Die Toten von Königsberg - Ralf Thiesen - E-Book

Die Toten von Königsberg E-Book

Ralf Thiesen

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Beschreibung

Königsberg 1924: In einer Zeit des Umbruchs ermittelt der junge jüdische Kommissar Aaron Singer in einem spektakulären Mordfall ...

Auftakt einer fesselnden historischen Krimireihe im Königsberg der Goldenen Zwanziger.


Königsberg, 1924: In einer verschneiten Märznacht wird im Schlosshof der Sohn eines angesehenen Reeders tot aufgefunden. Seine Halsschlagader wurde durchtrennt und die Wand hinter ihm mit hebräischen Schriftzeichen aus seinem Blut beschmiert. Um die kurz vor der Reichstagswahl aufgeheizte Stimmung nicht weiter zu befeuern, beordert man den aufstrebenden jüdischen Kommissar Aaron Singer von Berlin nach Königsberg. Singer ist wenig begeistert von seiner Versetzung und sorgt mit seinen modernen Ermittlungsmethoden nicht nur bei Heinrich Puschkat, örtlicher Kommissar und preußisches Urgestein, für Ärger. Und der Tote vom Schlosshof ist erst der Beginn einer spektakulären Mordserie …

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Königsberg, März 1924: In einer Zeit des Umbruchs versetzt ein grausamer Mord die altehrwürdige preußische Stadt in Aufruhr. Im Schlosshof wird nachts ein junger Mann tot im Schnee aufgefunden. Seine Halsschlagader wurde durchtrennt und die Wand hinter ihm mit hebräischen Schriftzeichen aus seinem Blut beschmiert. Polizeiführung und die Stadtoberen drängen auf schnelle Aufklärung. Denn nicht nur handelt es sich bei dem Toten um Edward Mayrhöfer, den einzigen Sohn und Erben eines einflussreichen Reeders. Auch die bevorstehende Reichstagswahl wirft ihre Schatten voraus. Um die aufgeheizte Stimmung nicht weiter zu befeuern, beordert man den aufstrebenden jüdischen Kommissar Aaron Singer von Berlin nach Königsberg. Der junge, weltgewandte Singer ist wenig begeistert von seiner Versetzung und sorgt mit seinen modernen Ermittlungsmethoden nicht nur bei seinem neuen Partner, dem preußischen Urgestein Heinrich Puschkat, für Ärger. Und kurz darauf geschieht ein weiterer spektakulärer Mord …

Autor

Ralf Thiesen, Jahrgang 1964, lebt mit seiner Familie im Bergischen Land und arbeitet bei einem großen Standortdienstleister. Seit über dreißig Jahren gilt seine Leidenschaft der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Weimarer Republik, und der Kriminalliteratur. Der historische Kriminalroman »Die Toten von Königsberg« ist sein Debüt.

Ralf Thiesen

Die Toten von Königsberg

Ein Fall für Aaron Singer

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Dezember 2023 

Copyright © 2023 by Ralf Thiesen

Copyright © dieser Ausgabe 2023 

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München; Trevillion/Tim Robinson; Ullsteinbild/histopics

Karte von Königsberg: © Laura Münzer

Redaktion: Heiko Arntz

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28450-3V001

www.goldmann-verlag.de

Für Gabriele

Yin & Yang

Nun so sei der Bund gemacht!

Heilig diese Stunde!

Und die sternenhelle Nacht

Leuchte unserm Bunde!

Unsern Bund trennt nicht der Tod,

Kein Geschick und keine Not

Soll unsere Freundschaft stören!

Einst werden wir uns wiedersehn

und fester stehn

Und unsern Bund erneuern.

Galtgarbenlied

Prolog

Königsberg, Juni 1914 

Die plötzliche Stille war schlimmer als das Keuchen und die Schreie der Kameraden zuvor. Es hatte eine Ewigkeit gedauert. Jetzt hockte er auf dem kalten Steinboden des fast leeren Walfischspeichers, den Kopf zwischen den Armen. Sein Oberkörper wiegte vor und zurück, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der metallische Geruch von Blut lag in der stickigen Luft. Er wagte nicht, dorthin zu sehen, wo er den geschundenen Körper vermutete.

Jemand musste gegen eines der Kanthölzer gestoßen sein, denn es fiel mit einem hallenden Knall zu Boden. Erschrocken fuhr er in die Höhe. Er sah in die Gesichter seiner Kameraden. Er musste hier raus, sofort! Er stolperte ins Freie.

Draußen beschien der Mond die alten Fachwerkspeicher der Königsberger Lastadie. Eine schwarze Katze hatte sich unter dem Lastwagen niedergelassen. Als er näher kam, richtete sie sich auf und verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit.

»Hol ihn zurück«, hörte er den Anführer hinter sich rufen. Dann vernahm er Schritte.

»Warte! Wo willst du denn hin?«

Er hatte keine Ahnung. Sein Kopf war leer. Wie sollten sie weiterleben mit dieser Schuld? Er spürte, wie Hände seine Schultern umfassten und ihn sanft schüttelten.

»Los, komm wieder rein. Es ist zu riskant hier draußen.«

Widerstrebend ließ er sich zurück in den Lagerraum führen. Wieder glaubte er, das Blut zu riechen, den Schweiß, die Todesangst. Er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an.

Der Anführer trat zu ihm. Seine Stimme war leise, aber eindringlich. »Reiß dich zusammen! Es gibt kein Zurück mehr. Für keinen von uns. Wenn wir zusammenhalten, dann wird uns nichts passieren.«

Die anderen nickten stumm. Er fühlte ihre prüfenden Blicke auf sich. Lauernd. Angst erfasste ihn. Was, wenn sie dachten, auf ihn wäre kein Verlass? Er nickte hastig. »Es geht schon wieder. Mir war nur …«

Der Anführer klopfte ihm auf die Schulter. »Gut. Lass uns hier aufräumen, dann ist das alles bald vergessen. Uns wird nichts geschehen. Vertrau mir.«

Eine innere Stimme riet ihm, sich zu fügen. Für Widerstand war es zu spät. Zwanzig Minuten eher hätte er den Mut aufbringen müssen.

Der Anführer sah in die Runde, streckte seine rechte Hand aus. Die anderen taten es ihm gleich. Eine Hand legte sich auf die andere.

»Also, Männer, niemand wird über den heutigen Abend auch nur ein Wort verlieren. Bei unserer Ehre!«

»Bei unserer Ehre«, murmelten alle.

Dann beseitigten sie die Spuren. Eine halbe Stunde später erinnerte in dem nur selten genutzten Speicher nichts mehr an die grausame Tat. Der Lastwagen verließ die nächtliche Lastadie ungesehen. Alles in allem war kaum eine Stunde vergangen.

Eine Stunde, dachte er. Eine Stunde konnte ein ganzes Leben verändern.

Königsberg, 13. März 1924 

Edward Mayrhöfer saß neben seinem Vater im Fond des Dürkopp, der von ihrem Chauffeur sicher durch die Straßen der Königsberger Altstadt gelenkt wurde. Edward spürte die Aktenmappe auf seinem Schoß. Heute würde es auf ihn ankommen, zum ersten Mal, und er war fest entschlossen, die große Gelegenheit, die sich ihm bot, zu nutzen. Sie waren auf dem Weg zu einer außerordentlichen Versammlung der Reeder. Sein Vater, Friedrich Mayrhöfer, ging bereits auf die siebzig zu, hielt aber – zu Edwards Leidwesen – in der Firma immer noch die Fäden in der Hand. Von allen respektvoll »der alte Fritz« genannt, gab er auch innerhalb der Reeder-Vereinigung den Ton an. Bislang war Mayrhöfer & Seggelke das größte Unternehmen dieser Art gewesen. Doch das traditionelle Kräfteverhältnis war in diesen Tagen akut in Gefahr.

Edward strich sich über das volle, dunkle Haar und prüfte im Rückspiegel den korrekten Sitz seiner Krawatte. Sein Vater hatte die behandschuhten Hände auf seinen Gehstock gelegt und sah mit entschlossener Miene der bevorstehenden Versammlung entgegen.

»Ich hoffe, du bist dir deiner Verantwortung bewusst, mein Sohn. Heute werden wir es richten müssen.«

»Keine Sorge, Vater. Ich bin vorbereitet. An unserem Konzept kommt kein geradeaus denkender Kaufmann vorbei«, erwiderte Edward betont munter.

Friedrich schenkte seinem Sohn ein vages Lächeln, das Edward als ein »Wollen wir es hoffen!« deutete. Der Wagen hielt vor dem Börsengarten.

Edward blickte nervös zum Säulenportal des prunkvollen Gebäudes. Ein livrierter Diener eilte die Stufen hinunter und öffnete ihnen die Wagentür.

Als sie die Eingangshalle betraten, wartete bereits Heinrich Waller, der Geschäftsführer des Königsberger Börsenvereins, auf sie. Sein grauer Backenbart war wie immer akkurat geschnitten, und er hatte sein einnehmendes Lächeln aufgesetzt, mit dem er wichtige Kunden, hochrangige Politiker und einflussreiche Kaufleute zu begrüßen pflegte. Edward betrachtete Waller und atmete tief durch. Er wollte etwas sagen. Schließlich hing alles von einer möglichen Einigung an diesem Abend ab. Doch sein Vater kam ihm zuvor.

»Na, denn man los, Waller. Bringen Sie uns zu der Meute.«

Der Geschäftsführer des Börsenvereins nickte beflissen und führte sie in den Gartensaal. Hier pflegte die hanseatische Kaufmannschaft ihre Feste zu feiern. Glänzender Parkettboden, große Pflanzkübel mit tropischen Gewächsen, die Wände mit Mahagoni vertäfelt. Von der Decke hing ein schwerer Kristalllüster. Darunter befand sich die festlich gedeckte Tafel mit schwerem Tafelsilber, Meissner Porzellan und Damastservietten. In der Mitte prangte ein üppiges Blumenbouquet.

