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Büren, eine kleine Stadt nördlich des Sauerlands, Ende der sechziger Jahre. Für den Primaner Julian Freytag ein verwirrender Planet mit dem unverwechselbaren Aroma von Internatsmief und Intimität, Eisdielenglück und Eifersuchtsdrama, Größenwahn und Gefühlstumult. Davon weiß er viel zu erzählen – unermüdlich hämmert er ganze Romane in seine Schreibmaschine. Mitten im Ort: die Disco Old Germany, der Jugendtreff – dort, wo alle hingehen, sich im Rausch der Musik verausgaben, sich verlieben und entlieben, in aller Ungeduld und manchmal auch Unschuld. Die Songs dieser Jahre werden zum Soundtrack eines ganzen Lebens. Auch für Julian ist dies eine Zeit großer Pläne und hochfliegender Träume. Doch wie geht das zusammen – wenn man zwar fabelhaft schreiben kann und sich als künftige Supernova am Literaturhimmel sieht, doch schon reihenweise Absagen von Verlagen kassiert? Und wenn man zu schüchtern ist, um Prinzessinnen anzusprechen, dann aber feststellt, dass da »mehr geht«, als man je zu träumen gewagt hat? Denn die Liebe schlägt Wunden, die niemals heilen, davon ist Julian überzeugt.
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© 2023 Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien
Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim a. R.
Covermotiv: Shelley Richmond/Trevillion Images
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Inhaltsübersicht
Cover
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Impressum
When I was 17, it was a very good year.It was a very good year for small town girlsand soft summer nights.
Bob Morrison
Plötzlich waren sie da: auf den Gehwegen, in den Cafés, vor der Eisdiele, beim Schützenfest, auf den Bänken am Kirchplatz, überall. Wahrscheinlich – bestimmt! – waren sie schon immer da gewesen, ich hatte sie bloß nicht bemerkt. Aber auf einmal fielen sie mir auf, am Samstagnachmittag beim Spazierengehen, auf den kleinen Brücken über den Fluss, sonntags in der Kirche. Sie waren allein oder zu zweit, meistens traten sie aber in Gruppen auf, und man konnte nirgendwohin gehen, ohne ihnen zu begegnen.
Die Mädchen aus der kleinen Stadt.
Sie hatten blonde, kastanienbraune oder rote Haare. Ihre Haut war frisch, und ihre Lippen schimmerten auch ohne Lippenstift. Ihre Augen strahlten, selbst wenn sie traurig waren. Fast alle trugen Röcke oder Kleider. Sie waren schön, jede Einzelne, ohne Ausnahme. So kam es mir vor, und ich glaube, so war es auch. Ich war fünfzehn.
Es war das Jahr, in dem die Beatles ihren psychedelisch bunt umrankten Rolls-Royce Phantom V durch die grauen Straßen Londons geradewegs in unsere von Love & Peace erfüllten Flower-Power-Herzen steuerten. Vielleicht war es auch das Jahr, in dem Paul, John, George und Ringo sich dabei fotografieren ließen, wie sie in der Abbey Road über den Zebrastreifen vor den EMI-Tonstudios marschierten. Oder das Jahr, in dem Elvis auf allen Bildschirmen der Welt in einem NBC-Special sein Comeback in Las Vegas inszenierte.
Mit ziemlicher Sicherheit war es das Jahr, in dem ich mich in Marion verliebte. Oder war es das Jahr, in dem ich alles dafür gegeben hätte, mit Cornelia Händchen halten zu dürfen? Vielleicht war es aber auch das Jahr, in dem Ulrike meine Hand nahm und von ihrem Oberschenkel entfernte, als wir zusammen im Fernsehen Beatclub guckten.
In jedem Fall war es – wie im Märchen – vor langer, langer Zeit. Aber nicht in einer anderen Galaxie.
Am schlimmsten war immer der erste Kuss. Händchenhalten? Kein Problem. Tief-in-die-Augen-Gucken auch nicht, obwohl ich dabei knallrot anlief und mir außerdem so heiß wurde, dass mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Aber Küssen, das war etwas ganz anderes. Weil ich es noch nie getan hatte. Ich hatte nicht mal eine vage Vorstellung davon, wie das wohl sein könnte mit den Lippen und der Zunge, und dann waren da ja auch noch die Zähne. Ich kannte nur die nackte, panische Angst vor dem Moment, jenem Augenblick, auf den nach ein paar Spaziergängen mit Händchenhalten und Tief-in-die-Augen-Gucken jedes Atom in uns zuzustreben schien. Wo alles andere nicht mehr reichte. Wo sie mehr wollte.
Nicht ich. Sie.
Der Moment, in dem ich mich blamierte, weil ich mich so ungeschickt anstellte, dass sie die Lust verlor oder mich auslachte. Der Moment unwiderruflicher Zurückweisung. Ich konnte ihre Gedanken hören wie eine Stimme aus dem Off im Kino: Wird das heute noch mal was? Oder: Spinnt der, was macht der denn mit seiner Nase in meinem Auge? Oder: Alle haben gesagt, der ist zu feige zum Küssen, aber ich hab’s nicht geglaubt.
Dabei wollte ich es doch, ihre Wange mit meinem Mund berühren, vielleicht sogar ihre Lippen. Mehr nicht, nur berühren. Aber ich war zu schüchtern. Ich war siebzehn, fast achtzehn und hatte noch nie richtig geküsst. Jeder hatte mehr Erfahrung als ich, vor allem die Mädchen aus der Stadt, da war ich ganz sicher. Sie hatten schon geküsst oder sogar geknutscht; manche trieben sich nachts herum, durch das offene Fenster konnte man sie im Sommer lachen hören.
In dem Jahr, in dem die Beatles mit ihrem ostereibunten Gypsy-Rolls herumkutschierten und darin vielleicht schon die Songs für Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band komponierten, schlug mein eigenes lonely heart für Cornelia. Cornelia war das erste Mädchen, das ich überhaupt mit einem Gefühl von Sehnsucht wahrnahm. Ein Gefühl, das ungefähr in der Magengegend saß. Alles andere vor Cornelia war bloß etwas gewesen, das man wegschubste und zum Weinen brachte. Sogar Britta, die Tochter des Försters, die früher immer mitspielen wollte, wenn ich und mein bester Freund Martin etwas zusammen unternahmen, und die sehr lange, goldene Zöpfe hatte. Bei ihr hätte ich es vielleicht nicht so genau genommen mit dem Wegschubsen. Aber Martin war dagegen. Sie durfte nicht mal aus der Entfernung zugucken, wenn wir unseren Schatz – Glasmurmeln und Ringe aus dem Kaugummiautomaten – vergruben oder im Wald mit Stöcken gegen feuerspeiende Drachen kämpften.
Aber da waren wir Kinder gewesen.
Jetzt war ich siebzehn, und es war Nacht, und ich saß mit Ulrike – Rike, wie sie von allen genannt wurde – an der Haltestelle bei der Liebfrauenschule und wartete auf den letzten Bus Richtung Paderborn. Ich hätte lieber mit Cornelia an der Haltestelle gesessen, aber das mit Cornelia war schon lange aus. Unter anderem war es deswegen aus, weil es nie angefangen hatte.
