Die Toten von Marburg - Monika Loerchner - E-Book
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Die Toten von Marburg E-Book

Monika Loerchner

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  • Herausgeber: Alea Libris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Der Tod geht um in Annaburg! Ausgerechnet in der Hauptstadt des Goldenen Reiches töten immer öfter Frauen wehrlose Männer. Handelt es sich dabei wirklich um tragische Einzelfälle oder steckt eine Verschwörung dahinter? Während Spezialgardistin Magret alles tut, um die Männer Annaburgs zu beschützen, bahnt sich in ihrem Rücken eine Katastrophe an, die ihr Leben für immer verändern soll. „Von mir bekommt „Die Toten von Marburg“ eine absolute Leseempfehlung, die atmosphärisch dichte Geschichte hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, mit dem Ende hatte ich in dieser Form absolut nicht gerechnet.“ Manuela Hahn, Das Bücherhaus

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1. Auflage, 2024 © Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11, 72827 Wannweil

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Viktoria Lubomski

Lektorat: Michael Krumm

ISBN: 9783988270139

Lizenzen Bildrechte Impressum: © Viktoria Lubomski

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Dieser Krimi enthält Darstellungen und Thematisierungen von Gewalt unterschiedlichsten Ausdruckes. Ebenso werden kritische Themen wie u.a. Diskriminierung sowie Alkoholismus aufgegriffen, entsprechend behandelt und kritisch hinterfragt.

Contents

VorwortPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Epilog

Vorwort

Stellen Sie sich vor, die Geschichte der Welt, die Sie kennen, hätte einen anderen Verlauf genommen. Als die Hexenverfolgung auf ihren Höhepunkt zusteuerte, wäre ein Geheimnis von enormer Tragweite ans Licht gekommen: Jede Frau ist der Magie fähig, solange sie fruchtbar ist! 

Stellen Sie sich vor, wie sich dieses Wissen ausbreitete und das Hexentum die Welt veränderte, Frauen an die Macht brachte und Männer zum »schönen Geschlecht« werden ließ. 

Wir befinden uns im Deutschland der Gegenwart, in dem die Magie Erfindungen wie die Nutzung von Strom überflüssig macht, Männer ihren von der Göttin gewollten Platz am Herd einnehmen und jede Frau über eine andere Art der Magie verfügt. 

Sie denken, eine Welt unter weiblicher Führung sei besser? 

Finden Sie es heraus und begleiten Sie Spezialgardistin Magret Beathesdother bei ihrem neusten Fall! 

Prolog

Die Erkenntnis, welche Person hinter all den Morden steckt, legt sich nicht sanft auf mich, sondern trifft mich mit der Wucht eines Steinmagieschlags. Ich muss meine eigene Magie nicht befragen, um festzustellen, dass all das auf einmal fürchterlich Sinn ergibt. Es war die ganze Zeit da, direkt vor unseren Nasen. Vor unseren Augen und Ohren, doch wir sahen nicht hin und wir hörten nicht zu. 

Mir ist schwindelig. Meine Gedanken kreisen. Wie viele könnten noch leben, wenn wir unseren verdammten Job besser gemacht hätten? 

Wenn, falls, hätte. 

Dann, wie ein Lichtstrahl, der finstere Gewitterwolken durchbricht, ein Gedanke: Einen von ihnen kann ich retten! Und mehr muss ich auch gar nicht retten! Nur den nächsten Mann und damit sie alle. 

Ich renne los. 

Kapitel 1

Die Person, die an mir vorbei ins Badezimmer wankt, bietet keinen erfreulichen Anblick. Ihr Haar ist fettig und verknotet. Unter ihren Augen sind tiefe Ränder. Ihre Kleidung ist ungepflegt, ihr Geruch streng. Ihr Blick ist leer und lässt nicht erkennen, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hat. Ihre Schritte wirken unsicher, sind es aber nicht. Nur unendlich müde. Ich reibe mir die Augen in dem Versuch, das Unbehagen, das die Schwester meiner Mitbewohnerin Frenja in mir auslöst, abzuschütteln. Ich weiß, dass Antje nichts dafür kann. Sie wurde Opfer einer der grausamsten Taten, zu der je ein Mensch im Goldenen Reich fähig war. Dennoch. 

Meine Magie, so unförmig und ungenau sie auch sein mag, reagiert hochempfindlich auf alles, was nicht in Ordnung ist. Sei es eine plumpe Lüge, eine kleine Unehrlichkeit, wie der ungeliebten Nachbarin einen guten Tag zu wünschen oder eben das Unwohlsein anderer Personen. Wenn etwas nicht im Einklang ist, fühlt sich mein ganzer Körper falsch an. Dann schieben sich schwarze Wolken vor mein Gemüt, mein Magen fängt an zu grummeln. Je falscher die Situation, desto größer meine Übelkeit. 

Nein, das ist so auch nicht richtig. Ein kleiner Schwindel versetzt zwar meine Magie in Alarmbereitschaft, wirkt sich aber noch nicht groß auf mein Gemüt aus. Ich fühle die Lüge, registriere sie und das war’s. Komme ich aber beispielsweise in einen Raum, in dem kurz zuvor ein Unglück stattgefunden hat, könnte ich mich an Ort und Stelle übergeben. Genau die Wirkung hat Frenjas Schwester auf mich. Nichts an oder in ihr ist mehr in Ordnung: Körper, Seele und Geist. Ihr Herz. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte. So leid sie mir auch tut, wünschte ich, sie würde nicht so oft bei uns schlafen. 

Ich höre Frenja, bevor ich sie sehe. Der schmale Flur, der die Zimmer miteinander verbindet, knarrt an einigen Stellen. Es erstaunt mich immer wieder, dass bislang jede Besucherin in unserer Wohnung beim Entlangschreiten des Flurs ein eigenes Klangmuster erstellt hat. 

»Guten Morgen, Fran.« 

»Guten Morgen, Magret.« Frenjas Stimme klingt angespannt. Wie immer, wenn Antje da ist oder wir über sie reden. Kein Wunder. 

Ohne ein weiteres Wort greift Frenja zu der frisch gefüllten Teetasse, die ich ihr rüberschiebe. Nimmt einen Schluck und seufzt. 

»Sie hat es wieder getan.« 

»Traumbringer?«, frage ich, obwohl ich bereits die Antwort kenne. 

Nicken. 

»Und du hast sie ihr wieder bezahlt.« 

Unsere dem Inhalt nach vorwurfsvollen Worte klingen emotionslos. Kein Wunder: Wir haben sie schon so oft gesagt, uns gestritten, versöhnt, zusammen geweint und die Welt verflucht. Sämtliche Gefühle, die mit der Situation aufkommen, sind aufgebraucht. Es ist immer dasselbe: Frenja wird spät abends von ihrer weinenden Schwester gerufen. Und kommt dann mit schuldbewusstem Blick und Antje im Arm zurück. Der Traumbringer ragt ein Stück aus ihrer Jackentasche heraus, ganz so, als wolle Frenja sagen: »Hier, Magret, siehst du? Immerhin machen wir es nicht heimlich!« 

Ich stehe mit stummem Blick da und kann trotz all der Disziplin, die mir Heidrun und meine Ausbilderinnen der Garden beigebracht haben, nicht verhindern, dass ich erst den Kopf schüttele und dann schicksalsergeben die Augen schließe. 

Ich verstehe sie ja. Hätte ich erlebt, was Antje über sich ergehen lassen musste… Dennoch: Das ist doch kein Leben! Ständiger Taumel zwischen bitterschwarzem Abgrund und der seelenlosen Apathie, die mit dem regelmäßigen Konsum der Traumbringer einhergeht. Was Antje braucht, ist eine Seelenärztin. Zwar war sie auch einmal da, aber es war ihr zu schmerzhaft, all das Erlebte aufzuarbeiten. Also flüchtet sie lieber. 