Rund ein Dutzend Männer war bereits versammelt. In der Luft hingen dicke Schwaden Zigarrenrauch. Ein Kellner ging herum und reichte edlen Burgunder. Die Neuankömmlinge wurden begrüßt, und es dauerte eine Weile, bis alle Hände geschüttelt waren. Edward sah, wie Waller dem Kellner ein Zeichen gab. Eine Schiffsglocke wurde geschlagen, mit der die Gäste zu Tisch gerufen wurden.

Während der Rigaer Butt aufgetragen wurde, ließ Edward den Blick über die Tafel schweifen. Alle großen Reeder des Landes waren gekommen. Die Männer schienen unbekümmert wie immer und ließen es sich schmecken. Edward hatte schon seine Vorsuppe kaum angerührt. Er verspürte keinen Appetit. Er sah zu seinem Vater, der ebenfalls nur wenige Bissen von seinem Butt verspeiste, bevor er seinen Teller von sich schob. Der alte Mayrhöfer wartete nicht ab, bis der letzte Gast seinen Teller leer gegessen hatte, sondern griff zu seinem Messer und schlug ungeduldig an sein Glas. Die Tischgespräche verebbten, und gespannte Erwartung breitete sich aus.

»Liebe Kollegen, ich habe Sie heute aus einem einzigen Grund hierher eingeladen. Nicht weniger als die Zukunft der ostpreußischen Schifffahrt steht auf dem Spiel. Sie wird bedroht von einem Mann, der wie kaum ein anderer von der verheerenden Inflation des letzten Jahres profitiert hat. Und dieser Mann ist Hugo Stinnes!«

Die Männer nickten beifällig, tauschten ernste Blicke.

»Stinnes hat sich nicht nur eigene Schiffe und gleich zwei Reedereien zugelegt – Poseidon und Artus. Nein, er hat sich auch große Anteile an Importkohle und dem Holzgeschäft gesichert. Sein Ziel ist klar: den Wettbewerb der freien Reeder in die Knie zu zwingen.«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Edward sah nervös zu der Aktenmappe auf seinem Schoß. Er ging in Gedanken noch einmal das Konzept durch, das er gemeinsam mit seinem Freund und Mitarbeiter Gerhard Kanzin erstellt hatte.

»Ich frage nun: Wer von uns hat in den letzten Monaten nicht irgendein Bestandsgeschäft an die verdammte Poseidon-Reederei verloren?«

Einmal mehr war Edward von dem charismatischen Auftreten seines Vaters beeindruckt. Er sah, wie er seinen eindringlichen Blick herausfordernd über die Anwesenden gleiten ließ. Niemand widersprach. Alle hatten die gleiche schmerzhafte Erfahrung gemacht.

Der kahle Johann Gerland, Geschäftsführer von Storrer & Scott, nickte mit hochrotem Kopf. »Dieser Roggenbucke kauft sich das Geschäft. Kann mir doch keiner erzählen, dass der was an den Frachten verdient. Das ist unmöglich«, schimpfte er und schlug mit seiner Hand auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Mit dem Kohlegeschäft im Rücken zieht der die Kontrakte für Getreide, Mehl und auch Zellulose mit für uns ruinösen Raten einfach so aus dem Markt.«

»Gerland hat recht!«, rief Jesse Ivers, ein elegant gekleideter Mittvierziger im Stresemann, Inhaber der erst 1910 gegründeten Reederei Ivers & Arlt. Für die Alteingesessenen ein neureicher Emporkömmling. »Lange können wir da nicht mehr mithalten. Die halbe Flotte liegt seit der Eisschmelze ohne Auftrag nutzlos im Hafen.«

Der alte Konrad Kleyenstüber meldete sich zu Wort. »Wir haben sogar Kontrakte verloren, die unser Haus seit mehr als fünfzehn Jahren gehalten hat. Hier wird Dumping betrieben! Auf dem Spotmarkt sind solche Verluste nicht aufzufangen.«

Er klang verbittert. Nicht ohne Grund, wie Edward wusste. Der alte Kleyenstüber und Edwards Vater hatten jahrzehntelang die Geschicke des Reedereiwesens in Ostpreußen quasi im Alleingang gelenkt.

»Bei uns im Memelgebiet sieht die Lage nicht besser aus«, sagte Konsul Schmälling, ein würdiger Hanseat, dessen dicker Hals von einem Vatermörderkragen abgeschnürt wurde. Mit seinem gewaltigen Schnurrbart erinnerte er Edward an ein Walross. »Die litauischen Behörden behindern uns zwar nicht weiter, aber sie sind auch keine Hilfe beim Versuch, uns gegen die erdrückende Konkurrenz von Artus zu behaupten. Mittlerweile haben die sogar ein Kontor im Hafen von Memel eröffnet.«

Mit einem knappen Handzeichen bedeutete der alte Mayrhöfer ihm zu schweigen. Mit Klagen kamen sie nicht weiter. Jetzt galt es, die Weichen für die Zukunft zu stellen, um den Industriemagnaten von der Ruhr endlich in die Schranken zu weisen.

»Nun denn, und genau aus diesem Grund sind wir hier.« Der alte Mayrhöfer machte eine Kunstpause und wandte sich langsam zu Edward um. »Mein Sohn Edward hat einen Plan entwickelt, wie wir Stinnes und seiner aggressiven Expansionspolitik Paroli bieten können. Bitte, Edward!«

Edward atmete tief durch, dann stand er auf. Er räusperte sich. Nun galt es. Wie zuvor sein Vater ließ auch er seinen Blick schweifen, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der Anwesenden zu versichern. Dann begann er.

»Mein Konzept sieht vor, dass wir unsere Schiffsraumkapazitäten bündeln und die großen Relationen nach Riga, Stockholm, Helsinki, Stettin und Danzig mit einem gemeinsamen Fahrplan anbieten. Auch die Aufträge akquirieren wir gemeinsam. So können wir zum einen die einzelnen Schiffe besser auslasten und zum anderen die Schiffe ihrer individuellen Stärke entsprechend optimal einsetzen.«

Edward sah, wie einige Zuhörer zustimmend nickten. Das verlieh ihm Mut. Mit festerer Stimme fuhr er fort.

»Herr Leo, Ihnen muss doch das Herz bluten, wenn die stolze Ostpreußen mit ihren 4000 Tonnen lächerliche zwanzig Kisten Bananen und Südfrüchte durch den Seekanal bringt.«

Heinrich Leo, der Inhaber von Marcus Cohn & Sohn, nickte resigniert. »Eine Schande ist das.«

»Exakt! So sehe ich das auch«, fuhr Edward lebhaft fort. Er nahm seine Aktenmappe zur Hand und reichte nach rechts und links Durchschläge der Tischvorlage, die er vorbereitet hatte. »In dem vorliegenden Papier finden Sie die wichtigsten Stichpunkte zu meinem Konzept. Die rechtliche Selbstständigkeit der einzelnen Mitglieder bleibt selbstverständlich gewahrt. Das System, das hier zur Anwendung kommt, bezeichnet man in England als ›pool‹ oder ›conference‹. Nicht nur das gesamte Ladungsaufkommen, sondern auch die Frachterlöse der Pool-Mitglieder werden nach Abzug bestimmter Kosten nach einem vorher festgelegten Schlüssel auf die Pool-Mitglieder verteilt.«

»Was passiert, wenn einer der Partner wesentlich mehr an Ladung bekommt als die anderen?«, hakte Heinrich Leo nach.

Edward war auf diese Frage vorbereitet. »Wer mehr Ladung verlädt als nach der Quote vorgesehen, muss als sogenannter Overcarrier denjenigen, der weniger Ladung verlädt, finanziell entschädigen.«

»Also mir ist immer noch nicht ganz klar, wo für uns die Vorteile liegen sollen.« Der schmächtige Dr. Trimmel vom Tilsiter Dampferverein blinzelte skeptisch durch seine runde Brille.

Doch Edward war auf alles vorbereitet. Dies war seine Stunde. »Für die Mitglieder ergeben sich gleich mehrere Vorteile. Dadurch, dass wir den ruinösen Wettbewerb gegen den mächtigen Stinnes-Konzern beenden und ein Quasi-Monopol bilden, werden wir am Markt auch wieder auskömmliche Frachtraten erzielen. Es wird kein Überangebot an Frachtraum mehr geben, weil wir einen optimierten Fahrplan anbieten werden. Damit können wir dem Poseidon-Artus-Verbund sowohl im Haff als auch auf der Ostsee erfolgreich die Stirn bieten.«

Als Edward geendet hatte, bedankte er sich für die Aufmerksamkeit und nahm wieder Platz. Er sah in die Runde. Überwiegend beifälliges Nicken. Auch sein Vater schien mit dem bisherigen Verlauf der Veranstaltung sehr zufrieden. Die Reeder und Schiffsbefrachter, die, wenn es ums Geschäft ging, für gewöhnlich im anderen nur den Konkurrenten sahen, wirkten jetzt, nach seinem Vortrag, erstaunlich einig. Edward merkte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Während überall am Tisch lebhaft diskutiert wurde, gönnte er sich endlich einen großen Schluck vom Rotwein.

Als Heinrich Waller den Saal verließ, dachte sich Edward nichts dabei, doch als kurz darauf die Saaltür erneut aufgestoßen wurde, wurde ihm schlagartig klar, dass noch nichts entschieden war.

Ein Mann von hünenhafter Gestalt betrat den Gartensaal – Hermann Roggenbucke, Geschäftsführer der vereinigten Reedereien Artus und Poseidon, beide seit wenigen Monaten Teil des Stinnes-Konzerns. Er war Ende vierzig und trug einen eleganten Dreiteiler mit moderner Krawatte und Einstecktuch. Ihm auf den Fersen folgte ein unscheinbarer kleiner Mann mit Goldrandbrille und Aktentasche. Hut und Mantel hatte Roggenbucke Waller in die Hand gedrückt, der peinlich berührt in der Saaltür stand und mit einem hilflosen Schulterzucken zu Friedrich Mayrhöfer blickte.