Das Problem mit Cornelia war gewesen, dass sie mich nicht mit demselben Gefühl in der Magengegend wahrnahm wie ich sie, sondern nur mit den Augen, und dass sie nicht genau hinschaute, sonst hätte sie mich wenigstens ihre Hand halten lassen, während wir spazieren gingen. Ich glaube, ich liebte sie immer noch, aber es war eben aus.
Rike dagegen ließ sich anfassen. Sie wollte sogar, dass man sie anfasste, auch wenn sie es nicht direkt aussprach. Es hätte mir sehr geholfen, wenn sie es gesagt hätte, aber sie tat es nicht. Sie ging in die Parallelklasse und war genauso alt wie ich. Sie hatte graue Augen, eine kleine Nase, ein paar Sommersprossen und rotbraunes Haar, das sie nach hinten gekämmt trug, aber nicht länger als bis in den Nacken. Ihre Haut war hell wie Milch. Sie war nicht sehr groß. Genau genommen war sie sogar eher klein. Sie hatte den Ruf, erfahren zu sein. Manchmal glänzte ihre Nase.
Sie ging in den gleichen Tanzkurs wie ich. Ich durfte ihre Hand halten, und seit kurzem nahm sie von sich aus meine. Nach der Schule wartete ich oft mit ihr an ihrer Haltestelle auf den Bus. Manchmal, wenn es kalt war oder regnete, warteten wir im Café, wo wir zwei Cola tranken; das war alles, was ich mir leisten konnte. In den vier Wochen seit Beginn des Tanzkurses hatte ich sie noch nicht einmal geküsst.
An diesem Abend hatte Rike mich am Ende der Foxtrott-Stunde gefragt, ob ich sie noch zu einem Eis einladen würde, und ich hatte Ja gesagt, denn es war Sommer. Außerdem gefiel sie mir immer besser, seit ihre Augen so schimmerten, wenn sie beim Walzer zu mir aufsah. Beim Tanzen konnte ich sie anfassen und im Arm halten und ihre Wärme unter der weißen Bluse spüren, ohne dass ich sie richtig anfasste. Ich hatte bei ihr zwar nicht dieses süße Gefühl in der Herzgegend wie bei Cornelia, aber ich dachte, das könnte ja noch kommen und wenn nicht, dann war sie wenigstens gut zum Üben, um Erfahrung zu sammeln, bis Cornelia mich mit neuen Augen sah. Deswegen saßen wir so spät noch allein an der Bushaltestelle am Ortsausgang und hielten uns bei den Händen. Sie sah mich an, als wünschte sie, ich würde nicht nur ihre Hand halten.
Nach ein paar Minuten sagte sie ohne besonderen Anlass meinen Namen: »Julian …« Dabei lächelte sie wie in Gedanken. Ich sagte: »Rike …« Etwas später fragte sie: »Willst du nicht mitkommen zu uns nach Hause? Meine Eltern schlafen bestimmt schon.«
Dagegen sprachen mehrere Punkte. Erstens, ich hatte kein Geld für den Bus, und ihr Dorf war bestimmt fünfundzwanzig Kilometer entfernt, viel zu weit, um später zu Fuß zurückzulaufen. Zweitens, ich hätte längst im Internat sein müssen. Drittens, ich wusste nicht, was ich überhaupt bei ihr sollte, wenn ich erstmal da war. Wir saßen also nur auf der Bank, hielten uns bei den Händen und schwiegen. Zuerst war es ein inniges Schweigen gewesen, aber langsam veränderte es sich, ohne dass ich es merkte. Die Veränderung rührte daher, dass Rike genau wusste, was ich dachte – erstens, zweitens, drittens, wobei drittens besonders schwer wog. Für sie gab es kein Erstens, Zweitens, Drittens, wenn man sich liebte.
Nach ein paar Minuten ließ Rike meine Hand los. Sie schlug die Oberschenkel übereinander, Nylon sirrte, und sie begann mit einem Bein zu wippen. Der Rock rutschte hoch, nur ein paar Millimeter. Sie holte ein Kaugummi aus ihrer kirschroten Lederhandtasche und grub ihre kleinen, weißen Zähne hinein. Ich dachte, dass es schade um den Geschmack des teuren Fürst-Pückler-Eisbechers mit Sahne war, den ich immer noch auf der Zunge spürte. In der trüben Beleuchtung der Bushaltestelle sah Rike mir kaugummikauend in die Augen; ihre waren bernsteinbraun.
Nach ein paar Sekunden hörte sie auf, zu kauen und mit dem Bein zu wippen. Sie sah mich nur noch an, so lange, dass ich die Zeit richtig spürte, weil mir nach und nach heiß wurde wie in der Mathestunde, wenn ich aufgerufen worden war und die Lösung nicht wusste. Ich hielt das Schweigen immer noch für innig und den Blick für tief statt lang, deswegen wusste ich genau, was sie in diesem Moment dachte.
Sie dachte: In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen so schönen Mann gesehen. Ich könnte ihm stundenlang nur in die Augen schauen. Julian …
Ich wusste schon, wie ich reagieren würde, wenn sie es aussprach; wie ich mit einem bescheidenen, vielleicht eine Spur wegwerfenden Lächeln den Kopf senken würde. Sag es schon, dachte ich. Schließlich fing sie wieder an zu kauen und sagte, ohne den Blick von meinen Augenbrauen zu lösen: »Du hast da einen Pickel über dem Auge.« Danach schaute sie weg, wieder auf die Straße, und das trübe Licht der Bushaltestelle spiegelte sich auf ihrem wippenden weißen Lacklederstiefel.
Das war der Moment, in dem die Rocker aus der Dunkelheit auftauchten. Zuerst hörte ich nur das Röhren der schweren Maschinen, dann erschienen die Scheinwerfer in der Straßenkurve, zwei, drei, fünf, acht, zwölf. Es war, als ob die Erde zu beben anfinge. Langsam, in einer lockeren Formation, fuhren sie auf ihren BMWs, Harley Davidsons und Kawasakis an der Haltstelle vorbei. Ich versuchte nicht hinzuschauen. Ich starrte auf meine Halbschuhe, aber dennoch entging mir nichts; ich hatte meine Augen plötzlich überall.
Ich registrierte jedes Detail: die brustlangen Bärte. Die Sonnenbrillen. Die alten Wehrmachtshelme. Die Stiefel. Die Lederwesten mit den Totenköpfen und Eisernen Kreuzen auf dem Rücken. Die nackten, tätowierten Oberarme. Die Messer und Ketten an den Gürteln.
Mit ohrenbetäubendem Donnern rollten zwölf Hell’s Angels an der Haltestelle vorbei. Sie sahen zu uns herüber, nahmen aber weiter keine Notiz von uns. Der letzte hatte das Wartehäuschen schon fast passiert, als Rike ihm plötzlich etwas nachrief.
