebucht hatte. Jasper fragte sich, ob der Zentrale ein Fehler unterlaufen war oder ob es sich um Absicht handelte, aber ihm blieb noch genug Zeit, der Frage auf den Grund zu gehen. Kein Fernsehapparat, keine Minibar, nichts außer einem Bett, einem Schrank und einem Sessel mit zerschlissenem Polster. Die Schranktür war verzogen und besaß keinen Griff, nur einen verbogenen Messingschlüssel. Ein verblichenes Foto des Tadsch Mahal über dem Bett stellte den einzigen Schmuck des Zimmers dar.
Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, fuhr Jasper mit dem winzigen Lift nach unten in den Breakfast Room, dessen Boden ebenfalls mit Teppichen bedeckt war. Die anderen saßen um einen runden Rattantisch, Naomi, Mark und David, vor sich ein Durcheinander aus Gläsern, Wasserflaschen, Aschenbechern, Feuerzeugen, Zigarettenschachteln, Stadtplänen, Reiseführern und Camcordern. David las die Times of India. Sein Kopf ruckte im Rhythmus der Musik seines Walkmans. Mark kippelte auf seinem Stuhl, um das Gemälde eines kostbar aufgezäumten Elefanten an der Wand neben dem Tisch zu betrachten. Naomi tippte etwas in ihren Terminplaner. Es gab noch drei weitere Tische, aber um diese Zeit waren sie leer; nicht einmal ein Kellner zeigte sich. In den Ecken kauerten staubige Topfpalmen und streckten ihre Wedel dem einzigen Fenster dicht unter dem Plafond entgegen.
«Hallo», sagte Jasper. «Wo sind Moritz und Ellen?» Alle sahen ihn überrascht an, bis auf David, der fortfuhr, Zeitung zu lesen. «Welcher Moritz?», fragte Naomi. «Wo ist Stromberg?»
«Unser Moritz», erklärte Jasper, «der Abtrünnige. Stromberg war nicht in der Maschine.»
«Was heißt das, er war nicht in der Maschine?», wollte Mark wissen. «Er hat doch gesagt, er käme. Mit Flug 375 aus Frankfurt.» Zur Sicherheit wiederholte er es noch einmal: «Flug 375.»
«Er hat es gesagt, aber er hat es nicht getan. Habt ihr Ellen schon gesehen?»
David nahm den Stöpsel des Walkmans aus dem Ohr und ließ die Zeitung sinken. Leise Musik schepperte aus dem Kopfhörer. «Was ist mit Stromberg?»
«Er ist nicht gekommen.»
«Hast du wenigstens eine Nachricht von ihm?»
Jasper schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «Zu Hause sind sie vier Stunden zurück. Ich versuche in einer Stunde, sein Büro zu erreichen. Vielleicht kommt er heute Nacht.»
«Und was sollen wir bis dahin machen?», wollte David wissen.
«Wir könnten uns die Stadt ansehen», sagte Ellen. «Bombay hat sogar eine Börse, falls das eurer Phantasie auf die Sprünge hilft.» Sie stand in der Tür hinter Jasper, und hinter ihr stand Moritz, und man konnte sehen, dass sie sich gestritten hatten. Ellens Augen waren gerötet, als hätte sie geweint. Moritz schien überhaupt nicht geschlafen zu haben. Seine Hände waren ständig in Bewegung. Sie umflatterten sein Gesicht, fuhren über die schmalen Lippen, betasteten den Nasenrücken, zupften an den Ohrläppchen, genau wie die des Mädchens mit dem Koffer auf dem Flugplatz. Er blinzelte in den Raum, schien die Anwesenden aber nur mit Mühe erkennen zu können. «Hi», sagte er leise.