»Guten Abend, meine Herren!«

Roggenbuckes Bariton dröhnte einer Kampfansage gleich durch die von Zigarrenrauch geschwängerte Luft. Während er an der Tafel vorbeischlenderte, warf er einen nachlässigen Blick auf eine von Edwards Tischvorlagen und lächelte.

Der alte Mayrhöfer erhob sich mit einem Ruck. Er stemmte die Hände auf den Tisch und blickte den Eindringling finster an. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben, Roggenbucke«, schnarrte er. »Dies hier ist eine private Zusammenkunft. Sie verlassen sofort den Saal, oder ich rufe die Polizei!«

Die Anwesenden murmelten zustimmend. Hier und da wurden halblaute Verwünschungen ausgestoßen.

Doch Roggenbucke blieb ungerührt. »Ihre Sandkastenmanöver werden Ihnen nichts nützen, mein lieber Mayrhöfer. Ich habe Neuigkeiten, die ich der erlauchten Gesellschaft nicht vorenthalten möchte.« Er sah genüsslich in die Runde, bevor er fortfuhr. »Herr Stinnes, Herr Dr. Berding hier zu meiner Rechten und ich haben heute Nachmittag den Vertrag zur Übernahme der Königsberger Zellstofffabrik unterzeichnet.«

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Alle redeten plötzlich durcheinander. Edward sah zu seinem Vater. Friedrich Mayrhöfers Miene war wutverzerrt. Sein Schnauzbart bebte, als er seine Stimme erhob.

»Was erzählen Sie da für einen Humbug? Die Aktien befinden sich im Streubesitz, und Konrad Bergmann hält als Großaktionär lediglich dreißig Prozent der Aktien. Selbst wenn Stinnes das Bergmann-Paket übernommen hat, heißt das noch lange nicht, dass er in der Firma auch das Sagen haben wird! Immerhin halten auch die Banken noch größere Pakete.«

Edward sah, wie Roggenbucke erneut spöttisch lächelte, und ballte unbewusst die Fäuste. Der Stinnes-Mann hatte seinen Vater mit seiner Provokation genau dorthin manövriert, wo er ihn haben wollte. Jetzt legte er an zum Blattschuss.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schlecht informiert sind, Mayrhöfer. Sie werden alt! Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie sich aus dem Geschäft zurückziehen. Die Dresdner Bank verfügt über zehn Prozent, und Herr Dernburg mit seiner Darmstädter Bank – übrigens ein Freund unseres Hauses – über siebenundzwanzig Prozent. Beide Häuser haben bereits in der letzten Woche ihre Anteile an den Konzern verkauft. Zusammen mit dem Paket von Herrn Bergmann verfügt Herr Stinnes, der bislang neun Prozent erworben hatte, über komfortable sechsundsiebzig Prozent. Damit entfällt auch die Sperr-Minorität.« Wie ein Zirkusdirektor in der Manege drehte sich Roggenbucke mit ausgebreiteten Armen zu seinem Publikum.

Der Lärmpegel schwoll erneut an. Edward brach der Schweiß aus. Er starrte vor sich auf den Tisch. Das kam einer Katastrophe gleich! Die Königsberger Zellstofffabrik AG war aufgrund der Unmengen an Holz, die sie zur Verarbeitung benötigte, ein ungemein wichtiger Auftraggeber für die ostpreußischen Reedereien. Ein zweiter großer Auftraggeber – die Kohlen-Import AG – befand sich bereits seit einiger Zeit in der Hand von Hugo Stinnes. Die Auswirkungen auf die Frachtraten hatten nicht lange auf sich warten lassen. Mit dem hauseigenen Kohlegeschäft als Basis hatte Stinnes die übrigen großen Kontrakte zu verlustbringenden Raten aus dem Markt gezogen. Die Folge waren ein weiterer Preisverfall und Überkapazitäten, die die übrigen Reedereien mehr und mehr in die wirtschaftliche Schieflage brachten. Wenn jetzt auch noch die Zellstofffabrik unter die Kontrolle von Stinnes geriet, dann waren die Tage der unabhängigen Reedereien gezählt.

Edward sah zu seinem Vater, der um Fassung rang. Er war bleich geworden und wirkte um Jahre gealtert.

Roggenbucke nutzte die Sprachlosigkeit seines Gegners und fuhr mit erhobenem Zeigefinger fort. »Die Poseidon-Reederei wird weiterwachsen. Die Schichau-Werft in Elbing hat heute den Auftrag erhalten, einen Frachtdampfer mit 5000 Bruttoregistertonnen zu bauen, der spätestens im Frühjahr nächsten Jahres vom Stapel laufen wird.« Er machte eine kurze Pause, damit die Runde diesen neuerlichen Paukenschlag angemessen verdauen konnte. Dann kam er zum eigentlichen Punkt. »Nun, dem Stinnes-Konzern im Allgemeinen und mir als Geschäftsführer der Poseidon-Reederei im Besonderen ist an einer gleichermaßen engen wie guten Zusammenarbeit mit Ihren Häusern gelegen. Daher möchte ich Ihnen hier und heute die Hand zur Kooperation reichen. Dr. Berding wird Ihnen unsere Vorstellungen dazu kurz erläutern.«

Seine Worte waren der reine Hohn. Edward befiel eine unbändige Wut. Sie waren so nahe dran gewesen, eine Allianz gegen den übermächtigen Konkurrenten zu schmieden. Aber durch seine dreiste Art hatte Roggenbucke seine Gegner offenbar mühelos an die Wand gedrückt. Als Edward sich umsah, blickte er ausnahmslos in ratlose Gesichter.

Der ihnen als Dr. Berding vorgestellte Justiziar öffnete seine Aktentasche mit einem leisen Schnappen und zog Unterlagen heraus, die er an die Anwesenden verteilte.

»Die Poseidon-Reederei macht Ihnen ein einmaliges Angebot zur Zusammenarbeit«, erklärte er mit monotoner Stimme. »In den Unterlagen finden Sie einen Vertrag, in dem alle wesentlichen Punkte geregelt sind. Wir erwarten Ihre Zusage bis Montag, zwölf Uhr. Danach ist unser Angebot hinfällig.«

Brillen wurden hervorgeholt. Papier raschelte. Alle vertieften sich nervös in die Lektüre. Alle, mit Ausnahme des alten Mayrhöfer, der sich schwer atmend auf seinen Stuhl fallen ließ. Edward legte ihm besorgt die Hand auf den Unterarm.

Heinrich Leo fand als Erster die Sprache wieder. »Das sind eindeutig Knebelverträge! Absolut indiskutabel! So etwas werde ich nie und nimmer unterschreiben.«

Roggenbucke musterte den Inhaber des Traditionshauses Marcus Cohn & Sohn mit kalten Augen. »Ich glaube, Sie haben den Ernst der Lage nicht begriffen, verehrter Leo. Wie lange können Sie es sich noch leisten, Ihre Ostpreußen mit Zubringerdiensten im Seekanal dümpeln zu lassen? Vier Wochen? Fünf? Sechs, wenn es hochkommt. Und dann werden Sie Schiffe verkaufen müssen. Es sei denn, Sie entscheiden sich dafür, mit uns zusammenzuarbeiten.«

Edward sah, wie sein Vater sich erneut aufrichtete. So einfach wollte er sich nicht geschlagen geben. »Damit werden Sie nicht durchkommen, Roggenbucke!«, zischte er. »Sie haben es hier mit aufrechten hanseatischen Kaufleuten zu tun, nicht mit irgendwelchen hergelaufenen Lumpen.« Damit schleuderte er Berding den Vertrag vor die Brust.

Der Justiziar sah Hilfe suchend zu Roggenbucke, doch der blieb gelassen. »Noch sind Sie vielleicht Kaufleute. Doch in wenigen Wochen sieht das schon ganz anders aus. Dann werden einige von Ihnen ihre Villen in Amalienau oder den Hufen räumen und sich kleiner setzen müssen, vielleicht auf Etage in Sackheim – weil ihre Unternehmen dann nämlich bankrott sind.«

Er nahm Berding den Vertragsentwurf ab, den dieser ihm hinhielt, und legte ihn erneut vor dem alten Mayrhöfer auf den Tisch. »Sie sind ein Narr, Mayrhöfer. Wenn Sie den Vertrag ausschlagen, dann kauf ich Ihren Laden aus der Konkursmasse. Es wird kein halbes Jahr dauern, und die Reederei Mayrhöfer & Seggelke ist keinen Pfennig mehr wert. Dann ist Ihr Lebenswerk dahin.« Er seufzte theatralisch und sah seinen Justiziar an. »Kommen Sie, Berding. Wir sollten den Herren Gelegenheit geben, über die Großzügigkeit unseres Angebots nachzudenken.«

Kaum hatten die beiden Männer in Begleitung von Waller den Saal verlassen, da brach der Tumult los. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Edward sah zu seinem Vater, der kreidebleich auf seinem Stuhl saß – ein gebrochener Mann. Edwards Ohnmacht verwandelte sich in glühenden Hass. Er sprang auf und stürzte in die Eingangshalle. Dort sah er, wie Waller dem Poseidon-Geschäftsführer katzbuckelnd in den Mantel half, was seine Wut noch weiter anstachelte. Dieser elende Opportunist versuchte offensichtlich, seine Pfründe zu retten.

Edward stürzte auf die drei Männer zu. Er schob den überraschten Waller zur Seite, dann schlug er Roggenbucke mit aller Kraft ins Gesicht. Er würde ihm das überlegene Grinsen aus der Visage prügeln.

Der große Mann taumelte unter der Wucht des Schlags zurück und riss dabei ein Tablett mit leeren Gläsern von der Anrichte. Das Scheppern des Silbertabletts und das zerspringende Glas dröhnten in Edwards Ohren. Doch Roggenbucke hatte sich schnell wieder gefangen. Nur dem beherzten Eingreifen von Berding und Waller war es zu verdanken, dass die Männer sich keine wüste Schlägerei lieferten.