Zuerst schien es, als wäre das Wort im Lärm der Motoren untergegangen. Sie fuhren weiter, alle elf; nur einer nicht, der zwölfte. Der zwölfte scherte aus, drehte um und hielt nach einem makellosen U-Turn über die gesamte Breite der Straße am Bordstein vor dem Wartehäuschen. Er stützte sich mit beiden Beinen ab, jagte noch einmal den Motor hoch und stellte ihn dann ab. »Was hast du gesagt?«
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf stürzte. »Nichts«, sagte ich schnell.
»Scheißrocker, habe ich gesagt!«, erklärte Rike.
Jetzt kehrten auch die anderen um, elf Maschinen, die sich wie von Zauberhand geführt nicht mal streiften, als sie alle neben, hinter oder quer zu dem ersten hielten und nur noch leise vor sich hintuckerten. Einige der Hell’s Angels zogen ihre Handschuhe aus. In den Gläsern ihrer Sonnenbrillen spiegelten sich das erleuchtete Wartehäuschen und die Bank, auf der nur zwei kleine Gestalten saßen, ein Mädchen und ein Junge.
Zwei der Rocker stiegen von ihren Choppern und traten langsam auf die Bank zu. Die Luft roch plötzlich nach Benzin und Schweiß. Ich sah alles mit der Schärfe, mit der man wahrscheinlich die letzten Sekunden seines Lebens wahrnimmt: die tanzenden Mücken in den Scheinwerferkegeln der Motorräder, die abgenutzten Stellen im braunen Leder meiner Halbschuhe, die schlaff herabhängenden Schnürsenkel, den leichten Flaum auf Rikes Ohrläppchen, die Brustmuskeln des Rockers, der sich vor uns hinstellte und sagte: »Steh auf!«
Er sagte es nicht zu Rike. Er sagte es zu mir. Rike rief, jetzt schon etwas schriller: »Ey, lasst ihn in Ruhe, ja?!« Damit war endgültig klargestellt, dass er mich meinte. Natürlich wäre ich aufgestanden, wenn ich gekonnt hätte. Aber ich konnte nicht. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Mein Herz hämmerte, und meine Blase – ich wusste nicht, wie lange ich es noch halten konnte.
Hastig blickte ich die Straße hinauf, in die Richtung, aus der der Bus kommen musste. Wo blieb er bloß? Sollte er nicht schon seit einer Ewigkeit da sein? Aber die Straße war leer, kein Bus, überhaupt kein Fahrzeug. Und wo waren die ganzen anderen Menschen? Ging denn im Sommer niemand mehr nachts spazieren?
»Los, steh auf!«
Rike griff nach meiner Hand. »Steh bloß nicht auf«, sagte sie leise, und ich dachte, Keine Angst, ich stehe nicht auf. Ich dachte im Gegenteil daran, im Boden zu versinken. Ich dachte nicht etwa: Das wird mal eine gute Episode in einem Roman, obwohl ich Schriftsteller war. Ich hatte zwar noch nichts veröffentlicht, aber das lag nicht an mir. Es war die Schuld der Verlage. Sie schickten meine auf beiden Seiten eng beschriebenen Manuskripte immer wieder zurück.
Ich dachte also nicht an die wertvolle authentische Erfahrung, die ich gleich machen würde. Stattdessen dachte ich: Ich habe euch doch gar nichts getan. Ich bin Pazifist aus Überzeugung. Sie hat das doch gerufen! Warum soll ich dafür büßen? Noch mehr Angst als davor, hier und jetzt von Rike für einen erbärmlichen Feigling gehalten zu werden, hatte ich nämlich davor, wieder einmal schnitzeldünn geprügelt zu werden, und das auch noch von jemand, der im Namen der Hölle zuschlug statt wie die Jesuiten als verlängerter Arm Gottes.
»Steh auf, du Zwerg!«
»Ey, hör doch mal …«
Der Schlag traf mich mitten ins Gesicht. Es fühlte sich so ähnlich an, wie wenn man einen mit voller Wucht geschossenen Fußball gegen den Kopf kriegte. Ein paar Sekunden lang sah ich alles etwas verwischt und leicht überbelichtet, und ein Summen in meinen Ohren dämpfte alle Geräusche. Durch das Summen hörte ich Rike schreien: »Spinnst du?! Hör auf, ja?!«
Der Schaden, den der Schlag vor allem in meinem Gehirn angerichtet hatte, war wohl ziemlich groß, denn plötzlich beschloss ich, mich dem Gegner zu stellen. Der Gedanke daran, wie ich in Rikes Augen dastehen würde, wenn ich jetzt sitzen blieb, war stärker als die Angst vor den Schlägen. Ich musste nur hochkommen, vielleicht noch eine Faust heben und dann möglichst schnell zu Boden gehen.
In diesem Moment der Entscheidung bemerkte ich eine Gestalt, die auf die Haltestelle zukam. Es war ein Fußgänger, und er war noch weit weg, aber vielleicht schaffte er es bis zu uns, bevor es Tote gab. Vielleicht kehrte er nicht um, wenn er zwölf Hells’s Angels sah, die gerade einen schmächtigen Jesuitenschüler zu Mus schlugen, bevor sie seine Freundin vergewaltigten. Ich wäre bestimmt umgekehrt, aber die Gestalt war ja nicht ich. Ich saß hier auf der Bank und arbeitete an meinem Pazifismus. Der Fußgänger aber ging weiter und wurde schnell größer. Mit grenzenloser Erleichterung erkannte ich meinen Klassenkameraden Heiner, der nun auf die Bank zutrat und fragte: »Ey, Alter, was is los?«
»Kennst du den da, Heini?«, fragte der Rocker.
»Ja, der geht in meine Klasse«, sagte Heiner, ohne mich anzuschauen. Als Externer verfügte er in Büren und Umgebung offenbar über einen größeren Bekanntenkreis als ich. »Hat er dir ans Moped gepinkelt, Walli?«
»Nee, der nich’. Die Schnalle da hat uns angemacht!«
»Die Ulrike? Die dürft ihr gar nicht ernst nehmen, Alter. Die kann nichts dafür.« Heiner sah auch Rike nicht an, nur Walli, den Hell’s Angel. »Gehn wir’n bisschen Billard spielen? Die Pool-Pinte hat noch auf!«
»Nee, lass ma, Heini!« Walli sah uns jetzt auch nicht mehr an, und nach einem knappen Nicken in Heiners Richtung stapfte er zu seiner Harley zurück. Die anderen Rocker drehten das Handgas ihrer Maschinen im Leerlauf bis zum Anschlag hoch. Es klang wie das Brüllen von Löwen in der Nacht. Gleich darauf donnerten die Löwen in der Dunkelheit davon, ihre Rücklichter schrumpften zu Katzenaugen, und die Luft roch nicht mehr nach Gefahr und Tod.