»Das ist feige!«, habe ich zu Frenja gesagt und sie hat eine Woche lang nicht mehr mit mir geredet. Weil sie wusste, dass ich recht hatte. 

Wir trinken schweigend unseren Tee. Aus dem Badezimmer kommen platschende Geräusche. Da Antje keine Magie hat, um sich Wasser aus der Leitung zu ziehen, erledige ich das immer für sie. Sobald ich höre, dass sie sich regt, fülle ich einen großen Eimer für sie und erwärme den Inhalt. Ein Dienst, den Frenja und ich auch einander erweisen, wenn die eine ihre monatlichen magiefreien Tage hat. 

Meine Freundin und Mitbewohnerin stellt mit einem dumpfen Laut ihre Tasse ab. 

»Ich muss los. Die Goldene will heute mit uns den Ablauf des Besuchs nächste Woche durchgehen. Morgen soll dann der Probelauf stattfinden.« Sie gähnt. »Als ob wir das nötig hätten. Aber du kennst sie ja!« 

Das stimmt so nicht und das weiß Frenja. Zwar sind wir beide Goldene Gardistinnen, doch als Spezialermittlerin bekomme ich die mächtigste Hexe im Goldenen Reich oft nur aus der Ferne zu Gesicht. Frenja hingehen gehört zur persönlichen Leibgarde der Goldenen. Wäre ihre Schwester nicht, würde sie wahrscheinlich im Goldenen Schloss leben, das hoch über den Dächern Annaburgs thront. 

»Nein, ich kenne sie nicht«, sage ich daher und bemühe mich um einen frotzelnden Ton, um die düstere Stimmung zu vertreiben. »Im Gegensatz zu euch sind wir ja schließlich ständig unterwegs. Du weißt schon, um so unwichtige Sachen wie komplizierte Verbrechen oder Morde aufzuklären, anstatt den ganzen Tag im Schloss rumzuhängen.« 

Frenja grinst. 

»Wenn du mit Rumhängen meinst, dass wir die wichtigste Person im ganzen Goldenen Reich beschützen, während ihr irgendwelche entlaufenen Ehemänner wieder einsammelt und alten Männern über die Straße helft… « 

Antje betritt die Küche und unterbricht damit unser freundinnenschaftliches Gestichel. Zwar bin ich froh, dass sie sich mal wieder gewaschen hat, aber ohne frische Kleidung haftet trotzdem der Geruch an ihr. Von Nahem sieht Antje noch erbärmlicher aus. Ich biete ihr einen Tee und Rührei an, doch sie schüttelt nur den Kopf. 

»Kann ich mich wieder in dein Bett legen und heute hierbleiben?«, fragt sie mit flehendem Blick auf ihre Schwester. 

Frenja schaut mich an, ich schüttele den Kopf. Auch die Diskussion haben wir schon mehrfach lebhaft geführt. Ich dulde keine Traumbringersüchtige in meiner Wohnung, wenn nicht eine von uns da ist, um sie zu beaufsichtigen. 

»Zieh dich an, Kleine«, sagt Frenja sanft. »Ich bringe dich auf dem Weg zur Arbeit nach Hause.« 

Antje nickt, die Enttäuschung ist ihr anzusehen. Verständlich, denn ihr eigenes Zuhause ist nicht viel mehr als ein Loch, das vor Schmutz nur so starrt. Frenja verbringt einen Großteil ihrer Wochenenden damit, alles zu putzen und für sie einzukaufen, nur um eine Woche später die Wohnung wieder dreckig vorzufinden und die verdorbenen Lebensmittel wegzuwerfen. 

»Ich werde sie niemals im Stich lassen!«, sagt Frenja. Darauf erwidere ich: »Aber genau das tust du, wenn du ihr Verhalten auch noch unterstützt! Du nimmst ihr damit jegliche Verantwortung für ihr Leben ab – wie soll sie da jemals wieder auf die Beine kommen?« 

»Du verstehst das nicht, du hast ja keine Geschwister! Soll ich sie etwa sterben lassen?«, brüllt Frenja und presst die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen. Das ist ihr äußerster Ausdruck dessen, was sie »Schwäche zeigen« nennt. Jede von uns versteht die andere und kann dennoch nicht aus ihrer Haut. Wir sehen uns jeweils selbst im Recht. 

Als Frenja und Antje weg sind, versuche ich, die friedliche Stimmung wieder aufleben zu lassen, die ich nach dem Aufstehen verspürt hatte. Vergebens, denn überall hängen Antjes Gefühle des nicht Richtig-Seins in der Luft, dick und klebrig. Den Tee habe ich nur Frenja zuliebe hinuntergewürgt. Sie kennt meine Magie und mich genau. Sie weiß, was sie mir antut, wenn sie ihre Schwester herbringt. Weil sie es trotzdem tut, hat sie permanent ein schlechtes Gewissen, das mein Unwohlsein noch weiter steigert. Eine Scheißsituation, anders kann eine es nicht nennen. 

Göttin, wenn sich Antje doch bitte endlich helfen lassen würde! Nun, daran kann ich nichts ändern. Also tue ich das Nächstbeste und mache mich auf den Weg zur Arbeit. 

Ich genieße den Weg zum Goldenen Schloss. Zum Glück kann ich mir etwas mehr Zeit lassen als Frenja. Unterwegs zum Gardegebäude bleibe ich immer wieder stehen, um anderen Frauen, die auf dem Weg zu Arbeit sind, einen Gruß zuzurufen oder mich unter den schnatternden, zum Markt gehenden Männern nach einem hübschen Burschen umzusehen. Unsere Wohnung liegt in einer der zahlreichen engen Gassen in Annaburgs Oberstadt. Quasi mittendrin im Geschehen. 

Ich fahre ein Stück auf dem magisch betriebenen Gehweg mit, springe aber eine Station früher ab, als ich müsste. Ich mag es, wenn die Stadt langsam erwacht. Später, wenn ich heimkehre, sind die Hausmänner erschöpft von ihrem Tagwerk. So früh am Morgen schenkt mir der ein oder andere ein Lächeln. 

»Guten Morgen, Magret!«, grüßt mich die Wirtin der Medusa. Ich grüße zurück und notiere mir in Gedanken, bald mal wieder bei ihr einzukehren. Ich könnte dort mit den Mädels in der Mittagspause eine Fleischtasche zu essen. Das mittlerweile in ganz Annaburg berühmte Gericht verdanken wir einem Fall, an dem ich letztes Jahr beteiligt war: Tief in den sauerländischen Wäldern war eine Frau ermordet worden; alles deutete darauf hin, dass sie auch ein Mann umgebracht haben konnte! Also reiste ich mit einem handverlesenen Team dorthin. Gemeinsam hatten wir den Fall lösen können, auch wenn er uns einiges abverlangt hat. Noch immer schaudere ich, wenn ich an die grausamen Hintergründe denke, die zu dem Mord in der Tränenburg geführt hatten… 

Im Zuge der Ermittlung hatten wir in Widdersbach in einem Gasthof namens Bastens gewohnt, wo wir das köstliche, mit Fleisch, Salat und Soße gefüllte Fladenbrot für uns entdeckten. Zwar ist es unmöglich, es in Würde zu essen, doch die Wirtin ließ sich von unserer Begeisterung anstecken. Sie verdient dermaßen gut an der Neuentdeckung, dass ich ein Leben lang bei ihr einen Stein im Brett habe. Bei einer Frau ihres Gewerbes ein unschätzbarer Vorteil. Denn vor ihren schnuckeligen Kellnern nimmt kaum eine ein Blatt vor den alkoholgelockerten Mund. Auf die Weise wurden mir schon die interessantesten Informationen zugespielt. 