»Ich werde nicht zulassen, dass ein dahergelaufener Emporkömmling versucht, das Ansehen meines Vaters in den Schmutz zu ziehen!«, schrie Edward.

»Dafür sorgt Ihr Vater schon selbst«, keuchte Roggenbucke, der sich nur mühsam beherrschen konnte, während er sich Blut von der aufgeplatzten Lippe wischte. »Sie sollten achtgeben, dass er in seinem Altersstarrsinn nicht auch Ihre Zukunft ruiniert. Bei Poseidon brauchen Sie sich nach diesem Auftritt jedenfalls nicht zu bewerben. Diesen Schlag werden Sie noch bereuen. Das garantiere ich Ihnen!«

Roggenbucke hob mit einer energischen Bewegung seinen Hut vom Boden auf und verließ ohne ein weiteres Wort mit seinem Begleiter den Börsengarten.

Das »Blutgericht« war eine Institution in Königsberg und weit über die Grenzen Ostpreußens bekannt. Der Ort des früheren »Blut- und Halsgerichts« mit seinen zahlreichen Verliesen und Folterkammern in den weitläufigen Katakomben des mächtigen Königsberger Schlosses war bereits seit dem Jahr 1799 eine Weinstube. Das Lokal erstreckte sich über mehrere, labyrinthartig angelegte Tonnengewölbe. Jeder dieser Räume hatte einen Namen, der an mittelalterliche Folterpraktiken erinnerte: »Marterkammer«, »Peinkammer«, »Große Glocke« oder »Spanische Nadel«. Blank geschrubbte Tische, Holzvertäfelungen, schmiedeeiserne Wandleuchter und imposante Schiffsmodelle, die von der Decke hingen, verliehen der Schankwirtschaft ihren ganz besonderen Reiz. An einem Samstagabend hatten die Kellner in ihren traditionellen blauen Kitteln und Lederschürzen alle Hände voll zu tun. Tabletts mit üppig beladenen Tellern, Weinkrügen und Flaschen sowie Bierhumpen wurden im Akkord in den Hauptsaal und die verschiedenen Nebenräume getragen. Hierher kamen Kaufleute, Arbeiter und Studenten, aber auch Reisende aus dem ganzen Land, und besonders am Wochenende ging es hoch her. Es wurde gelacht, gesungen, debattiert.

Edward Mayrhöfer saß mit seinen Freunden an einem langen Tisch in der »Marterkammer«. Der Schein der flackernden Kerzen und die mannshohen Prunkfässer an der Stirnseite des Raums gaben der Szenerie etwas Unwirkliches. Edward hörte dem Tischgespräch nur mit einem halben Ohr zu. Seit dem Eklat am Mittwoch kreisten seine Gedanken um das bevorstehende Schicksal der Reederei. Sein Vater hatte in den vergangenen Tagen zahlreiche Telefonate geführt und Hausbesuche getätigt, um die Reihen doch noch geschlossen zu halten. Auf seine Frage, wie die Gespräche verlaufen seien, hatte Friedrich Mayrhöfer ihm nur ausweichend geantwortet, aber Edward ahnte, dass die konkurrierenden Reeder wieder auf Distanz gegangen waren. Es herrschte Misstrauen zwischen den Unternehmern. Wer konnte schon wissen, wer bereits einen Vertrag mit Poseidon unterschrieben hatte?

Schallendes Gelächter holte Edward wieder in die Gegenwart zurück. Gunther hatte anscheinend wieder eine seiner berüchtigten Zoten erzählt. Ludwig, Hermann und Albrecht hoben ihre Gläser und prosteten ihm zu.

Gerhard stieß Edward in die Seite. »Na, komm schon. Hoch die Tassen! Oder willst du vielleicht nüchtern nach Hause gehen?«

»Lass gut sein. Ich bin heute kein guter Gesellschafter. Ich wäre wahrscheinlich besser zu Hause geblieben, als euch hier die Stimmung zu vermiesen.«

Gerhard betrachtete seinen Freund mit sorgenvoller Miene. »Immer noch wegen der Sache mit Stinnes?«

Edward nickte düster. Dann sah er seinen Freund an. »Was denkst du?«

Gerhard Kanzin zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, den Laden zu verkaufen, sich auszahlen zu lassen und was Neues zu beginnen. Oder einfach das Geld für sich arbeiten zu lassen.«

»Das meinst du doch wohl nicht ernst, Gerhard! Die Reederei wird jetzt in der vierten Generation geführt. Ein Verkauf an diesen arroganten Dreckskerl kommt überhaupt nicht infrage. Ich will nichts mehr davon hören. Am allerwenigsten von dir!«

Edwards Worte waren schärfer ausgefallen, als er es beabsichtigt hatte. Immerhin standen Gerhard und er sich sehr nahe, sie kannten sich seit ihrer Schulzeit, und im letzten Jahr hatte Gerhard – auf Edwards Empfehlung hin – die Stelle des leitenden Buchhalters in der Reederei angetreten. Dass Gerhard damit praktisch Edwards Untergebener geworden war, hatte der Freundschaft der beiden Männer keinen Abbruch getan. Und konnte er seinem Freund verdenken, dass er die Sache von der pragmatischen Seite betrachtete? Gerhard hatte schon immer zu einer gewissen Sorglosigkeit geneigt. Von seiner ganzen Art her erinnerte er an einen englischen Dandy. Die neueste Mode war ihm wichtig. Jetzt sah er Edward lächelnd an.

»Schon gut, mein Lieber. Du bist der Boss.« Er hob entschuldigend die Hände.

»Ach, vergiss es«, lenkte Edward ein. »So war das nicht gemeint. Aber die Situation macht mir zu schaffen. Wir müssen unbedingt eine Lösung finden.«

Erneut wurde das Gespräch durch eine Lachsalve und das darauffolgende Anstoßen der Bierhumpen und Weingläser übertönt.

»Was ist denn mit euch los? Kommt mal näher ran, damit wir euch im Griff haben, ihr trüben Tassen!«

Die Stimme gehörte Ludwig von Brekdorf. Edward seufzte. Ludwig hatte schon während ihrer Studienzeit an der Albertina immer das große Wort geschwungen. Er befand sich in einer ähnlichen Situation wie Edward. Im Bankhaus von Brekdorf wartete Ludwig nun seit Jahren darauf, dass sein Vater sich aus dem aktiven Geschäft zurückzog und die Entscheidungsgewalt an ihn abtrat. Doch ähnlich wie im Hause Mayrhöfer ließ der Generationswechsel auf sich warten.

Gerhard erhob sich und klopfte auf die Tischplatte. »Gute Idee, Männer. Nehmt den Kameraden mal unter eure Fittiche, damit er auf andere Gedanken kommt. Ich für meinen Teil werde mich galant zurückziehen.«

»Oho, hat da jemand noch was vor? Etwa ein amouröses Abenteuer?« Albrecht Gusenius grinste übers ganze runde Mondgesicht.

»Der Kavalier genießt und schweigt, so heißt es doch?«, konterte Gerhard und wandte sich zum Gehen.

»Warte!«, rief Gunther Bock. »Ich schließe mich an.« Er stürzte den Rest seines Biers hinunter und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Was ist denn los mit euch? Ist doch erst kurz nach elf?« Ludwig von Brekdorf tat empört. »Die Nacht ist noch jung!«

»Morgen früh – und zwar richtig früh – ist Bockbieranstich. Da muss ich auf dem Damm sein, Freunde«, erwiderte Gunther.

»Der Bock und sein Bockbier«, kicherte Gusenius.

»Ihr wollt gutes Bier, und ich arbeite hart dafür. So ist es nun mal«, sagte Gunther Bock, der im Vorort Ponarth eine kleine gut gehende Brauerei betrieb.

Ludwig von Brekdorf machte eine fortscheuchende Geste. »Also schön, ihr seid entlassen. Und du, Edward, rutschst her zu uns. Jetzt ist Schluss mit Trübsalblasen. Ist ja so nicht zum Aushalten.«

Es war halb zwölf, als Edward leicht betrunken die steile Treppe in Angriff nahm, die aus dem Kellergewölbe des Blutgerichts in den Schlosshof führte. Oben angekommen, atmete er die klare, kalte Luft ein. Es schneite. Edward kniff die Augen zusammen und schlang sich den Schal um den Hals. Er würde nur die paar Schritte zum Kaiser-Wilhelm-Platz gehen und sich von dort eine Kraftdroschke nach Hause gönnen.

Er war erst wenige Meter in dem nur schwach erleuchteten Schlosshof gelaufen, als er hinter sich Schritte zu vernehmen glaubte. Edward legte einen Gang zu. Die Schritte hinter ihm beschleunigten ebenfalls. Abrupt blieb Edward stehen und fuhr herum. Wenige Meter entfernt stand eine dunkle Gestalt.

»Folgen Sie mir? Wer sind Sie?«, rief Edward.

Statt zu antworten, kam die Gestalt langsam näher.

»Du kennst mich nicht?« Ein unheimliches Flüstern.

Edward schüttelte den vom Alkohol benebelten Kopf. »Woher sollte ich? Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe.«

Edward wandte sich ab und wollte gerade den Torbogen passieren, als er einen sonderbaren Stich in den Hals verspürte. Verdutzt drehte er sich zu der Gestalt um, die jetzt ganz dicht bei ihm war. Er wollte weitergehen, doch die Beine versagten ihm den Dienst. Edward knickte ein und fiel der Länge nach hin. Er lag mit dem Gesicht im Schnee. Doch er spürte nichts. Er war wie betäubt, gleichzeitig bei klarem Verstand. Was passierte mit ihm? Wer war dieser Fremde? Er öffnete den Mund, wollte um Hilfe rufen, aber aus seiner Kehle kam kein Laut. Das Atmen fiel ihm schwer. Aus den Augenwinkeln sah er die Schuhe des Fremden. Er stand jetzt unmittelbar vor ihm, schien auf ihn herabzusehen. Dann wurde Edward gepackt und durch den Schnee geschleift. Auch jetzt spürte er weder Schmerzen noch die Kälte. Was ging da vor sich?