Bis zur Ankunft des Busses redeten wir alle drei nicht mehr viel. Der Schweiß trocknete auf meiner Haut, und mir war so kalt, dass ich zitterte. Rike betrachtete Heiner, als sehe sie ihn zum ersten Mal, mit seinen braunen Haaren, den nervös zuckenden Augen und der Brille mit dem violetten Gestell. Das war lange, bevor er sich Spider-Man nannte, und noch länger, bevor wir ihn mit Butch anreden mussten, nach Butch Cassidy aus Zwei Banditen.
Aber in jenem Jahr hieß er noch Heiner, und wir warteten zu dritt an der Haltestelle auf den Bus, der auch bald auftauchte. Wir standen nur da und sahen ihm entgegen. Bevor sie einstieg, bedankte Rike sich bei Heiner und nicht bei mir. Der Bus war fast leer. Sie setzte sich ganz nach hinten. Da konnte ich sie sitzen sehen, bis der Bus anfuhr und das Licht im Inneren erlosch. Sie drehte sich nicht um. Sobald der Bus außer Sicht war, verabschiedete ich mich mit einem männlichen Schulterklopfen von Heiner und murmelte, dass der Scheißrocker Glück gehabt hätte, denn wenn ich erstmal aufgestanden wäre … Gut, dass du gekommen bist, Alter, das wäre echt kein Anblick für die Ulrike gewesen.
Er nickte. »Tja, also, ich geh dann mal jetzt.«
Ich nickte auch und ging langsam zurück, an der Eisdiele vorbei und dann rechts auf das geschlossene Eisentor zu, hinter dem dunkel das Internatsgebäude aufragte.
Das Mauritius-Gymnasium befand sich im Herzen von Büren, einer kleinen Stadt nördlich des Sauerlands und ungefähr dreißig Kilometer von Paderborn entfernt. Aus der Ferne war der Ort, auf dem Grund einer Talmulde gelegen, fast unsichtbar. Hätte man vom Marktplatz einen Stein mit aller Kraft in Richtung Norden geworfen, wäre er in Salzkotten gelandet, vielleicht auch in Steinhausen. In Richtung Süden geschleudert, hätte er Wünneberg oder Siddinghausen getroffen, je nachdem, wie stark der Wurf ausgefallen wäre. Bis Geseke, Brilon oder Paderborn hätte der Stein es nicht geschafft.
Zu jener Zeit zwängte Büren sich fast gänzlich zwischen zwei schmale Flüsse, Alme und Afte. Beide waren zwar nicht gerade reißend, plät-scherten aber doch munter genug dahin, um die zu Papierfetzen zerrissenen Manuskripte abgelehnter Romane davonzuspülen, die ein angehender Schriftsteller in jenen fernen Zeiten noch mit der Post zurückerhielt.
Es gab einen kleinen Bahnhof und das Zementwerk auf dem einen Hügel und auf dem Hügel gegenüber die Kirche, den Marktplatz mit einem steingefassten Brunnen unter alten Linden. Es gab noch ein zweites Gotteshaus, die Jesuitenkirche, und zwei Gymnasien, die Liebfrauenschule für Mädchen und das Mauritius-Gymnasium für Jungen.
Außerdem gab es noch vier Kneipen, die das Nachtleben beherrschten – nach ihren Besitzern Mischen Änne, Gödde Menke, Wellen und Stümpel genannt. Alte Fachwerkhäuser säumten die beiden Straßen, die zum Markplatz hinaufführten. Während der warmen Monate hing von morgens bis abends das Motorgeräusch von Traktoren und Mähdreschern in der Luft. Der Wind roch nach Lindenharz, warmem Zement und gemähtem Gras.
Der ehemalige Stammsitz des Freiherrn Moritz von Büren – ein Schloss aus dem siebzehnten Jahrhundert, in dem das Jesuiten-Internat untergebracht war – erinnerte mit seinen mächtigen Seitenflügeln, den schmiedeeisern vergitterten Fenstern im Erdgeschoss und den mehr als mannshohen Mauern an ein Gefängnis aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges. Innerhalb der Mauern, die das ganze Anwesen umgaben, dienten ein großer Garten mit zwei Teichen, ein Fußballplatz und die Barockkirche Maria Immaculata den Schülern als Ersatz für den zu jeder Zuchtanstalt gehörenden Gefängnishof.
Nur an einer Seite fehlte die Mauer und gab den Blick auf das schmucklose Postamt frei, von dem aus die erwähnten Manuskripte ihren Weg zu den fernen Verlagen antraten und wohin sie auch regelmäßig mit der Zuverlässigkeit von Brieftauben zurückfanden. Hier bildete die Alme, gesäumt von Apfelbäumen und Kastanien, die natürliche Grenze des Geländes; Trauerweiden ließen ihre biegsamen Zweige über die geschwätzigen Wellen des Flusses hängen.
Zugang zum Schlossgelände gewährten nur zwei eiserne Tore, die fast immer geschlossen waren, auch an jenem Tag im Frühjahr 1961, als der Schüler Julian Freytag – zehn Jahre alt, bald elf – in einem Zustand tiefster Beklemmung am Bürener Mauritius-Gymnasium eintraf, um sich hier auf Wunsch seines Vaters die Abiturreife anzueignen.
Alten Chroniken wie Wikipedia zufolge hatte der junge Moritz von Büren keinen sehnlicheren Wunsch gehabt, als Mitglied des Jesuitenordens zu werden. Nachdem er viele Jahre später dieses Ziel endlich erreicht hatte, ließ er in kürzester Zeit fünfundfünzig Frauen mit wechselnden, aber immer stichhaltigen Begründungen als Hexen hinrichten. Meine Beklemmung wurzelte allerdings nicht in diesem ruhmreichen Umgang mit dem anderen Geschlecht, der mir damals weder bekannt war noch – wie nach einigen Erfahrungen der kommenden Jahre – in einzelnen Fällen nachvollziehbar erschienen wäre. Sie hatte ihren Ursprung vielmehr in der Erinnerung an die heftigen Ohrfeigen, die ich hier vor einigen Monaten bei der dreitägigen Aufnahmeprüfung erhalten hatte.
Ich war damals vor einem plötzlichen Regenguss vom Schulhof ins Trockene geflüchtet, ohne zu wissen, dass kein Schüler ohne Erlaubnis während der Pausen das Gebäude betreten durfte. In den hohen, endlos langen Korridoren, die durch ehrfurchtgebietend große Hallen mit breiten Holztreppen zu düsteren Treppenhäusern führten, kam ich mir winzig und bedeutungslos vor. Niemand außer mir hielt sich im Erdgeschoss auf, die Pforte war unbesetzt.
Ich hatte mich gerade auf die Stufen der Treppe in den Keller gesetzt, um das Ende der Pause oder des Regens abzuwarten, als dort plötzlich ein junger Präfekt auftauchte und mich mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich hochwinkte. Der Präfekt war klein, und seine Hand war winzig. Seine straff nach hinten gekämmten blonden Haare kontrastierten scharf mit einer schwarz gerandeten Brille und dem Rabenschwarz seiner Kutte. Hinter der Brille schimmerten die kältesten grauen Augen, die ich je gesehen hatte.