«Sieh mal einer an», murmelte Naomi, bevor sie etwas lauter hinzufügte: «Erinnert ihr euch noch an Judas Ischariot?» Ihre Miene enthielt nicht einmal eine Messerspitze Verachtung, und trotzdem begriff Jasper plötzlich, dass sie und Moritz sich besser kennen mussten, als es immer den Anschein gehabt hatte. Es war nur ein kurzer Moment, doch so intensiv, dass Naomis gesamte Ausstrahlung vorübergehend von der Härte in ihrem Blick gestählt wurde. Dann lächelte sie; das Lächeln entstand auf ihrem Gesicht wie ein feiner Sprung in Porzellan. Es blieb auch genauso stecken.
Moritz straffte sich und trat auf den Tisch zu. «Hallo, David», sagte er, «hallo, Mark.»
David, der von Naomis feindseliger Stimmung nichts zu merken schien, stand auf, um ihn zu umarmen. Er war einen halben Kopf größer als Moritz, sodass ihm das salopp gescheitelte und über die Ohren nach hinten gekämmte Haar in Stirn und Wangen fiel. Nur das ausgeprägte Kinn und der Mund blieben sichtbar – ein Mund, der Jasper stets an eine zertretene Blume denken ließ. Selbst wenn er lächelte, wirkten die Lippen noch schmerzlich zusammengepresst. Unterstützt von den fast schwarzen Augen, die auch in Momenten ausgelassener Fröhlichkeit einen Ausdruck melancholischer Distanz behielten, verliehen sie seinem Gesicht eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Eine Spur zu heftig löste Moritz sich aus Davids Umarmung, als wäre sie ihm plötzlich unangenehm.
Mark blieb sitzen, streckte Moritz aber die Hand entgegen. Er ähnelte David wie ein Zwillingsbruder, nur dass seine Haare blond waren und die Augen blau. Meistens versuchte er, die gleichen Bewegungen wie sein Freund zu vermeiden, vor allem im selben Moment, und meistens misslang der Versuch. Von verschiedenen Müttern geboren, von derselben gesäugt, dachte Jasper, und danach für immer unzertrennlich, die golden boys von Goldman Sachs. Sie waren zusammen zur neuen Gotha Kommerz gewechselt, ihre besten Kunden im Gepäck.
Naomi blieb ebenfalls sitzen. «Wiedersehen in Bombay, wie romantisch», sagte sie. «Ich bin sicher, wir sind alle gebührend beeindruckt. Wie läuft der Fonds?»
«Geht ab wie eine Rakete», antwortete Moritz. «Aber das hat Jasper euch ja bestimmt erzählt.»
«Tag und Nacht», sagte Naomi. Der Sprung im Porzellan bildete sich langsam zurück, bis es wieder glatt und spülmaschinentauglich wirkte. Jasper beobachtete Löckchen, um zu sehen, ob ihr die Spannung zwischen Naomi und ihrem Mann auffiel, und da sah er den Ausdruck in ihrem Gesicht. Er spürte, wie er schwach wurde, mit einer Heftigkeit, die einer Ohnmacht gleichkam. Sie liebt ihn noch, dachte er.
Löckchen war schlank, auf eine sportliche, biegsame Weise, und fast so groß wie er selbst, denn sie hielt sich aus natürlichem Stolz sehr gerade. Sie hatte hoch angesetzte Wangenknochen und eine noch höhere Stirn, umrahmt von kornblondem Haar, das sogar im Zwielicht des Frühstücksraums glänzte. Sie war schön, eine echte, ehrliche Schönheit, aber nichts an ihr wirkte so anziehend wie die Augen, jetzt leicht gerötet, sonst kieselgrau und so groß, so erstaunt, als würden ihr ununterbrochen die unglaublichsten Geschichten ins Ohr geflüstert. Geschichten von Menschen und dem, wozu sie fähig waren.
Sie liebt ihn noch, dachte Jasper bekümmert; und wenn es ein Geheimnis gibt, kennt sie es. Ohne sich von der Stelle zu rühren, trat er innerlich einen Schritt zurück.
«Wenn du dir die Stadt ansehen willst, ich bin dabei», verkündete Moritz, die Hände in den Hosentaschen vergraben, als er sich wieder zu Ellen gesellte. «Wir könnten eine Motorrikscha nehmen. Ich würde gern die Türme des Schweigens sehen.»