Der Fremde setzte Edward an der seitlichen Mauer des Vorbaus ab, der den Treppenabgang hinunter in die Weinstube verbarg. Keuchend trat er einen Schritt zurück. Er starrte Edward mit durchdringendem Blick an. Wer war der Fremde?

»Du hast wirklich keine Ahnung, was?«

Ein leises, spöttisches Lachen drang an seine Ohren. Die Gestalt zog einen blanken Gegenstand aus ihrem Mantel hervor. Edward bekam Panik, wollte davonkriechen, doch er konnte sich keinen einzigen verdammten Zentimeter bewegen. Er sah, wie die Hand vorschnellte. Dann spritzte Blut – sein Blut. Es schoss nur so aus seinem Hals. Edward spürte, wie das Blut in seinen Kragen drang, alles durchtränkte. Mit ungläubigem Blick versuchte er, seinen Angreifer zu fixieren. Doch sein Blick trübte sich ein. Sein Verstand bäumte sich noch einmal auf, und kurz, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor, wurde die Ahnung zur schrecklichen Gewissheit. Sein Kopf kippte auf die Brust. Edward Mayrhöfer war tot.

Als das Telefon klingelte, hatte sich Kommissar Heinrich Puschkat gerade zu Bett begeben. Wie stolz war er gewesen, als der Polizeipräsident ihm im vergangenen Jahr mit blumigen Worten den schwarzen Telefonapparat, wie ein Ehrenabzeichen, überreicht hatte. Allerdings hatte es nicht lange gedauert, bis er gemerkt hatte, dass der Apparat mehr Fluch als Segen war. Als es klingelte, war Puschkat sofort klar, dass etwas Ernstes vorgefallen sein musste. Leise fluchend schlug er die Bettdecke zurück.

Neben ihm murmelte seine Frau, ohne die Augen zu öffnen: »Musst du noch einmal los?«

»Ich fürchte es«, antwortete Puschkat und ging in die Diele, wo das Telefon stand. Er nahm ab. »Was gibt’s?«

»’n Abend, Heinrich. Wir haben einen Toten.«

Es war Lippert. Er hatte Bereitschaft. Er war gut fünf Jahre jünger als Puschkat, war aber fast genauso lang bei der Königsberger Polizei wie er selbst.

»Einen Toten? Wo?« Puschkat kämmte sich bereits die Haare. Die Bürger hatten ein Recht darauf, dass ihre Beamten auch in der jungen Republik an alten preußischen Tugenden festhielten und zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Öffentlichkeit ordentlich auftraten.

»Am Eingang zum Blutgericht. Ein Mann, erstochen. Ziemlich grausige Angelegenheit. Soll ich dir einen Wagen schicken?«

»Nicht nötig. Ist ja nur ein Katzensprung. Wir treffen uns am Tatort.«

»Sicher? Ich weiß ja nicht, wann du zum letzten Mal aus dem Fenster gesehen hast, aber es stiemt ziemlich draußen.«

»Kümmer dich lieber darum, dass der Doktor gleich rauskommt.«

Puschkat warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Er sah einen Mann mit vollem Haar und einem stattlichen Schnurrbart. Dafür, dass er bereits siebenundfünfzig war, konnte Puschkat sich nicht beklagen, was sein Äußeres anging, und auch sonst hatte er noch längst nicht das Gefühl, zum alten Eisen zu gehören. Er wandte sich ab und kleidete sich rasch an.

Keine fünfzehn Minuten später lief er die Treppe hinunter und zog mit Schwung die schwere Haustür auf. Sofort peitschte ihm der Schnee ins Gesicht. Puschkat zog den Hut in die Stirn und wickelte sich den Schal um Mund und Nase. Dann machte er sich auf den Weg.

Heinrich Puschkat wohnte mit seiner Frau und den beiden fast erwachsenen Töchtern in einem vornehmen Patrizierhaus auf dem Kneiphof, das sich heute vier Parteien auf zwei Etagen teilten. Der Kneiphof war das Herz des alten Königsbergs, eine vom Pregel umschlossene Insel. Puschkat konnte von seinem Wohnzimmerfenster auf den mächtigen Dom und die Gebäude der alten Universität sehen. Für die Schönheiten seiner Heimatstadt hatte er allerdings zu dieser Stunde keinen Blick. Der eisige Schneefall verfolgte den Kommissar über die Schmiedebrücke bis zum Schloss. Erst dort im Torbogen gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause. Als er den Schlosshof betreten wollte, stellte sich ihm ein Schupo in den Weg. Puschkat zog den Schal von Nase und Mund.

»Oh, Herr Kommissar, Verzeihung, ich hab Sie nicht erkannt.«

»Schon gut, Wachtmeister Jendrossek. Sorgen Sie auch weiterhin dafür, dass keiner den Hof betritt, verstanden?«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

Der Wachtmeister salutierte, und Puschkat ging weiter. Er hatte kaum den niedrigen Anbau erreicht, als er erneut stehen blieb. Der Tote war selbst in dem trüben Schein der wenigen Hoflaternen nicht zu übersehen. Blutüberströmt saß er an die Hauswand gelehnt im Schnee. Auch auf Schultern und Kopf hatte sich Schnee angesammelt.

Puschkat fuhr sich mit der Hand über seinen Schnauzer. Ihm war klar, die Sache würde für Scherereien sorgen. In gut vier Wochen wollte die Stadt den zweihundertsten Geburtstag ihres größten Sohnes begehen. Zu Ehren des Philosophen Immanuel Kant würde das gesamte Reich nach Königsberg blicken. Hochrangige Politiker wurden zu den mehrtägigen Feierlichkeiten erwartet. Die Zeitungen würden landesweit darüber berichten. Und jetzt so etwas.

Ein Räuspern riss Puschkat aus seinen Gedanken. Es war Kriminalinspektor Anton Lippert.

»Gut, dass du da bist.« Lippert warf einen Blick auf den Toten. »Einer von den Turmbläsern hat die Leiche kurz vor Mitternacht entdeckt.«

»Wo ist der Mann?«

Der Inspektor nickte mit dem Kopf zum Eingang des Blutgerichts. »Sie sind unten, zusammen mit den letzten Gästen, und genehmigen sich erst mal einen Kurzen. Das Nachtkonzert fällt aufgrund der besonderen Umstände heute Abend aus.«

»Wieso sie?«

Der Kriminalinspektor holte seinen Notizblock hervor. »Sie sind zu dritt. Derjenige, der den Toten entdeckt hat, heißt Berthold Morawetz. Achtundzwanzig Jahre, wohnhaft Henschestraße 48. Ist beim Landestheater im Orchester angestellt. Der Täter ist offenbar noch an ihm vorbeigelaufen. Kurz nachdem er die Leiche gefunden hat, sind seine Kollegen Börne und Dellwo aufgetaucht. Die haben aber nichts gesehen.«

»Warum hat er sich bei dem Wetter im Hof aufgehalten?«, fragte Puschkat.

»Er hat keinen Schlüssel für die Tür zum Turm. Den hat dieser Dellwo. Morawetz war zu früh hier und hat im Torbogen noch eine geraucht.«

»Wo bleibt Dr. Caillé?«

»Ist schon bei der Arbeit.« Lippert blickte sich suchend um. »Er musste noch mal zu seinem Auto, das irgendwo am Mühlenberg steht. Kommt sicher gleich wieder.«

Plötzlich war ein lauter Schrei zu vernehmen, gefolgt von einem leisen Wimmern. Lippert und Puschkat fuhren herum. Sie sahen den Kriminalassistenten Erwin Maag, der beim Torbogen im Schnee ausgerutscht war. Der junge Mann kam unbeholfen wieder auf die Beine und klopfte sich hektisch den Schnee von Hose und Mantel.

»Entschuldigung!«, rief er, als er eilig näher kam. »Ich konnte nicht früher kommen … Meine Vermieterin …«

»Mensch Junge«, brummte Lippert kopfschüttelnd, »du machst uns ja lächerlich vor den Schupos. Aus dir wird nie ein ordentlicher Kriminaler.«

Maags Gesicht lief rot an. »Verzeihung. Aber es ist glatt, und ich bin extra schnell gelaufen, damit …«

Puschkat schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. Er wandte sich an Lippert. »Wissen wir schon, wie der Tote in den Schlosshof gekommen ist?«

»Na, wie schon?« Lippert zuckte mit den Schultern. »Er wird im Blutgericht gewesen sein.«

Das war naheliegend. Puschkat winkte Maag zu sich heran. »Geh runter in die Gaststube und nimm die Personalien der noch anwesenden Gäste auf. Dann bring die Leute hier herauf. Vielleicht können sie den Toten identifizieren. Aber nicht alle auf einmal.«

»Jawohl, Herr Kommissar.« Der Kriminalassistent machte sich diensteifrig auf den Weg.

Puschkat hielt derweil Ausschau nach dem Gerichtsmediziner, der in diesem Moment den Schlosshof betrat. Dr. Caillé, ein kleiner Herr Anfang sechzig mit markantem weißem Spitzbart und Monokel, wirkte stets wie ein Terrier, der gerade Witterung aufgenommen hatte.

»Guten Abend, Herr Doktor.« Puschkat tippte an den Hut.