»Was machst du hier?«, fragte er, als ich vor ihm stand.
»Nichts«, antwortete ich arglos.
»Warum bist du nicht draußen im Hof?«
»Es regnet.«
»In welche Klasse gehst du?«
»In keine.«
Der Schlag ins Gesicht traf mich so überraschend, dass ich gegen die Wand geschleudert wurde.
»In welche Klasse gehst du?«
»Ich gehe in gar keine …«
Die zweite Ohrfeige war genauso heftig wie die erste, und Tränen schossen mir in die Augen.
»Du weißt genau, dass du in der Pause den Hof nicht verlassen darfst!«, sagte der Jesuit mit einer kieselharten Stimme.
Erst als ich mit vor Schmerz und Empörung bebenden Lippen rief, dass ich zur Aufnahmeprüfung da war und wirklich in keine Klasse ging, ließ er seine Hand sinken. »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht«, sagte er. Dann schickte er mich wieder raus in den Regen. Wahrscheinlich hatte es ihm mehr wehgetan als mir. Das sagte mein Vater immer, wenn er mich schlagen musste: Mir tut es mehr weh als dir.
Wie alle neuen Internen wurde ich als Erstes von einem jungen Frater in den großen Schlafsaal unter den Dachschrägen des Ostflügels geführt: sechzig dicht nebeneinanderstehende Betten mit weiß lackierten Metallgestellen, knarrende Dielenbretter, Fensterluken in den spitzgiebligen Wänden und ein System von dicken Stützbalken, die geradezu danach verlangten, dass man sich an ihnen den Kopf stieß.
Ich bekam ein Bett, einen schmalen Spind und ein kleines Waschbecken zugewiesen: das Dreieck, innerhalb dessen ich während der nächsten Jahre jede Nacht – außer in den Ferien – mit Dutzenden anderer zehn- und elfjähriger Zöglinge verbringen sollte. Bei der Aussicht auf die unendlich erscheinende Zahl dieser Tage und Nächte, die mir bis zu dem in ferner Zukunft liegenden Abitur bevorstanden, schossen mir wieder die Tränen in die Augen, fast so heiß wie bei Nscho-tschi Tod in Winnetou I.
Bevor ich meine mit eingenähten Namensstreifen versehenen Sachen auspackte, lief ich zu dem winzigen Fenster an der Stirnseite des Schlafsaals, um dem Citroën DS meines Vaters nachzuschauen. Die Straße, die sich den Hügel hinaufwand und irgendwann in das weit entfernte Zuhause führte, war von hier aus gut zu sehen. Aber solange ich da auch stand, der Wagen meines Vaters erschien nicht, und wahrscheinlich hätte ich ihn durch meine Tränenfluten auch gar nicht klar erkennen können. Ich heulte nämlich noch heftiger als beim Tod von Winnteous Schwester Nscho-tschi. Es musste mindestens Winnetou selbst sein, der gerade in die Ewigen Jagdgründe ging, in Teil III.
Beim Auspacken fiel mir der schwere Geruch in dem Schlafsaal auf. Es war fast derselbe Geruch wie in den Klassenzimmern und Korridoren darunter: ein Gemisch aus Bohnerwachs, erhitzten Heizkörpern, feuchtem Mauerwerk, verschütteter Tinte und der muffigen Ausdünstung zahlloser Jungenkörper, die sich täglich mit zu selten gewaschenen Handtüchern abtrocknen mussten. Dazu kam mittags das Aroma von Nudelsuppe, von Kartoffeln, von Gemüse und Fleisch, die in der Küche im Erdgeschoss zubereitet wurden und in dem weitläufigen Speisesaal im ersten Stock auf die Tische kamen.
An diesen zwölf langen Tischen standen harte Holzbänke, auf denen wir dreimal am Tag schweigend die Mahlzeiten einnahmen, mittags warm, abends kalt, Jahr für Jahr dieselben sieben Gerichte von Montag bis Sonntag, in wöchentlich wiederkehrender Folge. Es waren auch immer dieselben Gebete, die vor und nach dem Essen gesprochen wurden, so gleichförmig wie das Muster der Harkenstriche auf dem Pausenhof. An der Stirnwand des Saals hing ein düsteres, ganz in Schwarz- und Brauntönen gehaltenes Gemälde des Ordensgründers Ignatius von Loyola, an dessen Geburtstag einmal im Jahr Brathähnchen aufgetischt wurden.
Schon in der ersten Woche lernten wir einige Begriffe, die so untrennbar mit dem Internatsleben verbunden waren wie Weihrauch mit dem Messdienerdasein und die gemurmelte Erlösungsformel – ego te absolvo de peccatis tuis – nach der Beichte, bei der ich mit heftig klopfendem Herzen und schmerzenden Knien eine genau kalkulierte Auswahl lässlicher Sünden gegen einen staubigen Samtvorhang sprach. Natürlich wusste ich immer, wer hinter dem Vorhang im Beichtstuhl saß und was der Beichtvater eigentlich hören wollte, aber die Sünde der Unzucht hatte ich noch nicht begangen, mich nicht einmal von unzüchtigen Gedanken zur halbschweren Sünde der Selbstbefleckung verführen lassen.
Diese meine Sünden bereue ich von Herzen.
Genau genommen gestand und bereute ich aber gar nichts, und als später mehr zu beichten gewesen wäre, verzichtete ich ganz auf die Erlösung durch die auferlegte Buße – keine fünf Vaterunser, keine zehn Gegrüßet seist du, Maria, keine sieben Schmerzensreichen Rosenkränze, nur die einsame Last der Sünde. Immaculata bedeutet Unbefleckte Empfängnis, wie wir schon sehr früh erfuhren. Alles andere war Sünde.
Zu den Begriffen, die wir lernten, gehörte auch das Strafsitzen, wenn man gegen eine der zahlreichen Regeln verstoßen hatte und zur Sühne bis spät in die Nacht an seinem Pult kauern oder im Schlafanzug reglos auf dem Gang stehen musste, während die anderen schon längst zu Bett gegangen waren. Ferner gehörte dazu das mehrstündige Silentium am Nachmittag, die Zeit, in der man die Hausaufgaben erledigte, natürlich schweigend und unter strenger Aufsicht eines Präfekten.
Weit weniger großzügig zugeteilt war die Freizeit, die von den meisten mit Fußball, Ringkämpfen oder anderen Betätigungen an der frischen Luft ausgefüllt wurde. Ich konnte nicht Fußball spielen, und Ringkämpfe endeten regelmäßig damit, dass ich auf dem Rücken lag, und jemand saß auf meiner Brust und malträtierte meinen Bizeps mit seinen Knien. Eine Zeitlang sah ich den Himmel nur mit dem Oberkörper eines Mitschülers davor.