Das Gardegebäude liegt direkt neben dem Goldenen Schloss. Ich grüße die beiden wachhabenden Gardistinnen mit einem Nicken. Wie üblich lasse ich die Sicherheitsprozedur über mich ergehen: Ein Tropfen meines Bluts wird in ein Schälchen mit Salzwasser gegeben, daraus formt sich mein persönliches Magiemuster. Mit Hilfe der passenden Musterkarte wird zweifelsfrei durch simples Vergleichen nachgewiesen, dass ich die bin, die ich vorgebe zu sein. Zwar ist Gestaltenwandlungsmagie nicht sonderlich weit verbreitet, doch das macht die wenigen, die dazu in der Lage sind, nur umso gefährlicher. Nachdem meine Identität bestätigt ist, öffnet die linke der beiden, ein braunhaariges Biest namens Mascha, das mich bei unserer letzten Pokerrunde so dermaßen ausgenommen hat, dass es peinlich war, die magische Sperre. 

Als ich das Gebäude der Goldenen Garde betrete, bessert sich sofort meine Stimmung. Hier ist alles so, wie es sein sollte. Die Gerüche, die Gefühle, die umherschwirren, sogar die Luft selbst fühlt sich richtig an. Ehrlich und gut. Etwas abgestanden, doch vertraut. 

Meine Abteilung, die Spezialabteilung der Goldenen Garde, der Heidrun von Borgentreich vorsteht, hat eine Etage für sich allein. 'Die schöne Heidrun', wie viele sie hinter ihrem Rücken nennen, ist nur selten im Haus. Als Zweite der Goldenen Garde – Erste ist formell die Goldene Frau höchstpersönlich – ist sie nicht nur für den persönlichen Schutz unserer Staatsobersten zuständig, sondern zudem für die innere Sicherheit im ganzen Reich. Verbrecherinnenbanden fallen ebenso in ihre Verantwortung wie Rebellinnen, die mit ihren unsäglichen Ansichten über die Gleichstellung zwischen Frau und Mann immer wieder für Unruhe sorgen. Nun sollte eine ja glauben, dass Heidrun ständig unterwegs ist, doch die Goldene Frau legt großen Wert darauf, sie in ihrer Nähe zu wissen. In der Rangordnung rangiert an zweiter Stelle offiziell die Silberne Frau und danach die Bronzene. Dann erst Heidrun. Inoffiziell ist jeder mit einem Funken Verstand klar, dass die Bronzene Frau im Grunde nur dafür da ist, offizielle Arbeiten zu übernehmen, für die die Ranghöheren keine Zeit oder Lust haben. Heidrun dagegen ist eine, die sich noch selbst die Hände schmutzig macht. 

Sie ist einen Hauch zu direkt, zu ungeschliffen für die Feinheiten der Politik. Keine zweifelt daran, dass sie es locker mit der Silbernen Frau aufnehmen könnte, denn Heidruns Magie ist sagenhaft! Sie ist so golden wie ihr Haar und absolut tödlich. Ich kenne keine, die es je geschafft hat, ihrer Honigmagie zu entkommen! Hätte Heidrun nicht schon vor langer Zeit einen blutmagischen Eid geschworen, der Goldenen und Silbernen Frau niemals ein Leid zuzufügen, wäre sie bereits von verschwiegenen Attentäterinnen umgebracht worden. 

So aber hat die Goldenen Frau sie zu ihrem Werkzeug gemacht. Zu Recht ist Heidrun die gefürchtetste Kämpferin des Goldenen Reiches. Selbst Frenja erkennt das an. Was gut ist, da Heidrun nicht nur mein Vorbild und meine Mentorin, sondern mittlerweile auch meine Freundin ist. Der Nachhall des Falles in der Tränenburg hatte uns zusammengeschweißt in unserer Empörung und Wut. 

Gemeinsam schmiedeten wir einen Plan, um uns an jenen zu rächen, die uns so viel genommen hatten. Der Plan gelang. Endlich ließen wir unserem Hass freien Lauf und triumphierten. Solcherlei Ereignisse erleben zwei nicht zusammen, ohne dass sich Bande schmieden. Meine damalige Hochachtung vor Heidrun war einem weniger förmlichen Respekt gewichen. Und an jenen langen Abenden, sprachen wir auch über unser Leben. Über Absurditäten, die uns in unserem Arbeitsleben über den Weg gelaufen waren. Niemals über meine gescheiterte Ehe oder Heidruns Liebschaften. Nie über den Leistungsdruck oder die Konkurrenz. Sondern nur über leichte Themen, über die ich mich nicht mit Frenja unterhalte. Sie war bereits damals schon zu eingefahren, verfolgte stur ihr oftmals schwarz-weißes Denken und konnte Oberflächlichkeiten nichts abgewinnen. Verstand nicht, dass ich nicht nur über Tiefgründiges und Wichtiges reden wollte. Dass sich in Plaudereien etwas Ernsthaftes verstecken konnte, nur eben weniger offensichtlich. Oft habe ich den Eindruck, dass Frenja durch das Schicksal ihrer Schwester jeglicher Spaß abhandengekommen ist. Geblieben ist ein grimmiger Humor, der nicht viel mit ihrer früheren Lebensfreude gemein hat. Ich kann es ihr nicht verübeln. Und ich kann mir nicht verübeln, dass ich bei Heidrun als Freundin davor Zuflucht suche. 

Ich steige die Treppe hinauf und stoße fast mit Diana zusammen. Die Spezialgardistin hat rote Flecken im Gesicht und ist sichtlich außer Puste. 

»Gut, dass du da bist, Magret!« Schwer atmend bleibt sie stehen, eine Hand in die Seite gestützt. »Ich habe dich schon überall gesucht. War schon ganz oben. Egal. Du sollst nach unten kommen, Notfallbesprechung mit Heidrun. Sofort.« 

Wenn mich Heidrun mit Dringlichkeitsvermerk zu sich zitiert, kann das nur eines bedeuten: Es ist etwas Schreckliches geschehen. 

Kapitel 2

Der Raum hat ein hohes Gewölbe. Seine Wände bestehen aus jenem uralten Stein, aus dem auch die Stadtmauer besteht. Es ist ein merkwürdiger Luftdruck hier unten, ebenso ein leichter Hall, der die gemurmelten Worte der anwesenden Frauen verzerrt. 

Es sind fünf hochrangige Frauen, die an dem schweren Holztisch Platz genommen haben. Ich kenne jede von ihnen und bin bei jeder Einzelnen froh, sie auf meiner Seite zu wissen. Da wäre Johanna Johannasdother, die erst vor wenigen Monaten die Erste der Stadtgarde zum offenen Kampf herausgefordert, sie besiegt und dann, wie es das Recht der Stärkeren besagt, ihren Platz eingenommen hat. Irene Tamarasra ist Zivilistin, steht uns aber so oft zu Diensten, dass ich sie als eine der unseren ansehe. Sie ist Lügenleserin und ihre Dienste sind ebenso begehrt wie teuer. Nicht jede arbeitet gern mit ihr zusammen, doch die Nützlichkeit ihrer Magie zweifelt keine an. Pauline von Beckum ist die amtierende Bronzene Frau. Sie verblasst leicht gegen die Goldene Frau, die als sehr intelligent geltende Silberne und gegen die strahlende Erscheinung Heidruns. 

Dennoch hat sie es nicht dem netten Lächeln ihres Ehemannes zu verdanken, dass sie fast an der Spitze steht. Ich weiß wenig über sie – und das macht mich nervös. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart stets etwas befangen. Sie verfügt über Pelzmagie, das ist mir bekannt. Was ich nicht weiß, ist, was sich damit alles anstellen lässt. Doch hat sie es nicht ohne Grund so weit nach oben geschafft. Die vierte im Bunde ist Kerstin von Augsburg, eine Frau, die ich noch nie persönlich getroffen habe, deren Ruf ihr aber vorauseilt. Als Spezialgardistin der Goldenen Garde ist es meine Pflicht, die Stärksten und somit potentiell Gefährlichsten im Auge zu behalten. Jede, die nicht wie Heidrun durch einen blutmagischen Eid in ihrer Loyalität gebunden ist, kann jederzeit jede Frau in einer beliebigen Position herausfordern. Gewinnt sie den Zweikampf, nimmt sie den Platz der Besiegten ein; unterliegt sie, verliert sie ihre Ehre und im Normalfall ihr Leben. Doch darum geht es nicht, wenn ich mir jeden Monat mühsam neue Gesichter einpräge. 