»’n Abend, die Herren. Bei diesem Wetter würde man keinen Hund vor die Tür jagen, was?« Caillé deutete auf den Toten. »Also in aller Kürze: männlich, ungefähr Mitte dreißig, gepflegte Erscheinung. Todeszeitpunkt zwischen elf und Mitternacht. Die Leichenstarre ist noch nicht eingetreten. Todesursache: Fremdeinwirkung und damit verbunden der hohe Blutverlust.«

»Wie wurde der Mann getötet?«

»Durch einen Messerstich in die Halsschlagader. Er muss seinen Mörder beim Torbogen getroffen haben. Danach hat der Täter sein Opfer hierher in die Ecke geschleift, wie Sie an den Spuren im Schnee erkennen können. Die tödliche Stichverletzung hat er ihm dann hier zugefügt.«

»Aber er muss sich doch gewehrt haben – ein großer Mann im besten Alter. Der lässt sich doch nicht so ohne Weiteres über den Hof schleifen. Oder hat man ihm vielleicht von hinten eins übergezogen?«

Caillé seufzte. Er nahm sein Monokel ab und polierte das Glas mit seinem Einstecktuch. »Es gibt auch andere Möglichkeiten, jemanden zu betäuben, als ihm mit großer Wucht auf den Schädel zu hauen, Puschkat.«

»Und welche von diesen zahlreichen Möglichkeiten ziehen Sie in Betracht, Herr Doktor?« Puschkat zwang sich zur Geduld.

»Wahrscheinlich hat man ihn narkotisiert.«

»Betäubt? Womit?«

Erneutes Seufzen. Caillé warf Puschkat einen Blick zu, mit dem er sonst begriffsstutzige Studenten bedachte. »Ich bin noch keine halbe Stunde am Tatort.«

»Natürlich.« Puschkat wandte sich an Lippert. »Kannst du schon was sagen? War der Täter allein oder hatte er Helfer?«

Lippert sah sich um. »Nach dem ganzen Getrampel kann man kaum noch Spuren erkennen. Nahe der Leiche hat jedenfalls nur eine Person gestanden. So viel ist sicher.«

Puschkat sah nachdenklich vor sich hin. »Wenn er narkotisiert wurde, dann wohl mit einem Tuch, das vorher mit einem Narkotikum getränkt wurde. Oder man hat ihm ein entsprechendes Mittel mit einer Spritze verabreicht. In beiden Fällen muss der Täter seinem Opfer sehr nahe kommen. Vielleicht haben Opfer und Täter vorher beieinandergestanden und sich unterhalten. Vielleicht kannten sie sich sogar.«

Lippert nickte. »Möglich wär es.«

Jetzt erst sah Puschkat die sonderbaren Zeichen an der Wand über dem Toten. »Glaubst du, das Geschmiere stammt von unserem Mörder?«

Caillé kam Lipperts Antwort zuvor. »Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Wer immer der Schmierer war, er hat dafür keine handelsübliche Malerfarbe verwendet. Er hat diese Zeichen praktischerweise mit dem Blut des Opfers an die Wand geschrieben.«

Puschkat lief es kalt über den Rücken. Das klang gar nicht gut. Natürlich hatte er schon mit Morden zu tun gehabt, aber das waren Fälle gewesen, bei denen klassische Motive wie Eifersucht, Habgier oder Trunkenheit eine Rolle gespielt hatten, und der Täter war für gewöhnlich schnell ermittelt. Doch jemand, der sein Opfer betäubte, dann ausbluten ließ und mit seinem Blut rätselhafte Zeichen an die Wand schmierte, der war sicherlich ein geborener Psychopath, dem man mit den üblichen Befragungen nie auf die Schliche kommen würde.

Puschkat betrachtete die Zeichen genauer. Er stutzte. »Könnte das hebräische Schrift sein?«

Lippert kniff die Augen zusammen. »Ist nicht auszuschließen. Ja, vielleicht.«

»Und das ganze Blut? Das sieht ja fast so aus, als hätte man den Mann geschächtet.«

»Sie denken an einen Ritualmord?«, fragte eine muntere Stimme hinter ihnen.

Puschkat wandte sich um. Vor ihm stand Hagen Söderberg. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die Presse hatte bereits Wind von der Sache bekommen. Er hielt nach dem Wachtmeister Ausschau. Er sollte doch niemanden auf den Schlosshof lassen.

»Guten Abend, Herr Söderberg. Darf man fragen, wie Sie von der Sache erfahren haben?«

»Die Königsberger Allgemeine zeichnet sich durch gewissenhafte Recherche aus. Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich meine Quellen nicht nennen kann«, sagte der Journalist mit ernster Miene.

Söderberg war ein junger Schnösel in Puschkats Augen, der sich viel zu wichtig nahm. Der Kommissar grunzte verärgert. Da hatte im Präsidium wieder mal jemand nicht an sich halten können. Er musste versuchen, Söderberg so schnell wie möglich loszuwerden.

»Ritualmord!« Puschkat schüttelte den Kopf. »Was reden Sie da für einen Unsinn?«

Der blonde Reporter überblickte mit wachsamen Augen den Tatort. Gleichzeitig schrieb er eifrig auf seinen Notizblock, was Puschkat nicht gerade beruhigte. »Nun ja, hebräische Schriftzeichen an der Wand, das Opfer geschächtet. Wenn das nicht wie ein jüdischer Ritualmord aussieht …«

»Söderberg, bitte! Sie schreiben seriöse Artikel für die KAZ und keine Räuberpistolen für das Tageblatt!«

»Ich werde denen doch nicht eine solche Schlagzeile überlassen, Herr Kommissar. Außerdem haben wir Pressefreiheit. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Das Kaiserreich mit seinen Repressalien ist gottlob passé.«

»Und das gibt Ihnen das Recht zu abstrusen Spekulationen?« Puschkat deutete auf die Leiche im Schnee. »Das ist doch ein gefundenes Fressen für die völkische Bagage.«

Söderberg zuckte mit den Schultern. »Also gut. Aber dann bekomme ich von Ihnen Informationen aus erster Hand. Das Ganze muss sich schließlich auch für mich lohnen.« Söderberg grinste breit.

Lippert ließ ein missmutiges Brummen hören und trat auf den Reporter zu. Ohne zu zögern, packte er ihn grob am Kragen und machte Anstalten, ihn vom Schlosshof zu führen. Söderberg protestierte lautstark, sah sich Hilfe suchend zum Kommissar um.

»Schon gut, Anton«, sagte Puschkat. »Du kannst ihn loslassen. Wir haben eine Vereinbarung.«

Lippert war die Enttäuschung anzusehen. Nur widerwillig ließ er Söderberg los.

»Also, Herr Kommissar«, sagte der Reporter, »was können Sie mir erzählen?«

Puschkat holte tief Luft und beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. In knappen Worten schilderte er die bisherigen Erkenntnisse, die Vermutung zum Tathergang und die Umstände, die zur Entdeckung des Verbrechens geführt hatten.

Söderberg pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wissen Sie schon, um wen es sich bei dem Toten handelt?«

»Dazu ist es noch zu früh. Aber wenn Sie den Namen bald erfahren wollen, dann sollten Sie jetzt verschwinden und uns unsere Arbeit machen lassen.«

»Wie Sie meinen, Herr Kommissar. Dann wünsche ich viel Erfolg. Und auf bald«, sagte Söderberg. Er tippte sich an den Hut und ging davon.

Puschkat wandte sich an Lippert. »Was hältst du davon?«

»Von was?«

»Von dieser Idee mit dem Ritualmord?«

Lippert sah ihn ratlos an. »Was denn für ein Ritualmord?«

Caillé richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter sechzig auf und rückte sein Monokel zurecht. »Zu einem jüdischen Ritualmord gehören nach althergebrachter Sitte mindestens geschändete Hostien und vergiftete Brunnen. Beides können wir hier nicht feststellen«, antwortete der Mediziner spitz.

Puschkat ging auf Caillés spöttische Bemerkung nicht ein. »Wurden Papiere bei dem Mann sichergestellt, aus denen seine Identität hervorgeht?«, fragte er an Lippert gewandt.

»Nein. Ein Portemonnaie, ein Schlüsselbund, leider keine Visitenkarten. Vielleicht hat Maag ja etwas herausbekommen.«

Caillé hatte unterdessen seine Tasche zugeklappt und stapfte Richtung Tor. »Ich rufe an, wenn ich mit der Autopsie so weit bin. Gute Nacht, die Herren.«

Mittlerweile hatte sich der Schneefall noch verstärkt. Die Männer der Schutzpolizei stampften mit den Füßen auf, um die Kälte zu vertreiben. Zwei Mitarbeiter der Beerdigungsanstalt kamen mit einer Trage zum Tatort, luden die Leiche auf und trugen sie zu einem bereitstehenden Sarg. Die Polizisten begannen mit den Aufräumarbeiten.

Wachtmeister Jendrossek kam mit einem dampfenden Eimer voll heißem Wasser aus dem Gewölbekeller herauf.

»Was wollen Sie denn damit?«, fragte Puschkat alarmiert.

»Na, die Schmiererei beseitigen.«

»Das lassen Sie schön bleiben, Jendrossek! Das sind wichtige Spuren, die müssen erst fotografiert werden.« Puschkat klopfte dem ratlosen Wachtmeister auf die Schulter und machte sich mit Lippert auf den Weg in die Weinstube.

Als sie die ausgetretenen Stufen des Blutgerichts hinabstiegen, sah Puschkat auf seine Taschenuhr. Kurz nach ein Uhr. In dem Gewölbekeller saßen nur noch vereinzelt Gäste bei flackerndem Kerzenlicht an den Tischen. In der »Marterkammer« fanden sie Maag, der bei einer Herrenrunde um einen großen Tisch in der Mitte des Raums saß. Zwei abgekämpfte Kellner versorgten die letzten, unfreiwillig noch verbliebenen Gäste mit Bier und Korn.

Der Kriminalinspektor wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn. »Unglaublich, diese Hitze hier. Kommt wahrscheinlich von den vielen Kerzen.« Er wandte sich an Maag. »Wo sind die Turmbläser?«

Der Kriminalassistent wies stumm mit der Hand zu einem weiteren Raum.

Lippert nickte und ging voraus. In dem angrenzenden Raum saßen die drei Musiker mit aschfahlen Gesichtern. Jeder von ihnen hatte zwei leere Korngläser vor sich stehen. Puschkat setzte sich zu den Männern an den Tisch.