Für mich blieb schließlich nur noch Lesen (»Stubenhocker!«), Briefeschreiben (»Muttersöhnchen!«) oder Spazierengehen, falls sich jemand fand, der den Mut hatte, sich mit mir sehen zu lassen. Die meisten wären lieber mit dem Glöckner von Notre-Dame gesehen worden als mit mir. Es dauerte sehr lange, aber als ich schon gar nicht mehr darauf zu hoffen wagte, schickte das Schicksal mir Fritz, den schwächlichen, verträumten Sohn eines Kinobesitzers aus Lippstadt, mit dem ich über Filme reden konnte. Wir saßen zusammen an der Alme oder gingen um die Teiche herum und erzählten uns die Filme, die wir in den Ferien gesehen hatten.
In den ersten Jahren war ich ein guter Schüler, Messdiener und Sohn. Jeden Sonntag schrieb ich meiner Mutter einen Brief, der von dem für meine Abteilung zuständigen Präfekten gelesen wurde.
Liebe Mama, schrieb ich, heute haben wir eine Lateinarbeit zurückbekommen, und ich hatte wieder eine Zwei plus. Auch in Religion bin ich sehr gut. Turnen mag ich nicht. Am Sonntag durfte ich zum ersten Mal bei einem Hochamt aus dem Missale vorlesen. Im Kino gibt es Ben Hur, da kommt Jesus drin vor. Ich habe euch sehr lieb, und ihr fehlt mir sehr, obwohl es hier sehr schön ist. Ich freue mich schon auf Weihnachten.
Natürlich stand in den Briefen, weil sie ja zensiert wurden, nichts von den Winternächten unter dem Dach, in denen ich mich vor Kälte schlaflos herumwälzte, bemüht, dabei nicht das geringste Geräusch zu verursachen, denn auf keinen Fall wollte ich die Aufmerksamkeit des zwischen den Betten auf und ab patrouillierenden Präfekten erregen. Oft war es Frater Brandt, der mich bei der Aufnahmeprüfung geohrfeigt hatte. Nacht für Nacht bewegte sich seine schattenhafte Gestalt, schwarzkuttig und fast verschmolzen mit der Dunkelheit, in knarzenden Sandalen auf knarrenden Dielen von einem Ende des Schlafsaals zum anderen, bis der Letzte von uns eingeschlafen war oder wenigstens so tat.
Unerwähnt blieb auch das dauernde Heimweh, mit dem ich morgens aufwachte und abends einschlief. Unerwähnt blieb schließlich, wie ich aus diesem Grund in den ersten Jahren immer wieder am Schlafsaalfenster stand und über die Dächer zu der Straße hinüberschaute, die in einer Serpentine hinausführte aus dem Suppentellertal, erst den Hügel hinauf zum Zementwerk und dann weiter, immer weiter weg, der einzigen Straße, auf der mein Vater oder meine Mutter kommen konnten, um mich nach Hause zu holen.
Wäre ich ein Hund gewesen, hätte man aus mir eine Fernsehserie gemacht.
Liebe Rike, begann ich – inzwischen siebzehn, fast achtzehn Jahre alt – nach dem unrühmlichen Abend an der Bushaltestelle meinen Brief an das Mädchen, das Zeugin meiner Demütigung geworden war. Ich wartete nicht bis zum nächsten Morgen, denn nur unter dem Eindruck der brennenden Scham konnte ich die richtigen, die eindringlichen Worte finden, kaum dass ich in meiner kleinen Kammer war.
Liebe Rike, als ich heute Morgen aufgewacht bin … Nein, nicht mit mir anfangen. Besser, der erste Satz handelte von ihr.
Liebe Rike, als du heute Morgen aufgewacht bist, hast du bestimmt …
Hast du bestimmt – was? Daran gedacht, wie mir gestern ein mieser Rocker eine reingehauen hat, ohne dass ich mich gewehrt habe? Dich gefragt, ob außer mir noch jemand ohne Rückgrat aufrecht gehen kann? Dir überlegt, woher plötzlich der merkwürdige Uringeruch in der Luft kam, kurz bevor Heiner aufgetaucht ist?
Die Herausforderung bestand eindeutig darin, sie die Ereignisse des Abends vergessen zu lassen, ohne den Abend selbst und sein Ende unnötig deutlich in Erinnerung zu rufen. Zudem wollte ich ihr die Möglichkeit bieten, mein Verhalten in einem neuen Licht zu sehen. In mehrmaligen Anläufen versuchte ich, ein Bild von mir zu zeichnen, das einer höheren Wahrheit entsprach: wie ich der Vernunft den Vorzug vor roher Gewalt gegeben hatte. Wiederholt brachte ich die Namen Mahatma Gandhi und Martin Luther King zu Papier.
Besonders wichtig war, ihr selbst keinerlei Vorhaltungen zu machen, etwa: Du blöde Kuh, wenn du die Klappe gehalten hättest, wäre ich nie in diese demütigende Situation gekommen! Einer vorbeidonnernden Horde Hell’s Angels nachts von einer einsamen Bushaltestelle aus »Scheißrocker!« nachzubrüllen, ist ja wohl das Dämlichste, Beknackteste, Bescheuertste, was einem einfallen kann, du kaugummikauende Landpomeranze!
Aber nichts davon, nein, ich musste nur ihre Tapferkeit und Gelassenheit herausstreichen, die so gut mit meinem stillen Mut korrespondiert hatten. Das Wort ›korrespondiert‹ strich ich auch und ersetzte es durch ›zu meinem gewaltlosen Widerstand gepasst hat‹. Nach dieser Methode brachte ich mehrere Entwürfe zu Papier, schmückte hier etwas aus, rückte dort einen anderen Gesichtspunkt in den Vordergrund, schmeichelte, beschönigte, rechtfertigte. Mit aller Raffinesse, zu der ich fähig war, versuchte ich, ihr ein X für ein U vorzumachen, tat also nur das, was selbst der schlechteste Schriftsteller mit seinen Lesern versucht, seit Menschen sich in der Kunst des Geschichtenerzählens üben.
Dabei trank ich Unmengen von schwarzem Tee und hörte im Radio auf BFBS die nächtliche Wiederholung der Top 40 vom letzten Wochenende. Young Girl von Gary Puckett & The Union Gap war noch ziemlich weit unten und kam erst nach Sittin’ On The Dock Of The Bay von Otis Redding. Mrs. Robinson von Simon & Garfunkel hatte stark angezogen, aber um Honey von Bobby Goldsboro und Little Green Apples von O. C. Smith einzuholen, reichte es noch nicht. Love is Blue von Paul Mauriat und seinem Orchester war ebenfalls einige Plätze aufgerückt. Von den Doors war Hello, I Love You neu eingestiegen und hatte The Good, The Bad And The Ugly von Hugo Montenegro und seinem Orchester aus den Top 40 geworfen. Ganz weit oben hatte sich Those Were The Days von Mary Hopkin platziert, gefolgt von Herb Alpert mit This Guy’s In Love With You. An der Spitze hielt sich noch immer Hey Jude von den Beatles, das einfach nicht enden wollte, bis ich den Sender wechselte und zu der Jazzsendung des American Forces Network schaltete.