Viele Frauen neigen dazu, auf dumme Gedanken zu kommen, wenn sich das Ende ihrer magischen Zeit nähert. Wann das passiert, ist bei jeder anders: Die einen verlieren bereits mit Ende dreißig die Fähigkeit, jeden Monat unter Blut und Schmerz ihre Magie zu erneuern und Kinder austragen zu können. Andere wiederum werden erst mit fünfzig zu Großmüttern. 

Spürt eine Frau, dass sie bald das Ende ihrer Magiezeit erreicht, geschieht es nicht selten, dass sie ihr gesamtes Leben und Wirken infrage stellt. Dabei ereignen sich leider öfters unschöne Szenen: Etwa kommt es vor, dass sich eine auf den letzten Drücker ungeliebter Kolleginnen oder potentieller Nachfolgerinnen entledigen will oder, dass sie schnell zu Reichtum kommen möchte. Im schlimmsten Fall will sie ihr Umfeld mit in den Abgrund reißen. Das letzte Mal, dass eine mit gefährlicher Magie einen solchen Aussetzer hatte, ist zum Glück schon einige Jahre her. Dennoch bleiben Frauen mit mächtiger Magie unsere stärkste Waffe und gleichzeitig unsere größte Bedrohung. 

Kerstin von Augsburg ist 25 Jahre alt und hat es dank ihrer Schattenmagie zur gefragtesten Kopfgeldjägerin des Reiches gemacht. Ihr Ruf ist legendär – angeblich hat es keine, auf die Kerstin angesetzt worden ist, geschafft, ihr zu entkommen. Nur das mit dem lebendig abliefern ihrer menschlichen Beute klappt nicht immer. Kerstins Dienste sind hoch begehrt und entsprechend teuer. Sie hat es gewiss nicht nötig, uns einen Gefallen zu tun. Nein, wenn die Schattenhexe hier ist, hat eine im Goldenen Schloss tief in die Tasche gegriffen. 

»Magret, komm, setz dich!« Heidrun deutet auf den freien Stuhl neben sich. Ich folge ihrer Aufforderung, nicke aber vorher jeder der Frauen kurz zu. »Für alle, die sie nicht kennen, das hier ist Magret Beatesdother, meine Stellvertreterin in der Spezialabteilung der Goldenen Garde.« 

Kerstin schaut mir mit erhobenem Kinn in die Augen. »Bist du die, die sie ‚Dritte‘ nennen?« 

Ich verkneife mir ein Schmunzeln. Den Rang einer Dritten gibt es nicht. Dennoch schmeichelt es mir, wann immer ich mit dem fiktiven Titel bedacht werde. Ich sehe ihn als Form der Anerkennung und des Respektes, den meine Frauen mir entgegenbringen. »Ja, die bin ich. Und du bist Kerstin von Augsburg.« 

Sie nickt bestätigend. 

»Gut. Nun, da wir das geklärt haben, komme ich zur Sache.« Typisch Heidrun: Sie hat keinen Funken Geduld und möchte am liebsten immer sofort losstürmen. »Wir haben derzeit vier große Probleme, die uns das Leben schwer machen. Mit wir«, sie lächelt schief, »meine ich die Goldene. Und damit uns alle.« 

Die Bronzene Frau ist nicht die einzige, deren Mundwinkel sich zu einem Lächeln verziehen. Die Goldene Frau ist das Goldene Reich und das Goldene Reich sind wir. So einfach ist das. Sollte das eine anders sehen, hat sie in unserer Mitte nichts verloren. 

»Es wird Zeit, dass wir die vier Probleme angehen. Aus dem Grund haben wir dieses Treffen einberufen.« Heidruns zusammengezogene Augenbrauen künden davon, dass sie nicht geneigt ist, groß drumherum zu reden. 

»Unser erstes Problem sind die Großmoldawier, die sich langsam von unserem Gegenschlag im vergangenen Jahr erholen. Darum kümmere ich mich. So viel sei verraten: Wir werden ihnen keine Gelegenheit geben, uns noch einmal derart zu überraschen.« Heidrun wirft mir einen Blick zu, in dem grimmiger Hass lodert. In meinen Augen sieht sie denselben Hass, allerdings ist meiner kühler und kontrollierter als der ihre. »Dann wären da noch die verfluchten Rebellinnen, die ebenfalls derzeit vor allem im Osten ihr Unwesen treiben. Das ist unser zweites Problem und ich gedenke beide mit einem Schlag zu lösen. Die Bronzene Frau höchstselbst wird sich dazu alsbald nach Debrecen begeben, wo sie auf die Ostgarde tritt. Gemeinsam mit Frau Helmich werden sie den Kerlen zeigen, wo ihr Platz unter der Sonne der Göttin ist. Nämlich im Boden darunter.« 

Heidrun lächelt grausam und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Die Ostgarde gilt als die stärkste und kampferprobteste. Ihre Erste, Frau Helmich, ist nicht weniger als ein taktisches Genie. Gemeinsam mit der Bronzenen dürften die beiden Frauen eine Einheit bilden, die dem verhassten patriarchalen Nachbarstaat sowie den Rebellinnen blutig Einhalt gebieten werden. 

»Die Bronzene wird dazu einige Goldene Gardistinnen mitnehmen, als Unterstützung, ebenso einige Frauen der Stadtgarde. Magret, Johanna, ihr stellt mir eine Liste auf, welche und wie viele ihr entbehren könnt. Ich hoffe sehr, dass wir bis zum Winter hin einiges an Boden gut gemacht und den Großteil ihrer widerlichen kleinen Nester im Osten ausgemerzt haben werden.« 

»Meinen Sie die der Großmoldawier oder die der Rebellinnen?«, fragt Kerstin. 

Heidrun zuckt mit den Schultern. »Alle, was sonst?« 

Das hätte ich der Schattenhexe auch sagen können. 

»Wir haben es im Osten mit gleich zwei feindinlichen Streitkräften zu tun. Darum werden wir mehrere Truppen aufstellen, um beide Gruppen einzukreisen, zu stellen und zu eliminieren. Jede Einheit wird dabei aus Goldenen Gardistinnen, Stadtgardistinnen und Ostgardistinnen bestehen.« 

Clever. So vereint sie all unsere Stärken in sich: die Ortskenntnisse und Erfahrungen der Ostgarde; die Disziplin der Stadtgarde, deren Frauen mehrmals täglich im Einsatz sind; und das Fachwissen der Goldenen Garde, die in Sachen Bildung und Kampfkraft die Elite unter den Gardistinnen darstellt. Wenn es eine schafft, auf so eine geniale Idee zu kommen, dann ist es Heidrun. Ich selbst stelle meine Ermittlerinnenteams unter ähnlichen Aspekten zusammen, wäre aber nie darauf gekommen, das Prinzip übergreifend auf unterschiedliche Einheiten anzuwenden. Ich seufze innerlich. Werde ich je eine so gute Anführerin werden wie Heidrun? 

»Magret, Johanna, ich erwarte noch heute die Listen auf meinem Tisch!« Und wieder typisch Heidrun: Wenn, dann sofort! 

»Unser drittes Problem ist ein Mann, von dem ihr alle schon gehört habt: Matthias Schulte.« 

Die eben noch leicht angespannte Neugier der Frauen schlägt um in bodenlose Wut. Meine Kehle wird eng. Ich hatte nicht mit einem solchen Hammer gerechnet, daher hatte ich meine Magie wie immer in einem gewissen Umkreis locker um mich herum schweben lassen. Nun ziehe ich sie mit aller Kraft zurück. Doch zu spät. Ich kann nicht verhindern, dass ich würge. Sehe Heidruns halb vorwurfsvollen, halb besorgten Blick wie durch einen Nebelschleier. Verdammt, eine Goldene Gardistin sollte sich besser im Griff haben! Aber es hat einen Grund: Matthias Schulte steht wie kein anderer für alles, was schrecklich und falsch ist; allein die Erwähnung seines Namens führt dazu, dass sich alles für jede Anwesende verkehrt anfühlt. 