Wenig später standen sie in der Lobby und warteten auf das Taxi, das der Portier für sie bestellt hatte. Sie trugen beide weite Baumwollhosen, weiße Hemden, Turnschuhe und Gürtel mit verborgenen Geldfächern. «Nehmt ihr mich mit zur Post?», fragte Jasper. «Ich muss telefonieren.»
«Unbedingt, alter Knabe», sagte Moritz, wieder ganz Oberhaus und Privatklub. «Wie weit kommt man hier eigentlich mit Englisch? Ich frage das nur für den Fall, dass wir getrennt werden. Für Sprachen ist bei uns Löckchen zuständig.»
«Ach ja?», fragte sie. «Warum?»
«Weil du das besser kannst», erklärte Moritz. «In einer Ehe sollte immer jeder dem anderen das überlassen, was der am besten kann, nicht wahr?»
Löckchen lachte, wie Jasper sie noch nie lachen gehört hatte. «Was bleibt denn dann noch für dich übrig?»
Moritz wurde bleich. «Vielleicht Kinder kriegen», sagte er endlich. «Denn dazu bist du ja offensichtlich nicht fähig.»
Jasper wünschte, er hätte sich den anderen angeschlossen, die schon zu Fuß losmarschiert waren. Er trat auf die Straße, wo die heiße Luft sich ihm wie ein klammes Tuch aufs Gesicht legte. Auf den schmalen Gehsteigen hockten junge Männer im Schatten und spielten Karten. Hupend bahnte sich das Taxi seinen Weg durch die belebte Straße zum Hotel. Jasper öffnete Ellen den Schlag, ließ ihr und Moritz den Vortritt und zwängte sich dann neben sie. «Gateway of India», wies er den Fahrer an, bevor er Moritz erklärte: «Wenn ich telefoniert habe, komme ich nach. Die anderen sind auch zum Hafen. Wir könnten da was essen und uns später die Türme zusammen anschauen.»
Wenn er eine fremde Stadt erkundete, in der es einen Hafen gab, fing er immer dort an; die Piers und Landungsstege waren das eigentliche Tor zu einem neuen Ort. Und bestimmt hätte es Stromberg gefallen, dass er die Gruppe zuerst an die Stelle führte, wo damals das englische Königspaar gelandet war, um an der Kaiserkrönung in Delhi teilzunehmen, sechsunddreißig Jahre bevor die Briten ihre Polopferde und Haustiere erschossen, weil sie für immer abrücken mussten.
Sie waren noch nicht mal aus der Seitenstraße, in der das Hotel lag, und schon fühlte er sich wie erschlagen von dem brodelnden Leben, der Energie, die um ihn herum herrschten. Wieder schaffte sich der Taxifahrer mit lautem Hupen in dem Durcheinander aus Turbanen, bunten Schleiern, nackten Füßen und langen, schmutzigen Gewändern Bahn. Im Erdgeschoss eines verwitterten Hauses entdeckte Jasper einen Telefonshop mit dem gelben STD/ISD-Schild im Fenster. «In einer Stunde am Hafen», sagte er, bevor er aus dem Taxi sprang und Löckchen und Moritz ihrem brütenden Schweigen überließ.
Die Hand um ein Bündel Rupien in der Hosentasche geschlossen, betrat Jasper den von staubigem Zwielicht erfüllten Laden, in dessen hinterem Teil er zwei Telefonzellen entdeckte. Ein freundlicher Hindu begleitete ihn zu einer der beiden Zellen, damit er sich in dem kleinen Raum nicht verirrte, und öffnete ihm die Tür. Sein Lächeln schien noch einen Moment in der Zelle zu schweben, als er selbst längst hinter die Ladentheke zurückgekehrt war. Jasper klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Hals und wählte die Nummer von Strombergs Büro in Frankfurt. Sobald am anderen Ende abgehoben wurde, setzte sich der Gebührenzähler am Telefonkasten in ratternde Bewegung. «Midas International Group, Büro Stromberg», meldete sich eine Frauenstimme, die Jasper noch nicht kannte.