Der Radioapparat stand auf dem Bücherregal neben meinem Schreibtisch. Es war ein Grundig-Concert Boy mit imitierter Mahagoni-Verkleidung, das schönste Kofferradio der Welt. Nach und nach floss die eine oder andere Textstelle aus den Top-40-Songs in meine Zeilen ein. Bald war es so spät geworden, dass auch der schwarze Tee mich kaum noch wachhielt. Nach dem elften Entwurf beschoss ich, mich kurz hinzulegen, um den Kopf klarzukriegen.
Im zweiten oder dritten Schuljahr waren wir in einen Neubau neben dem Stammhaus gezogen, in dem es nur noch Zimmer mit sechs Betten für die jüngeren Jahrgänge und Einzelzimmer für die Tertianer, Sekundaner und Primaner gab.
Die feierliche Eröffnung des neuen Gebäudes war etwa in denselben Zeitraum gefallen, in dem das Mauritius-Gymnasium angefangen hatte, gemischte Klassen zuzulassen. Auf einmal erklangen in den ehrwürdigen Gängen des alten Schlosses nicht mehr nur helle Knabenstimmen oder das rauhe Krächzen von Pubertierenden im Stimmbruch, sondern die fröhlich zwitschernden Zungen junger Mädchen, mit denen – zumindest in den Augen vieler älterer Ordensbrüder – Satan selbst sein verderbliches Werk begann. Oder mit den Worten des unsterblichen Elvis: She’s The Devil In Disguise.
Die Einzelzimmer des neuen Internatsgebäudes waren nicht ganz so groß wie die Einzelzellen in modernen Gefängnissen, und durch die dünnen Wände konnte man jedes Geräusch aus der Nachbarzelle hören. Ein schmales Bett mit einem Bücherbord über dem Kopfende, eine kleine Schreibplatte gleich am Fenster, ein spindähnlicher Schrank und ein Waschbecken bildeten die gesamte Einrichtung.
Ich lag auf dem Bauch, und es war auch nach zwei Jahren immer noch schön, allein in einem Zimmer zu sein, ohne die Geräusche von ein paar Dutzend anderen in einem großen dunklen Schlafsaal, ohne das Knirschen von Sandalenleder in der Nacht. Wie jeder, der 15 geworden war, hatte ich beim Klassenwechsel eine Einzelzelle bekommen.
Auch hier patrouillierten Präfekten nach dem »Licht aus!«, horchten an den Türen und kontrollierten, ob das Licht wirklich gelöscht war. Manchmal klopften sie, um die Anwesenden zu überprüfen und sicherzugehen, dass diese Anwesenheit sich allein auf den rechtmäßigen Bewohner des Zimmers beschränkte. Kontrollgänge des an Schlaflosigkeit leidenden Pater Superior außen um das Internatsgebäude rundeten die nächtliche Überwachung ab.
In dieser Nacht klopfte niemand an meine Tür. Als ich wieder erwachte, tauchte die Sonne, gedämpft durch den gelben Stoffvorhang am Fenster, das Zimmer in helles Licht. Das Radio spielte immer noch, aber so leise, dass ich von draußen das Plätschern der Alme hören konnte. In der Garage der Autowerkstatt am anderen Ufer des Flusses fauchte ein Schweißbrenner.
Ich war noch angezogen, und meine Klamotten rochen, als hätte ich nicht nur diese Nacht darin verbracht.
Der nächtliche Brief an Ulrike lag in zahllosen Fassungen überall im Zimmer, auf Heftpapier gekritzelt. Ein Blick zeigte mir, dass ich damit alles nur noch schlimmer machen würde. Ein zweiter Blick, diesmal in den Spiegel, ließ keinen Zweifel daran, dass ich genauso aussah, wie ich nicht aussehen wollte, wenn ich Rike in der Pause begegnete.
Der Pickel über dem linken Auge war gewachsen. Das Haar hing strähnig über die Ohren und in den im Nacken dunkel geränderten Hemdkragen. Auf der Oberlippe zeigte sich spärlicher Flaum, der wie ein Schmutzstreifen wirkte. Die Zeit reichte nur noch für kurz mal Zähneputzen, etwas kaltes Wasser ins Gesicht und Trockenshampoo, das ich mir großzügig auf den Kopf und den Kragen schüttete. Das weiße Pulver band zwar das Fett, verwandelte das Haar aber in eine Art braungrauen Zottelteppich, in dem man beim Kämmen mit den Fingern steckenbleiben konnte.
So verließ ich meine Zelle, um zur Schule zu gehen.
Ich musste bis zur großen Pause warten. Ich weiß nicht mehr, wie die ersten beiden Unterrichtsstunden vergangen waren, ob mit Mathe, Deutsch oder Latein. Ich wusste aber noch, dass ich mir wünschte, ich hätte meinen Brief zustandegebracht – wäre es auch nur ein Briefchen, ein Zettel gar geworden, irgendetwas, das ich einem meiner Klassenkameraden – Robbi, Heiner oder Frank – mitgeben konnte, damit er es Ulrike in der Pause zusteckte, ohne dass ich persönlich in Erscheinung treten musste.
Mein Herz raste, als ich den Schulhof betrat, flankiert von Robert und Frank. Robert war mein bester Freund, aber irgendwie war auch Frank mein bester Freund. Und seit er mich vor den Rockern gerettet hatte, erstreckte sich meine Gunst neuerdings noch auf Heiner, der sie allerdings erstmal zurückhaltend aufnahm. Deswegen habe ich auch keine Ahnung, wo er an diesem Morgen steckte. Ich war also d’Artagnan, und die drei stellten meine Musketiere dar, jedenfalls in meinem Film.
Robert war blond, lockig, und er trug fast immer eine hellbraune Wildlederjacke zu schwarzen Rollkragenpullis, Turnschuhen und Leinenhosen. Er kam aus der Nähe von Münster. Seinen Eltern gehörte eine Firma, die Büromöbel herstellte. Er war gut in der Schule, ohne dass er sich große Mühe geben musste; er begriff einfach alles viel schneller als der Rest von uns. Wenn er lachte, klang es, als hätte er Schluckauf.
Frank war ein »von«, seine Familie lebte in einem echten Schloss, das sogar einen Wassergraben hatte. Er war blass, schlank, aber nicht drahtig. Er hatte rote Haare, grüne Augen und eine kleine, spitze Nase; er sah aus wie ein junger, verzogener Engländer. Er benahm sich auch so, trotzdem wurde er nie verdroschen, vielleicht weil er sich regelmäßig weigerte, die Brille abzunehmen, wenn jemand drohend sagte: »Nimm die Brille ab!« Er hatte die schönsten Schwestern, die ich je gesehen hatte, jedenfalls auf Fotos. Die Fotos standen in seinem Zimmer auf dem Bücherregal, neben den ganzen Klassik-Schallplatten der Deutschen Grammophon.
Er war immer sauber. Er war immer adrett gekleidet. Er roch immer gut. Er sprach leise, fluchte nie, und seine Stimme hatte stets einen ironischen Unterton, auch wenn es ihm ernst war. Er war so, wie ich immer sein wollte, aber wenigstens sah er nicht aus wie Peter O’Toole.