Mit Mühe und Not schaffe ich es, meine Magie wieder in mir einzuschließen. In meinem Magen rumort es. Ich sollte bald einen gewissen Ort aufsuchen. Im Moment bin ich dankbar, mich nicht vor den anderen übergeben zu haben. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich war sorglos, dabei hätte ich wissen müssen, dass es hier um etwas Wichtiges geht. Aber anstatt auf meine Magie zu achten, gebe ich mir hier vor einigen der mächtigsten Hexen des Reiches eine solche Blöße. 

Ich fange mich wieder. Ich scheine Glück gehabt zu haben: Keine außer Heidrun sieht mich an. Einige sind blass geworden, der Blick Johannas huscht unruhig hin und her. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, sie bleibt jedoch stumm. 

Kerstin steht auf und reckt das Kinn. 

»Was soll ich tun?« 

»Bring mir seinen Kopf!« 

Heidrun schleudert der Frau einen schweren Beutel entgegen, in dem sich der Größe nach eine riesige Summe befindet. 

»Nochmal so viel, wenn du mir seinen Kopf bringst. Versage, und ich hole mir deinen!« 

Die Schattenhexe nickt. 

»Soll ich einen Blutschwur leisten?« 

Heidrun schüttelt den Kopf. 

»Nein. Dein Wort reicht mir. Von dem Geld kannst du jahrelang leben. Es ist mir egal, wie lange es dauert, Matthias Schulte zu finden und zu töten. Aber tu es.« 

Ohne ein weiteres Wort nimmt Kerstin den Beutel, dreht sich um und verlässt den Raum. Wir alle blicken ihr nach. 

»Möge sie das schaffen, woran unsere Garden bisher gescheitert sind«, sagt die Bronzene Frau und spricht uns damit allen aus der Seele. Matthias Schulte, der Dämon, das widerliche Gezücht, ist wahrlich die schlimmste Geißel unseres Reiches. Wenn er nur endlich gefunden und getötet werden würde! Vielleicht kommen dann auch Frenja und Antje zur Ruhe und finden ihren Frieden? 

»Nun denn.« Heidrun atmet tief ein und aus. »Das Thema nimmt uns alle mit. Ich kenne keine Frau, die sich nicht den Tod des Ungeheuers wünscht. Hoffen wir, dass Kerstin das Glück gesonnen ist. Kommen wir nun aber zu unserem vierten Problem. Und da, Magret, kommst du ins Spiel.« 

Kapitel 3

Ich bin so wütend, dass mir die Luft wegbleibt. Ich steige die Treppe so schnell hinauf, dass ich fast renne. Meine Hände zittern, meine Magie wirft sich von innen gegen die Hülle meines Körpers, die sie am Ausbrechen hindert. Am liebsten würde ich sie loslassen, sie auf diese ganze verdammte Stadt jagen, so dass sie alle und jede umschließt. 

Ich muss mich abreagieren. 

Ich hatte schon so lange keinen Wutanfall mehr, dass ich einen Moment stehen bleibe und innehalte – was genau soll ich tun? 

Die Emotionen in mir verlangen, dass ich weiter die Stufen hinauf stürme. Ich kann jetzt nicht stillhalten! 

Oben an der Treppe steht Diana. Zweifellos um mich abzufangen und aus mir herauszuquetschen, was es bei dem Treffen gegeben hat. Ich bin nicht in Stimmung dafür. 

»Jetzt nicht«, fahre ich sie an. Schon bin ich an ihr vorbei und raus aus dem Gardegebäude. Mir ist danach, weiter einen Berg hinaufzustürmen. Je höher, desto besser, doch da sich der Sitz der Goldenen Garde direkt neben dem Schloss befindet, geht es von hier aus nur noch bergab. Wie passend. 

Ich stürme grußlos an den Wächterinnen vorbei, drehe mich unentschlossen einmal im Kreis und entscheide mich dann, ein Stück nach unten zu gehen, passiere das Gefangenengebäude der Stadtgarde und marschiere über die Karin-Ruthdother-Treppe. Normalerweise genieße ich die grandiose Aussicht, die sich mir hier auf Annaburg bietet. Heute bin ich blind vor Wut. 

Ich überspringe jeweils zwei Stufen und bleibe vor einer bestimmten Wand stehen. Hier verbirgt sich, vor weiblichen Augen verborgen, für Männer ohnehin unpassierbar, eine geheime Tür. Unwirsch jage ich meine Magie in das versteckte Schloss, öffne die ob des seltenen Gebrauchs leicht quietschende Öffnung und schiebe mich hindurch. Sofort überkommt mich Ruhe. 

Der Ort, den ich soeben betreten habe, wirkt wie eine andere Welt. Sorgsam verriegle ich die Tür hinter mir. Schließe meine Augen und atme bewusst ein und aus. Bäume. Stille. Friede. 

Während meiner Zeit bei der Stadtwache weihte mich eine Freundin in das Geheimnis dieses wundersamen Ortes ein: ein schmaler Streifen Land direkt unterhalb des Schlosses, der vor Urzeiten wohl als Garten genutzt worden war. Jetzt stehen hier Laubbäume, die ob ihres großen Abstandes zueinander Teil eines lichtdurchfluteten Paradieses wurden. Grün, wohin das Auge schaut: kleine Wiesenflächen, Blumen zwischen den Baumwurzeln, Sträucher und Gebüsch. Ich erkenne nur die Ahnung eines Weges und die Tatsache, dass das Gras nicht übermäßig hoch wuchert, gibt Hinweise darauf, dass der Ort nicht vollkommen aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden ist. Irgendeine kümmert sich um das hier. Freilich bin ich hier bei meinen viel zu seltenen Erholungsgängen noch nie einer anderen begegnet. 

Die Luft schmeckt hier anders. Leben existiert in den winzigsten Formen. Obwohl oberhalb des Geheimgartens das Herz des Goldenen Reiches schlägt und unterhalb das Leben der Hauptstadt pulsiert, ist hier kaum etwas zu hören. Anders als beim Platz der Stummen Frau sind hierfür keine Menschen für verantwortlich. Dem Ort liegt eine ganz eigene Magie inne. Hier ist alles so, wie es sein sollte; alles hat und kennt seinen Platz. Ich bin ein Eindringling und werde dennoch willkommen geheißen, so lange ich die Gesetze beachte. 

Ich beruhige mich langsam. Mein Atmen entschleunigt sich, meine Magie schlägt nicht mehr wild umher, legt sich sanft nieder. Fast hätte ich ihre Schritte nicht gehört. Ich unterdrücke ein Seufzen. Das war ja wieder klar. Kann eine denn nirgendwo ihre Ruhe haben? 

»Lass mich raten: du fragst dich gerade, ob du denn nirgendwo mal deine Ruhe haben kannst.« Diana gluckst. Sie kennt mich zu gut. Dennoch sorge ich dafür, dass meine Miene ausdruckslos ist, bevor ich mich zu ihr umdrehe. 

»Und wenn, wäre es dir doch sowieso egal, habe ich recht?« 

»Hast du.« Diana ist nicht nur eine meiner besten Frauen in der Spezialabteilung und eine erstklassige Ermittlerin, sie ist auch seit vielen Jahren meine Freundin. Folglich hat sie keine Hemmungen mir jederzeit und zu allem die Meinung zu sagen. 

Diana legt den Kopf in den Nacken und atmet tief durch. Sie kennt jede und alle. Jede Wette, dass sie inzwischen erfahren hat, was unten besprochen worden ist. 