«Hier spricht Mozart», sagte Jasper. «Verbinden Sie mich bitte mit Herrn Stromberg.»
«Herr Stromberg ist noch nicht eingetroffen», erklärte die Frauenstimme. «Kann ich Ihnen weiterhelfen?»
«Ich glaube nicht», sagte Jasper. «Erwarten Sie ihn denn heute überhaupt?»
«Wie, sagten Sie, ist Ihr Name? Von welcher Firma sind Sie?»
«Mozart, wie der Komponist», erklärte Jasper. «Von Gotha Investments.»
«Wir erwarten Herrn Stromberg gegen Abend», gab die Frauenstimme Auskunft.
«Wann gegen Abend?»
«Voraussichtlich um 18 Uhr.»
«Wenn Sie ihn gegen 18 Uhr in Frankfurt erwarten, dann brauchen wir ihn hier ja wohl nicht gegen Mitternacht zu erwarten», sagte Jasper. Der Gebührenzähler zeigte eine Minute an. «Könnten Sie ihm ausrichten, er möchte mich bitte im Hotel anrufen? Sagen Sie ihm, seine golden boys warten auf Nachricht. Und er soll dran denken, dass wir ihm hier dreieinhalb Stunden voraus sind.»
«Ich werde es Herrn Stromberg ausrichten, sobald er eintrifft. Von wo aus rufen Sie an, sagten Sie?»
«Bombay.»
«Bamberg», bestätigte die Frauenstimme. «Ich wusste gar nicht, dass Bamberg in einer anderen Zeitzone liegt –»
«Bombay», rief Jasper, «Bombay, Indien!»
Das Gespräch kostete nicht ganz 150 Rupien, und als Jasper den Telefonladen verließ, war er wieder mit Schweiß bedeckt. Was macht Stromberg noch in Frankfurt, dachte er; wieso sitzt er nicht im Flugzeug? Vielleicht gibt es Schwierigkeiten bei der Fusion, irgendein Hindernis in letzter Minute, das aus dem Weg geräumt werden muss. Er versuchte, sich vorzustellen, was passiert sein konnte, aber das Getöse und die Hitze draußen auf der Straße zogen sich wie eine Schlinge um sein Gehirn zusammen, würgten jeden Gedanken ab. Er ging langsam, folgte einer gemächlich ausschreitenden Kuh. Kinder spielten in den offenen Abwasserrinnen. An Wäscheleinen hingen Teppiche, Kleidungsstücke und Töpfe unter langen Baldachinen zwischen den eng stehenden Häusern. Geschrei und Musik schlugen unsichtbare Brücken zwischen den kleinen Fenstern, hinter denen elementare Düsternis zu herrschen schien.
Die Straße stank nach Tierkot und Urin und gebratenem Fleisch und Weihrauch und Gewürzen und verbranntem Treibstoff, und sie lärmte mit allem, was sie hatte, Motoren, Hupen, Bremsen, Fahrradklingeln, Gelächter, Lautsprechermusik, Kassettenrecordern. Das Mittagslicht lag blendend auf weißen Gewändern und Fensterscheiben und Autokarosserien. Die Straße bettelte und buhlte mit schnellen Blicken, ausgestreckten Händen, lockenden Zurufen, voll gestopften Schaufenstern, grellen Farben, kitschigen Plakaten. Die Straße schlug ihr Rad wie ein staubiger Pfau, ein Rad aus Losverkäufern, Masseuren, Wasserträgern, Drahtseiltänzern, Schlangenbeschwörern, Krüppeln, Videoschiebern, alles wie für Jasper inszeniert, sieh mich an, ich bin Bombay. Die Straße war ein Fluss aus flimmernder Luft, durch den die Rikschas und die Taxis und die Busse und die Lieferwagen pflügten, auf dem die Farben trieben, Rot, Schwarz, Ocker, Braun, Grün, wie schmutzige Blüten. So war die Straße, und so waren alle Straßen bis zum Hafen, wo Jasper Löckchen und Moritz wieder traf.