Der Schulhof befand sich an der Vorderseite des Anwesens, zwischen den beiden Seitenflügeln des Gebäudes. Er bestand aus vier Rasenflächen, Betreten verboten, dazwischen schmalen Kieswegen, die zu einem Springbrunnen in der Mitte führten. Der Springbrunnen war außer Betrieb, und auf dem schmutzigen Wasser trieben Blätter, Kaugummipapier, leere Milchtüten, Kakaobecher und Zigarettenkippen, egal, wie oft er gesäubert wurde.
Rike stand bei ihren Freundinnen auf der anderen Seite des Hofs, und sie war noch blasser als sonst. Sie trug eine weiße Regenjacke. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, so dass ich nicht sehen konnte, ob sie mich bemerkt hatte. Plötzlich stieß eines der Mädchen sie an, und sie drehte sich um und sah zu mir herüber. Mein Mund war auf einmal sehr trocken. Meine Hände waren eiskalt, aber mein Herz raste. Rike strich sich die Haare aus der Stirn, dann marschierte sie schnurstracks auf mich zu, die Hände in den Taschen der Regenjacke. Als sie mich erreicht hatte, blieb sie vor mir stehen und schaute zu mir auf. Ich konnte sehen, dass sie ein paar haarfeine Fältchen um die Augen hatte, als hätte auch sie nur wenig geschlafen.
»Kann ich mit dir reden?«, fragte sie.
»Klar«, sagte ich.
»Wegen gestern«, sagte sie.
Natürlich, jetzt war alles aus. Sie machte Schluss, und ich war nicht weitergekommen als bis zum Händchenhalten.
»Ja«, sagte ich mit einem Frosch im Hals.
Sie zog eine Hand aus der Jackentasche, nahm meine Hand und zog mich ein Stück weit weg von meinen Freunden. Sie trat so dicht an mich heran, dass kaum noch Platz zwischen uns blieb.
»Ich bin eine doofe Kuh«, sagte sie leise.
»Was?«
»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich habe mich gestern Abend richtig blöd benommen … saublöd. Und du warst so tapfer.«
Ich sagte nichts. Jetzt nicht zu schnell reagieren, erst abwarten, was sie meinte.
»Ich habe dich so bewundert«, sagte sie, die grün gesprenkelten Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. »Wie du dagesessen und dem Rocker die Stirn geboten hast. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich dauernd an dich denken musste. Ich glaube, ich habe mich jetzt richtig in dich verliebt.«
Ich kniff die Augen zusammen und ließ meinen Blick über den Schulhof schweifen, über dem plötzlich ein goldenes Flirren zu liegen schien. Gab es irgendein Mädchen, das ich nicht in mich verliebt machen konnte? Sah ich irgendeinen Jungen, der mich nicht bewunderte?
»Sag doch was«, bat sie.
Ich wollte nichts sagen. Schweigend wollte ich diesen Moment auskosten. Ich hatte ein Gefühl, als würde mein Herz leuchten, eingehüllt in dasselbe goldene Flirren. »Tja …«, meinte ich bescheiden. Kurz streifte ich ihr Antlitz mit den flehenden Augen.
»Ich habe versucht, dir einen Brief zu schreiben«, sagte sie, »aber mir ist nichts eingefallen … nur Mist.«
»Ich habe dir auch geschrieben«, sagte ich. »War auch nur Mist.«
»Kommst du mich Samstag besuchen?«, fragte Rike.
»Dich?« Meine Eloquenz konnte schon immer mit meiner Auffassungsgabe Schritt halten. »Bei dir zu Hause?«
»Ja. Meine Alten sind nicht da.«
»Ich weiß nicht.« Ich war noch nie allein bei einem Mädchen zu Hause gewesen, erst recht nicht bei einem, das so einen Ruf hatte wie sie und das jetzt richtig in mich verliebt war. Was, wenn sie mich küssen – oder, noch schlimmer, von mir zuerst geküsst werden wollte? Oder wenn sie womöglich an mehr dachte? Wenn sie wollte, dass wir es uns, weil ihre Eltern nicht da waren, in ihrem Zimmer richtig nett machten?
»Bitte«, sagte sie, während der Wind ihr ein paar Haare ins Gesicht wehte und die Sommersprossen auf der blassen Haut zu frieren schienen, obwohl Frühling war.
»Meinetwegen.«
Frater Brandt pflügte durch das Pausengewimmel auf uns zu. »Gestapo-Brandt kommt«, flüsterte Rike und ließ schnell meine Hand los. »Den kann ich nicht ab!« Sie drehte sich rasch um und ging zurück zu ihren Freundinnen, während ich die Hände in die Taschen schob und Gestapo-Brandt entgegensah. Er blieb fast so dicht vor mir stehen wie vorher Rike. Sein schmales Gesicht war kaum durchblutet, von frostiger Blässe, und er schien zu lächeln, obwohl seine Miene sich nicht verändert hatte.
»Möchtest du mir etwas sagen, Julian?«
»Ich? Was denn?«
»Ich habe dich schon lange nicht mehr bei der Beichte gesehen, Julian.«
»Vielleicht habe ich nichts zu beichten.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen, Julian.« Diese dauernde Wiederholung meines Vornamens! Dachte er, das hätte die gleiche Wirkung wie die Chinesische Wasserfolter? Ein Tropfen und noch ein Tropfen und noch einer, bis man alles gesteht?
Die Glocke schrillte. Als wir wieder zurück ins Gebäude gingen, fragte Heiner: »Was war denn los, Alter? Was wollte die Ulrike?«
»Ab jetzt kannst du mich Superman nennen.«
»Klasse, und ich bin Spider-Man!«
Am Samstagnachmittag nahm ich den Bus nach Steinhausen. Es regnete. Ich saß am Fenster, und alles, was ich durch die Rinnsale auf der beschlagenen Scheibe draußen sehen konnte, war trostlos. Als der Bus hielt, war auch Steinhausen so trostlos, wie nur ein westfälisches Dorf an einem Regentag trostlos sein konnte.
Rike holte mich an der Bushaltestelle ab. Sie hatte einen Schirm dabei. Außer ihr und mir war in Steinhausen kein Mensch auf der Straße. Ich hatte mich nicht extra schick gemacht, sondern trug das, was ich immer trug: eine braune Baumwollhose, eine parkaähnliche Jacke aus leicht lila gefärbtem Filz mit einem Muster aus hellbraunen Flecken, einen orangefarbenen Rollkragenpullover und eine Brille mit runden gelben Gläsern in Nickelfassung. Sie sollte mich nicht wegen meiner exquisiten Klamotten lieben.
Rike hatte gesagt, ihre Eltern wären nicht da, aber sie waren da. Ihr Vater saß in Trainingshose und Netzunterhemd mit einer Flasche Bier am Küchentisch. Auf dem Tisch lag eine Wachstuchdecke. An den Fenstern hingen Vorhänge aus abwaschbarem Kunststoff mit einem Blümchenmuster. Im Flur und in der Küche roch es nach Eintopf mit Suppenfleisch.