»Ich hatte ganz vergessen, wie wunderschön es hier ist.« 

Ich schaue mich um, nehme jedes Detail in mich auf. »Ging mir genauso.« 

»Hör mal, Magret, es ist doch so: Du kannst jederzeit deine Ruhe haben. Keine zwingt dich zu irgendwas. Geh zu Heidrun von Borgentreich und sag ihr, du möchtest wieder eine einfache Goldene Gardistin sein.« Heißer Schreck durchfährt mich: Ist das etwa ihr Ernst? Ich soll meine Position aufgeben, für die ich so hart gearbeitet habe? Außerdem liebe ich es, mit meinen Frauen die komplizierten Fälle zu bearbeiten. Ein Team zusammenzustellen, gemeinsam Taktiken durchzugehen und so quasi bereits vom Büro aus die ersten Schlingen um den Hals der Täterin zu ziehen. Das soll ich aufgeben und wieder bloße Befehlsempfängerin werden? Nie im Leben! 

Diana lacht. 

»Wenn du dein Gesicht sehen könntest! Nein, sag jetzt nichts, ich sehe dir an der Nasenspitze an, was dir gerade durch den Kopf geht. Das Problem ist nur, dass eine höhere Position auch eine höhere Verantwortung mit sich bringt. Seltsam, ich dachte eigentlich, das wüsstest du.« 

Sie geht und lässt mich beschämt zurück. 

Zurück im Gardegebäude gehe ich schnurstracks zu Heidrun. Besser, ich bringe es hinter mich. 

»Na, hast du dich inzwischen beruhigt?« 

Heidrun klingt spöttisch, doch ich kenne sie gut genug, um einen Hauch Besorgnis herauszuhören. Diana hat recht mit dem, was sie gesagt hat: Heidrun musste zum Wohle aller abwägen. Dass ich dabei zunächst übergangen worden bin, war logische Konsequenz und nichts, worüber ich beleidigt schmollen sollte wie ein kleiner Junge. 

»Ja.« 

Wir schauen uns an. Ich sehe Verständnis in Heidruns Augen und sie hoffentlich in meinen. Es ist nicht nötig, dass wir uns gegenseitig umständlich um Entschuldigung bitten. Ein warmes Gefühl durchflutet mich: Dass diese heldinnenhafte und ehrenvolle Frau meine Freundin geworden ist, verblüfft mich immer wieder aufs Neue. 

»Also, ich fasse nochmal zusammen.« Ich räuspere mich. »Es ist also in Annaburg« – in meiner Stadt, verdammt nochmal! – »zu mehreren Vorfällen gekommen, bei denen dem Anschein nach Frauen ihre Ehemänner getötet haben.« Und zwar genau vor meiner Nase, ohne dass ich davon etwas mitbekommen hätte! »Die Stadtgarde hielt es unter Absprache mit dir für sinnvoll, die Informationen nicht an die Öffentlichkeit« – oder mich – »durchdringen zu lassen.« 

Heidrun nickt. 

»Bei den ersten beiden Morden haben wir uns auch noch nichts dabei gedacht. Eine Frau, die im Zuge eines Streits ihren Gatten umbringt, ist nun wirklich nichts Besonderes.« Sie zuckt mit den Schultern. »Beide Frauen haben angegeben, von ihren Männern so lange provoziert worden zu sein, bis die Situation eskaliert ist. Du kennst solche Typen, unerträgliche Klatschkerle, die ihre Frauen, wenn sie nach einem harten Tag von der Arbeit nach Hause kommen, nur mit Forderungen und Vorwürfen überschütten. Da würde jede irgendwann zu viel bekommen. Die Frauen haben jede drei Nächte in der Zelle verbracht, den Müttern der Männer Geld gegeben und gut ist.« 

»Das Übliche also.« 

»Eben. So etwas geschieht einfach, da kann eine nichts machen. Wie hätten wir da schon wissen sollen, dass offenbar mehr dahintersteckt?« 

»Bis es wieder zu einem Mord kam.« 

»Ja. Und dieses Mal leugnete die Frau vehement, ihren Mann getötet zu haben. Was mir persönlich ja sowas von egal gewesen wäre, wenn sie nicht Irene Tamarasra eingeschaltet hätte.« 

Diesen Fakt hatte Heidrun zuvor nicht erwähnt. 

Kein Wunder, ich war wutentbrannt aus dem Raum gestürzt, kaum dass sie mir gestanden hatte, eine ganze Mordserie vor mir geheim gehalten zu haben. Vor mir, ihrer Stellvertreterin! 

»Die Frau, Ricarda von Frankenberg, heißt sie, ist unverschämt reich.« Heidrun schnaubt. »Nicht einmal ich könnte mir einfach so die Dienste einer Lügenleserin leisten.« 

Die absurde Übertreibung bringt mich zum Lachen. 

»Liebe Heidrun, ich glaube, wenn sich eine eine Lügenleserin leisten kann, dann bist du das. Ich wette, du müsstest nicht einmal für ihre Dienste bezahlen!« 

»Möglich.« Die blonde Frau grinst. »Auf jeden Fall hat von Frankenberg die Tamarasra engagiert. Und rate mal!« 

»Sie war`s nicht?« 

»Bingo. Ich konnte die Goldene Frau davon überzeugen, dass wir nochmal wegen der anderen Morde ermitteln. Irgendetwas ist da nicht richtig.« 

»Steht uns Frau Tamarasra dabei zur Verfügung?« 

Heidrun verzieht das Gesicht. 

»Bislang nicht. Um es kurz zu machen, die Goldene hat mir die Wahl gelassen: Kerstin oder Irene. Beide können wir uns nicht leisten.« 

Von ihren Gattinnen im Streit getötete Männer oder frisch erweckte Frauen, die aufs grausamste verstümmelt werden – Heidrun hat ohne jeden Zweifel die richtige Wahl getroffen. Dennoch hatte ich gehofft, mit der Lügenleserin zu arbeiten. Wenn doch nur meine Magie stärker oder genauer wäre! Ich kann erkennen, wenn etwas nicht richtig ist. Ist meine Gegenüber jedoch von der Lüge überzeugt, die sie von sich gibt, fühlt es sich für sie richtig an, sie auszusprechen, ist meine Magie machtlos. Und es gibt zahlreiche weitere Möglichkeiten, meine Magie auszutricksen. Ohne meine Bereitschaft zu unermüdlichem Einsatz, meine Intelligenz und meine Fähigkeiten, andere anzuführen und gemäß ihren Talenten einzusetzen, hätte ich es nie so weit nach oben geschafft, nicht allein aufgrund meiner Magie. Das hat mir Heidrun damals sehr deutlich gesagt. 

»Wieso hat Frau Tamarasra dann trotzdem an der Besprechung teilgenommen?«, möchte ich wissen. »Wenn wir sie doch nicht bezahlen können?« 

»Dazu wollte ich jetzt kommen. Eine der beiden anderen Frauen, die gestanden haben, Sabine Hildegardsdother, ist offenbar eine Freundin von ihr. Frau Tamarasra verbürgt sich als Lügenleserin dafür, dass ihre Freundin unschuldig ist. Wieso sie gelogen hat, weiß sie nicht. Es ist an dir, das herauszufinden.« 

»Na schön. Aber wieso war sie dann von Anfang an dabei?« Es geht eine Zivilistin nichts an, was wir intern besprechen. 

Heidruns Lächeln hat etwas Berechnendes. 