»Kommissar Puschkat von der Königsberger Kriminalpolizei, ’n Abend, die Herren.« Er sah die Männer der Reihe nach an. »Wer von Ihnen hat den Toten gefunden?«

Der Mann in der Mitte blickte mit glasigem Blick auf. »Das war ich, Herr Kommissar.«

»Berthold Morawetz«, assistierte Lippert, der hinter den Kommissar getreten war.

»Was hatten Sie um diese Zeit im Schlosshof zu suchen?« Puschkat hatte das Gefühl, die Zeugen in ihrem Alkoholnebel ein wenig aufrütteln zu müssen.

»Wir sind die Turmbläser, Herr Kommissar!«, rief Morawetz empört. »Wir stehen jeden Abend bei Wind und Wetter oben auf der Galerie im Schlossturm und spielen ›Nun ruhen alle Wälder‹.«

Sein Kollege zur Rechten meldete sich zu Wort. »Und am Morgen spielen wir ›Ach bleib mit deiner Gnade‹. Und wir nehmen unsere Aufgabe sehr ernst. Wir sind schließlich Berufsmusiker.«

»Ja, ja, schon gut. Ich kenne und schätze Ihr abendliches Ständchen. Wohne schließlich nicht weit von hier«, sagte Puschkat versöhnlicher. »Schildern Sie mir doch bitte möglichst genau, was Sie gesehen haben, Herr Morawetz.«

In diesem Moment näherte sich ein Kellner und stellte fünf Korngläser, die mit je einer dicken Scheibe Leberwurst und einem Klecks Mostrich gedeckelt waren, ab.

»Geht aufs Haus. Zum Wohl, die Herren!«, sagte der Kellner und verschwand.

Puschkat nahm die Gläser und schob sie aus der Reichweite der Zeugen.

»Erst die Aussage, dann gibt’s den Pillkaller.« Korn mit Leberwurst war um diese Zeit und unter diesen widrigen Umständen wenigstens eine kleine Entschädigung.

»Was soll ich sagen?« Morawetz zuckte mit den Schultern. »Ich war zehn Minuten vor der Zeit am Schloss. Das Schneetreiben hat mir Beine gemacht. Im Torbogen hab ich mir dann noch eine Zigarette gegönnt. Konnte ja schließlich noch nicht rein. Dellwo hat den Schlüssel.«

»Ich bin der dienstälteste Bläser«, warf sein Kollege zur Linken ein.

»Ja, ja, schon gut, Herr Dellwo. Weiter im Text!« Puschkat nickte ungeduldig.

»Nun, als ich da stand, tauchte plötzlich diese Gestalt auf. Ich dachte erst, es ist jemand aus dem Blutgericht, der sich auf den Heimweg macht. Der Mann ist dann abrupt stehen geblieben, als er mich gesehen hat. Ich hab noch gegrüßt, weil ich dachte, er hat sich erschrocken. Ich tu doch niemandem was, Herr Kommissar.«

Puschkat forderte Morawetz mit einer ungeduldigen Handbewegung auf, zum Wesentlichen zu kommen.

»Doch plötzlich stürzt er auf mich zu, schlägt meinen Arm beiseite, stürmt durch den Torbogen und verschwindet.«

»Haben Sie gesehen, in welche Richtung der Mann gelaufen ist?«, hakte Lippert nach.

Morawetz zog einen Flunsch. »Wie denn? Bin noch bis an die Ecke vom Schlossplatz. Doch da war von ihm schon nichts mehr zu sehen. Da hab ich dann erst gemerkt, dass mein Arm voller Blut war. Das war vielleicht ein Schreck. Ich hab natürlich gedacht, dass der Kerl verletzt war und dass das Blut von ihm stammt.«

»Aber dann haben Sie die Leiche im Schlosshof entdeckt«, half Puschkat dem Turmbläser auf die Sprünge.

Ein mattes Nicken.

»Haben Sie irgendetwas angefasst?«, fragte Lippert.

Morawetz schüttelte stumm den Kopf. Puschkat nickte. Dann gab er die Schnapsgläser frei und stand auf.

Der Kopf des Kriminalassistenten lugte um die Ecke. Er hob die Hand wie ein Pennäler. Puschkat rollte die Augen und trat zu dem jungen Kollegen.

»Also wirklich, Erwin. Wir sind hier nicht in der Schule. Sag einfach, was es gibt.«

Maag nickte in Richtung des Tisches, an dem er zuletzt gesessen hatte. »Die Herren dort kennen den Toten.«

Puschkat brummte etwas Unverständliches und ging an Maag vorbei zu dem Tisch.

»Guten Abend, meine Herren. Kommissar Puschkat von der Kriminalpolizei. Ich höre, Sie haben den Toten gekannt?«, fragte er, während er sich zu den drei Männern an den Tisch setzte.

»Wir sind seine Freunde«, antwortete ein gut aussehender dunkelhaariger Mann Anfang dreißig mit belegter Stimme. »Ich … ich verstehe das nicht … Wie ist das denn möglich …?« Er brach schluchzend ab, schüttelte den Kopf.

Puschkat zog Notizbuch und Bleistift hervor. Er leckte an der Spitze. Zwar hatte Alwine ihm schon vor drei Jahren einen Füllfederhalter »Regina« zu Weihnachten geschenkt, doch der war besonderen Gelegenheiten vorbehalten und, wie Puschkat fand, zu schade, um ihn im täglichen Gebrauch zu verschleißen. Schließlich war auch auf Faber-Castell Verlass.

»Der Tote heißt also Edward. Und wie weiter?«

Der Mann mit dem runden Mondgesicht meldete sich zu Wort. »Mayrhöfer. Edward Mayrhöfer. Er ist der Sohn vom alten Fritz. Den werden Sie wohl kennen. Ich bin übrigens Albrecht Gusenius, und das sind meine Freunde Ludwig von Brekdorf und Hermann von Schalkau.«

Gusenius hatte pomadisiertes, leicht schütteres Haar und ein Monokel, das bei einem Mann in seinem Alter deplatziert wirkte. Puschkat machte hinter dem Namen Mayrhöfer ein dickes Ausrufezeichen. Das war gar nicht gut. Die Mayrhöfers waren eine seit mehreren Generationen in Königsberg ansässige Reederei-Dynastie. Die brutale Ermordung des Juniorchefs würde in der Stadt ein Erdbeben auslösen.

»Haben Sie den ganzen Abend zusammengesessen?«

»Ja, und noch zwei weitere ehemalige Kommilitonen, die aber schon gegen elf gegangen sind – Gerhard Kanzin und Gunther Bock«, erwiderte von Brekdorf.

»Sie kommen regelmäßig hier ins Blutgericht?«

»Alle vier Wochen am Samstag. Wir haben vor Jahren gemeinsam an der Albertina studiert.«

Puschkat nickte und notierte sich die Namen und Adressen.

»Hat es Streit gegeben?«

Von Brekdorf zog die Augenbrauen hoch. »Streit? Zwischen uns? Wieso fragen Sie das? Sie glauben, es gab einen Streit, und dann ist einer von uns hoch, um ihn im Hof abzustechen wie ein Schwein?« Er war laut geworden.

Puschkat ging nicht auf die Frage ein, sondern wandte sich an den dritten Mann in der Runde – blond, hochgewachsen, ein nordischer Recke, wie er im Buche stand. »Was ist mit Ihnen? Herr …?«

»Von Schalkau. Hermann von Schalkau. Was wollen Sie von mir hören? Ich sehe Edward jeweils bei unseren Treffen, sonst haben wir kaum Kontakt.«

»Na ja, da werden Sie vielleicht wissen, ob Edward Mayrhöfer Feinde hatte?«

»Feinde?« Von Schalkau sah den Kommissar mit großen Augen an und warf dann einen Hilfe suchenden Blick zu von Brekdorf.

»Edward war Geschäftsmann. Wie wir alle. Jeder von uns ist in seinem Metier erfolgreich.« Ludwig von Brekdorf streckte unwillkürlich die Brust raus. »Hermanns Eltern betreiben ein Gestüt auf Gut Lapsau. Ich selbst werde bald meinem Vater an die Spitze des Bankhauses von Brekdorf folgen, und auch wenn der gute Gusenius hier an meiner Seite trotz Studium kein Ökonom geworden ist, so ist er doch immerhin Assessor am Landgericht.«

Das Mondgesicht lächelte geschmeichelt, während von Schalkau in Gedanken versunken vor sich hin starrte. Kein Wunder, schließlich hatte er soeben einen langjährigen Freund durch ein grausames Verbrechen verloren.

»Im Geschäftsleben macht man sich nicht nur Freunde, Herr Kommissar. Da geht es mitunter ziemlich rau zu. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das als Beamter nachvollziehen können«, sagte von Brekdorf.

»Das mit dem Nachvollziehen lassen Sie mal meine Sorge sein, Herr von Brekdorf«, sagte Puschkat, der Unmut in sich aufsteigen spürte. »Was ist mit den beiden Herren, die vor Mayrhöfer gegangen sind?« Er sah die drei Männer an.

»Gerhard Kanzin«, erwiderte Gusenius. »Der arbeitet als Prokurist für Edward … das heißt, er hat … also Sie verstehen. Und Gunther Bock. Er ist Juniorchef in der Ponarther Brauerei. Macht das beste Bier der Stadt.«

Puschkat stemmte die Hände auf den Tisch und erhob sich. »Gut, das war’s fürs Erste, meine Herren. Wir werden uns in den nächsten Tagen noch einmal bei Ihnen melden.«

»Wer von euch hat den Wagen?«, fragte Puschkat, als sie wenig später auf dem Schlossplatz standen. Die letzten Zeugen waren gegangen, und im Weinkeller konnten die Kellner endlich die Lichter löschen.

»Ich, wieso?«, fragte Lippert.

»Dann wirst du mich begleiten. Der Tote heißt Edward Mayrhöfer. Seine Eltern leben in Maraunenhof am Oberteichufer.«

»Doch nicht etwa der Mayrhöfer? Ist dir klar, was das bedeutet?« Lippert stöhnte.