»Sagen wir mal so: Frau Tamarasra ist dafür bekannt, gern zu tratschen.« 

»Ihr wollt also, dass die Offensive gegen die Großmoldawier und die Rebellinnen durchsickert?« Langsam geht mir ein Licht auf. »Und die Jagd auf Matthias Schulte?« 

»Ganz genau. Das wird die Leute genug beschäftigen und ihren Blick in eine andere Richtung lenken, so dass du in Ruhe in Sachen Morde ermitteln kannst. Frau Johannasdother wird dich über den Stand ihrer Ermittlungen in Kenntnis setzen.« 

Na großartig: Eine Goldene Gardistin nimmt der Stadtgarde einen Fall weg. Das wird das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den Abteilungen nicht fördern. Ich habe bei der Stadtgarde meine Ausbildung gemacht, habe die Gardeakademie besucht und habe meine Nachtwachen absolviert. Bis ich Heidrun von Borgentreich auffiel. Ihr Angebot, mich persönlich zur Goldenen Gardistin auszubilden, sucht ihresgleichen in der Geschichte unseres Reiches. Nie zuvor ist einer die Ehre zuteilgeworden. Daher kann ich noch immer beide Seiten gut verstehen. Habe mich selbst früher schwarzgeärgert, wenn uns die Frauen der Goldenen Garde Fälle weggeschnappt hatten, nur weil die Goldene Frau ihnen mehr Bedeutung zugemessen hat. Als ob die Stadtgarde nicht auch vernünftig ermitteln könnte! 

Doch der Fall hier zählt mehr als der Stolz einer Frau oder Garde. Mittlerweile weiß ich, dass die Goldene Garde für derlei Aufgaben besser geeignet ist. Zusammen mit in mir schwelendem Unmut und dem Gefühl, von der Ersten der Stadtgarde verraten worden zu sein, ist das sicher nicht die beste Basis für eine Übergabe. Nun, da werde ich wohl durchmüssen. 

»Magret!« Heidrun sieht mich eindringlich an. »Wenn es eine Verbindung zwischen den Morden gibt. Wenn die beiden Frauen tatsächlich unschuldig sind, wie es die Lügenleserin schwört, und die dritte vielleicht auch. Wenn also alle drei Männer von anderen als ihren Gattinnen getötet wurden und wenn der Tod der Männer irgendwie zusammenhängt, dann muss ich das wissen! Es ist mir egal, wie du es anstellst, aber finde heraus, was dahintersteckt!« Sie schnauft. »Ich möchte nicht wissen, was hier los ist, wenn herauskommt, dass da draußen irgend so eine Irre herumläuft und unsere Männer umbringt.« 

»Zwei Frauen, die im Streit ihre Männer getötet haben plus eine, die es abstreitet und in einer Zelle der Stadtgarde sitzt… Heidrun, das ist doch nun wirklich nichts Dramatisches! Wir bekommen das in den Griff, das verspreche ich dir.« 

»Ach ja? Das ist gut. Denn wenn nicht… Noch konnte ich Frau Tamarasra dazu bringen, darüber Stillschweigen zu bewahren, dass eine Frau einen Mord gesteht, den sie nicht begangen hat und habe ihr gleichzeitig genug anderes Futter zum Herumerzählen gegeben. Aber wenn wir nicht schnell dahinterkommen, was hier vor sich geht, dann…« 

Sie atmet tief ein und aus, fährt sich mit beiden Händen durch ihr goldblondes Haar. Zerzaust und besorgt sieht sie nicht weniger schön aus. Neidisch auf Heidruns Äußeres zu sein habe ich schon vor langer Zeit aufgegeben. Das ist besser für mein Seelenheil. 

Doch irgendetwas stimmt da nicht. Meine Magie, obwohl sie noch immer an die Kette gelegt ist, zupft an mir herum. 

»Du verschweigst etwas«, sage ich geradeaus. »Komm schon! Wenn, dann muss ich alles wissen.« 

»Dir kann keine etwas vormachen. Sehr gut.« Heidrun lässt ihre Hände wieder sinken, schaut sich nach allen Seiten um, beugt sich dann vor und flüstert: »Das hier wird nicht aufhören. Wenn wir nichts unternehmen, wird es weitere Tote geben. Nenn es meinetwegen Instinkt, Magret, aber ich weiß es einfach. Vertrau mir!« 

Das tue ich. 

Kapitel 4

Die Frau vor mir sieht nicht gerade begeistert aus. Das kann ich ihr nicht verübeln. Dennoch: Ich bin nicht so naiv, eine potentielle Mörderin bei sich zuhause aufzusuchen und ihr den Heimvorteil zu gewähren. Daher habe ich zwei meiner Frauen losgeschickt, Annabell Junisra ins Gardegebäude zu bringen. Nun sitzt sie mit gefesselter Magie und entsprechend schlechter Laune vor mir. Mit einem Wink schicke ich Sarah und Greta, die sie zum Verhör gebracht haben, hinaus. Ich möchte mir erst einmal selbst ein Bild von der Situation machen. 

Vor mir liegen Stift und Papier. Da ich leider über keinerlei Übertragungsmagie verfüge, muss ich entweder wie ein Mann die Notizen mit der Hand aufschreiben oder es per Bewegungsmagie machen. Wie immer entschiede ich mich für Letzteres. Ich umfasse den Stift mit meiner Magie, ohne dass die Frau vor mir etwas davon merkt. 

Ich lasse meine Augen offen, richte meine Aufmerksamkeit aber nach innen. Meine Magie strömt so fein aus, dass keine noch so gute Frau sie bemerken würden. Und erst recht nicht die grobschlächtige Person, die vor mir Platz genommen hat. Frau Junisra ist stämmig, an die ein Meter neunzig groß, hat wässrig-blaue Augen und rote Wangen. Von Beruf ist sie Brauerin, was bedeutet, dass sie den ganzen Tag lang unter Anwendung ihrer Magie Zutaten dazu bringt, sich miteinander zu verbinden. Und zwar so, dass sie auch dann noch zusammenhalten, wenn sie ihre Magie wieder herauszieht. Es ist unmöglich, Magie zu speichern, daher ist das Brauen von alkoholischen Getränken eine schwierige und hoch angesehene Kunst. Das herbsüße Aroma, das die Frau einhüllt, lässt mich den Feierabend und einen ordentlichen Met herbeisehnen. 

Ein kurzes Klopfen kündigt eine Besucherin an. Es ist Katharina, die mit großem Getue die Magiemusterkarte von Frau Junisra hereinträgt und auf den Tisch stellt. Das Schälchen mit dem vor Betreten des Gebäudes angefertigten Kristallmuster befindet sich bereits vor mir. Frau Junisra blinzelt nervös, während ich mich vorbeuge und mit gerunzelter Stirn vorspiele, die beiden Muster miteinander zu vergleichen. Reines Getue. Die Identität der Frau ist längst geprüft und bestätigt worden, ansonsten wäre sie gar nicht erst in der Wache. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass es nie schadet, Zeuginnen mich solcherlei Schauspiel etwas aufzuscheuchen. 

»Hm«, brumme ich und winke Kathi zu mir heran. Deute auf irgendeinen Kristall und tippe dann auf die Magiemusterkarte. 

Frau Junisra schluckt. Sich als eine auszugeben, die sie nicht ist, zieht eine hohe Strafe nach sich. Meistens nehmen sich Gardistinnen in einer solchen Situation nicht die Zeit, nach Erklärungen zu fragen, sondern gehen davon aus, dass es sich um eine Kriminelle handelt. Dann gilt die Devise erst zuzuschlagen und später nachzusehen, ob es sich noch lohnt, Fragen zu stellen. Die Einstellung ist allgemein bekannt. 

Zwar ist mit dem Magiemuster alles in Ordnung, dennoch verdichtet sich die Spannung um mein Gegenüber. Das Netz meiner Magie zuckt in ihre Richtung: Sie fühlt sich unwohl und fehl am Platz. Gut. 

Kathi und ich ziehen noch ein paar Minuten unser Schauspiel durch, dann entlasse ich sie mit einem Nicken. Die Frau vor mir atmet sichtbar auf. Auch ohne meine Magie wäre ihre Erleichterung zu mir durchgedrungen. 

»Frau Junisra, es ist schön, Sie hier zu sehen«, sage ich glatt. 

Sie nickt. 

»Bin ja nicht freiwillig hier. Wäre aber auch so gekommen. Hätten nur fragen brauchen. Hätten nicht gleich Ihre Frauen auf mich hetzen müssen.« 

Ich bemühe mich um ein unverbindliches Lächeln. Die Frau ist viel zu eingeschüchtert, um tatsächlich empört zu sein. 

»Nun ja, jetzt sind Sie ja hier. Fangen wir mit den Formalien an.« Ich lasse den Stift ‘Vernehmungsprotokoll: Annabell Junisra, nachfolgend bezeichnet als IJ‘ schreiben. »Also, Frau Junisra. Ihre Magieart ist …?« 

»Na ja, ich kann gut mit so Sachen.« 

»Mit allen Sachen?« 

»Nee, ja, wo wenn se heiß sind eben.« 

Ich brauche einige Sekunden, um ihre Antwort für mich ins Hochdeutsche zu übersetzen. 

 »Ach so, ich verstehe. Wie stark ist Ihre Magie?« 

Ihre Augen, die zuvor nach oben links gewandert waren, bewegen sich nun nach rechts oben. Einige Frauen machen es mir wirklich einfach. 

»Schwach?« 

So wie sie es sagt, klingt es wie eine Frage. Sie ist von ihrer eigenen Lüge nicht überzeugt; meine Magie sträubt sich. 

Ich konzentriere mich, der Frau direkt auf einen Punkt unterhalb ihres rechten Auges zu starren. Die meisten Menschen macht das ausgesprochen nervös. 

»Versuchen Sie es noch einmal«, sage ich betont gelangweilt, »und dieses Mal bitte mit der Wahrheit.« 

»Ach na schön. Ich meine, stark, schwach, ist doch alle relativ, oder?« Sie spielt die Verlegene, grinst mich an. Himmelfraugöttin, kann sie nicht wenigstens die Zähne pflegen? 

»Ich geb’s ja zu, bin schon nicht schlecht«, nuschelt sie. 

Das hatte ich mir schon gedacht. Allein ihre von Grund auf selbstbewusste Körperhaltung deutet auf eine Frau hin, die entweder extrem schwach ist und das zu kompensieren sucht oder eine Person, die sich ihrer Stärke bewusst ist. Die Qualität ihrer Kleidung und die Adresse ihres Hauses weisen zudem auf ein mehr als gutes Einkommen hin. Da sie sich das kaum mit Hilfe ihrer Intelligenz verdient hat, bleibt nur eine starke Magie. 

»Was sind Sie von Beruf?« 

Ach Göttin – wieso haben immer die dümmsten Frauen die dickste Magie? 

»Brauerin.« 

»Und Sie sind wie alt?« 

»39.« 

Scheint alles der Wahrheit zu entsprechen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass jegliche Raffinesse an die Frau verschwendet wäre. Also entscheide ich mich für den direkten Weg. 

»Haben Sie Ihren Mann ermordet?« 

Sie schaut mich aus wässrigen Augen verständnislos an. Entweder ist sie eine hervorragende Schauspielerin oder nicht das hellste Stück Leuchtdraht. 

»Ja, klar hab ich das, hab dem Maik die Henne abgedreht sozusagen.« Sie lacht, verstummt aber abrupt, als ich sie finster anschaue. Mann hin oder her, der Tote war ein Mensch. »Ich meine, ja, ich habe ihn umgebracht«, sagt sie schnell. »War aber keine Absicht. Ist halt so passiert. Was konnte er auch seine Klappe nicht halten?« Sie verschränkt die Arme vor ihrem massigen Busen und schiebt die Unterlippe vor. »Habe ich aber auch schon vorm Goldenen Gericht gesagt. Habe meine drei Tage abgesessen und meiner ollen Schwiegermutter die Strafe gezahlt. Hat alles seine Ordnung, sozusagen. Nur, dass der Maik halt nich mehr da ist.« Sie schnieft. Ich hüte mich, ihren Redefluss zu unterbrechen. »Ist n bisschen einsam jetzt«, sagt sie und fährt sich mit dem Handrücken unter der Nase her. Dabei erzeugt sie ein matschiges Geräusch. »Ne Frau braucht n warmes Ehebett, wennse abends nach Hause kommt. Sie verstehen das, oder?« 

Ich nicke, bleibe aber weiterhin stumm. Soweit es meine Magie anbelangt, sagt die Brauerin bislang entweder die Wahrheit oder das, was sie dafür hält. 

»War ja auch nich immer schlecht mit uns, wissense? Am Anfang war das mal ein ganz schmucker Kerl, der Maik. Aber na ja, Sie wissen ja, wie es so läuft, wenn de verheiratet bist.« 

Das wusste ich, in der Tat. Mein Georg war auch ein ganz anderer gewesen, als er mir das Ja-Wort gegeben hatte. 

Die Frau zuckt mit den Schultern. 

»Is halt nich mehr zu ändern. Vielleicht auch ganz gut so. War am Ende immer unzufrieden, der Maik, nur noch am Nörgeln: ‚Annabell tu dies, wieso habe ich nicht das, ich möchte auch mal dieses!‘ Ha! Ich frage Sie, Sie so als Frau: Seit wann reicht es denn nicht mehr, einem Mann ein warmes und trockenes Heim zu geben, hä? Hat doch immer alles gehabt. Und auf einmal war`s ihm nicht mehr genug.« 

Sie verstummt und senkt den Kopf. Die lange Rede scheint nicht typisch für sie zu sein. So geht es den meisten, die mir hier gegenübersitzen: Entweder sie sind so eingeschüchtert, dass sie komplett verstummen, oder sie geraten in einen Rederausch, der ihnen anschließend peinlich ist. Ich beschließe, es bei der Frau auf die mitfühlende Tour zu versuchen. 

»Was Sie sagen, Frau Junisra, ist genau das, was mir meine Freundinnen über ihre Ehen erzählen«, sage ich. Meine Magie jault angesichts meiner dreisten Lüge laut auf, doch ich ignoriere es. »Es ist doch immer dasselbe. Kein Wunder, dass das Goldene Gericht bei der Angelegenheit mit Ihrem Gatten keinen Anlass sah, Sie über Gebühr zu bestrafen.« 

Eifriges Nicken. 

»Immerhin war er Ihr Mann und es stand Ihnen somit zu, ihn zu bestrafen, wie Sie es für richtig hielten.« 

Die Frau windet sich. Ringt mit den Händen, als könne sie so die richtigen Worte finden. 

»Aber ich wollte das ja gar nicht!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich meine, klar, ein Mann muss schon wissen, wo sein Platz ist und so. Und wennse mich fragen, so ein paar umme Ohren ham auch noch keinem Kerl geschadet. Da hab ich auch keine Sperenzchen geduldet!« 

Ich nicke als Zeichen der Zustimmung, was mir meine Magie mit einem erneuten Gefühl der Übelkeit dankt. Ich habe Georg während unserer Beziehung nie geschlagen. Wie die meisten in meinem Bekanntenkreis halte auch ich magische Gewalt gegenüber Schwächeren für das wirkliche allerletzte Mittel, dessen Einsatz die Frau mehr beschämt, als ihr zur Ehre gereicht. Andererseits muss ich fairerweise zugeben, dass Georg mir nie auf jene zermürbende Art zugesetzt hat, wie es bei anderen Ehemännern der Fall ist. 

»Aber deswegen wollte ich den ja noch lange nich umbringen.« 

Wahrheit. 

»Hab ihn ja geliebt, den Idioten!« 

Wahrheit. 

»Wollte nich, dass es so weit kommt. Und wie ich den da liegen sah…« 

Ihre Stimme bricht. Ich schaue taktvoll auf den Zettel vor mir, während sie sich mit der rechten Hand über die Augen wischt. 

»Was ist passiert?«, frage ich sanft. 

»Hab ich doch gesagt.« 

Nicht einmal ein Mann würde das glauben. 

»Frau Junisra, wieso haben Sie gelogen?«