Puschkats Atem dampfte in der eiskalten Luft. Es schneite noch immer. Er zog den Schal fester um den Hals. »Ich hätte auch lieber ein anderes Opfer, wenn ich aussuchen dürfte«, erwiderte er sarkastisch. »Und das so kurz vor der großen Kant-Feier! Schlimmer geht es wirklich nicht. Je eher wir den Fall geklärt haben, umso besser.«

Maag meldete sich zu Wort. »Ich habe gelesen, dass die ersten vierundzwanzig Stunden in solchen Fällen die entscheidenden sind. Danach soll es sehr schwer werden mit der Aufklärung.«

Lippert warf seinem jungen Kollegen einen vernichtenden Blick zu.

Puschkat seufzte. »Die vierundzwanzig Stunden werden aber erst ab Sonnenaufgang gerechnet, Erwin, also mach, dass du ins Bett kommst. Wir haben morgen viel vor.«

Berlin, 19. März 1924 

Am Kurfürstendamm leuchteten die Neonreklamen, als hätte es den Großen Krieg mit seinen schlimmen Folgen nie gegeben. Die prächtigste Amüsiermeile der größten Metropole des Kontinents zog Menschen aus der ganzen Welt an. Nirgendwo gab es mehr Kabaretts als in Berlin, nirgendwo waren die Revuen freizügiger als hier. Zu Zehntausenden streiften die Vergnügungssüchtigen über den Boulevard. Politisches Kabarett und Chansons, Kino, Swing Orchester und Nacktrevues – es war für jeden Geschmack etwas dabei.

Doch hierher kamen die Menschen nicht nur, um sich zu amüsieren. Auf den Straßen Berlins trafen Gegensätze aufeinander – Arme und Reiche, kleine Angestellte und kriegsversehrte Bettler, Eckensteher, die auf einen kleinen Auftrag warteten, und Ganoven, die ihren ganz eigenen Geschäften nachgingen. Der gut aussehende Mann Mitte dreißig, der im maßgeschneiderten Anzug vor einer Loeser-&-Wolff-Tabakhandlung stand und sich eine Batschari anzündete, fiel in diesem quirligen Treiben gar nicht auf. Bei dem Mann handelte es sich um Kriminalkommissar Aaron Singer, und seine Aufmerksamkeit galt nicht nur seiner Zigarette, sondern vor allem der Kakadu-Bar auf der gegenüberliegenden Straßenseite, Ecke Joachimsthaler Straße, vor deren Eingang um diese Zeit reges Kommen und Gehen herrschte. Gerade als Singer auf seine Armbanduhr schauen wollte, trat eine hünenhafte Gestalt neben ihn.

»Hab ich etwas verpasst?«, fragte Kriminalassistent Franz Dollinger.

Singer warf Dollinger einen kurzen Blick zu und nickte dann in Richtung der Kakadu-Bar.

»Beide angekommen. Der Baske in Begleitung einer jungen Frau, vor knapp fünf Minuten.«

Dollinger hatte sich ebenfalls eine Zigarette angesteckt und blickte hinüber zu dem Nachtklub.

»Wie gehen wir’s an?«

Singer schätzte Dollingers unaufgeregte Art. Aaron Singer gehörte zu Ernst Gennats Mordbereitschaftsdienst. Für den Fünfunddreißigjährigen, der einer großbürgerlichen jüdischen Familie entstammte, war dies ein beachtlicher Erfolg. Auch wenn die Zeiten der mehr oder weniger offenen Diskriminierung jüdischer Bürger im Staatsdienst mit der Weimarer Verfassung nun offiziell vorbei waren, hatte es Singer in seiner Zeit als Kriminalassistent unmittelbar nach dem Krieg nicht leicht gehabt. Angefangen hatte er in den Abteilungen Betrug und Sitte, wo er sich schon bald für anspruchsvollere Aufgaben empfohlen hatte. Eine Zeit lang hatte er unter der Schikane eines antisemitisch eingestellten Vorgesetzten gelitten, doch dann war Kriminalhauptkommissar Ernst Gennat auf den ambitionierten Kriminalinspektor aufmerksam geworden. Er hatte Singer in die Mordinspektion geholt und ihn im letzten Jahr, für viele überraschend, zum Kriminalkommissar befördert. Seitdem arbeitete Singer mit Dollinger zusammen, der ihm direkt unterstellt war. Die beiden Männer vertrauten sich blind und hatten schon einige Erfolge verbuchen können.

Den heutigen Einsatz hatte Singer mit Dollingers Hilfe akribisch vorbereitet. Im Zuge einer Mordermittlung war Singer auf den »Basken« gestoßen. Der Mann stand im Verdacht, die Kommunisten mit Waffen zu versorgen. Im Zuge der Märzkämpfe in Mitteldeutschland und des gescheiterten Aufstands in Hamburg im letzten Jahr war die KPD kurzfristig verboten worden. Erst Anfang des Monats hatte Reichspräsident Ebert das Verbot wieder kassiert, und obwohl sich die Kommunisten nunmehr stark darum bemühten, einen verfassungstreuen Eindruck zu erwecken, lag der Verdacht nahe, dass man insgeheim am Aufbau einer paramilitärischen Organisation arbeitete. Das Geld für deren Bewaffnung kam aus der Sowjetunion. Im Kreml träumten die neuen Machthaber immer noch von einer deutschen Revolution nach sowjetischem Vorbild. Vor wenigen Tagen hatte Singer einen Tipp bekommen, dass die Kontaktaufnahme zur Abwicklung des Waffengeschäfts am heutigen Abend in der Kakadu-Bar stattfinden sollte. Er hatte ein Bild des Mannes gesehen, der ihnen nur unter dem Spitznamen »der Baske« bekannt war. Nun galt es, an die Hintermänner heranzukommen. Singer zog noch einmal an der Batschari und schnippte die Kippe auf die Straße.

»Wie sieht es am Hinterausgang aus?«

»Schaller und Orlinski haben Posten bezogen.«

Singer nickte zufrieden. »Na, dann gehen wir jetzt da rein und nehmen die Genossen hoch.«

Gemeinsam überquerten sie die Straße und betraten das Lokal. Lärm und Hitze schlugen ihnen entgegen. Der Kakadu bestand aus einer Bar, einem angrenzenden vegetarischen Restaurant und einem Tanzsaal mit Bühne. Sein Publikum zum Großteil aus gut situierten Berlinern sowie einigen Künstlern und ausländischen Besuchern. Unter das solvente Volk hatten sich auch mehrere halbseidene Damen gemischt. Herausgeputzt im Stil der amerikanischen Flapper – kurze Röcke, kurzes Haar –, hielten sie Ausschau nach Kunden. Der Clou des Ladens aber war das Interieur: Über den Tischen hingen Vogelkäfige, in denen jeweils ein Kakadu hockte.

Singer sah Dollingers verblüffte Miene, während sie an der Garderobe ihre Mäntel abgaben.

»Sie waren noch nie hier, Dollinger?«

»Ich glaub’s ja nich. Sind die Vögel da etwa echt?«

»Aber ja«, sagte Singer. »Wenn Sie zahlen wollen, schlagen Sie einfach mit Ihrem Messer an Ihr Glas, dann krächzt der Vogel: ›Die Rechnung, die Rechnung‹.«

»So was gibt’s auch nur in Berlin!« Dollinger schüttelte den Kopf.

Singer zuckte mit den Schultern. »Mein Fall ist es nicht. Wenn der Vogel da den Flattermann macht, dann haben Sie seine Federn im Essen, und manchmal nicht nur das.«

Der Kriminalassistent verzog leicht angewidert das Gesicht. »Da ist man ja direkt froh, dass wir aus Gründen der Tarnung nicht auch noch was essen müssen.«

»Da kann ich Sie beruhigen. Wir werden den Stier sofort bei den Hörnern packen.«

Singer nickte in Richtung Tanzsaal. Schon von Weitem sahen sie den Basken. Er saß an einem Tisch am Rand der Tanzfläche, ins Gespräch vertieft mit einem Pärchen.

»Wir nehmen die drei mit ins Präsidium. Genug Handschellen dabei?«

»Hab extra eine zweite Acht eingepackt. Als wenn ich’s geahnt hätte«, grinste Dollinger.

»Guter Mann«, sagte Singer schmunzelnd.

Die beiden Kriminalbeamten ließen sich von einem Kellner in den Saal führen, bevor sie zu dessen Verblüffung zielstrebig auf den Tisch des Basken zusteuerten. Die Frau, die neben ihm saß, war gekleidet wie ein Mann – Hosenanzug und Krawatte. Ihre kurzen Haare glänzten pomadisiert. Sie hörte dem Basken konzentriert zu und wandte sich dann dem anderen Mann zu. Sie fungierte offensichtlich als Dolmetscherin. Auf ein Zeichen von Singer hin scherte Dollinger aus, um sich dem Tisch von hinten zu nähern. Im selben Moment sah Singer, wie die Augen der Frau aufblitzten. Sie beugte sich zu ihrem Begleiter vor.

Auch der Baske hatte die Gefahr gewittert. Er sprang auf und stürmte an Dollinger vorbei Richtung Restaurant. Der nahm sofort die Verfolgung auf. Singer sah sich um. Einige Gäste waren bereits auf sie aufmerksam geworden und beobachteten die Szene mit unverhohlener Neugier. Die Frau und ihr Begleiter saßen noch immer unentschlossen an ihrem Tisch. Als Singer sah, wie der Mann in die Innentasche seines Jacketts griff, setzte er zu einem Hechtsprung an. Er landete der Länge nach auf dem Tisch und bekam den Mann zu fassen. Gemeinsam stürzten sie zwischen zersplitternden Gläsern zu Boden. Tatsächlich hielt der Mann jetzt einen kleinen Revolver in der Hand, doch Singer hatte bereits sein Handgelenk umfasst und drehte dem Mann den Arm auf den Rücken. Auf seinem Gegner kniend, legte er ihm Handschellen an und richtete sich keuchend auf. Die Frau war in dem allgemeinen Tumult verschwunden.